Zur Kritik Bremer "Hirnforschung":
Hirn determiniert Geist - Fehler, Funktion und Folgen
1. Die Resultate der Bremer "Hirnforschung"
Die Resultate der Bremer Hirnforschung über das Geistesleben des Menschen sind nicht nur fehlerhaft, sondern reaktionär .
Die Befunde dieser "Hirnforschung" lauten: Nicht die Menschen bestimmen ihre Zwecke, versuchen sie durchzusetzen, scheitern allzu häufig und legen sich ihr Scheitern an gesellschaftlichen Hindernissen als Segen oder Sachzwang zurecht, sondern das natürliche Gehirn soll es sein, das all dies für sie leistet. Denn das Hirn besitzt, laut Roth, die Fähigkeit, "aus innerem Antrieb Handlungen durchzuführen" (310). Der Mensch bildet sich die Willensfreiheit nur ein, ist darin selbst nur "Konstrukt eines (ihm) unzugänglichen realen Gehirns" (331). In unserem Denken, Wollen und Tun sind wir, so wird hier behauptet, nur Anhängsel von Naturvorgängen und bilden uns unsere geistige Autonomie nur ein. Der Geist ist durch biologische Vorgänge determiniert, sagt Roth.
Ob der Mensch beschließt, Hirnforscher oder Politiker zu werden, ob er sich ein Fahrrad, eine Panzerkompanie oder Forschungslabor mit Primaten zulegt, ob er CDUSPDDVU wählt oder vom Wählen nichts hält, nie hat er dafür seine Gründe, die er - und mögen sie noch so falsch sein - vertritt, die er zur Grundlage seines Handels macht und deren Resultate er an seinen Zwecken mißt; nichts davon - immer hat das Hirn, also ein Naturvorgang im Kopf, selbständig entschieden und ihn handeln lassen. Ob ein- und derselbe Mensch mit ein- und demselben Gehirn sich entschließt, von einer Gewohnheit des Denkens oder von bestimmten Urteilen Abschied zu nehmen, weil er ihre Fehler erkannt hat, ob er etwas Neues lernt, weil er sich davon Chancen auf dem Arbeitsmarkt verspricht, oder ob er in der Kopfarbeit Drückebergerei vor der Handarbeit sieht - nie hat da ein Mensch sich so seine Gedanken gemacht, immer hat das Hirn ihn so denken lassen.
Er als willentlich handelndes Wesen kann er einfach nichts für sein Denken und Tun, heißt die logische Quintessenz dieser Theorie. Der liebevollsten Tat wie der gröbsten Brutalität steht man demzufolge ohnmächtig gegenüber, da sie sich jeder Bekräftigung und jeder Kritik entziehen. Beeinflussung ist schlechterdings nicht möglich, da Argumente gegen Naturvorgänge nun einmal nichts auszurichten vermögen.
2. Paradoxa
Natürlich muß diese Theorie dann auch auf das wissenschaftliche Treiben des Hirnforschers Roth angewendet werden. Das würde dann zu folgendem Befund führen: Es war gar nicht G. Roth, der in seinem Studium auf theoretische Probleme und offene Fragen gestoßen ist, sondern sein Hirn hat ihn diese Gedanken denken lassen. Und es war und ist gleichfalls nicht G.Roth, der ein Institut aufgebaut hat, Bücher schreibt und Vorträge hält, etwa weil er meint, der Welt etwas Wichtiges mitteilen zu müssen, sondern auch hier hat das Gehirn ihn aus "innerem Antrieb" dazu gebracht, all dies zu tun und zu denken. Und Roths Bewußtsein von seinem Tun, seine Gründe für es, jede seiner Begründungen für ein neues Forschungsprojekt stellen nur die Einbildung von autonom begründetem Tun dar. In Wirklichkeit, weiß Roth, treibt ihn irgendeine Synapsenverbindung. Das macht dem Forscher Roth merkwürdigerweise keine Kopfzerbrechen. Müßte ein Mensch nicht an sich selbst irre werden, wenn es sich ständig sagen muß, das, was ich tue, ist nie das, was ich tue. Ich mag mir zwar einbilden, bestimmte Gründe für mein Tun zu besitzen, doch in Wirklichkeit treibt mich ein mir fremdes, "unzugängliches Konstruktionsprinzip" meines Gehirns.
Doch woher weiß Roth eigentlich, daß der Mensch sich seine Willensfreiheit nur einbildet, woher weiß er, daß diese nur das "Konstrukt eines ihm unzugänglichen Gehirns" ist - wo ihm doch die Konstruktionsprinzipien des Gehirns unzugänglich sind? Wenn er behauptet, es zu wissen, dann ist ihm aber das "reale Gehirn" theoretisch zugänglich. Wenn dies der Fall ist, dann befähigt ihn dieses sein gesichertes Wissen auch, den "inneren Antrieb des Gehirns" zu erfassen. Folglich wäre diese Erkenntnis zugleich ihre eigene Widerlegung. Denn auf der Grundlage des durchschauten Zusammenhangs von Gehirn und Willen bzw. Bewußtsein ist der Mensch in seinem willentlichen Tun gerade nicht mehr willenloses Anhängsel der Hypophyse, des Thalamus oder von wer weiß was. Er hätte ein Bewußtsein von sich selbst als Anhängsel, könnte also zwischen wahrem Trieb und eingebildetem Willen unterscheiden.
Seine Theorie enthält also ein unauflösbares Paradoxon: Besteht Roth darauf, das seine Behauptung stimmt, also Wissen, Erkenntnis ist, dann hätte er sie gar nicht ermitteln können, weil die Behauptung die theoretische Unzugänglichkeit ihres eigenen Gegenstands einschließt. Wendet man dagegen den Inhalt von Roths Behauptung auf sie selber an, dann handelt es sich bei ihr schlicht um bloß eingebildete Geistesleistungen, die in Wirklichkeit irgend etwas ganz anderes sind, was man aber nicht weiß. Dann aber kann sind die "geistigen Leistungen" nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind.
Es kann sich nun einmal eine Theorie nicht ernst genommen werden, die sich als Anwendungsfall von sich selbst. Denn entweder ist es eine Theorie über das Gehirn, also über alle Gehirne, dann fällt ebe n das des Forschers auch unter seine Theorie. Wenn für das Gehirn des Forschers aber eine Ausnahme gelten soll, dann hätte sie sich selbst desavouiert, sprich: widerlegt. Die Theorie würde nämlich eine gänzlich aus ihrem Theorierahmen fallende Ausnahme von der gerade vorgestellten Behauptung beanspruchen, das geistige Leistungen nur das Resultat eines dem Menschen geistig unzugänglichen Naturprozesses sind. Was wäre etwa - um ein Beispiel zu nehmen - von einem Mediziner zu halten, der beansprucht, die Funktion der Bauchspeicheldrüse erklärt zu haben, und zugleich behauptet, daß diese Erklärung für seine Drüse nicht zutreffen würde! Eine Theorie, deren Befunde nur für fremde Gehirne oder Drüsen gelten, könnte nicht ernst genommen werden. Kurz: Behauptet die Theorie ihre Stimmigkeit, dann stimmt sie nicht. Geht sie jedoch von vornherein davon aus, daß über ihre Stimmigkeit kein Urteil zu fällen sei, dann müßte man sich erst recht nicht mit ihr befassen.
Roth selbst gesteht dieses Paradoxon zu. Er hält es jedoch für auflösbar. Er bekennt, daß er hinsichtlich seiner geistigen Leistungen "per se" (!) keinen "Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben" (22f) kann, da alle "geistigen Leistungen" solche des Gehirns sind, die "den biologischen Konstruktions- und Funktionsbedingungen (des) Gehirns unterliegen". Zwar hat er in dieser Fassung das Paradoxon falsch formuliert, denn es geht nicht um die Frage der "Allgemeingültigkeit" von Erkenntnis - die, nebenbei bemerkt, ohnehin eine absurde Frage ist (Es kann immer nur um die Frage der Gültigkeit/Stimmigkeit bestimmter Erkenntnis gehen, nicht aber um die Frage der Allgemeingültigkeit von Erkenntnis überhaupt) - , sondern um die Frage der Erkennbarkeit eines Zusammenhangs, dessen theoretische Unzugänglichkeit behauptet wird. Aber sei es drum.
Im Unterschied zu jenen radikalen Konstruktivisten , die ganz offen erklären, daß es der "größte Fehler" des radikalen Konstruktivismus sei, diese Denkweise auf sich selber anzuwenden, also um die Selbstwiderlegung wissen und sich deshalb diesen Gedanken verbieten, verfährt Roth anders. Er gehört zu jenen Philosophen, die solchen (Selbst-)Betrug nicht mitmachen. Das Paradoxon hat ihn nicht rasten und nicht ruhen lassen. Und er hat dieses Paradoxon und drei weitere Paradoxa, die aus seiner Theorie resultieren (21f), zu lösen versucht. Am Ende des Buches betont er einerseits erneut, er habe den Anspruch aufgegeben, "objektive Wahrheiten zu verkünden", will aber andererseits - und dies gilt ihm als die Läösung des Paradoxons - dafür gesorgt haben, daß seine Darstellung "gehobene Ansprüche an Plausibilität und interne Konsistenz erfüllt" (363). Doch was will er damit gesagt haben? Wofür stehen Plausibilität und interne Konsistenz als Maßstäbe, die er schon an seine Urteile angelegt haben möchte? Es handelt sich bei genauem Hinsehen um nichts anderes als um methodische Umschreibungen eben jenes Wahrheitsanspruches, den Roth für sich gerade nicht gelten lassen will. Das Kriterium der internen Konsistenz macht ohnehin nur im Zusammenhang mit der Plausibilitätsprüfung Sinn, da die Widerspruchsfreiheit auch zwischen Behauptungen festgestellt werden kann, die von gar wenig "plausiblen" Sachverhalten ausgehen. (Auf der Grundlage der Annahme, daß Juden geborene Parasiten eines jeden Staatswesens sind, ist für deren Verwalter der Schluß logisch konsistent, die Juden aus ihrem Staatswesen zu entfernen.) Und Plausibilität meint nun nichts anderes, als daß er erstens selber von seinen Befunden überzeugt sein will und zweitens seine Leser überzeugen möchte. Dies aber bedeutet, daß seine Befunde durch andere Befunden nicht widerlegt werden, daß die behaupteten Zusammenhänge nachprüfbar sind und vom wissenschaftlich geschulten Leser nicht bereits nach einer ersten Überprüfung mit erheblichen Fragezeichen versehen werden. Also selbst ein Verfahren, das erst einmal "bloß" die Plausibilität eines Theorie feststellen möchte, hat zur Voraussetzung, daß die Gegenstände, von denen diese Theorie handelt, auch einer - empirischen oder per Schlußverfahren vorgehenden - Überprüfung zugänglich sind. Dies aber leugnet Roth, weswegen er nur noch einmal die Unauflösbarkeit seines Paradoxons erhärtet.
Roths zentrale Behauptungen sind nicht haltbar, falsch. Ich bin mit der Überprüfung der Theorie fertig. Dennoch bin ich noch nicht fertig. Erstens deswegen nicht, weil Roth sich sicher ist, daß seine Befunde weitreichende praktische Konsequenzen, nicht zuletzt für den Bereich der Erziehung hätten. Übrigens stört es ihn hier auch nicht im Geringsten, daß er sich damit im vollständigsten Gegensatz zum Gehalt seiner Theorie befindet. Zweitens nicht, weil es über das Verhältnis von Gehirn und Geist schon etwas Richtiges zu vermelden gibt, sich Roths Fehler also inhaltlich durchaus noch näher bestimmen lassen.
3. Gehirn und Geist
a. Die psychologisch-philosophische Hinforschung, die die "Möglichkeit" einer Determination des Geistes durch das Gehirn behauptet, nimmt regelmäßig ihren Ausgang bei der gegenteiligen Feststellung, bei der Nichtdetermination. Auch Roths Befunde haben ihren Ausgangspunkt in der Feststellung, daß sich niemand den Geist - das Fühlen, Vorstellen, Erinnern, Denken, Wollen usw. - ohne das Gehirn vorstellen kann. Damit beginnt diese Forschung. Und dem ist nicht zu widersprechen. Dem ist, so albern dieses Urteil in seiner negativen ohne-daß-Logik auch ist, ebensowenig zu widersprechen wie etwa dem Satz, daß man sich ohne die Beine das Gehen schwer vorstellen kann. Zugleich ist damit aber auch ausgesagt, daß Gehirn und Geist nicht zusammenfallen: Die Nichtidentität von Geist und Hirn stehen damit fest. Das wird noch deutlich, wenn wir das Verhältnis positiv bestimmen. Auch das ist kein übermäßiges Rätsel: Das Gehirn ist mit seinen neuronalen und biochemischen Prozessen die natürliche Bedingung jeder geistigen Betätigung. Gehirn steht zu Geist in einem Bedingungsverhältnis: Das eine, die objektive Natur und ihr Funktionieren müssen gegeben sein, damit sich das andere, der subjektive Geist betätigen kann - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das erfährt der Mensch selbst am eigenen Leibe wie es zutreffend heißt: Müdigkeit erschwert das Denken, ausgeruht geht z.B. das Lesen eines Buches, das Lösen eines Rätsels, das Abfassen eines Vortrags besser. Dieses Bedingungsverhältnis schließt zwei Bestimmungen ein: Zum einen ist die geistige Betätigung abhängig vom biologischen Funktionieren des Gehirns. Dafür steht das Müdigkeitsbeispiel. Wenn die biologische Funktion beeinträchtigt ist, klappts mit dem Denken schlecht. Dieses ist von jenem abhängig. Zum anderen schließt dieses Verhältnis aber umgekehrt auch so etwas wie Freiheit des Geistes gegenüber seiner natürlichen Voraussetzung ein. Auch das spürt der Mensch am eigenen Leib: Bei starker Konzentration z.B. auf ein mathematisches Problem vergißt man nicht nur manchmal die Zeit, sondern auch seine Müdigkeit oder den Schnupfen. Diese Freiheit hat allerdings Grenzen, die eben durch die Abhängigkeit der geistigen Tätigkeit von der Natur gezogen wird: Irgendwann muß man schlafen, irgendwann läßt sich die Müdigkeit nicht mehr "vergessen".
Mit diesen vier Bestimmungen - Nichtidentität, natürliche Bedingung, Abhängigkeit, relative Freiheit - ist die Frage nach dem "Verhältnis von Geist und Gehirn" fertig beantwortet - wohlgemerkt nur die Verhältnis-Frage. Weder ist damit über das Gehirn alles gesagt, noch über den Geist. Im Gegenteil! Jetzt wären einerseits die Bestimmungen des Gehirns und sein Funktionieren und andererseits die Bestimmungen der geistigen Tätigkeit zu klären. Die erste Aufgabe fällt ganz in die Naturwissenschaft, in die Medizin und Biologie. Die zweite Aufgabe gehört in die Geisteswissenschaft. Es sind die Formen des "subjektiven Geistes" (Empfindung, Gefühl, Aufmerksamkeit, Anschauung, Vorstellung, Erinnerung, Denken, .....) und ihre Inhalte zu untersuchen. Und wie es keine Frage der Medizin ist, sich etwa über Identität und Differenz von Gefühl und Verstand auszulassen, so fällt es umgekehrt nicht in den Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaft, sich Klarheit über Typen von Neuronen und die Funktionsweise der Zirbeldrüse zu verschaffen. Gerade weil das Verhältnis von Geist und Gehirn geklärt ist, ihre Nichtidentität ausgemachte Sache ist, gehen beide Disziplinen ihre eigenen Wege und haben ihre eigenen Methoden.
b. Es stellt sich folglich die Frage, warum Roth und Mitarbeiter die Frage des Verhältnisses weiter auf der wissenschaftlichen Tagesordnung belassen. Was gibt es da noch zu erforschen? Wenn die Nichtidentität von Geist und Gehirn, von der sie selbst ausgehen, positiv bestimmt ist, dann sind Gehirn und Geist jeweils für sich Gegenstände der Wissenschaft. Das sehen die Bremer Hirnforscher anders. Gleich in ihrem zweiten Schritt bezweifeln sie die von ihnen zunächst festgehaltene Nicht-Identität. Sie gehen davon aus, daß zwischen Gehirn und Geist ein Bedingungs-, also Konditionalverhältnis besteht, landen aber beim glatten Gegenteil, nämlich bei der Behauptung eines Bedingtheits-, also Kausal- bzw. Determinationsverhältnisses. Sie dementieren mit ihrem Ergebnis, der Konstruktion eines Willens, der durch das Naturding Hirn bestimmt sei, ihren eigenen Ausgangspunkt.
Wie geht das bei Roth? Es ist nicht eine Summe von biologischen Tatsachen, sondern seine eigene Sichtweise, die ihn zu seiner Deutung führt. Sein Urteil ist nicht naturwissenschaftlich begründet, sondern ein Vorurteil. Schritt für Schritt "schwindelt" er sich begrifflich zum erwünschten Resultat durch: Vermittels einer zusammengeklaubten Resultate der biologischen bzw. neurophysiologischen bzw. psychologischen Hirmnforschung wird zwischen Gehirn und Geist zunächst ein "enger Zusammenhang" (277), dann eine "Parallele" (278) festgestellt, später "entstammt" (306) der Geist dem Gehirn und schließlich "führt das Hirn aus innerem Antrieb Handlungen durch" (310).
Seine "Belege" sehen folgendermaßen aus:
- Er stellt fest, daß jede geistige Aktivität des Menschen - erinnern, vorlesen, rechnen, musizieren, problemlösen... - als Neuronenaktivität im Hirn meßbar ist. Das wird schon so sein. Doch was ist damit gezeigt? Roth meint: Weil man z.B. einen Gedanke als neuronalen Vorgang messen kann, ist die Neuronenaktivität die Wirklichkeit des Geistes. Folglich kann, so denkt Roth weiter, weil nun die Neuronenaktivität der wirkliche Geist ist, das geistige Erlebnis selbst, das Denken, Musizieren, Vorlesen.... nur die Einbildung von Geist, also bloß "Geist" - mit Anführungszeichen - sein. Die Beweisführung lebt von einem Fehlschluß: Denn wenn geistige Aktivität als Neuronenaktivität meßbar ist, dann folgt daraus nicht, daß der Naturvorgang der geistige Prozeß ist bzw. den geistigen Prozeß hervorbringt; genauso wenig wie ein Spaziergang, der als Folge von Muskelkontraktionen meßbar ist, damit schon von diesen Richtung, Tempo und Zweck diktiert bekommt. Roth erklärt hier die Neuronenaktivität im Hirn, die die physiologische Verlaufsform des geistigen Prozesses ist, zu dessen Ursache.
Widerlegen läßt sich dies auch durch den Versuch selber. Roth muß nämlich den Geistesinhalt, dessen neuronale Aktivität er erfassen will, vorher immer von der Versuchsperson erfragen bzw. mit ihr festlegen: Soll ein Gotehegedicht gelesen, eine Rechenaufgabe gelöst oder der letzte Urlaub erinnert werden. Den Neuronenaktivitäten ist nämlich der Inhalt der Geistestätigkeit nicht anzusehen. Ohne eine derartige Rückversicherung ist ihnen nichts als der biologische Vorgang zu entnehmen. Doch wenn man nur dann weiß, welcher Gedanke oder welches Gefühl sich als eine bestimmte Neuronenfiguration ereignet, wenn man vorher und getrennt vom Meßvorgang die geistige Aktivität zur Kenntnis genommen hat, dann ist sie eben weder auf das Natürliche zu reduzieren noch ergibt sie sich aus ihm. Kein Neurobiologe weiß, welche geistige Aktivität sich als welche Neuronentätigkeit ereignet, wenn er nicht die geistige Aktivität für sich und vorher zur Kenntnis genommen hat. Und zur Kenntnis nehmen muß er sie als die Wirklichkeit des Geistes, wüßte er doch sonst gar nicht, wofür der Neuronenkomplex steht. Um seine Theorie zu beweisen, muß Roth also voraussetzen, das sie nicht stimmt: Er muß das bewußte geistige Handeln zunächst für sich registrieren, wenn er anschließend dessen neuronales Abbild als die Wirklichkeit des Geistes messen will.
- Sein Lieblingsbeleg für die Determination geistiger Prozesse durch Naturvorgänge im Gehirn besteht im Verweis auf Hirnmessungen, die ergeben haben, daß sich im limbischen System ein Willensakt bereits eine kurze Zeitspanne vor seiner Ausführung als "corticaler Prozesse" als Folge von meßbaren Hirnströmungen ankündigt. Daraus folgt für ihn, daß der Willensentschluß, faßbar an der willentlichen Handlung, überhaupt nur "das Gefühl des Willensentschlusses" ist, es zum eigentlichen "Willensentschluß" aber längst vorher im limbischen System gekommen ist, weswegen es als die "eigentliche Ursache für eine Handlung" (231??) anzusehen ist. Berufungsinstanz ist B.Libet mit einer Reihe von Experimenten, in denen festgestellt wurde, daß - so die Interpretation - bereits ca.500 Millisekunden vor dem "Willensentschluß bzw. Gefühl des Willensentschlusses" erkennbar ein "Bereitschaftspotential" im limbischen System aktiviert wurde, das dann zum Beweis dafür herhalten muß, daß der eigentliche Willensentschluß für dem bloß gefühlten längst vorher vom limbischen System "gefaßt" worden sein. Sehen wir mal ab von der Redeweise, so wäre die "Plausibilität" des Beweises für sich zu überprüfen. Plausibel wird er nur, wenn - nach gut psychologischer Manier - nur solche Interpretationsalternativen vorgestellt werden, die zur Theorie passen. Das geht in diesem Fall so: Wenn vor dem spontanen Entschluß zur Fingerbewegung, spontan: wegen Zeitgleichheit von Fingerbewegung mit Willensentschluß, Hirnströmungen meßbar sind, dann war der gefühlte Willensentschluß nicht der eigentliche, sondern dann lag der vor dem gefühlten. Also: Wenn keine Hirntätigkeit vorher, dann gefühlter gleich eigentlicher, wenn jedoch vorher Hirntätigkeit meßbar, dann folgt gefühlter dem eigentlichen Entschluß, der selbst Hirnprodukt ist, nach. Jede andere Erklärung für die vorher gemessene Hirntätigkeit ist nicht zugelassen. Und darin liegt der Hase nun mal im Pfeffer: Denn wenn eine Versuchsperson unter Dampf steht, aufgefordert ist, sich spontan zur einer Fingerübung zu entscheiden, dann wird sich dieses "unter Dampf stehen", "Bereitschaftspotential" genannt, wohl ebenso messen lassen, wie der vor der sichtbaren Fingerübung stehende Beschluß zur spontanen Fingerbewegung. Da zudem völlig unklar ist, was jeweils mit den EEG-Meßgeräten, die elektrische Strömungen aufzeichnen, gemessen worden ist, also nur etwas, eine Veränderung der Kurve sichtbar wird, steht es mit der Plausibilität dieses Belegs nicht gerade zum Besten. (S.306ff)
- Einen weiteren Beleg meint Roth unser aller Alltagserfahrungen entnehmen zu können: "Wir versuchen täglich, andere von unseren Einsichten zu überzeugen und ihr Verhalte entsprechend zu ändern. Dies gelingt oft nicht, obwohl unsere Argumente scheinbar glasklar und unwiderlegbar sind. Es kann passieren, daß man uns zustimmt, die Verhaltensänderung verspricht, aber nicht so handelt. (Auf Nachfrage wird oft behauptet, man tue doch genau das, was verlangt worden sei.)"(Impulse 2/2000, S.8) Auch das soll den Befund plausibel machen, daß "das Sprach-Logisch-Bewußte wenig Einfluß hat auf die Instanzen in unserem Gehirn, die letztlich unser Handeln bestimmen." (S.11) Auch hier lebt das angeführte Belegmaterial davon, daß erstens jede Erklärung außerhalb der Alternative "das bewußte Ich" oder das "Gehirn" ist der " große Boss" nicht in Erwägung gezogen wird; und das zweitens "das sprach-logisch bewußte Ich" in einer Weise gedacht wird, wie dies nur Manipulationstheoretiker können.
Auf den Gedanken, daß eine auf Argumente setzende gewünschte Verhaltensänderung nur deswegen häufig nicht klappt, weil das Hirn der Boss ist und sich um "sprach-logisches Bewußtsein" nicht schert, kommt man nur, wenn man jedes "glasklare Argument" wie einen Nürnberger Trichter denkt, also wie eine Art Überzeugungsautomatismus. Daß der zu Überzeugende jedes Argument selbst erst einmal aufnehmen, verstehen und in seiner Konsequenz begreifen muß, daß er es also auch nicht verstehen oder mißverstehen kann, daß sich vor Konsequenzen fürchtet oder ihm die Möglichkeiten zur Umsetzung der neuen Einsicht fehlen usw., fällt bei Roth heraus. (Übrigens: Und wofür steht es, wenn die Überzeugung klappt!) Auch wird nicht in Erwägung gezogen, daß überzeugende Argumente ohnehin rar sind und das Überzeugen hierzulande gerade nicht die durchgesetzte Methode der "Verhaltensänderung" ist, weswegen auch schlichtes Argumentieren ohne psychologisches Einwickeln, moralischen Druck oder unmittelbare Sanktionsdrohung häufig gerade der unlauteren Absichten verdächtigt wird. Daß eine gewünschte "Verhaltensänderung" (schon ein ziemlicher Klops!) per argumentativer Überzeugung häufig nicht gelingt, kann also viele Ursachen haben: Erstens gehören zum Überzeugen zwei dazu bereite Wesen, zweitens überzeugende Argumente, drittens der Abschied von vielleicht zur Gewohnheit gewordenen Verhaltensweisen, viertens gelegentlich die Überführung des Arguments in eine Kalkulation mit mehreren Größen, zu denen vielleicht Handlungsvorschriften gehören, die nicht auf Argumenten, sondern auf Gesetzen/Gewalt basieren ("Ich sehr zwar das und das ein, aber wenn ich danach handele, komme ich in Schwierigkeiten, verbaue mir vielleicht die Zukunft; weswegen ich es doch lieber lasse!" [Rex.]); und selbst die Feststellung, daß eine behauptete Verhaltensänderung mit der gewünschten gar nicht deckungsgleich ist, verdankt sich so harmlosen Umständen, daß entweder Argumente nicht verstanden sind, deren Umsetzung mißlungen ist oder schlicht geheuchelt wird. Laute simple Auflösungen, die sich von Fall zu Fall leicht verifizieren lassen. Aber wenn Roth&Co. davon ausgehen, daß eigentlich jedes "glasklare" Argument eine "Verhaltensänderung" bewirken müßte
Das Resultat der Berufung auf die biologische Hirnforschung läuft letztlich auf folgendes hinaus: Weil sie immer mehr darüber herausfindet, wie geistige Prozesse physiologisch ablaufen, deswegen soll es irgendwie auf der Hand liegen, daß alle geistigen Vorgänge durch physiologische Abläufe bestimmt sind! So wird denn aus der "ohne-daß"-Logik eine "dadurch"-Bestimmung, aus einer Bedingung eine Bedingtheit und aus der Angabe der "Lokalität" - des "Ortes" im Hirn - ein "Grund", wird also ein physikalisches in ein logisches Verhältnis umgedeutet. All diese Fehler hat diese Bremer Hirnforschung hinter sich, wenn sie das geklärte Verhältnis von Gehirn und Geist seine Existenz bringt, den Willen des Menschen in ein Anhängsel physiologischer Vorgänge, also in einen Naturvorgang und das Bewußtsein, das wir von unserem Willen haben, in eine Einbildung verwandelt. So landet Roth bei seinem Befund, daß nicht wir denken, sondern das Gehirn für uns denkt; daß nicht wir uns begründet Zwecke setzen, sondern unser Gehirn uns das Handeln diktiert und uns darüber auch noch mit der Einbildung versorgt, daß unser Wille frei ist!
4. "Hirnforschung" und "Zeitgeist"
Die Befunde der Bremer Hirnforschung, die letztlich auf einen, mit viel Aufwand inszenierten schlichten Fehlschluß zurückzuführen sind, der die natürlichen Bedingungen des Geistes mit ihrer Bedingtheit durch das Gehirn gleichsetzt, werden der Bremer Universität vorgelegt, regen offenkundig niemanden auf, sondern scheinen als Anstaltsschmuck geschätzt zu werden, mit dem das Attribut von der "Roten Kaderschmiede" endgültig getilgt werden kann. Immerhin hat die Universität Bremen anläßlich ihres 25-jähriges Bestehen beschlossen, für ihre wissenschaftliche Leistungsfähigkeit mit eben dieser Forschung zu bürgen. Es ist zu befürchten, daß sie wußte, was sie tat.
Denn solche Touren der Erklärung sozialer Vorgänge aus Naturprozessen haben zur Zeit gesellschaftlich Konjunktur. Es kommt heute wieder in Mode, z.B. den per Konkurrenz aussortierten, für unbrauchbar oder unerwünscht erklärten oder auf die "schiefe Bahn" geratenen Volksteilen zu attestieren, daß ihre Natur - ihr Genmaterial oder ihre angeborene Leistungsbereitschaft - ihren privaten Aufstiegswünschen nicht entspricht bzw. ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze nicht hergíbt. Der "Zeitgeist" muß sich den wissenschaftlichen Reim auf diese Naturalisierung gesellschaftlicher Ausschlußprozesse nicht selbst machen. Er kann auf die Leistungen der freien Geisteswissenschaften zurückgreifen. Die verbeamteten Geistesriesen brauchen nämlich nicht erst solche politischen Konjunkturen, um auf rassistische Theorien zu verfallen. In Psychologie und Pädagogik, aber auch Philosophie und Politologie ist es Tradition, der Menschennatur anzulasten, was ihr von Politik und Ökonomie angetan wird. Diese Abteilungen pluralistischen Denkens reüssieren dann, bekommen Konjunktur und erfahren plötzlich eine öffentliche Wertschätzung, die sie lange vermissen mußten.
Einige Beispiele sollen das illustrieren:
a. Vorbei ist die Zeit, in der es in der Bildungspolitik als ein Zeichen für überholtes Denken galt, mit dem Begabungsargument für eine Begrenzung der Elitenbildung zu plädieren. Als in Deutschland-West die Bildungskatastrophe ausgerufen wurde und mehr Abiturienten gewünscht waren, um über die Akkumulation von "Human-Kapital" die "Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft" (G.Picht, 1964) voranzubringen, da hatten solche pädagogische Denker Konjunktur, die den Lernerfolg des Nachwuchses nicht durch Anlagen und Gene begrenzt sahen, sondern auf die Umwelt setzten und in der Förderung der Anlagen das Mittel entdeckten, ihm auf die national erwünschten Sprünge zu helfen. Begabung kam auf einmal von begaben und die Bildungspolitik machte mit ihren Entscheidungen wahr, was diese pädagogische Denkvariante vertrat. Heute dreht sich der Spieß wieder um. Gedacht wird zwar innerpädagogisch wie eh und je, es gibt Anlagen- und Umwelttheoretiker und vor allem solche, die sich für jede politische Konjunktur bereit halten. Aber nachgefragt werden zur Zeit griffige Begründungen für die gegenteilige bildungspolitische Absicht. Denn es ist Sparen angesagt und obendrein gibt es im Angebot mehr Ausgebildete als "der Markt" verlangt. Folglich wissen Bildungstheoretiker sogleich, daß zu viele "Unbegabte" die Unis bevölkern und "Studentenberge" produzieren, die die nationale Elite nivellieren; wissen sie, daß es so viele "Begabte" in einer Nation gar nicht geben kann und daß die Unis "viel zu vielen zur Wissenschaft kaum befähigten jungen Menschen" geöffnet wird, wie der ehemalige Kanzler und Begabungstheoretiker Helmut Schmidt verlauten ließ. Es lassen sich also die Begabungsforscher nicht lange bitten. Sie haben es ja schon immer gesagt, daß nur eine schärfere Auslese die Spreu vom Weizen trennen kann.
Auch G.Roth hat da etwas im Angebot, was diese Debatte bereichert. Er hat herausgefunden, daß das Lernen letztlich nicht vom Willen und der Anstrengung des Lernenden abhängt und ein Appell an die Einsicht ohnehin versagt: In der Zeitung war zu lesen, daß der "Bremer Wissenschaftler es für ziemlich aussichtslos hält, wenn Eltern oder Lehrer bei der Erziehung an die Einsicht (!) von Kindern appellieren. Wichtiger sei es, zu motivieren - und Motivation bedeute nichts anderes, als das Kind in emotionalen Aufruhr (!) zu versetzen". (WK, 25.1.97) Denn nur so sei das "limbische System" im Gehirn zu affizieren. Das Lernen wird demzufolge vom Gehirn diktiert, ist der Förderung durch eine gründliche, auf Einsicht setzende Erklärung gar nicht zugänglich, weswegen denn auch dem pädagogischen Bemühen durch das jeweilige Gehirn seine Grenzen gezogen sind. Alle Sitzenbleiber und in der Schule Gescheiterten, die von Lehrern mit ihren Zensuren je nach den quantitativen Vorgaben der jeweiligen Bildungspolitik produziert werden, dürfen sich dann mit der Unzulänglichkeit ihrer Natur über ihre von der Staatsschule zerstörte Lebensperspektive hinwegtrösten.
Nebenbei gibt der Bremer Wissenschaftler, der der Einsichtigkeit des Menschen nicht etwa aus Erfahrung mißtraut, sondern ihr überhaupt beim Lernen nichts zutraut, all denen recht, die es schon immer mit der alten pädagogische Maxime gehalten haben, daß wer nicht hören will/kann, eben fühlen muß. Es fällt schwer, die Sache mit dem "emotionalem Aufruhr" zu Ende zu denken, ohne sich an all jene Techniken zu erinnern, mit denen Begeisterung und Hingabe, Herzschmerz, Betroffen- und Zerknischtheit erzeugt zu werden pflegen. Da die Prügelstrafe verboten und der Hurrapatriotismus noch nicht wieder in Mode gekommen ist, geht es heute bei der Beeinflussung des Verstandes unter Umgehung des einsichtigen Argumentierens "subtiler" zu. Da wird dann auf den "Bauch" gesetzt, die Verstandestätigkeit als "Verkopfung" denunziert und dem Gefühl das Urteilen ganz erfahrungs- und handlungsorientiert anvertraut. Sehnsüchtig blicken inzwischen einige Bildungspolitikern wieder über den großen Teich, weil selbst bei dieser modernen pädagogischen Ausschaltung des Verstandes der "Aufruhr" der Gefühle immer noch ein wenig zu kurz kommt. In bestimmten zivilisierten Ländern ist es dagegen längst üblich, uniformierte Schüler täglich vor Schulbeginn mit Flagge und Hymne emotional "aufzurühren". Daran denkt ein G.Roth vielleicht nicht einmal im Traum. Das muß er auch nicht. Seine Wissenschaft wird gesellschaftlich dadurch in Funktion gesetzt, daß sich andere, die an so etwas nicht nur denken, durch diese "Hirnforschung" legitimiert sehen.
b. Auch bei "Kriminellen" ist man sich heute, wo Armut flächendeckende Ausmaße erreicht und deswegen Ordnung noch größer geschrieben wird, gar nicht mehr so sicher, ob sie nicht statt - wie einst noch - als Opfer sozialer Umstände vielmehr als Träger eines kriminellen Gens zu identifizieren sind. Wo auf staatliche Betreuung der Armut in dem Maße verzichtet wird, wie diese wächst, da wird es nicht lange dauern, bis der wissenschaftliche Rassismus auch hierzulande nur die gerechte Bedienung einer Menschennatur entdeckt, die es eben wegen ihrer natürlichen Ausstattung zu mehr nicht bringen konnte.
G.Roth kann sich diesem Urteil ebenfalls nicht verschließen. Auch er hält es für möglich, "daß kriminelles Verhalten erfahrungsunabhängig, genetisch-hirnorganisch bedingt ist". Die Frage, woher eigentlich die Gene wissen, welche Taten vom Gesetzgeber jeweils als "kriminell" geahndet werden, wie sie in Erfahrung bringen, was als "kriminelle Tat" gilt, da z.B. bei Uniformierten in Ausübung ihres Berufes ganz legal ist, was Privatpersonen als Vergehen angelastet wird, und woher sie Rechtsstaaten von Unrechtsstaaten unterscheiden können, wo so etwas immer erst das Resultat gewonnener kalter oder heißer Kriege ist, stellt er sich nicht.
Auch ist ihm die Redeweise vom "kriminellen Verhalten" wissenschaftlich wenig suspekt, obwohl mit der gar nicht über das Wollen und Tun von Menschen geurteilt, sondern nur der jeweils herrschende Rechtsstandpunkt als Ordnungs- und Sortierungsmaßstab angelegt wird. Warum der eine Mensch bargeldlos Lebensmittel mitgehen läßt und ein anderer eine Bank überfällt, warum Bilanzen frisiert und Steuern hinterzogen werden, interessiert ihn wenig, solange er am kriminellen Gen als einer "Denkmöglichkeit" festhält.
Wo also die Konkurrenz härter wird, in der die Bürger sich zu bewähren haben, wo immer mehr von ihnen aus den gewohnten Lebensumständen heraus- und nicht einmal mehr in ein "soziales Netz", sondern ganz in ihre armselige Privatexistenz fallen, da ist Wissenschaft gefragt, die die gesellschaftlich hergestellte Aussortierung zu einer Sache der Menschennatur verfabelt. Dadurch ist die herrschende Produktionsweise einmal mehr aus dem Schneider, deren Reichtum auf der Armut derer beruht, die ihn produzieren. Aber auch die Opfer können nicht viel für ihre "Lage". Nicht einmal falsch gemacht haben sie etwas, denn ihre Natur hat für sie nichts anderes vorgesehen. Damit ist alles in einer gerechten Ordnung, weil letztlich jeder an dem Platz ist, an den er seiner Natur nach hingehört.
Daß Bremer "Hirnforschung" von der Universität als Aushängeschild benutzt wird, hat also - so gesehen - nichts mit besonderen Leistungen der "Hirnforschung" zu tun. Sie profitiert vom "Zeitgeist", der gerade Bedarf an neuen/alten Naturalisierungstheorien anmeldet. Ändert der sich, dann hat sie ausgedient und versinkt auch wieder im Geistesbrei pluralistischer Wissenschaftsfreiheit.
c. Allerdings ist auch ein Aufstieg dieser Wissenschaft vom Produzenten nützlicher Legitimationsidiotien zu einer Disziplin, die als Handlungsanleitung für gesellschaftliche Sortierungsvorgänge benutzt wird, nicht ausgeschlossen. Dafür muß der politischen Legislative erstens nur einfallen, daß bestimmte Abweichungen im Denken und Tun von Bürgern tatsächlich eine Sache ihres Gehirns sind, und sie muß zweitens diese Menschen zu Patienten erklären, denen mit einem Hirneingriff wieder zu gesellschaftlich erwünschtem Verhalten verholfen werden kann - wenn sie nicht gleich das Urteil über eine abartige Natur zum Anlaß für den Befund nimmt, daß hier nur noch die "Ausmerzung" hilft. Es braucht nicht einmal einen Faschismus, um die Erfindungen über den naturdeterminierten Willen des Menschen umzusetzen. Das schaffen auch Demokratien. Bei den "Kinderschändern" ist man sich hierzulande schon ganz sicher, daß eine Krankheit vorliegt. Denn wenn erwachsene Männer das mit Kindern machen, was im (Sado-Maso-)Liebesleben unter Erwachsenen an der TV-Tagesordnung ist, es nämlich als Feld verstehen, auf dem sie Beweise ihrer männlichen Überlegenheit erbringen und daraus ihr rassistisches Selbstbewußtsein beziehen, dann liegt nicht mehr "kreative Sexualität", sondern ein Hirnschaden vor. Darin sind sich nicht nur Stammtische, sondern auch Juristenkreise inzwischen einig - die es obendrein begrüßen würden, wenn sich aus Genstrukturen Persönlichkeitsprofile ableiten ließen, mittels derer "verbrecherische Charaktere" frühzeitig dingfest gemacht werden könnten.
Auch G.Roth, der seine Theorie der Naturalisierung gesellschaftlicher Vorgänge konsequent zu Ende denkt, stößt auf die Frage, ob eigentlich die Strafe als Sühne verfängt, wenn doch gar kein individueller Täter zur Rechenschaft gezogen werden kann, der seine Tat bewußt geplant und umgesetzt hat, er vielmehr nur den Befehlen seines Hirns gefolgt ist. Er fragt: Welcher Instanz soll man "Schuld" zurechnen? Und antwortet: "Es müßte sehr sorgfältig diskutiert werden, ob und inwieweit es sowohl bei der Strafe als Sühne wie der Strafe als Erziehung zum Besseren einen großen Unterschied macht, ob man das Ich als Konstrukt bestraft (wenn dieses überhaupt möglich ist), oder das Gehirn und seinen Organismus als autonomes System."(330f; Klammer i.O.!) Roth fragt sich also, wer eigentlich Adressat der Strafe sein soll. Wird das Ich eingesperrt, dann trifft es ja strenggenommen den Falschen. Müßte man also nicht eigentlich das Gehirn bestrafen - doch wie "bestraft" man ein Stück Natur? Durch physische Einwirkung, also mit Elektroden, Skalpellen oder ähnlichem? Es beruhigt keineswegs, daß Roth diese Frage erst "sorgfältig diskutieren" will (S.331). Denn der Skandal liegt bereits in der Frage. Strafe wird in ihr zum medizinischen Sachverhalt erklärt, und mit dem Befund über Schuld und Unschuld ein Rechtsurteil über die Natur gefällt. Allein die Frage seiner Vollstreckung ist bei ihm offen.
Erneut verhält es sich so, daß G.Roth mit diesen Konsequenzen seiner eigenen - falschen - Gedanken mit Sicherheit nichts zu tun haben will. Das ehrt ihn vielleicht unter Moralisten, die wie er die Rolle der Wissenschaft im Kapitalismus verkennen. Es trifft eben nicht zu, daß er nicht "verantwortlich" ist für das, was mit seiner Forschung angestellt wird. Denn erstens legt er selbst großen Wert auf die Anwendbarkeit seiner Ergebnisse. Und da sie nicht auf dem Mond, sondern in jener Gesellschaft Bedeutung erlangen sollen, in der die dafür nötige Forschung alimentiert wird, gehört es zu seinem Geschäft, sich über die gesellschaftlichen Zwecke, denen er in aller Unschuld geistig zuarbeitet, Klarheit zu verschaffen. Zweitens werden seine Urteile gar nicht mißbraucht, wenn sie "zeitgeistgemäß" vereinnahmt werden. Deren legitimatorische Verwendung für alle möglichen unappetitlichen Anliegen folgt der Logik dieser Forschungsarbeiten sachgemäß. Und drittens schließlich sollten auch Geisteswissenschaftler langsam mitgekommen haben, daß in der demokratischen Gesellschaft die Freiheit für ihre Forschung deswegen eingerichtet ist, damit sie sich nicht in das gesellschaftliche Getriebe einmischen, das nach ganz eigenen Interessen die Produkte freien Forschens auf ihre Brauchbarkeit für ideologische und praktische, politische und ökonomische Zwecke untersucht, Brauchbares verwendet und Unbrauchbares im "Elfenbeinturm" der Wissenschaft beläßt. Freiheit der Wissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft das ist Freiheit der Wissenschaftler von der Zwängen materieller Erwerbsarbeit und damit ihre Freiheit für nichts als die Konzentration auf ihre Erkenntnistätigkeit. Ihre Kehrseite besteht in der institutionellen Trennung von allen Interessen, welche die gesellschaftlichen Belange bestimmen. Folglich ist ihre Freiheit in der Forschung umgekehrt die Freiheit der Politik und der Wirtschaft, sich von der Wissenschaft nicht in ihre Belange hineinreden zu lassen. Gerade in der Freiheit der Forschung von jedem politischen Diktat besteht also die Subsumtion der Wissenschaft unter die Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft.
Thesen zu Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit