<QUOTE> Reichs zweifelhaftes wissenschaftliches Verdienst ist es, in die Sexualtheorie und die Faschismusanalyse die Verbindung von Homosexualität und Faschismus nachhaltig eingebracht zu haben. Die Vorstellung wurde immer wieder aufgegriffen, abgeschrieben, damit tradiert und verstärkt. Reichs Theorie der Nähe von Homosexualität und Faschismus fand auch Eingang in die Studien der "Kritischen Theorie" der Frankfurter Schule. Erich Fromm, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer übernahmen diese Vorstellung und verstärkten sie in ihrer Theorie vom "autoritären Charakter", "das Homosexuelle" wurde zur Verkörperung des "Pathologischen". Auch hier spielte der Exil-Diskurs des Stereotyps des homosexuellen Nazis eine entscheidende Rolle. Primär bezogen sich alle drei auf "latente" oder auf "unterdrückte" Homosexualität, wobei Fromm die Übergänge zwischen latenter und manifester Homosexualität als fließend ansah und sich bei ihm auch homophobe Stereotype klar ausmachen lassen. Fromm, Adorno und Horkheimer hielten Homosexualität für eine Fehlentwicklung: Homosexualität als Pathologie soll überwunden, nicht befreit werden. Die strikte Trennung Adornos und Horkheimers zwischen "dem Sozialen" und "dem Psychischen" in der gesamten Theorie ist sicherlich den wenigsten RezipientInnen bewusst gewesen und hatte in Bezug auf Homosexualität auch nicht die analytische Trennschärfe, die sie suggeriert. Selbst wenn es den Autoren wirklich nur um Fehlentwicklungen "des Psychischen" gegangen sein sollte, bleibt festzustellen, dass es sicherlich kein Zufall war, dass gerade das "Homosexuelle" als das "Pathologische", das noch dazu Faschismus ermögliche, ausgemacht bzw. definiert wurde.
Die "Kritische Theorie" war diejenige philosophische Gesellschaftskritik, an der sich der theoretische Flügel der Studierendenbewegung orientierte, dementsprechend wurden auch die Faschismustheorie(n) und Sexualtheorie(n) rezipiert. Die Homophobie konnte also auch im theorieorientierten Flügel der Studierendenbewegung mittels der "Götter des Geistes" legitimiert werden. Die positive Ausnahme innerhalb der "Kritischen Theorie" bildete Herbert Marcuse, dessen Sexualtheorie die Vorstellung von sexuellen Perversionen nicht kannte. Allerdings wurde diese Grundvoraussetzung der Theorie Marcuses nicht derart breit rezipiert und diskutiert wie die Einlassungen Reichs zur Befreiung der Sexualität.
Reimut Reiches Buch Sexualität und Klassenkampf von 1968 ist ein Beispiel dafür, dass es unmöglich war, die unterschiedlichen Ansätze hinsichtlich der Bewertung von Homosexualität bei Reich, Fromm, Adorno und Horkheimer einerseits und Marcuse andererseits zu verbinden. Reimut Reiche, einer der führenden Funktionäre des SDS, legte das Buch im Herbst 1968 vor; es wurde schnell zum richtungsweisenden Standardwerk für die Bewegung. Reiche versuchte in der Schrift, die Unterschiede zwischen der publizistischen "Sex-Welle", die von den Medien zur "sexuellen Revolution" erklärt worden war, und linken Ansätzen zur Befreiung der Sexualität herauszuarbeiten.
Reiche übernimmt die Vorstellung von Homosexualität als einer Fehlentwicklung des Sexualtriebs. So stellt er u.a. fest: "Kulturell stellt die Homosexualität heute eine Form des Steckenbleibens auf dem Weg von der biologisch ursprünglich richtungslosen Bisexualität zur gesellschaftlich geforderten genitalen Heterosexualität dar. [...] Individuell müssen mit der Homosexualität stets bestimmte Schädigungen der Triebstruktur zusammenfallen." Die Fehlentwicklung ist hier natürlich die Homosexualität und nicht die Heterosexualität. Auch findet sich in der Darstellung die auf Reich und Fromm zurückgehende Vorstellung, dass Homosexualität Angst vor und Aggression gegen Frauen beinhalte. Gleichzeitig geht Reiche von einer natürlichen Bisexualität aus; Homosexualität und Heterosexualität seien kulturell bedingt. Hierin ist ein progressives Element zu sehen.
Auch seine Utopie ist eine emanzipatorische: "Man kann ihr [der Homosexualität, St.M.] aber nur gerecht werden, wenn man fordert, daß in einer wirklich freien Gesellschaft alle einzelnen Schädigungen, von denen heute die Homosexuellen und die Heterosexuellen betroffen sind, überflüssig geworden sein müssen. Das schlösse auch ein, daß die zwanghafte homosexuelle Fixierung als Schicksal überflüssig würde. Erst auf einer solchen Stufe der gesellschaftlichen Organisation könnte sich zeigen, ob [...] wirklich eine quasi-natürliche Entwicklung zur Heterosexualität erfolgt, oder ob nicht-perverse, nicht-infantile Weisen bisexueller und homosexueller Objektwahl ohne gleichzeitige Regression möglich sind. Erst auf dieser Basis also könnte entschieden werden, ob die Homosexualität in einer freien Gesellschaft 'abstirbt'. Die bis heute hauptsächlich Spekulation gebliebenen Aussagen über die 'natürliche Lustprämie der Heterosexualität' und den 'konstitutionellen Faktor der Homosexualität' würden erst dann wirkliche Erfahrungen werden".
Reiche schwankt zwischen zwei Polen: Der Vorstellung, dass Homosexualität in der bestehenden Gesellschaft zwangsläufig eine Fehlentwicklung sei, einerseits und andererseits der Vorstellung, dass eine utopische sexuell befreite Gesellschaft möglicherweise "gesunde" Sexualformen neben der Heterosexualität ausbilden könne. Dass Heterosexualität etwas "Normales" sei, stellt Reiche allerdings nicht infrage.
Neben den unterschiedlichen Autoren der Frankfurter Schule wurde auch Arno Placks 1967 erschienenes Werk Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral von vielen Studierenden Ende der 1960er Jahre gelesen und ist als einflussreich anzusehen. Ähnlich wie die marxistischen Sexualtheoretiker sah Plack eine der wesentlichen Ursachen der gesellschaftlichen Missstände in der Sexualunterdrückung. Plack verband abendländische Philosophie mit der Tiefenpsychologie, der Verhaltensforschung und der Sexualforschung und setzte sich dabei auch mit Wilhelm Reich und der Frankfurter Schule auseinander, auf die er sich aber auch immer wieder bezog. Im Gegensatz zur damals populären Theorie des Ethologen Konrad Lorenz ging Plack davon aus, dass die Aggression des Menschen kein biologisches Erbe, sondern ein erlerntes Verhalten ist. Homosexualität ist für Plack, wie u.a. auch autosexuelles Verhalten, Exhibitionismus, Inzest, eindeutig eine Fehlentwicklung der Sexualität, eine Perversion, die es in sexuell freizügigen Gesellschaften nicht gebe. In Bezug auf Homosexualität ist Placks Schrift eindeutig als anti-emanzipatorisch zu bezeichnen. Neben dem häufigen Hinweis, dass Homosexualität eine Fehlentwicklung sei, fehlt eine klare Unterstützung der Forderung nach Abschaffung des § 175. Plack warnt vor einer "allgemeinen Homosexualisierung" der Gesellschaft, wobei er diese These Adornos von einer Aufweichung der Geschlechterrollen als Fehlerziehung der Geschlechter negativ umdeutet. Auch werden tradierte Klischees über Homosexuelle kolportiert: "Die homosexuelle Färbung aller Männerbünde ist [...] kein Zufall oder die bloße 'Folge' davon, daß 'homosexuelle Elemente' in sie sich eingeschlichen hätten. Die Invertierten sitzen dort von Anfang an in der Führung. (So war es denn auch in der ersten Führungsgarnitur der SA.)" Obwohl sich Plack hierbei nur auf die SA bezieht, liegen die Bezüge zum Stereotyp des homosexuellen Nazis klar auf der Hand. Aus der Linken wurde das Buch scharf kritisiert, u.a. da es "scheinradikal" sei, alle Probleme der Gesellschaft monokausal mit der unterdrückten Sexualität erkläre, mittels Geschlechterklischees wie der "eifersüchtigen Ehefrau" argumentiere und marxistische Erklärungsansätze vollständig ausklammere.
Das Dogma der "natürlichen" Heterosexualität in Anlehnung an Wilhelm Reich und überkommene Sexualideologien sowie die eigene Heteronormativität wurden also von der Mehrheit der Angehörigen der Studierendenbewegung nicht hinterfragt, sondern unkritisch übernommen. So nachhaltig, dass es immer wieder aufgegriffen wurde und man diese Theorie heute noch z.B. beim "Guru" linker Männerbild-Theorie, Klaus Theweleit, findet. </QUOTE>
aus: Stefan Micheler, Heteronormativität, Homophobie und Sexualdenunziation in der deutschen Studierendenbewegung, in: Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 1 (1999), S. 70-101.
Weiterführender Literaturverweis: Randall Hall, Zwischen Marxismus und Psychoanalyse : Antifaschismus und Antihomosexualität in der Frankfurter Schule, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 9 (1996), S. 343-357.