Die Kernstellen aus Staatlichkeit und Anarchie

 

von Michail Alexandrowitsch Bakunin

(1873)

-thematisch geordnet-

Herausgegeben von der Bakunin Arbeitsgemeinschaft

 

Vorwort

Staatlichkeit

Staatskommunismus

Empirismus

Soziale Revolution

Kollektivismus

Analyse von Machteinflüssen

Internationalismus

Zukunft

Nachwort (Errico Malatesta über Bakunin)

Bakunin

 

 

Vorwort

 

Bakunins umfangreichste Schrift sollte revolutionärer Propaganda in Rußland dienen. Nach H.Stuke (s.u. S.414) "förderte 'Staatlichkeit und Anarchie' wirkungsvoll die Ausbreitung seiner Ideen in Rußland, obwohl es nirgends zur Bildung einer rein bakunistischen Organisation kam." Die gleichzeitig in Westeuropa nahezu unbekannte Schrift behandelt stark historische Inhalte; Bakunin nimmt diese jedoch öfters zum Anlaß, an ihnen seine Ideen zu entwickeln. Diese Ideen einem größeren Kreis vorzustellen, ist der Zweck dieser Broschüre. Dabei Bakunin selbst sprechen zu lassen, ist wohl der beste Weg, seine Anschauungen deutlich zu machen. Die Auswahl der Textstellen richtete sich nach dem (sicher subjektiven) Kriterium, Bakunins Schrift, soweit sie für heute interessant ist, wiederzugeben. Unter diesen Umständen mußten beispielsweise nur geschichtlich interessante Stellen zugunsten von programmatischen Äußerungen unter den Tisch fallen.

 

Ausgehend von der ersten deutschen Originalübersetzung in Michail Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie Herausgegeben und eingeleitet von Horst Stuke Ullstein Materialien 1972 sind die wohl wichtigsten Textstellen - thematisch geordnet - im Folgenden wörtlich wiedergegeben; hinzugefügt sind allein die Zwischenüberschriften und alles Eingeklammerte, Hervorhebungen sind von der erwähnten Quelle übernommen worden.

 

 

Staatlichkeit

 

"Kein Staat, wie demokratisch auch immer seine Formen sein mögen, und sei es die röteste politische Republik - was mit Volksrepublik Ja nur im Sinne jener unter dem Namen Volksvertretung bekannten Lüge bezeichnet werden kann - kein Staat also kann dem Volk das geben, was es braucht, nämlich die freie Organisation der eigenen Interessen von unten nach oben, ohne jede Einmischung, Bevormundung oder Nötigung von oben, weil jeglicher Staat, selbst der republikanischste und demokratischste, letzten Endes nichts anderes darstellt, als die Beherrschung der Massen von oben nach unten, durch eine intellektuelle und eben dadurch privilegierte Minderheit, die angeblich die wahren Interessen des Volkes besser erkennt, als das Volk selbst.So ist es also für die besitzenden und herrschenden Klassen entschieden unmöglich, den Leidenschaften und Bestrebungen des Volkes gerecht zu werden; deshalb bleibt nur ein Mittel - staatlicher Zwang, mit einem Wort, der Staat , weil Staat gleichbedeutend ist mit Zwang , Herrschaft durch Zwang, wenn möglich getarnt, notfalls aber auch ohne Umschweife und offen." (S.439/40)" ... staatlich, und d.h. in all ihren inneren und äußeren Erscheinungsformen mit legalem Zwang verbunden ... " (S.543)

 

"Das bedeutet, daß Gambettas Staat für das Volk ebenso drückend und verheerend sein wird, wie alle vorhergegangenen, die zwar offener, aber keineswegs gewaltsamer verfahren sind; und eben weil er sich in weiterreichende demokratische Formen hüllt, wird er der gierigen, reichen Minderheit eine ungestörte und unbeschränkte Ausbeutung der Arbeit des Volkes in stärkerem und wesentlich zuverlässigerem Ausmaß garantieren. Als Staatsmann der neuesten Schule fürchtet Gambetta weder weitreichende demokratische Formen noch das allgemeine Wahlrecht. Er weiß besser als jeder andere, wie wenig Garantien sie für das Volk enthalten, wie viele dagegen für die es ausbeutenden Personen und Klassen; er weiß, daß der Despotismus der Regierung nie so schrecklich und so stark ist, wie wenn er sich auf die Pseudo-Vertretung eines Pseudo-Volkswillens stützt." (S.440)

 

"Auf dieser Fiktion einer Pseudovolksvertretung und auf dem wirklichen Faktum, daß die Volksmassen von einer kleinen Handvoll Privilegierter regiert werden. Gewählter oder sogar nicht Gewählter durch die Menge des Volkes, das man zu den Wahlen zusammengetrieben hat, und das nie weiß, wozu und wen es wählt; auf diesem vermeintlichen und abstrakten Ausdruck dessen, was angeblich das ganze Volk denkt und will, wovon aber das lebendige, reale Volk auch nicht die geringste Vorstellung hat, darauf basiert in gleicher Weise die Theorie der Staatlichkeit und die Theorie der sogenannten revolutionären Diktatur. Der ganze Unterschied zwischen revolutionärer Diktatur und Staatlichkeit besteht nur in den äußeren Umständen Faktisch bedeuten sie beide das Gleiche: die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der Angeblichen Dummheit ersterer und der angeblichen Weisheit letzterer. Deshalb sind sie auch gleich reaktionär und haben, die eine wie die andere, als unmittelbares und notwendiges Ergebnis die Sicherung politischer und ökonomischer Privilegien für die herrschende Minderheit und die politische und wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen." (S.564/5)"Man muß schon ein Esel, ein Ignorant, ein Verrückter sein, wenn man glaubt, daß irgendeine Konstitution, sogar die liberalste und demokratischste dieses Verhältnis des Staates zum Volk zum Bessern ändern könnte; ... das Volk befreien, seine Lage verbessern, das ist einfach Unsinn! Es kann nur eine nützliche Verfassung für das Volk geben, nämlich die Zerstörung des Reiches." (S.481)"Solange es einen Staat gibt, muß es auch Herrschaft geben und folglich auch Sklaverei; ein Staat ohne offene oder verborgene Sklaverei ist undenkbar - das ist der Grund, weshalb wir Feinde des Staates sind." (S.612) "Politische Freiheit ohne wirtschaftliche Gleichheit und überhaupt politische Freiheit, d.h. Freiheit im Staate, ist eine Lüge." (S.465)

 

"Der weise Staatsmann, Schüler Machiavellis und Lehrer Bismarks, (Friedrich II) glaubte nur an seine ´Staatsraison´, wobei er sich aber wie eh und je auf die (Armee), auf die Wirtschaft und auf eine möglichst perfekte Organisation der inneren Verwaltung stützte, die natürlich eine mechanische und despotische war. In der Tat besteht darin nach seiner wie auch unserer Meinung das eigentliche Wesen des Staates. Alles übrige sind lediglich unschuldige Verzierungen ... (S.425)"Heutzutage kann ein ernstzunehmender starker Staat nur ein einziges zuverlässiges Fundament haben - eine militärische und bürokratische Zentralisation. Zwischen einer Monarchie und einer Republik, und sei es der demokratischsten, gibt es nur einen einzigen wesentlichen Unterschied: in der ersteren wird das Volk im Namen des Monarchen von der Beamtenschaft, zum großen Nutzen der privilegierten, besitzenden Klassen, aber auch für ihre eigenen Taschen, unterdrückt und ausgeraubt; in der Republik wird das Volk von derselben Seite, zum Nutzen derselben Taschen und Klassen unterdrückt und ausgeraubt, jetzt nur im Namen eines Volkswillens. In der Republik ist es das Scheinvolk, das legale Volk, das Volk, das angeblich durch den Staat repräsentiert wird, welches das lebendige und reale Volk unterdrückt und untere drücken wird. Aber für das Volk wird es keineswegs leichter, wenn der Stock, mit dem man es schlägt. Stock des Volkes genannt wird." (S.439)

 

"Regierung des Staates für das ganze Volk - dieses letzte Wort ... der demokratischen Schule ist eine Lüge, hinter der sich der Despotismus einer herrschenden Minderheit verbirgt, und zwar eine um so gefährlichere, als sie sich als Ausdruck des sogenannten Volkswillens gibt." (S.613)  "Die Bourgeoisie in allen Ländern Europas fürchtet die soziale Revolution am meisten und weiß, daß es für sie vor dieser Gefahr keine andere Rettung gibt als den Staat und deshalb will und fordert sie immer einen möglichst starken Staat oder einfach eine Militärdiktatur. Um aber ihrer Eitelkeit zu genügen und auch um die Volksmassen leichter betrügen zu können, wünscht sie, daß diese Diktatur in die Form einer Volksvertretung gekleidet sei, die es ihr erlauben würde, die Volksmassen im Namen des Volkes selbst auszubeuten." (S.538)

 

"Das ist das unvermeidliche Ergebnis des kapitalistischen Monopols, das immer und überall die Stärkung und Ausweitung staatlicher Zentralisation begleitet. Das privilegierte und auf wenig Hände konzentrierte Kapital ist heutzutage, man kann schon sagen, zur Seele jeden politischen Staats geworden, der bei ihm, und nur bei ihm Kredit aufnimmt und ihm dafür uneingeschränktes Recht auf Ausbeutung der Arbeit des Volkes einräumt." (S.630) "... weder dem deutschen noch irgendeinem anderen Proletariat ist es möglich, sich von der ökonomischen Sklaverei zu befreien, ohne das jahrhundertealte Gefängnis des sogenannten Staates zu zerstören." (S.593/4)

 

"Das sind die Überzeugungen der sozialen Revolutionäre, und deshalb nennt man uns Anarchisten. Wir 'protestieren nicht gegen diese Bezeichnung, denn wir sind in der Tat Feinde jeglicher Macht, weil wir wissen, daß Macht ebenso zersetzend auf den wirkt, der sie hat, wie auf den, der ihr gehorchen muß. Unter ihrem verderblichen Einfluß werden die einen zu ehrgeizigen und habgierigen Despoten, Ausbeutern der Gesellschaft zum eigenen Vorteil oder dem ihres Standes, und die anderen zu Sklaven." (S.564)

 

 

Staatskommunismus

 

"(Autoritäre Sozialisten) behaupten, daß ein ... staatliches Joch, eine Diktatur, ein unvermeidliches und vorübergehendes Mittel zur vollständigen Befreiung des Volkes sei: Anarchie oder Freiheit ist das Ziel, Staat oder Diktatur - das Mittel. So ist es also zur Befreiung der Volksmassen erst nötig, sie zu knechten. ... Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volkes schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann, als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann; Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden, d.h. durch einen allgemeinen Volksaufstand und durch die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben." (S.615)

 

"Wenn sie (die Macht) erst erlangt haben werden, so werden sie unweigerlich zum Feind des Volkes, .,. . und um die Macht zu halten, wenn auch nur befristet, sind sie gezwungen, nach neuen Kraftquellen - nun bereits gegen das Volk - ... zu suchen." (S.619/20) "Und in der Tat kann staatliche Macht nicht das Ergebnis einer Volksrevolution sein; möglicherweise kann sie das Ergebnis eines Sieges sein, den irgendeine Klasse über einen Volksaufstand errungen hat ..." (S.547)

 

"Verfechter einer Vorherrschaft der Wissenschaft über das Leben, doktrinäre Revolutionäre, sie alle verteidigen mit dem gleichen Feuer, wenn auch mit verschiedenen Argumenten, die- Idee des Staates und der Staatlichen Macht, weil sie darin, vollkommen logisch, das ihrer Ansicht nach einzige Heil der Gesellschaft sehen. Vollkommen logisch deshalb, weil sie dann, wenn sie einmal von der unserer Ansicht nach völlig falschen These ausgehen, daß das Denken dem Leben vorausgeht, ... notwendigerweise zu dem Schluß kommen, daß deshalb, weil Denken, Theorie und Wissenschaft wenigstens heute der Besitz nur einiger weniger sind, eben diese wenigen die Anführer des gesellschaftlichen Lebens sein müssen, und nicht nur die Initiatoren, sondern auch die Leiter aller Volksbewegungen, und daß am Tag nach der Revolution die neue gesellschaftliche Organisation nicht durch die freie Vereinigung von Volksassoziationen, Kommunen, Amtsbezirken und Distrikten von unten nach oben, entsprechend den Bedürfnissen und Instinkten des Volkes geschaffen wird, sondern allein durch die diktatorische Gewalt dieser gelehrten Minderheit, die angeblich dem Willen des ganzen Volkes Ausdruck verleiht." (S.564)

 

"Sie werden die Zügel der Regierung in einer starken Hand konzentrieren, weil das unwissende Volk einer sehr starken Betreuung bedarf; sie werden eine einzige Staatsbank gründen, die die ganze kommerziell-industrielle, landwirtschaftliche und sogar wissenschaftliche Produktion auf sich konzentriert, und die Masse des Volkes in zwei Armeen aufteilen: in eine industrielle und in eine landwirtschaftliche, unter dem unmittelbaren Kommando von staatlichen Ingenieuren, die eine neue privilegierte, wissenschaftlich-politische Klasse bilden werden." (S.617) "...und so werden sie bereits nicht mehr das Volk, sondern sich selbst repräsentieren und ihren Anspruch darauf, das Volk zu regieren." (S.613)

 

 

Empirismus

 

"Wer vom abstrakten Denken ausgeht, der wird niemals das Leben einholen, denn von der Metaphysik zum Leben führt kein Weg. ... Der lebendige, konkrete und vernünftige Weg, das ist in der Wissenschaft der Weg vom realen Faktum zum Gedanken, der dieses Faktum umfaßt, ausdrückt und damit auch erklärt; in der Welt der Praxis geht dieser Weg vom Leben der Gesellschaft aus, mit dem Ziel, eben dieses Leben vernünftig zu regeln, seinen Anweisungen, Bedingungen und Bedürfnissen und seinen mehr oder weniger leidenschaftlichen Forderungen entsprechend." (S.560)

 

"Wir revolutionären Anarchisten und Kämpfer für Bildung, Emanzipation und volle Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens des ganzen Volkes, die wir eben deshalb Feinde des Staates und jeglicher Verstaatlichung sind, behaupten im Gegensatz zu ... allen gelehrten und ungelehrten Anhängern der Göttin Wissenschaft, daß das natürliche und gesellschaftliche Leben immer dem Denken vorausgeht, welches nur eine seiner Funktionen, nie aber sein Resultat sein wird; daß sich dieses Leben aus seiner eigenen unerschöpflichen Tiefe heraus in einer Reihe von verschiedenartigen Fakten, aber niemals abstrakten Reflexionen entfaltet, und daß die letzteren, die immer vom Leben hervorgebracht werden und niemals selbst Leben hervorbringen, nur als Marksteine auf seine Richtung und auf die verschiedenen Phasen einer selbständigen und natürlichen Entwicklung hinweisen." (S.563)

 

"Selbst die rationalste und tiefsinnigste Wissenschaft kann nicht die Formen des zukünftigen gesellschaftlichen Lebens erahnen. Sie kann nur die negativen Bedingungen definieren, die sich logisch aus der strengen Kritik an der bestehenden Gesellschaft ergeben. So ist man in der Sozialökonomie mit dieser Kritik zur Ablehnung des erblichen Privateigentums gekommen und damit zu einer abstrakten und gleichsam negativen Konzeption vom Kollektiveigentum als notwendiger Voraussetzung der zukünftigen Gesellschaftsordnung. Dieser Weg führte schließlich zur Ablehnung selbst der Idee des Staates und der Herrschaft, d.h. zur Ablehnung einer Regierung der Gesellschaft von oben nach unten im Namen eines wie auch immer gearteten Pseudorecht s, sei es theologisch oder metaphysisch, göttlich oder wissenschaftlich-rational, und folglich zur entgegengesetzten und damit negativen Position - zur Anarchie, d.h. zur selbständigen und freiheitlichen Organisation aller Einheiten oder Elemente, die die Gemeinden bilden und zu deren freier Föderation von unten nach oben - nicht auf Befehl irgendeiner Obrigkeit, und sei es einer gewählten, und nicht nach den Richtlinien irgendeiner gelehrten Theorie, sondern infolge einer völlig natürlichen Entwicklung von Bedürfnissen aller Art, die sich aus dem Leben selbst ergeben. Deshalb ist kein Gelehrter in der Lage, das Volk zu lehren, oder auch nur für sich selbst zu bestimmen, wie das Volk am Tag nach der sozialen Revolution leben wird und leben soll. Das wird sich vielmehr erstens aus der jeweiligen Situation eines Volkes und zweitens aus den Bestrebungen ergeben, die in ihm auftreten oder stärker wirken, keinesfalls aber durch Richtlinien und Erläuterungen von oben und überhaupt durch keinerlei am Vorabend der Revolution erdachte Theorien." (S.636)

 

"(Doktrinäre Sozialisten) verstehen nicht, daß das Denken sich aus dem Leben ergibt, und daß man, um das Danken zu ändern, zunächst das Leben ändern muß. Gebt dem Volk die ganze Weite des menschlichen Lebens, und es wird Euch durch die tiefe Rationalität seines Denkens erstaunen." (S.645) "Man nehme ... den ungebildetsten und dümmsten Menschen; spürt man in ihm nur wirklich Instinkte auf und ehrliche, wenn auch unbestimmte Bestrebungen im Sinne der Idee der sozialen Revolution, dann soll man nicht erschrecken, wie wild auch immer seine tatsächlichen Vorstellungen sein mögen, sondern sich ernsthaft und liebevoll mit ihm befassen und dann sehen, wie umfassend und leidenschaftlich er unsere Idee aufnehmen und sich zu eigen machen wird, oder vielmehr seine eigene Idee, denn sie ist nichts anderes, als der klare, vollkommene und logische Ausdruck seines eigenen Instinkts; so hat man ihm eigentlich nichts gegeben, nichts Neues gebracht, sondern nur das erklärt, was schon längst in ihm gelebt hat, bevor er uns begegnet ist. Und deshalb sage ich, daß niemand irgend jemandem irgend etwas geben kann. ... Leben, Entwicklung und Fortschritt verdankt das Volk allein sich selbst. Dieser Fortschritt vollzieht sich selbstverständlich nicht auf dem Wege des Buchstudiums, sondern durch das natürliche Anwachsen von Erfahrung ... " (S.643)

 

 

Soziale Revolution

 

"Auch das entsetzliche Elend, selbst wenn es viele Millionen Proletarier ergreift, ist noch keine ausreichende Gewähr für eine Revolution. ... Wenn man sie erst zur Verzweiflung gebracht hat, dann wird es schon eher möglich, daß sie sich empören ... (das) setzt (aber) ein mehr oder weniger klares Bewußtsein von der Möglichkeit einer besseren Lage voraus ... Aber auch Armut und Verzweiflung sind zu wenig, um die Soziale Revolution hervorzurufen. Sie können private oder höchstens lokale Revolten auslösen, aber sie reichen nicht aus zur Erhebung ganzer Volksmassen. Dazu bedarf es außerdem noch eines Volksideals ... notwendig ist ferner eine allgemeine Vorstellung vom eigenen Recht und ein tiefer, leidenschaftlicher... Glaube an dieses Recht. Wenn sich ein solches Ideal und ein solcher Glaube im Volk findet, dazu noch Armut, die es zur Verzweiflung treibt, dann ist die Soziale Revolution unabwendbar und nahe, und keine Macht der Welt kann sie verhindern." (S.447/8)

 

"Um erfolgreich gegen militärische Gewalt kämpfen zu können, die künftig vor nichts mehr Achtung hat und zudem noch mit den schrecklichsten Vernichtungswaffen ausgerüstet und bereit ist, bei der Zerstörung nicht nur von Häusern und Straßen, sondern von ganzen Städten mit all ihren Bewohnern von ihnen Gebrauch zu machen, um also gegen eine so wilde Bestie ankämpfen zu können, muß man eine andere, nicht weniger wilde, dafür aber gerechtere Bestie haben: die organisierte Revolte des ganzen Volkes, die soziale Revolution, welche genauso erbarmungslos ist wie die militärische Reaktion und vor nichts zurück* schreckt." (S.591)

 

"Diese destruktive Leidenschaft reicht zwar als Grundlage einer revolutionären Tat bei weitem nicht aus, aber ohne sie ist eine Revolution undenkbar, unmöglich, denn es kann keine Revolution geben ohne weitreichende, leidenschaftliche Zerstörung, ohne rettende und fruchtbringende Zerstörung, weil nämlich aus ihr und nur durch sie neue Welten entstehen." (S.444)" Zerstören wollten (die Deutschen) nichts. Damals hatten sie dazu ebensowenig Lust wie heute, obwohl das die unbedingte und wichtigste Voraussetzung jeder ernsthaften Revolution ist." (S.546/7)

 

"Der allgemeine, öffentliche und private Bankrott - die erste Bedingung für eine sozial-ökonomische Revolution .,. (S.445) "Es ist klar, daß die Volksmassen die Freiheit, nach der sie dürsten, nicht von einem theoretischen Sieg abstrakten Rechts erwarten können; sie müssen die Freiheit mit Gewalt erobern, wozu sie ihre elementaren Kräfte außerhalb des Staates und gegen ihn organisieren müssen." (S.604)

 

"Aus der Bourgeoisie schließen sich diesen Kreisen nur die Wenigen an, die die derzeitige politische, ökonomische und soziale Ordnung von Herzen hassen und der Klasse, aus der sie hervorgegangen sind, den Rücken gekehrt haben, um sich ganz der Sache des Volkes zu widmen. Solche Leute sind nicht sehr zahlreich, dafür aber sehr wertvoll, allerdings nur dann, wenn sie aus Haß gegen das allgemeine Herrschaftsstreben der Bourgeoisie die letzten Reste persönlichen Ehrgeizes in sich ausgemerzt haben; in diesem Fall, ich wiederhole, sind sie wirklich wertvoll. Das Volk gibt ihnen Leben, elementare Kraft und ein Betätigungsfeld; dafür bringen sie ihm Sachkenntnis sowie Abstraktions- und Analysierungsvermögen mit und die Fähigkeit, sich zu organisieren und zu verbünden und schaffen somit jene bewußte kämpferische Kraft, ohne die ein Sieg undenkbar ist." (S.421)

 

"In Italien überwiegt jenes bettelarme Proletariat, von dem Marx und Engels ... mit tiefster Verachtung als vom Lumpenproletariat sprechen und das ganz zu Unrecht, denn in ihm, und nur in ihm, nicht in jener ... verbürgerlichten Schicht der Arbeitermasse, ist der ganze Geist und die ganze Kraft der zukünftigen sozialen Revolution." (S.422/3)

 

"Das Alte wiederholt sich nie. Der moderne Staat, der erst die alte Idee der Herrschaft vollkommen verwirklicht hat, ebenso wie das Christentum die letzte Form des theologischen Glaubens oder der religiösen Knechtschaft verwirklicht, - der bürokratische, militärisch-polizeiliche und zentralistische Staat, der aus der Notwendigkeit seines inneren Wesens danach strebt alles, was um ihn herum existiert, lebt, sich bewegt und atmet, an sich zu reißen, zu unterwerfen und zu ersticken - dieser Staat ... liegt in den letzten Zügen. Seine Tage sind gezählt, und von seinem Fall erwarten alle Völker ihre endgültige Befreiung." (S.458/9)

 

"Das ist der breite Weg des Volkes, der Weg zur wirklichen und vollkommenen Befreiung, jedem erreichbar und daher wahrhaft volkstümlich, der Weg einer anarchistischen sozialen Revolution, die ohne Anstoß von außen aus dem Volk selbst entsteht und alles zerstört, was das gewaltige Überströmen des Volkslebens hindern könnte, um dann aus der Tiefe des Seins eines Volkes neue Formen einer freien Gesellschaft zu schaffen." (S.560/1)

 

 

Kollektivismus

 

"... das ökonomisch notwendige Prinzip der kollektiven Bebauung des gemeinsamen Bodens ... das Prinzip, nach dem der Ertrag oder sein Gegenwert gleichmäßig verteilt wird, und zwar nach strengster Gerechtigkeit, nicht einer juristischen, sondern einer menschlichen Gerechtigkeit, welche von den Fähigen und Starken mehr, von den Unfähigen und Schwachen weniger Arbeit verlangt und den Lohn nicht nach dem Arbeitsmaß, sondern nach den Bedürfnissen jedes einzelnen verteilt." (S.652)"Die Vernichtung des Staats und des juristischen Rechts wird notwendig die Vernichtung des persönlichen Erbeigentums und der juristischen Familie, die ja auf diesem Eigentum basiert, zur Folge haben, da beide keinerlei menschliche Gerechtigkeit zulassen. Allein die Vernichtung des Staats, des Eigentumsrechts und der juristischen Familie macht es möglich, das Leben des Volks von unten nach oben auf der Basis der kollektive Arbeit und des kollektiven Eigentums zu organisieren ... (S.657) "Kooperation in jeder Gestalt ist zweifellos die rationale und gerechte Form der zukünftigen Produktion. Um aber ihr Ziel erreichen zu können - die Befreiung der arbeitenden Massen und ihre volle Entlohnung und Zufriedenstellung - ist es unerläßlich, daß Land und Kapital in jeder Hinsicht zum Kollektivbesitz gemacht werden. Solange das nicht geschieht, wird die Kooperation in den meisten Fällen von der allmächtigen Konkurrenz des Großkapitals und des Großgrundbesitzes unterdrückt werden; in den seltenen Fällen, wenn es zum Beispiel der einen oder anderen, notwendig mehr oder weniger beschränkten Produktivgenossenschaft gelingt, diesen Kampf auszuhalten und zu überleben, ist das Resultat dieses Erfolgs nur die Entstehung einer neuen privilegierten Klasse von kollektiven Glücklichen in der Masse des notleidenden Proletariats. So kann also bei den herrschenden Bedingungen der sozialen Ökonomie die Kooperation der Arbeitermassen nicht befreien, nichtdestoweniger bietet sie jedoch den Vorteil, daß sie sogar in der jetzigen Zeit den Arbeiter lehrt, sich zusammenzuschließen, sich zu organisieren und ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu verwalten." (S.639)

 

"Kooperation kann deshalb ... nur in unbedeutendstem, um nicht zu sagen winzigem Ausmaß gedeihen, und auch das nur, solange das alles erdrückende Kapital und die noch stärker drückende Regierung nichts bemerken noch spüren." (S.640) ... kooperative Versuche, die nur kurzfristigen und kaum anhaltenden Nutzen, und auch den höchstens einer kleinen Anzahl von Arbeitern bringen werden." (S.608) " ... und darin sind sich alle modernen, zwar bourgeoisen, aber doch seriösen Ökonomen einig, wenn sie anscheinend widerwillig die Schwäche des kooperativen Systems aufdecken, in dem sie doch, und das wohl zurecht, gleichsam den Blitzableiter sehen, der sie vor dem Gewitter der sozialen Revolution schützt." (S.639)

 

 

Analyse von Machteinflüssen

 

"(Die bourgeoisen Sozialisten) waren so sehr von der Wirksamkeit ihrer parlamentarischen Entscheidungen und Verordnungen überzeugt, daß sie das einzige Mittel vernachlässigten, der staatlichen Macht der Reaktion die revolutionäre Macht des Volkes entgegenzustellen, indem sie diese Macht organisierten." (S.588) "Die ... Radikalen waren ganz vom parlamentarischen Spiel absorbiert und verloren jeden Sinn für alles Übrige. Sie glaubten allen Ernstes an die Kraft parlamentarischer Entscheidungen ... " (S.586)

 

"Größtenteils sind (diese bourgeoisen Sozialisten) nämlich schlechte Revolutionäre und einfach eitle Egoisten und Feiglinge. Dazu kommt noch, daß sie ihrer Stellung nach zu den gebildeten Klassen gehören und den Komfort, den erlesenen Luxus und den eitlen geistigen Genuß außerordentlich schätzen, wovon das Leben dieser Klassen so erfüllt ist. Sie begreifen, daß die Volksrevolution, ihrem Wesen und Ziel nach grob und rücksichtslos, vor der Zerstörung der bourgeoisen Welt nicht haltmachen wird, in der es sich so gut lebt; so haben sie keineswegs die Absicht, größere Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen, wie sie mit dem ehrlichen Dienst an der Sache der Revolution verbunden sind, noch wollen sie Zweifel an sich bei den zwar nicht so liberalen und beherzten, aber dennoch wertvollen Beschützern aufkommen lassen, bei den Verehrern, Freunden und Genossen nach Bildung, Lebensumständen, Luxus und materiellem Komfort; nein, sie wollen ganz einfach für sich keine solche Revolution und fürchten sie, da diese Revolution sie von ihrem Piedestal (Denkmalsockel) herunterholen und sie plötzlich aller Vorteile ihrer gegenwärtigen Situation berauben würde." (S.645/6)

 

"Wegen dieses Hasses und dieser Furcht haben sie die ganze Arbeiterbevölkerung auf den Weg der sogenannten legalen und friedlichen Agitation, deren Ergebnis gewöhnlich zu sein pflegt, daß ein oder zwei Arbeiter oder sogar ein literarisierender Bourgeois aus der sozialdemokratischen Partei in das ... Parlament gewählt wird. Das ist aber für den deutschen Staat nicht nur ungefährlich, sondern im Gegenteil als Blitzableiter, als Ventil, sogar höchst nützlich." (S.631/2) " ... (dann) bleibt nur Betrug: für die ehrlosen und ehrgeizigen Parteiführer Ehrungen und Gewinn für die eigene Tasche, für die Masse der einfachen Arbeiter Sklaverei." (S.477)

 

"Sehen wir einmal den mit seinem Schicksal zufriedenen Bourgeois an, - besteht denn auch nur die geringste Hoffnung, daß man ihm jemals das Recht des Proletariats auf volle Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf den gleichen Anteil an allen Annehmlichkeiten und Segnungen des gesellschaftlichen Lebens erklären, oder daß man ihm die Rechtmäßigkeit und heilsame Notwendigkeit einer sozialen Revolution beweisen könnte? Nein, man wird das nicht einmal versuchen, ... weil man sich davon überzeugen wird, daß dieser Bourgeois ... nicht verstehen und auch nicht zum Sozial-Revolutionär werden würde ... aus dem einfachen Grunde, weil das Leben nicht jenes instinktive Streben in ihm herausgebildet hat, welches unserem sozial-revolutionären Denken entspräche." (S.642)

 

"Eine solche (revolutionäre) Zerstörung ist mit dem bourgeoisen Bewußtsein, mit der bourgeoisen Zivilisation, unvereinbar, da diese Zivilisation ganz auf der fanatischen Vergötterung des Eigentums beruht. Der Bürger oder Bourgeois wird eher Leben, Freiheit und Ehre opfern, als daß er auf sein Eigentum verzichtete. Ein Anschlag auf sein Eigentum oder dessen Zerstörung zu welchem Zweck auch immer - ja schon der bloße Gedanke daran - erscheint ihm als Sakrileg (Gotteslästerung) ." (S.444)

 

"Die Slawische Sektion (der IAA), die sich zum Materialismus und Atheismus bekennt, wird alle Arten von Gottesdienst und alle offiziellen und inoffiziellen Konfessionen bekämpfen und wird, indem sie in Wort und Tat voll für die Gewissensfreiheit aller und für das heilige Recht jedes einzelnen, seine Ideen zu verkünden, eintritt, alles daran setzen, die Idee einer Gottheit in all ihren religiösen, metaphysischen, doktrinär-politischen und juristischen Erscheinungsformen zu vernichten in der Überzeugung, daß diese gefährliche Idee immer noch jegliche Art von Sklaverei gerechtfertigt hat." (S.657)

 

"Die bürgerlich gebildete Welt muß die entfesselten Kräfte des Volkes bezwingen und unterwerfen, um dann mit Bajonetten, Peitsche und Knüppel, die natürlich von irgendeinem Gott gesegnet und von der Wissenschaft für vernünftig erklärt werden, wie früher die Masse der einfachen Arbeiter zur Arbeit zu zwingen ... " (S.436) "Wir werden die Gelehrten um ihrer Verdienste willen ehren, aber zur Rettung ihres Verstandes und ihrer Moral sollte man ihnen keinerlei gesellschaftliche Privilegien geben, und ihnen keine anderen Rechte zugestehen, als das allgemeine Recht auf Freiheit, ihre Überzeugung, Gedanken und Kenntnisse zu verkünden. Macht darf weder ihnen noch auch sonst jemandem gegeben werden, denn wer Macht besitzt, der wird nach dem unwandelbaren sozialistischen ... Gesetz unweigerlich zum Unterdrücker und Ausbeuter der Gesellschaft." (S.562)

 

"Unter den größten Genies hat es bisher nur wenige gegeben, die wirklich etwas für das Volk getan haben; die Genies' in einem Volk sind besonders aristokratisch, und alles, was sie bisher getan haben, diente nur dazu, einer ausbeutenden Minderheit zu Bildung, Stärke und Reichtum zu verhelfen ... " (S.643) 

 

"Der moderne Staat, dessen einziges Ziel in der organisierten, größtmöglichen Ausbeutung der Arbeit des Volkes zugunsten des in wenigen Händen konzentrierten Kapitals besteht: und das bedeutet nichts anderes als den Triumpf ... der Hochfinanz, unter dem mächtigen Schutz von Finanz-, Verwaltungs- und Polizeigewalt, welche sich in erster Linie auf das Militär stützt, ihrem Wesen nach also despotisch ist, auch wenn sie sich gleichzeitig hinter dem parlamentarischen Spiel eines Scheinkonstitutionalismus verbirgt. Für die heutige Kapitalbildung und Bankspekulation bedarf es zu ihrer weiteren und vollständigen Entfaltung jener gewaltigen Zentralisation durch den Staat, wodurch es überhaupt erst möglich wird, die Millionen und Abermillionen des einfachen arbeitenden Volkes ihrer Ausbeutung zu unterwerfen ... Kapitalbildung und Bankspekulation kommen ... glänzend mit der sogenannten repräsentativen Demokratie aus; denn diese moderne Staatsform, die auf der Pseudo-Herrschaft eines Pseudo -Volkswillens basiert, welcher angeblich durch sogenannte Volksvertreter in Pseudo-Volksversammlungen zum Ausdruck gebracht wird, vereinigt in sich die beiden Voraussetzungen, die Kapitalbildung und Bankspekulation zur Erlangung ihrer Ziele benötigen, nämlich staatliche Zentralisation und die Tatsache, daß der Herrschaftsanspruch des Volkes einer intellektuellen Minderheit unterworfen wird, die das Volk unter dem Vorwand, es zu vertreten, regiert und unweigerlich ausbeutet ...Jede Ausbeutung der Arbeit des Volkes ist bitter für das Volk, ganz gleich, mit welchen politischen Formen von Pseudovolksherrschaft und Pseudovolksfreiheit sie auch verbrämt sei. Kein Volk wird sich ihr gern unterwerfen, auch wenn es von Natur aus noch so fügsam ist oder noch so gewohnt, der Gewalt zu gehorchen; deshalb ist ständiger Zwang, also Polizeiaufsicht und Militärgewalt, unumgänglich." (S.428/9)

 

"Wenn man irgendeine politische Macht ungefährlich machen will, wenn man sie befrieden, bezwingen will, so gibt es dazu nur ein Mittel - sie vernichten. Die Philosophen haben nicht verstanden, daß es gegen politische Macht keine anderen Garantien geben kann, als die völlige Vernichtung, daß in der Politik, wo Mächte und Fakten gegeneinander kämpfen, wie in einer Arena, Worte, Versprechungen und Eide nichts bedeuten, und das schon allein deshalb, weil jede politische Macht, solange sie wirklich Macht bleibt, sogar ohne und gegen den Willen der Obrigkeit und der Herrscher, die sie lenken, von Natur aus und bei Gefahr der Selbstvernichtung unbeirrbar und um jeden Preis die Verwirklichung ihrer Ziele anstreben muß." (S.581)

 

"Alles, was in der Sprache der Politik Recht genannt wird, ist nur die Heiligung eines durch Gewalt geschaffenen Faktums." (S.604) "Solange (Reformer) jung und noch nicht durch den Staatsdienst korrumpiert sind, zeichnen sich diese Leute meistens durch ihren ... Demokratismus und Sozialismus aus. Aber kaum haben sie den Dienst angetreten, so fordern eherne Logik der Position und Sachzwänge, die charakteristisch sind für gewisse hierarchische und politisch günstige Beziehungen, das Ihre, und die jungen Patrioten werden von Kopf bis Fuß Beamte ...

 

Zudem erweisen sich die Erfordernisse einer gewissen Position immer stärker als Gefühle, Pläne und gute Absichten." (S.470) " ... der Patriarchalismus ... ein Übel ... gegen das mit allen Kräften zu kämpfen, wir verpflichtet sind ... Es hat das ganze ... Leben verformt, hat ihm jenen Charakter starren Stumpfsinns und hoffnungsloser Verkommenheit verliehen, den Charakter jener tiefverwurzelten Lüge und gierigen Heuchelei und schließlich jener sklavischen Servilität, der dieses Leben so unerträglich macht. Die Familie, die schon von ihrer rechtlichwirtschaftlichen Basis her unmoralisch ist, wurde durch den Despotismus des Ehemanns, des Vaters und dann des älteren Bruders zur Schule triumphierender Gewalt und Rücksichtslosigkeit, tätlicher Niedertracht und Unzucht zu Hause ... gewohnt, in der Familie widerspruchslos zu gehorchen, fährt er auch in der Gesellschaft fort, zu gehorchen, und sein Mäntelchen nach dem Wind zu hängen; er ist geschaffen, Sklave zu sein und zu bleiben ... " (S.643)

 

"Im (Staat) ist alles dem einen Interesse unterworfen, nämlich der Größe einer alles bezwingenden Macht ... alles übrige, das Volk, selbst Standesinteressen, die Blüte der Industrie, des Handels und der sogenannten Zivilisation sind nur Mittel, dieses einzige Ziel zu erreichen. Ohne eine gewisse Zivilisationsstufe, ohne Industrie und Handel kann kein Staat und besonders nicht der moderne existieren, weil der sogenannte nationale Reichtum, der nicht im entferntesten das Volk betrifft, sondern den Reichtum der privilegierten Stände, Macht ist." (S.520) ... jene Wahrheit, die durch die ganze vergangene und gegenwärtige Geschichte der menschlichen Gesellschaft, der Völker und Staaten gestützt wird, daß nämlich das ökonomische Faktum immer dem juristischen und politischen Recht vorausgegangen ist." (S.571)

 

"Andererseits strebte diese Regierung unmittelbar ihr Hauptziel an - nämlich zunächst die Grundlage für eine preußische Hegemonie in Deutschland zu schaffen ... auf einem Wege, der ihr selbst ungleich vorteilhafter und angenehmer erschien als der Weg liberaler Reformen oder gar der Förderung der deutschen Wissenschaft - nämlich auf dem Wege der Wirtschaft; dabei mußte sie auf wärmste Sympathien der ganzen reichen Handels- und Industriebourgeoisie, der ganzen Welt der ... Finanziers in Deutschland stoßen, denn das Gedeihen aller dieser Gruppen verlangte unbedingt eine staatliche Zentralisation in weitestem Maße." (S.566)

 

 

Internationalismus

 

"Es gibt nichts Unsinnigeres und zugleich Schädlicheres, nichts Verderblicheres für das Volk, als das Pseudoprinzip der Nationalität als Ideal aller Bestrebungen des Volkes aufzustellen. Die Nationalität ist kein allgemein menschliches Prinzip, sondern eine historische, lokale Tatsache, die wie alle wirklichen und harmlosen Tatsachen unbezweifelbar ein Anrecht auf allgemeine Anerkennung hat. Jedes Volk oder sogar jedes ganz kleine Volk hat sein seinen Charakter, seine besondere Art zu existieren, zu sprechen, zu fühlen, zu denken und zu handeln; und dieser Charakter, diese Art, die gerade das Wesen der Nationalität ausmachen, ergeben sich aus dem gesamten historischen Leben und aus allen Lebensbedingungen des Volkes. Jedes Volk ist genau wie jedes Individuum nolens volens (ob es will oder nicht) das, was es ist, und hat das unbestreitbare Recht, es selbst zu sein. Darin besteht das ganze sogenannte nationale Recht. Wenn aber ein Volk oder ein Individuum nur auf eine Art und nicht anders existieren kann, so folgt daraus noch nicht, daß das Volk oder das Individuum das Recht oder gar einen Nutzen davon hätte, Nationalität bzw. Individualität als besondere Prinzipien hinzustellen, und daß sie sich damit ewig herumschlagen müßten. Im Gegenteil, je weniger sie an sich selbst denken, und je mehr sie von allgemein- menschlicher Substanz durchdrungen sind, um so mehr belebt sich die Nationalität des einen und die Individualität des anderen und um so mehr bekommen beide Sinn." (S.463/4)

 

"Aber die Soziale Revolution kann nicht eine Einzelrevolution eines einzigen Volkes sein; sie ist ihrem Wesen nach eine internationale Revolution, d.h. die Slawen, die ihre Freiheit suchen, müssen um dieser ihrer Freiheit willen ihre Bemühungen und die Organisation ihrer nationalen Kräfte mit den Bemühungen und der Organisation der nationalen Kräfte aller anderen Länder verbinden. Das slawische Proletariat muß massenhaft der Internationalen Arbeiterassoziation beitreten." (S.466)

 

"Die Slawische Sektion (der IAA), die die Befreiung der slawischen Völker anstrebt, beabsichtigt dabei jedoch keineswegs die Organisation einer besonderen slawischen Welt, die aus Nationalgefühl Völkern anderer Rasse feindlich gesinnt wäre. Es wird im Gegenteil ihr Bestreben sein, die slawischen Völker in die Gesamtfamilie der Menschheit zu überführen." (S.558)

 

 

Zukunft

 

"Trotz der ungeheuren Entwicklung der modernen Staaten, ja als Folge dieser endgültigen Entwicklung, die übrigens vollkommen logisch und mit unbedingter Notwendigkeit gerade das Prinzip der Staatlichkeit ad absurdum geführt hat, wurde klar, daß die Tage des Staates und der Staatlichkeit gezählt sind, und daß sich die Zeiten für eine völlige Befreiung der Arbeitermassen nähern: die Zeiten ihrer freien gesellschaftlichen Organisation von unten nach oben, ohne jede "'Einmischung einer Regierung; einer Organisation, die auf freien wirtschaftlichen Bündnissen unter den Völkern, ungeachtet aller alten Staatsgrenzen und aller nationalen Unterschiede auf der einen Grundlage beruht, und zwar der Grundlage produktiver, ganz vermenschlichter und bei aller Vielfalt völlig solidarischer Arbeit." (S.463)

 

"Es wird die Zeit kommen, da es keine Staaten mehr gibt, - auf ihre Zerstörung sind alle Anstrengungen der Sozialrevolutionären Partei in Europa gerichtet - eine Zeit, da sich auf den Trümmern der politischen Staaten das völlig freiheitliche und von unten nach oben organisierte, unabhängige brüderliche Bündnis der unabhängigen Produktivassoziationen, Gemeinden und regionalen Föderationen erheben wird, die unterschiedslos, da freiheitlich, Menschen aller Sprachen und Nationen umfassen." (S.511)

 

"Entsprechend dieser unserer Überzeugung haben wir weder die Absicht noch die geringste Lust, unserem oder einem anderen Volk ein beliebiges Ideal einer Gesellschaftsstruktur anzuhängen, das wir uns angelesen oder selbst ausgedacht haben, sondern wir suchen dieses Ideal im Volk selbst, in der Überzeugung, daß die Volksmassen in ihren mehr oder weniger historisch entwickelten Instinkten, in ihren täglichen Bedürfnissen und in ihren bewußten und unbewußten Bestrebungen alle Elemente ihrer zukünftigen normalen Organisation tragen; und da jegliche staatliche Macht, jede Regierung ihrem Wesen und ihrer Stellung nach außerhalb des Volkes, über ihm steht und unbedingt danach streben muß, es einer Ordnung und Zielen zu unterwerfen, die ihm fremd sind, so erklären wir uns zu Feinden jeglicher Macht einer Regierung und eines Staates, zu Feinden staatlicher Ordnung überhaupt, und glauben, daß das Volk nur dann glücklich und frei sein kann, wenn es sich selbst sein Leben schafft in einer Organisation von unten nach oben, mit selbständigen und völlig freien Vereinigungen ohne jede offizielle Überwachung, nicht aber ohne vielfältige und gleich unabhängige Einflüsse von Personen und Parteien." (S.563)

 

"Die durchgehend föderative Organisation von unten nach oben der Arbeiterassoziationen, Gruppen, Gemeinden, Bezirke und schließlich Provinzen and Nationen - diese einzige Vorraussetzung für eine wahre und nicht fiktive Freiheit ... (S.428) "Wir sind davon überzeugt, daß sie undenkbar ist und eine Lüge bleibt, solange die Menschheit in eine Minderheit von Ausbeutern und eine Mehrheit von Ausgebeuteten unterteilt ist. Wenn ihr die Freiheit für alle wollt, dann müßt ihr mit uns die Gleichheit aller wollen." (S.624)

 

Zerstörung aller Staaten , Vernichtung der bourgeoisen Zivilisation , freie Organisation von unten nach oben durch freie Bündnisse , Organisation des von den Fesseln befreiten einfachen Arbeitervolks , der ganzen befreiten Menschheit und Aufbau einer neuen Welt für die ganze Menschheit ." (S.635)

 

 

Nachwort

 

Errico Malatesta in "Pensiero e Volonta" am 1.Juli 1926

 

Ich war Bakunist, wie es alle meine Genossen jener- leider - nun soweit zurückliegenden Generationen waren. Heute, ja schon seit vielen Jahren, würde ich mich nicht mehr als solchen bezeichnen. Die Ideen haben sich weiterentwickelt und verändert. Heute bin ich der Ansicht, daß Bakunin in der politischen Ökonomie und in der Geschichtsinterpretation zu marxistisch war;| finde ich, daß seine Philosophie ausweglos im Widerspruch zwischen der mechanischen Weltauffassung und dem Glauben an die Fähigkeit des menschlichen Willens, auf die Geschicke des Menschen und der Menschheit einzuwirken, befangen war. Aber all dies ist von geringer Bedeutung. (...) Immer noch lebendig ist seine radikale Kritik des Prinzips der Autorität und des Staates, der sie verkörpert; lebendig ist immer noch der Kampf gegen die beiden Lügen, die beiden Formen, mit denen die Massen unterdrückt und ausgebeutet werden: die Demokratie und die Diktatur; lebendig ist die vorbildliche Ablehnung jenes falschen Sozialismus, den er als einschläfernd bezeichnete und der, bewußt oder unbewußt, darauf abzielt, die Herrschaft der Bourgeoisie zu befestigen, indem er die Arbeiter durch fruchtlose Reformen einschläfert. Und lebendig sind v.a. der starke Haß gegen alles, was den Menschen herabwürdigt und erniedrigt und die grenzenlose Liebe für die Freiheit, die ganze Freiheit, (aus: Gesammelte Schriften 2; Kramer 1980; S.50/51)

 

Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/Bakunin_Staatlichkeit_und_Anarchie.htm