von Claus Peter Ortlieb
An die Wurzeln gehende Gesellschaftskritik sieht sich wegen ihrer extremen Minderheitsposition heute schnell in der Situation eines Menschen, der in eine Irrenanstalt geraten ist, deren Insassen erkennbar alle dem selben Wahn verfallen sind. Jeder Versuch, die Lage zu klären, führt unweigerlich dazu, selbst für verrückt gehalten zu werden. Normal ist schließlich immer die Mehrheit.
Der herrschende Wahn hält es für die natürlichste Sache der Welt, dass außerhalb der eigenen vier Wände alles in Geld auszudrücken und dieses gefälligst durch Arbeit zu verdienen sei. Wer daran Zweifel äußert, gilt zumindest als verschroben, Wertkritik bestenfalls als gut gemeinte Privatmarotte neben vielen anderen, die diese Gesellschaft hervorbringt.
Schon um der eigenen Selbstbehauptung willen, aber auch, um auf das herrschende Bewusstsein Einfluss nehmen und nicht so ohne weiteres als Spinner abgetan werden zu können, ist daher zu verdeutlichen, woher radikale Gesellschaftskritik ihre Urteile nimmt und worin sich „kritisches Denken“ von „bürgerlichem Denken“ unterscheidet. Davon handeln die folgenden, an Marx und die Marx-Interpretation von Moishe Postone[1] anknüpfenden Ausführungen.
Ihre schlichte Botschaft lautet: Alles Denken (ohne Ausnahme) ist in seinen Formen durch die Gesellschaft determiniert, in der es stattfindet.[2] Sofern sie sich auf frühere oder fremde, z. B. mittelalterliche, indianische oder ostasiatische Kulturen bezieht, ist diese Erkenntnis in den Kulturwissenschaften heute eine Selbstverständlichkeit. Aus noch aufzuhellenden Gründen liegt es dem bürgerlichen Denken jedoch fern, sie auch auf die eigene Gesellschaft anzuwenden. Tut man das, so folgt: Unser Denken, ob kritisch oder nicht, ist in seinen Formen durch die Warengesellschaft bestimmt. Die Besonderheit kritischen Denkens besteht nun darin, dass dieser Umstand mitbedacht, das Denken also stets auf die Warengesellschaft und ihre spezifischen Kategorien (Ware, Wert und nach neueren Erkenntnissen Arbeit) in kritischer Weise rückbezogen ist.
Es geht demnach um die scharfe Zurückweisung aller Versuche, mit ontologischen, einer angeblichen „Seinsbestimmung des Menschen“ zugehörigen Begriffen zu operieren. An dieser Stelle ist eine Abgrenzung zur theoretischen Postmoderne erforderlich, die teilweise ähnlich verstanden wird, allerdings zu Unrecht: Via Sprachkritik gelingt es ihr zwar, die Selbstbegründungen des ontologischen Aufklärungsdenkens zu zerpflücken, aber daraus zieht sie die falschen Schlüsse, weil sie begriffliches Denken und Aufklärungsdenken nicht auseinander hält. Was ihr fehlt, ist gerade der Bezug auf die spezifische Form der Gesellschaft, in der gesprochen und gedacht wird, und deshalb trifft auch sie der Vorwurf der Ontologisierung.
Die hier vorgenommene Unterscheidung von bürgerlichem und kritischem Denken hat für jede (in diesem Sinne) kritische Gesellschaftstheorie Konsequenzen, die nicht nur erkenntnistheoretischer Art sind. Sie betreffen insbesondere die Frage, wo die Grenzen der Theorie liegen: Diese darf sich weder zu einer metaphysischen Interpretation der menschlichen Geschichte hinreißen lassen, indem sie ihr eine gesetzesförmige Dynamik unterstellt, die nur der bürgerlichen Gesellschaft eigen ist, noch ist sie in der Lage, postkapitalistische Gesellschaftsformen positiv zu bestimmen.
Das Marxsche Hauptwerk lautet im Untertitel bekanntlich „Kritik der politischen Ökonomie“, also Kritik einer bzw. der bürgerlichen Wissenschaft und erhebt damit einen erkenntniskritischen Anspruch. Marx erfüllt ihn, indem er zu zeigen versucht, dass die von ihm als solche erkannten Kategorien der kapitalistischen Tiefenstruktur (Ware, Wert, Arbeit, Kapital) sich in Oberflächenphänomenen (Preis, Lohn, Profit, Rente usw.) ausdrücken, die der Tiefenstruktur zu widersprechen scheinen und sie verschleiern, sodass andere Theorien, die an die vielfältigen Erscheinungsformen unvermittelt anknüpfen, ebenso wie das herrschende Alltagsbewusstsein das gesellschaftliche Verhältnis notwendig mystifizieren müssen, etwa so:
„Die Produkte der Erde – alles, was von ihrer Oberfläche durch die vereinte Anwendung von Arbeit, Maschinerie und Kapital gewonnen wird – werden unter drei Klassen der Gesellschaft verteilt, nämlich die Eigentümer des Bodens, die Eigentümer des Vermögens oder Kapitals, das zu seiner Bebauung notwendig ist, und die Arbeiter, durch deren Tätigkeit er bebaut wird.
Die Anteile am Gesamtprodukt der Erde, die unter den Namen Rente, Profit und Lohn jeder dieser Klassen zufallen, werden jedoch in den verschiedenen Entwicklungsstufen der Gesellschaft sehr unterschiedlich sein … . Das Hauptproblem der Politischen Ökonomie besteht im Auffinden der Gesetze, welche diese Verteilung bestimmen.“[3]
Zu den grundlegenden Missverständnissen des Arbeiterbewegungs-Marxismus gehört die Auffassung, Marx habe sich dieser im Vorwort von Ricardos „Principles of Political Economy and Taxation“ formulierten Fragestellung angenommen und nur eine bessere Antwort gefunden als der Fragesteller. In Ricardos Problemformulierung stecken jedoch bereits implizite Vorannahmen, die sich Marx keineswegs zu Eigen gemacht hat, wohl aber der Marxismus. Das betrifft insbesondere die Vorstellung von Arbeit und Wohlstand als transhistorischen, von der jeweiligen Gesellschaftsform unabhängig zu fassenden Begriffen. Als von der Gesellschaft abhängig und daher auch theoretisch klärungsbedürftig bleibt dann nur noch die Verteilung des durch Arbeit geschaffenen Wohlstands. Der Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft ist demgemäß ein Klassenwiderspruch, nämlich der zwischen arbeitender und Kapitalistenklasse, zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung (des Mehrwerts) und der daraus resultierenden Verteilung der Produkte. Als Lösung dieses Widerspruchs bietet es sich an, die Verteilung in die Hände des Staates als Vertreter des Allgemeinwohls zu legen, und schon ist der Sozialismus perfekt und der Übergang zum Kommunismus nur noch eine Frage der technischen Entwicklung.
Obwohl die politische Ökonomie auch 180 Jahre nach Ricardo über den bereits von ihm erreichten Stand nicht wesentlich hinausgekommen ist, zählen ihre linkskeynesianischen und neoricardianischen Vertreter heute immerhin noch zum reflektierteren Flügel der akademischen Volkswirtschaftslehre. Dazu gehört allerdings nicht viel angesichts der Verfallsform bürgerlicher Wissenschaft, die sich mit der „Neoklassik“ als herrschender Lehre breit gemacht hat. Mit sich selbst genügenden mathematischen Modellen befasst, die bereits mit den Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft kaum noch zu vermitteln sind, hat die auf „Ökonomik“ reduzierte VWL inzwischen auch Ricardos Fragestellung eskamotiert und weiß nicht mehr zu sagen, wovon sie eigentlich redet und welche Probleme sie untersucht.[4] Darauf will ich hier aber nicht weiter eingehen.
Kritik der politischen Ökonomie ist etwas anderes als politische Ökonomie. Der Unterschied im Ansatz lässt sich zunächst einmal dadurch bezeichnen, dass alle auch von der politischen Ökonomie verwendeten Begriffe anders als in dieser als für die kapitalistische Gesellschaft spezifische kenntlich gemacht werden. Warenproduzierende Arbeit ist ebenso wenig transhistorisch wie ihre Produkte, die Waren. Dasselbe gilt für die kapitalistische Form des Reichtums, der sich im Wert ausdrückt. Alle diese Kategorien sind durch einen widersprüchlichen Doppelcharakter gekennzeichnet, durch den eine neue Art versachlichter gesellschaftlicher Beziehungen konstituiert und zugleich verschleiert werden:
„In der Warengesellschaft sind die Vergegenständlichungen von jemandes Arbeit die Mittel, um Güter zu erwerben, die andere produziert haben; jemand arbeitet, um an andere Produkte zu gelangen. Sein Produkt dient dann einem anderen als ein Gut, als Gebrauchswert. In diesem Sinne wird ein Produkt zur Ware: Es ist gleichzeitig ein Gebrauchswert für den anderen und ein Tauschmittel für den Produzenten. Dies bedeutet, daß jemandes Arbeit eine doppelte Funktion hat: Auf der einen Seite ist sie eine besondere Arbeit, die bestimmte Güter für andere produziert, doch auf der anderen Seite dient die Arbeit, unabhängig von ihrem besonderen Inhalt, dem Produzenten als das Mittel, um die Produkte anderer zu erwerben. Arbeit wird, in anderen Worten, zu einem eigenen Mittel des Erwerbs von Gütern in der Warengesellschaft. Die Besonderheit der Arbeit der Produzenten wird von den Produkten getrennt, die sie durch ihre Arbeit erwerben. Es gibt keinerlei inneren Zusammenhang zwischen der besonderen Art der verausgabten Arbeit und der besonderen Art der Produkte, die mit dieser Arbeit erworben werden.
Das ist völlig anders als in Gesellschaften, in denen Warenproduktion und Tausch nicht vorherrschen, in denen die gesellschaftliche Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte durch eine große Mannigfaltigkeit von Sitten, traditionellen Bindungen, offener Machtausübung oder – als Denkmöglichkeit – bewussten Entscheidungen bestimmt ist. In nichtkapitalistischen Gesellschaften wird die Arbeit auf der Basis offenkundiger gesellschaftlicher Beziehungen verteilt. In einer Gesellschaft jedoch, die durch die universelle Gültigkeit der Warenform gekennzeichnet ist, erwirbt ein Einzelner die von anderen produzierten Güter nicht auf dem Wege offener gesellschaftlicher Beziehungen. Stattdessen ersetzt die Arbeit selbst – entweder direkt oder ausgedrückt durch ihre Produkte – diese Beziehungen, indem sie als ein ,objektives‘ Mittel dient, mit dem die Produkte anderer erworben werden. Die Arbeit selbst an Stelle offener gesellschaftlicher Beziehungen konstituiert die gesellschaftliche Vermittlung. Damit tritt eine neue Form gegenseitiger Abhängigkeit auf: Niemand konsumiert, was er produziert, doch eigene Arbeit oder Arbeitsprodukte fungieren als notwendige Mittel, die Produkte anderer zu bekommen. Indem sie in dieser Weise als Mittel dienen, treten die Arbeit und ihre Produkte tatsächlich an die Stelle der manifesten gesellschaftlichen Beziehungen. In der Folge ist auch die Arbeit selbst nicht mehr durch offen erkennbare gesellschaftliche Beziehungen vermittelt, sondern durch sich selbst und ihre Vergegenständlichungen, sie wird selbst-vermittelnd. Diese Form der gesellschaftlichen Vermittlung ist einzigartig: im Rahmen des Marxschen Ansatzes ist sie ausreichend, die kapitalistische Gesellschaft von allen anderen existierenden Formen gesellschaftlichen Lebens zu unterscheiden, sodass diese im Vergleich zu jener als in ihren Merkmalen übereinstimmend gesehen werden können – sie können als ,nichtkapitalistisch‘ betrachtet werden, worin auch immer sie sich sonst voneinander unterscheiden mögen.“[5]
Die spezifisch kapitalistische Form gesellschaftlicher Beziehungen, die als gesellschaftliche gar nicht mehr erfahren werden, hat nun vielfältige und widersprüchliche Konsequenzen für die daraus resultierenden Denkformen:
Es entsteht eine scheinbare Distanz zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, die jenen erst als Einzelnen, als Subjekt konstituiert und zugleich die abstrakte Gleichheit der Subjekte als Warenproduzenten und -besitzer herstellt, damit aber auch objektive, abstrakte Denkformen, die allen Subjekten gemeinsam sind und die Theoriebildung erst ermöglichen.[6]
In dieser Weise auf einem Schein beruhend, ist bürgerliches Denken von Anfang an mit einem „Geburtsfehler“ behaftet, der es die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse mystifizieren lässt: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. … Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“[7]
Davon erfasst ist nicht nur das Alltagsbewusstsein, sondern auch die bürgerliche Wissenschaft in ihrer höchst entwickelten Gestalt: „Die späte wissenschaftliche Entdeckung, daß die Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloß sachliche Ausdrücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Arbeit sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, aber verscheucht keineswegs den gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit. Was nur für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist, daß nämlich der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt, erscheint, vor wie nach jener Entdeckung, den in den Verhältnissen der Warenproduktion Befangenen ebenso endgültig, als daß die wissenschaftliche Zersetzung der Luft in ihre Elemente die Luftform als eine physikalische Körperform fortbestehn läßt.“[8]
Kritik der politischen Ökonomie ist nun ebenfalls abstrakte Theorie, bewegt sich also in den Formen bürgerlichen Denkens. Indem sie aber diese Denkformen selbst zu ihrem Gegenstand macht, ihre Genese erhellt und sie ebenso wie die ihr zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse als spezifisch für die eine besondere Gesellschaftsform kenntlich macht, geht sie über bürgerliches Denken hinaus. Dessen Geburtsfehler ist damit zwar nicht behoben, doch werden immerhin die Fallen erkennbar, in denen es sich immer wieder verfangen muss, wovor natürlich auch seine Kritiker keineswegs gefeit sind.
So aber wird überhaupt erst eine Bedingung erfüllt, die notwendig ist, um über die bestehende Gesellschaftsform hinaus (nicht von ihr aus zurück) zu gehen, was im obigen Postone-Zitat beispielhaft verdeutlicht wird: Damit es auch nur denkmöglich wird, die Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte durch bewusste Entscheidungen zu organisieren, müssen einerseits die festen und unveränderlichen persönlichen Beziehungen aufgelöst, muss aber andererseits der Schleier gelüftet sein, der in der Warengesellschaft die versachlichten Beziehungen als gesellschaftliche nicht mehr erkennen lässt.
In der hier gebotenen Kürze lässt sich eine Kritik der politischen Ökonomie natürlich nicht umfassend darstellen. Insbesondere dürfte aufgefallen sein, dass die Kategorie des Kapitals, des sich selbst verwertenden Werts noch gar nicht vorgekommen ist, weil sie für die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen politischer Ökonomie und ihrer Kritik nicht benötigt wird. Es sollte allerdings klar sein, dass die vorausgesetzte universelle Gültigkeit der Warenform erst in einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft erreicht ist, in der auch die Arbeitskraft zur Ware und ihr Verkauf zur vorherrschenden Reproduktionsform geworden ist.
Der dargestellte Unterschied im Ansatz zwischen bürgerlicher Wissenschaft (politische Ökonomie) und kritischer Gesellschaftstheorie (Kritik derselben) muss an dieser Stelle für den Versuch ausreichen, den erkenntnistheoretischen Rahmen der letzteren genauer zu fassen:
Unter allen gesellschaftlichen Fetischverhältnissen, die sich im Laufe der menschlichen Geschichte konstituieren konnten, ist das Kapitalverhältnis das einzige, das seine eigene Kritik hervorgebracht hat. Eine wie immer geartete „kritische Theorie“ etwa des europäischen Mittelalters oder der alten chinesischen Gesellschaft gibt es nicht. Und auch die kritischen Auslassungen eines Platon oder Aristoteles an Entwicklungen ihrer Zeit wurden vom Standpunkt des Bestehenden aus formuliert, sie versuchten nur, eine bereits in Auflösung begriffene Gesellschaft im Namen eines vergangenen angeblich „Goldenen Zeitalters“ zu bewahren. Kritik erfordert Distanz zu ihrem Objekt, Gesellschaftskritik daher Distanz des Einzelnen zu seiner Gesellschaft, wie sie erst die Warenform mit ihren versachlichten gesellschaftlichen Beziehungen hergestellt hat.
Kritische Gesellschaftstheorie hat die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Gegenstand, der zugleich ihren historischen Kontext und die Bedingung bildet, der sie ermöglicht. Sie ist insofern selbst Bestandteil ihres Untersuchungsobjekts. Die strikte Trennung von Subjekt und Objekt, wie sie etwa die Naturwissenschaften kennzeichnet, ist daher schon aus der Logik der Sache heraus nicht möglich. Das heißt aber auch, dass eine Gesellschaftstheorie, die kritisch sein will, selbstreflexiv sein muss. Eine Arbeitsteilung zwischen Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie kann es hier nicht geben.
Kritische Gesellschaftstheorie ist Kritik der bürgerlichen Gesellschaft mit deren eigenem Instrumentarium. Sie untersucht und erklärt die Realität, die Ideale und das Denken der kapitalistischen Gesellschaft und weist sie, damit aber zugleich sich selbst, als historisch spezifisch, an die besondere Gesellschaftsform gebunden aus. Der Standpunkt ihrer Kritik kann daher kein transhistorischer, ontologischer sein, ist doch Bestandteil ihrer Analyse gerade der Nachweis, dass es einen solchen Standpunkt, von wenigen biologischen Gegebenheiten einmal abgesehen, nicht gibt.
Es sind die immanenten Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft selbst, die radikale Kritik ermöglichen. Dabei geht es nicht einfach darum, die Realität dieser Gesellschaft mit ihren Idealen zu konfrontieren. Radikale, an die Wurzeln gehende Kritik weist vielmehr auch die bürgerlichen Ideale (etwa die von Freiheit und Gleichheit) als der Warenform verhaftet aus, von der sie gleichwohl notwendig negiert werden müssen.
Der widersprüchliche Doppelcharakter der kapitalistischen Basiskategorien treibt die Warengesellschaft seit ihren Anfängen in eine für diese Gesellschaftsform spezifische, blinde und über sie hinaus weisende historische Dynamik. Als ein Moment des „prozessierenden Widerspruchs“, der das Kapital laut Marx ist, aber eben auch nur als solches, kann Gesellschaftskritik praktisch werden. Indem sie bestehende Verhältnisse nicht als naturgegeben hinnimmt, sondern als gesellschaftlich konstituierte und damit veränderbare kenntlich macht, indem sie den Kontext sozialer Bewegung analysiert und „das Mögliche im Gegebenen aufdeckt, kann sie helfen, gesellschaftliche Transformation bewusst zu gestalten“.[9]
Die im Folgenden getroffene Unterscheidung zwischen „bürgerlichem“ und „kritischem“ Denken bezieht sich auf die hier dargelegte Charakterisierung des letzteren. Sie bedeutet nicht, dass sich kritisches Denken außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bewegt, eher im Gegenteil: Es geht um das Mitbedenken des eigenen Kontextes und damit des Bewusstseins auch der eigenen Begrenztheit (der des bürgerlichen Denkens sowieso). Kinder der bürgerlichen Gesellschaft sind wir alle, ob nun kritisch oder nicht.
Indem es die spezifisch bürgerliche „Vernunft“ für eine allgemein-menschliche Eigenschaft oder Fähigkeit hält, hat das Aufklärungsdenken es fertig gebracht, die bürgerliche Gesellschaft als höchstes und letztes Stadium menschlicher Geschichte und zugleich als der menschlichen Natur gemäß und letztlich in der Biologie begründet anzusehen und darin noch nicht einmal einen Widerspruch zu erkennen. Dieses Denken ist heute theoretisch unbedarft geworden, indem es auf Begründungen verzichtet, weil es keine mehr braucht. Es ist auch ohne sie fest im Alltagsverstand verankert: Wir leben vielleicht nicht in der besten aller Welten, aber in der einzig möglichen.
Wenn aber die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Naturzustand sind, dann müssen sie schon immer so gewesen sein, nur „weniger entwickelt“. Hieraus speist sich die Idee des linearen Fortschritts, von der „Amöbe bis Einstein“ (Popper[10]) und darüber hinaus, nach immer demselben Muster: Der Kampf des Einzelnen ums Dasein, die Konkurrenz, die zur Höherentwicklung treibt, und wer oder was da nicht mitkommt, wird ausgemerzt. Das alles hat seine innere Logik, doch es ist eigentlich lächerlich leicht zu sehen, dass es sich um die Logik der bürgerlichen Gesellschaft handelt, einem historischen Spezifikum, dessen besondere Eigenschaften der gesamten Geschichte des Menschen und der Natur einfach angedichtet werden.
Auch dem bürgerlichen Denken ist nicht verborgen geblieben, dass seine ontologischen Selbstbegründungen nicht haltbar sind, deren „Dekonstruktion“ heute schließlich in jedes Philosophie-Seminar gehört. So richtig und verdienstvoll aber die Erkenntnis etwa ist, dass Sprache nicht einfach Denken transportiert, sondern umgekehrt erst ermöglicht und prägt, so folgenlos muss sie bleiben, solange das Verhältnis von Sprechen und Denken zur basalen Struktur der Gesellschaft ungeklärt bleibt, in der gesprochen und gedacht wird. Arbeit, Ware und Wert lassen sich nicht als schlichte Diskursprodukte entziffern, soll ihre materielle, von den handelnden und sprechenden Individuen als quasi-naturgesetzlich erfahrene Gewalt nicht einfach vernachlässigt werden. Diskurse zum letzten Grund gesellschaftlicher Veränderung zu deklarieren, lässt die Frage nach ihrer Bewegungsrichtung heimlich verschwinden.
Aus der Unhaltbarkeit ontologischer Begründungen wird nun aber auf die Unmöglichkeit von Begründungen und präzisen Begriffsbildungen überhaupt geschlossen, auf die dann auch sogleich ganz verzichtet wird. Alles ist erlaubt, alle Kriterien für die Schlüssigkeit von Argumentationen entfallen, und eigentlich geht gar nichts mehr. Die solcherart erzeugte Beliebigkeit lässt sich nicht ob des damit verbundenen moralischen Verfalls bzw. Verfalls wissenschaftlicher Standards kritisieren, weil es eine höhere Moral, von dem eine solche Kritik möglich wäre, nicht gibt. Interessanter ist da schon die Frage nach den Gründen der Verfallserscheinungen. Kritisiert werden muss aber die Folgenlosigkeit einer „Theorie“, die aller Möglichkeiten zu präzisen Begriffsbestimmungen beraubt, zahnlos wird. Im akademischen Betrieb stellt sich heute die Wahl zwischen substanzlosen Allmachtsphantasien („Weltformel“, „Künstliche Intelligenz“, „genetische Neukonstruktion des Menschen“) auf Seiten der nach wie vor dem Aufklärungsdenken verhafteten Natur- und selbstverschuldeten, aber nichtsdestoweniger realistischen Ohnmachtsgefühlen auf Seiten der postmodernen Kulturwissenschaften. Dazwischen, betriebsblind und ohnehin keinem wissenschaftlichen Credo mehr verpflichtet, die VWL.
Die theoretische Postmoderne beruht auf einem Fehlschluss, der dem ontologischen Denken geschuldet ist: Aus der Tatsache, dass Sprache und Denken notwendig der Gesellschaft verhaftet sind, in der sie stattfinden, folgt nur die Unmöglichkeit ontologischer Urteile, nicht aber die prinzipielle Undurchsichtigkeit des eigenen, selbstgeschaffenen Kontextes in Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft, die allerdings erst einmal in den Blick genommen werden müsste.
In seinen Blütezeiten gehörte der Arbeiterbewegungs-Marxismus zu den prächtigsten Vertretern des Aufklärungsdenkens, dessen Begriff eines linearen Fortschritts ihm geradezu auf den Leib geschrieben ist. Der kleine Unterschied besteht darin, dass der Kapitalismus nicht das letzte, sondern das vorvorletzte Stadium menschlicher Geschichte sei, danach folge noch Sozialismus und schließlich Kommunismus. In dieser deterministischen Dynamik des „dialektischen“ oder „historischen Materialismus“ findet der Kapitalismus seine positive Rolle als „notwendiges Durchgangsstadium“ zur Herausbildung und Entwicklung von Produktivkräften und Produktionsmitteln, durch die die Menschheit schließlich reif würde für den Eintritt in den Sozialismus. Auch hier ist erkennbar, dass die kapitalistische Dynamik schlicht fortgeschrieben wird, ohne an ihren Grundbedingungen etwas ändern zu wollen. Die Kategorien der kapitalistischen Tiefenstruktur (Ware, Arbeit, Wert) werden ontologisiert.
Die auf den ersten Blick als radikal erscheinende Gegenposition, die den Kapitalismus einfach als „historischen Irrweg“ kennzeichnet,[11] ist allerdings fast ebenso problematisch, im Rahmen kritischer Gesellschaftstheorie jedenfalls nicht zu begründen. Es müsste dazu ja eine Stelle benannt werden, an der die Menschheit sich noch auf dem „richtigen Weg“ befand. Das aber ist nur von einem transhistorischen Standpunkt aus und mit Kriterien möglich, die von den spezifischen Gesellschaftsformen unabhängig, mithin ontologisch sind.
Es kommt hinzu, dass eine derartige Kennzeichnung dem widersprüchlichen Charakter der Warengesellschaft und den damit verbundenen Potenzialen in keiner Weise gerecht wird, womit aber radikale Kritik sich ihre Möglichkeiten selbst verbauen würde: Eine Theorie, die sich ihrer in der bürgerlichen Gesellschaft wurzelnden Bedingungen theoretisch entledigt, hebt sich selbst auf, ohne dass der Gegenstand ihrer Kritik bereits aufgehoben wäre. Es bleibt dann eigentlich nur noch Esoterik.
Kritische Gesellschaftstheorie muss sich der hier formulierten (zugegebenermaßen von mir konstruierten) Alternative schlicht verweigern. Sie entspringt schon als Fragestellung einer Geschichtsmetaphysik, die als solche bereits zu kritisieren ist.
Die Frage „Irrweg oder nicht“ ist außertheoretisch, ihre Beantwortung hängt von der einer anderen Frage ab, die ebenfalls außertheoretisch ist, ob nämlich die Aufhebung der Warenform gelingt oder nicht. Beide Fragen sind übrigens völlig legitim, nur sind die möglichen Antworten darauf nicht theoretischer, sondern praktischer Natur. Zu untersuchen ist, welchen Beitrag kritische Gesellschaftstheorie leisten kann, zu den richtigen praktischen Antworten (Aufhebung gelungen / es war kein Irrweg) zu kommen.
Bekanntlich befinden wir uns noch immer im Strudel der kapitalistischen Dynamik, deren Widersprüche sich gerade im Zuge der mikroelektronischen Revolution krisenhaft zuspitzen. Die Frage nach dem Charakter der Krise ist theoretischer Art (soll heißen: der theoretischen Behandlung zugänglich; natürlich hat sie auch eine eminent praktische Tragweite) und für eine radikale Gesellschaftskritik von zentraler Bedeutung, und das aus verschiedenen Gründen.
Die Krisenerscheinungen sind allenthalben mit Händen zu greifen, gleichwohl werden sie nicht als Erscheinungen einer fundamentalen Krise des warenproduzierenden Systems verstanden, sondern vom Alltagsbewusstsein durch abenteuerliche bis mörderische Konstruktionen („Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg und drücken die Löhne“) und von der VWL mit individuellem oder institutionellem Fehlverhalten („Marktgesetze nicht beachtet“) begründet. Am absonderlichsten ist, dass auch die Restbestände des Marxismus nichts mehr davon wissen oder wissen wollen, dass „die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion das Kapital selbst (ist)“,[12] auch wenn es natürlich eine andere Frage ist, ob diese Schranke jetzt erreicht wird. Verdrängungsmechanismen ist mit theoretischer Einsicht allein nur schwer beizukommen, ohne sie in diesem Falle aber überhaupt nicht, und schon deswegen ist die marxsche Zusammenbruchsdiagnose genauer zu analysieren und mit der heutigen Situation in Beziehung zu setzen.
Die weißen Flecken auf der theoretischen Landkarte, die es hier ganz offensichtlich gibt, haben wesentlich damit zu tun, dass die historisch kurze, lebensgeschichtlich gesehen aber lange Phase des Fordismus den aus marxistischer Sicht zentralen Widerspruch zwischen Produktion und Distribution durch die Eingriffe des (faschistischen, staatskapitalistischen oder keynesianischen) Staates anscheinend aufgelöst hat, damit aber die widersprüchliche kapitalistische Dynamik gleich ganz aus der Theorie hat verschwinden lassen, welche sich dann einer hermetischen, widerspruchsfreien Totalität gegenübersieht, der theoretisch nicht mehr beizukommen ist. Es bleibt nur noch die heroische, da theoretisch nicht mehr gedeckte Hoffnung auf die Revolution in der „politischen Sphäre“ bei gleichzeitig unveränderter „ökonomischer Basis“:
„Zwei entgegengesetzte Momente, der Übergang zur staatlichen Kontrolle und die Befreiung von ihr, sind im Begriff der sozialen Umwälzung in eins gefaßt. Sie bewirkt, was auch ohne Spontaneität geschehen wird: die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die planmäßige Leitung der Produktion, die Naturbeherrschung ins Ungemessene. Und sie bewirkt, was ohne aktive Resistenz und stets erneute Anstrengung der Freiheit nie eintritt: das Ende der Ausbeutung.“[13]
Doch woher soll die soziale Umwälzung kommen? Ihre Möglichkeit gründet hier nicht mehr in bestehenden Widersprüchen, sondern ist nur noch als Sprung aus der Geschichte denkbar. Die theoretischen Schwächen einer solchen Position rühren aus der vom traditionellen Marxismus übernommenen Ontologisierung der Arbeit, die nur als Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur, nicht aber als widersprüchliche Basis warenförmiger Beziehungen verstanden wird. Die Arbeit kommt zu sich selbst, allerdings nicht – wie in der Vorstellung des Arbeiterbewegungs-Marxismus – als Quelle der Emanzipation, und der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit bleibt auch nach dem Kapitalismus unaufgehoben.[14]
Nach dem Ende des Fordismus und indem der Kapitalismus selbst die Arbeit obsolet macht, ist natürlich viel leichter zu sehen, dass es sich schwerlich um eine transhistorische, aller menschlichen Gesellschaft zu Grunde liegende Kategorie handeln kann. Dass nun aber ausgerechnet diese eine, besondere Gesellschaftsform, die auf Arbeit basiert, dabei ist sie abzuschaffen, macht die Krise aus, mit der wir es zu tun haben.[15]
Die Einschätzung des Charakters der Krise bestimmt deren Verlauf und Ausgang. Erst wer die Alternative vor Augen hat, nämlich die einer Gesellschaft von Arbeits- und Warensubjekten ohne Arbeit und Waren, kann auf die für das herrschende Bewusstsein völlig verrückte Idee kommen, es müsse jetzt um die Aufhebung der Warenform selbst gehen. Die wenigen, die so weit sind, ob nun theoretisch begründet oder nicht (eher letzteres), rufen nach positiven Perspektiven. Das ist verständlich, lässt Theorie aber an ihre Grenzen stoßen.
„Die Aufgaben, die gelöst werden müssen, sind von geradezu ergreifender Schlichtheit. Es geht erstens darum, die real und in überreichem Maße vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und nicht zuletzt menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, daß allen Menschen ein gutes, genußvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird. Unnötig der Hinweis, daß dies längst mit Leichtigkeit möglich wäre, würde die Organisationsform der Gesellschaft diesen elementaren Anspruch nicht systematisch verhindern. Zweitens gilt es, die katastrophale Fehlleitung der Ressourcen, soweit sie überhaupt kapitalistisch mobilisiert werden, in sinnlose Pyramidenprojekte und Zerstörungsproduktionen zu stoppen. Unnötig zu sagen, daß auch diese ebenso offensichtliche wie gemeingefährliche „Fehlallokation“ durch nichts anderes als die herrschende Gesellschaftsordnung verursacht ist. Und drittens schließlich ist es erst recht von elementarem Interesse, den durch die Produktivkräfte der Mikroelektronik gewaltig angeschwollenen gesellschaftlichen Zeitfonds in eine ebenso große Muße für alle zu übersetzen statt in „Massenarbeitslosigkeit“ einerseits und verschärfte Arbeitshetze andererseits.“[16]
So geht es, ist aber beinahe schon alles, was Theorie auf einer allgemeinen Ebene sagen kann. Kritische Gesellschaftstheorie ist Theorie und Kritik der Warengesellschaft, eine Theorie (in diesem Sinne) einer postkapitalistischen Gesellschaft kann es nicht geben. Gesellschaftstheorie setzt den blind gesetzesförmigen, versachlichten und abstrakten Zusammenhang der gesellschaftlichen Beziehungen voraus, der doch gerade aufgehoben und durch bewusste Entscheidungen (und nicht durch neue Gesetzmäßigkeiten) ersetzt werden soll. Mehr als „das Mögliche im Gegebenen aufzudecken“ (Postone) kann Theorie nicht leisten, der Rest ist eine Praxis, die mit der Warenform auch deren Kritik aufhebt. Wertkritik, wenn sie denn erfolgreich sein sollte, ist in diesem Sinne selbstaufhebend, denn „alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.“[17] Dass sie auseinander fallen, ist eben ein Spezifikum der Warengesellschaft.
Was auf der allgemeinen Ebene geht, ist natürlich auch in jedem konkreten Einzelfall möglich. Es dürfte kaum noch Ressourcen oder Produktionsverfahren geben, die nicht um der Ausnutzung von „Kostenvorteilen“ willen desorganisiert werden. Erinnert sei hier nur an die irrsinnigen Materialflüsse und Transporte, die heute zur Herstellung auch nur des bekannten Bechers Joghurt[18] als betriebswirtschaftlich erforderlich gelten, von komplexeren Produkten, deren Einzelteile in rund um den Globus verteilten Orten hergestellt werden, ganz zu schweigen. Um aufzudecken, was ohne die Restriktionen der Rentabilität möglich wäre, bedarf es des Sachverstands im Einzelfall und der schlichten theoretischen Einsicht, dass Betriebswirtschaft keine Naturwissenschaft, also die Gesetze des Marktes keine Naturgesetze sind.
Der Zweck derartiger Untersuchungen dürfte angesichts der realen gesellschaftlichen Situation zur Zeit allerdings weniger in der Ausgestaltung der Aufhebung als im Nachweis ihrer Notwendigkeit liegen. Hier liegt deutlich der Schwerpunkt theoretischer Anstrengungen, er kann gar nicht in der Entwicklung positiver Utopien der neuen Gesellschaft liegen.
Davon betroffen ist das Verhältnis theoretischer Bemühungen zu Initiativen, die ihre eigenen Aktivitäten als praktische Schritte zur Aufhebung der Warenform verstehen. Für die Theorie sind sie interessant, weil sie einen Beitrag leisten, das „Mögliche im Bestehenden“ auszuloten, kritische Gesellschaftstheorie kann sich aber auf derartige Initiativen nicht positiv beziehen, sie ist ihrer Natur nach negativ auf die bestehende Gesellschaft bezogen, könnte also allenfalls aufzeigen, in welcher Hinsicht die Warenform nach wie vor nicht aufgehoben ist. So etwas kann die persönlichen Beziehungen belasten, was sich nur durch ein klareres Verständnis der Rolle von Theorie vermeiden ließe.
Den Segen für nicht warenförmige Beziehungen kann Theorie nicht erteilen, das müssen die Beteiligten gegebenenfalls auch ohne sie schon selber tun.[19]
[1] M. Postone: Time, labor, and social domination. A
reinterpretation of Marx‘s critical theory, Cambridge 1996
[2] Oder knapper ausgedrückt: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Diese nicht besonders neue Einsicht scheint mir allerdings auch von denjenigen, die sie propagieren, leicht vergessen zu werden.
[3] D. Ricardo: Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, Marburg 1994, Vorwort.
[4] Wer es nicht glauben mag, werfe einen unvoreingenommenen Blick in die Einleitung eines beliebig herausgegriffenen Standardlehrbuchs der VWL.
[5] Postone 1996, S. 149/150, Übersetzung C.P.O.
[6] Auf eine weitere Voraussetzung theoretischen Denkens soll zumindest hingewiesen werden. Bei R. Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2000 heißt es (S. 115), dass die mit der Wertvergesellschaftung unlösbar verbundene Abspaltung des Weiblichen „eine Vorbedingung dafür (ist), daß das Lebensweltliche, das Kontingente, das Nicht-Analytische, aber auch begrifflich nicht Erfaßbare vernachlässigt wurde und in den männlich dominierten Bereichen von Wissenschaft, Ökonomie und Politik in der Moderne weithin unterbelichtet blieb“. Die Abspaltung des privaten, als weiblich konnotierten Bereichs ist geradezu konstitutiv für die westliche Wissenschaft und führt im Extremfall zu Auffassungen, alles was sich nicht naturwissenschaftlich fassen lässt, für nicht verhandelbar zu erklären (vgl. C. P. Ortlieb: Bewusstlose Objektivität, Krisis 21/22, 15 – 51). Dieser Strang wird hier nicht weiter verfolgt, sollte aber immer beachtet werden: „Theorie“ ist nicht dasselbe wie „Denken“.
[7] MEW 23, S. 86-87.
[8] MEW 23, S. 88, Hervorhebung C.P.O.
[9] Postone 1996, S.. 89.
[10] Vgl. K. Popper: Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 288 ff. Popper schlägt allen Ernstes eine „darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts“ vor, in der er bereits Amöben Hypothesen über ihre Umwelt bilden lässt: „Während also das tierische und das vorwissenschaftliche Wissen hauptsächlich dadurch wächst, daß diejenigen, die untüchtige Hypothesen haben, selbst ausgemerzt werden, läßt die wissenschaftliche Kritik oft unsere Theorien an unserer Stelle sterben; sie merzt dann unsere falschen Vorstellungen aus, ehe wir selbst ihretwegen ausgemerzt werden.“
[11] Am häufigsten anzutreffen ist diese Position in Gestalt einer verkürzten Wissenschafts- und Technikkritik, die vom Kapitalismus abstrahiert, als habe der mit seiner wissenschaftlich-technischen Produktionsweise gar nichts zu tun. Also zurück ins Mittelalter, aber bitte schön warenförmig!
[12] MEW 25, S. 260
[13] M. Horkheimer: Autoritärer Staat, Gesammelte Schriften, Band 5, S. 307, Frankfurt 1997
[14] vgl. die ausführliche Auseinandersetzung von Postone 1996, S. 90-120 mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.
[15] Werttheoretiker, die gleichwohl von der Lebensfähigkeit des Kapitalismus überzeugt sind, hätten eigentlich die Begründungspflicht, zumindest anzudeuten, worin denn wohl die neue kapitalistische Regulation unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution bestehen könnte. Was ich vorfinde (aber vielleicht habe ich etwas übersehen), sind allgemeine Hinweise darauf, dass der Kapitalismus immer schon krisenhaft gewesen sei, ohne deswegen bisher zusammengebrochen zu sein, was natürlich richtig ist, woraus aber nichts weiter folgt. Die zur Zeit in den Streifzügen (zuletzt 2/2000, S. 4-8) tobende Polemik zwischen Michael Heinrich und Norbert Trenkle ist dafür ein Beispiel. Heinrich bezieht eine gewisse scheinbare Stärke einzig daraus, dass er sich letztlich auf eine akademische bzw. philologische Frage zurückzieht: Ob nämlich Marx nur in den „Grundrissen“ oder auch im „Kapital“ zusammenbruchstheoretisch argumentiert habe. Auch wenn sie von einem Denker des Kalibers eines Karl Marx stammen, so heißt es, 130 Jahre alte Texte doch wohl ein wenig zu überfordern, von ihnen die Klärung aller heute anstehenden Fragen zu erwarten.
[16] R. Kurz: schwarzbuch kapitalismus, Frankfurt 1999, S. 782.
[17] MEW 25, S. 825.
[18] vgl. Zeitmagazin 29.1.93. Ein anderes Beispiel: Die „frischen Nordseekrabben“, die man in Hamburg in jedem Fischladen bekommt, machen auf dem Weg von der Nordsee zum Verbraucher einen kleinen Umweg über Nordafrika, wo sie „gepuhlt“ werden, wie der Norddeutsche sagt. Die VWL kann das natürlich nur positiv sehen: Nordafrika verschafft sich eben durch einen „komparativen Kostenvorteil“ seinen Anteil am Weltmarkt. Aber auch damit wird es durch den Einsatz von Maschinen demnächst vorbei sein.
[19] vgl. die in ähnliche Richtung gehenden Überlegungen von F. Schandl: Bewegungsversuche auf Glatteis. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis, Streifzüge 2/2000, S. 8-12, in denen er für eine „konstruktive Distanz“ zwischen Theorie und Praxis plädiert, zum Vorteil beider.