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in stark gekürzter Form erschienen in
Frankfurter Rundschau vom 28.10.2005

Quantenquark: Über ein deutsches Manifest

Eine kritische Stellungnahme zu „Potsdamer Manifest“ und „Potsdamer Denkschrift“

von Claus Peter Ortlieb und Jörg Ulrich

Im Jahre 1955 formulierte Bertrand Russell angesichts der Entwicklung der Massenvernichtungswaffen ein Manifest, dem Albert Einstein kurz vor seinem Tode als prominentester Mitunterzeichner beitrat. Das so genannte Russell-Einstein-Manifest fordert in durchaus pathetischer, aber dennoch klarer Diktion zu einem „neuen Denken“  auf: Es stelle sich nicht mehr die Frage, auf welchem Wege militärische  Siege errungen werden können, weil diese Möglichkeit in einem Nuklearkrieg gar nicht mehr bestehe. „Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist vielmehr: Auf welchem Wege lässt sich eine militärische Auseinandersetzung verhindern, deren Ausgang für alle Parteien nur noch unheilvoll sein kann.“ Die Alternative bestehe letztlich darin, entweder der Menschheit oder aber dem Krieg ein Ende zu setzen. Dass es gerade Naturwissenschaftler waren, die sich hier zu Wort meldeten, wurde mit ihrer genaueren Kenntnis der Zerstörungskraft thermonuklearer Waffen begründet, in gewisser Weise also mit ihrer Fachkompetenz.

50 Jahre später wird wieder ein Manifest veröffentlicht, das sich selber in der Nachfolge des Russell-Einstein-Manifestes sieht. Doch das ist bestenfalls ein Missverständnis. Das „Potsdamer Manifest 2005“ (http://vdw-ev.de/manifest/manifest_de.pdf) und seine Langfassung, die „Potsdamer Denkschrift 2005“ (http://vdw-ev.de/manifest/denkschrift_de.pdf), verfasst von dem Physiker Hans-Peter Duerr, dem Geografen Daniel Dahm und dem Sozialwissenschaftler Rudolf zur Lippe, erweisen sich in einem eigentlich überwunden geglaubten Sinne als ein Produkt der „deutschen Ideologie“. Der einzige Anknüpfungspunkt zum Russell-Einstein-Manifest ist dessen Formulierung vom „neuen Denken“. Doch weder die dunkel wabernde Diktion noch der mit ihr transportierte Inhalt haben mit dem 50 Jahre älteren Vorbild irgend etwas gemein. Mit dem „neuen Denken“ ist ein ganz altes gemeint, eine Art völkischer Esoterik, die von sich gewiss behaupten kann, im Trend zu liegen, wie etwa die gerade angelaufene Kampagne „Du bist Deutschland“ zeigt. Jener Deckel passt auf diesen Eimer, auch wenn das wohl nicht in der Intention seiner Autoren liegt. Sie meinen ja nicht nur „Deutschland“, sondern „die ganze Welt“, doch auch das hat bekanntlich Tradition.

Die Fachkompetenz, die von den Autoren des „Potsdamer Manifestes“ in Anspruch genommen wird, liegt u. a. in der Quantenphysik und soll hier nicht bestritten werden. Nur hat das ganze Manifest mit Quantenphysik nicht wirklich etwas zu tun, es geht vielmehr um die Propagierung eines „neuen Denkens“ im Angesicht und zur Lösung der offenbaren Krise der modernen Gesellschaft, insofern ist die beanspruchte Fachkompetenz eine bloß angemaßte. Das eigentlich Unzusammenhängende wird allerdings durch eine Idee miteinander verbunden, die sich nur als irrwitzig bezeichnen lässt, die Idee nämlich, menschliches Zusammenleben künftig nach quantenphysikalischen Prinzipien oder was dafür gehalten wird zu organisieren. Eine Kostprobe (Manifest S. 2):

Was hier stattfindet, ist eine Verlängerung des Biologismus „nach hinten“ in die subatomaren Vorgänge hinein. Im Kontext des Manifestes besteht der Sinn dieser abenteuerlichen Konstruktion darin, eine Art „biologistischer Weltformel“ zu begründen: Da jedes noch so komplexe System letztlich aus Elementarteilchen besteht, laufe alles nach demselben Prinzip:

unbelebte Natur = belebte Natur = Kultur,

Biologistisch-organizistische Interpretation des Sozialen

Doch der Schein trügt, wird aber nur denjenigen Leserinnen und Lesern als solcher deutlich, die kein naives Verständnis von Aufklärung haben. Wir können heute wissen, dass die Aufklärung von Beginn an in ihrem Innersten verbunden ist mit ihrem auf „Natur“, „Mythos“ und irrationale Einheitsbeschwörungen rekurrierenden vermeintlichen Gegenteil. Sie schlägt nicht nur, wie dies Horkheimer und Adorno einmal formuliert haben, auf der Höhe ihres Triumphes in Mythologie zurück, sondern diese gehört untrennbar zu ihr. „Einheit bleibt die Losung“ (Horkheimer/Adorno), ob es nun um die rationalistische-aufklärerische oder um die irrationalistisch-vitalistische Seite der modernen Medaille geht.

Den Autoren des Manifestes ist dieser Umstand offensichtlich nicht bekannt, sie sehen aber durchaus die Gefahr, falsch zugeordnet zu werden, und beeilen sich, den Vorwurf des Biologismus gleich vorab zurückzuweisen. Sie betonen (Denkschrift S. 6), es handle sich bei ihren Aussagen über das allumfassende Leben keineswegs um einen „Biologismus im alten Sinne, dem die Bedeutung des Determinierten und Ungeistigen anhaftet, denn Prä-Lebendigkeit ist Wesenszug von allem, auch der zu Grunde liegenden dinglichen  – gewöhnlich als ‚tot’ begriffenen –  Wirklichkeit.“

Zwar bemerken sie bei sich selbst eine gewisse „Nähe zu einem mechanistisch verengten Naturalismus“, beteuern aber, ihr Naturalismus bzw. Biologismus sei eben gerade nicht jener alte, abgeschmackte Blut und Boden-Organizismus, sondern genau das „neue Denken“ und damit etwas ganz Anderes. Da stellt sich, wenn denn das neue Denken wirklich so neu ist, die Frage, warum es die erwähnte Nähe zum alten Biologismus dann noch gibt. Und in der Tat ist es nicht einsichtig, warum organizistisches Denken keines mehr sein sollte, bloß weil es auf das ausgedehnt wird, was bisher als „tote Materie“ galt. Auch in der „Allverbundenheit“ haben sich die Menschen gefälligst als Teil eines höheren Ganzen zu verstehen, in welches sie organisch eingebunden sind, als „Faser im Gewebe des Lebens“, wie es im Manifest heißt.

Die Autoren behalten in diesem Zusammenhang auf unfreiwillig ironische Art und Weise gegen sich selber recht, wenn sie behaupten, mit ihrem „neuen Denken“ werde ein „(n)eues, doch uns wohl vertrautes Menschenbild [...] sichtbar.“ Dass das Neue bereits vertraut sein soll, kann ja nur daran liegen, dass es so neu nun auch wieder nicht ist. „Unsere Existenz als Menschen heute zeigt uns, dass auch wir das Ergebnis einer [...] schon Milliarden Jahre währenden Entwicklung sind.“ Vor Milliarden Jahren also waren wir als Menschen sozusagen schon angelegt, und eben erst aus einer solchen imaginären Ursuppe aufgetaucht, sollen wir auch gleich wieder in ihr verschwinden, denn „die Lebendigkeit sprießt in uns allen.“ Nichts Neues also unter der Sonne außer „Natur“ und „Leben“. Nicht zu vergessen die „Liebe“, hier aber nicht auf konkrete Personen bezogen, sondern als universelles Prinzip und „Form der Freiheit“. Die Autoren zeigen nicht  einmal den Anflug einer Ahnung davon, dass das Zwingen des Konkreten unter abstrakte Formprinzipien das zentrale Charakteristikum ist des modernen Denkens und seines Subjekts, welches als strukturell männliches sich über die Welt erhebt und tendenziell ausgrenzt bzw. eliminiert, was sich mit dem „freien Willen“ des „freien Mannes“ als nicht kompatibel erweist. In diesem Sinne ist das Manifest auch ein ganz männlicher Text mit einem prinzipiell frauenfeindlichen Grundmuster, das der westlichen Wissenschaft allerdings noch nie sonderlich fremd gewesen ist.

Letztlich erklärt das Manifest die gesellschaftliche „Natur“ des Kapitalismus zur „natürlichen Gesellschaft“, die man als solche gar nicht mehr betrachten muss, weil ja ohnehin alles letztlich in „Natur“ aufgeht, inklusive der universellen Konkurrenz, die zum „kooperativen Wetteifern“ verniedlicht wird. Letztlich ist also „das Leben“ auch nach der neuen Weltsicht der Manifestschreiber wieder „Kampf ums Überleben“ – diesmal als weltweiter Kampf der Menschheit als ganzer um jene ominöse Höherentwicklung, die schon vor sehr langer Zeit begonnen hatte.

Krisenursachen

Die gesellschaftlichen Ursachen und Gründe für die weltweite Krise können überhaupt nicht ins Blickfeld geraten, ist doch alles recht eigentlich schon immer von der reinsten Harmonie durchdrungen, die Krise lediglich ein Resultat falschen oder veralteten Denkens. Denken neu, alles neu. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Krise lösen sich in vermeintlich natürliche auf. Mehr noch: Die für die Krise ursächliche gesellschaftliche Dynamik der rastlosen Veränderung und Umwälzung aller Verhältnisse im weltumspannenden Kapitalismus wird auf diese Weise zur natürlichen Dynamik erklärt, und die Überwindung der Krise kann daher auch nicht in einer Überwindung dieser Verhältnisse bestehen. Im Gegenteil: Es geht darum, „die Kraft des Differenzierten, Bewegten, des Sich-Wandelnden für uns zu nutzen.“ Dies erfordert eine „strategische Ausrichtung am Paradigma des Lebendigen.“ Die Existenz der Menschen als soziale Wesen in einem jeweils bestimmbaren historischen und sozialen Kontext kommt in einer solchen Ausrichtung konsequenterweise nicht vor. Dass diese mit dem militärischen Begriff „strategisch“ charakterisiert wird, gibt darüber hinaus zu denken, soll es doch insgesamt darum gehen, der Allverbundenheit, die im Manifest mit dem Begriff der Liebe synonym gesetzt wird, endlich in vollem Umfang gewahr zu werden.

Überall dort in Manifest und Denkschrift aber, wo die Erklärungen nicht nur das „alte Denken“ verantwortlich machen, sondern sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzunähern versuchen, geraten sie sogleich zu Verschwörungstheorien bis hin zum strukturellen Antisemitismus. Da ist die Rede von verhängnisvollen „Machtstrategien“, deren Träger nicht näher benannt werden, von „Machtinteressen von Hegemonialmächten“, von der „strukturellen Gewalt ..., die von der hochzentralisierten Realwirtschaft und der weltweit eng verflochtenen Finanzwirtschaft ausgeht“, von einem „lebensfeindlichen finanziellen Netzwerk“ oder der „weltweiten Hegemonie des Finanzkapitals, das nicht mit der Marktwirtschaft gleichgesetzt werden darf“. Spätestens hier sollten eigentlich die Alarmglocken schrillen. Das alles gab es schon einmal, auch wenn hier nicht ausdrücklich, sondern nur sinngemäß von dem guten „schaffenden“ und dem schlechten „raffenden“ Kapital die Rede ist. Doch so geschichtsvergessen, wie das Manifest daherkommt, wissen seine wohlmeinenden Autoren vermutlich nicht einmal, in welche Fußstapfen sie da treten, wodurch ihr Produkt aber nicht weniger grauenhaft erscheint.

Dabei könnte es doch jede und jeder bereits aus der eigenen Alltagserfahrung heraus wissen, dass ohne Wertverwertung, ohne den selbstzweckhaften Antrieb, aus Geld mehr Geld zu machen, ohne Aussicht auf Profit also in der nirgendwo in Frage gestellten Marktwirtschaft nichts liefe, nicht die geringste wirtschaftliche Aktivität mehr stattfände. Und wir alle, ob nun noch dem „alten Denken“ verhaftet oder bereits vom „neuen“ erleuchtet, machen mit und müssen mitmachen schon um des nackten Überlebens willen. Das lässt sich nicht einfach wegdenken. Das Kapital ist keine finstere Machenschaft mächtiger Gruppen, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, das alle ihm Unterworfenen erfasst und sie prägt bis tief in ihr Denken hinein. Nachzulesen bei Karl Marx, Das Kapital, Band 1 (wenigstens den), aber auch das ist wohl schon zu viel verlangt.

Die ökologische Krise, der Raubbau an nicht erneuerbaren Ressourcen im großen Stil und die absehbare Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen sind notwendiger Bestandteil dieser Gesellschaftsform. Solange an ihr nicht gerüttelt wird, bleiben sie ein „hinzunehmendes Übel“, und das ist keineswegs eine bloße Frage der Wahrnehmung, wie das Manifest es nahe legt. Eine ökologisch nachhaltige Marktwirtschaft kann es ebenso wenig geben wie einen Kapitalismus ohne Wachstum, hier bleibt nur ein Entweder - Oder. Damit freilich wird ein Tabu berührt und eine Grenze des Denkens erreicht, die auch das „neue Denken“ nicht überschreiten will und kann, sodass es zwangsläufig in Verschwörungstheorien und Esoterik abdriften muss.

Zu den Grenzen der Naturwissenschaft

Nun lässt sich in der Tat ein innerer Zusammenhang zwischen der neuzeitlichen Wissenschaft und der bürgerlichen Gesellschaft nachweisen, die sich seit Beginn des 17. Jahrhunderts in ihrem Aufstieg wechselseitig verstärkt haben. Zum einen hat die Naturwissenschaft dem Bürgertum in seinem Kampf gegen den Feudalismus das ideologische Rüstzeug geliefert nach dem Muster: Wenn die Natur universellen Gesetzen folgt, dann ist eine Gesellschaft „natürlich“, die auf allgemeinen Prinzipien und Gesetzen beruht statt auf persönlicher Herrschaft. Und umgekehrt entspringt die vortheoretische Annahme, die die neuzeitliche Wissenschaft allererst möglich macht (das Kant'sche Apriori), dass nämlich die Vernunft nach (im Idealfall mathematischen) Gesetzen und nichts sonst zu suchen habe, auf sehr eindeutige Weise dem bürgerlichen Denken, das dem Mittelalter etwa  völlig fremd war. Insofern lässt sich darüber streiten, ob das materialistisch-mechanische Weltbild wirklich auf der mathematischen Naturwissenschaft beruht oder nicht vielmehr aus anderen Quellen eben der Gesellschaft schöpft, die auch diese Wissenschaft erst hervorgebracht hat.

Unbestreitbar aber ist, dass sich bereits dieses Weltbild – wie jedes andere auch – nicht naturwissenschaftlich ableiten ließ. Die Naturwissenschaft bewährt sich (oder versagt) in technisch erst herzustellenden experimentellen Situationen und nur dort; auch ihre unbestreitbaren technischen Erfolge verdankt sie allein diesem Vorgehen. Über die Welt außerhalb von Experiment und Technik kann sie nur wenige, über die menschliche Gesellschaft überhaupt keine Aussagen machen, es sei denn, sie verlässt ihren eigenen Boden und wird ideologisch. Das „Orientierungswissen“, das vom Manifest eingeklagt wird, ist von der Naturwissenschaft nicht zu haben.

An dieser Situation hat auch die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts und insbesondere die Quantenphysik nichts geändert. Schließlich hat sie ja den naturwissenschaftlichen Rahmen nicht gesprengt, sondern ihn mit ihren nur noch mathematisch fassbaren Modellen erst so recht deutlich gemacht. Niels Bohr etwa, dem eine genaue Bekanntschaft mit der neuen Physik getrost unterstellt werden darf, konstatiert in diesem Zusammenhang ganz nüchtern und unromantisch: „Es gibt keine Quantenwelt. Es gibt eine abstrakte quantenphysikalische Beschreibung. Es ist falsch anzunehmen, dass es die Aufgabe der Physik sei, herauszufinden, wie Natur ist. Physik interessiert sich für das, was wir über die Natur sagen können.“ Auch für die Quantenphysik also ist der abstrakt-objektivierende Zugriff auf die Natur entscheidend und die Möglichkeit der Umsetzung ihrer Ergebnisse in Technik. Und schon gar nicht kann sie herhalten für die Rede von der Verbundenheit von allem mit allem unter dem umfassenden Begriff des Lebens.

Äußern sich Naturwissenschaftler zu gesellschaftlichen Problemen öffentlich, so ist das durchaus legitim, doch tun sie es nie allein aus ihrer naturwissenschaftlichen Fachkompetenz heraus. Und das sollte um der intellektuellen Redlichkeit Willen dann auch deutlich gemacht werden. Auch Naturwissenschaftler lassen sich von gesellschaftlichen Trends beeinflussen, im Falle des hier in Rede stehenden Manifestes ist es jener, in dem heute viele mit schwimmen und hoffen, so der Krise der modernen Gesellschaft entkommen zu können: Die Flucht in die völkische und biologistische Esoterik. Es steht damit in der legitimen Nachfolge des österreichischen  Physikers und  Esoterikers Frithjof Capra, der sich mit seinen quantenphysikalisch motivierten Phantasmen Anfang der 1980er Jahren zum Guru der New-Age-Bewegung aufschwingen konnte. Auch die Scharlatanerie hat ihre Geschichte. Zu ihr gehört das Potsdamer Manifest. Es in eine Linie mit dem Russell-Einstein-Manifest zu stellen, ist nur der missglückte Versuch einer Usurpation.