"Schaffendes" und "raffendes" Kapital
Die Tauschringe, die Lehre des Silvio Gesell und der Antisemitismus
von Peter Bierl*05/04
trend
onlinezeitungMarx ist out, der Kapitalismus hat sich — vorerst — weltweit durchgesetzt. In den Köpfen der Menschen scheint es keine Alternative zu geben. Statt dessen haben Obskuranten, Rassisten und Antisemiten, Nationalisten und Regionalisten, Esoteriker und Biozentristen Zulauf.
Im Kern versprechen sie ihren Anhängern materielle und ideelle Privilegien auf Kosten anderer, als minderwertig definierter Menschen. Die sogenannten Tauschringe, die auf der Lehre des Sozialdarwinisten Silvio Gesell basieren, bilden eine dieser Bewegungen.
Die Idee, Güter und Dienstleistungen untereinander auszutauschen, stammt ursprünglich aus der Arbeiterbewegung. Die Gesellianer-Tauschringe funktionieren anders. Hier geht es nicht um Solidarität und gegenseitige Hilfe, sondern um eine primitive Form des Kapitalismus. Dienstleistungen oder, selten, Waren werden mit Hilfe einer lokalen oder regionalen Phantasiewährung verrechnet. Eine Zentrale vermittelt Angebot und Nachfrage. Maßeinheit für den Preis ist in der Regel die Zeit, wobei theoretisch jede Arbeitsstunde gleichviel wert sein soll. In der Praxis wird gelegentlich davon abgewichen und Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Die Beträge werden auf speziellen Konten der Tauschringe für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer als Soll oder Haben gebucht. Gemäß der zentralen Idee Gesells, daß Geld ausgegeben und nicht gehortet werden soll, werden nicht nur Zinsen für Schulden genommen, sondern auch Strafzinsen für Guthaben. Wer mitmachen will, zahlt eine Gebühr in harten Devisen um die Tauschringzentrale zu finanzieren, die als Anlauf- und Vermittlungsstelle fungiert, Presse- und Außenkontakte wahrnimmt, Versammlungen organisiert, die TeilnehmerInnen-Daten verwaltet und oft auch eine "Marktzeitung" erstellt. Das "Talente-Experiment" im schweizerischen Aarau, das seit 1993 existiert, wird direkt von der Gesellianer-Organisation "Internationale Vereinigung für Natürliche Wirtschaftsordnung" (INWO) geleitet. Grundsätzlich werden für die erbrachten Arbeiten oder Güter keine Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern abgeführt.
In Österreich gibt es knapp 40 Gesellianer-Tauschringe, die meisten in den Städten, fünf davon in Wien. Die für ideologische Arbeit wichtigste Gruppe in Österreich ist die nationale Sektion der INWO, die im Sommer 1999 in Wien einen Kongress mit internationaler Beteiligung organisierte. Dort referierten auch die deutschen Gesell-Propagandisten Helmut Creutz und Roland Geitmann sowie die ehemalige linke Feministin Claudia von Werlhof, die heute esoterische Matriarchatsthesen verbreitet. Eine "Volkstanzgruppe" aus Ungarn sorgte für das Kulturprogramm des Wiener INWO-Kongresses.
Die von den Tauschringen häufige verwendete Abkürzung LETS steht für Local Exchange Trading System oder auch Local Employment and Trading System und verweist auf die erste moderne Gruppe, die 1993 in Kanada gegründet wurde. Heute gibt es LETS in USA, Neuseeland, Argentinien, Australien und in Europa. Hochburg ist derzeit die Schweiz. Dort existiert seit 1934 der gesellianische "Wirtschaftsring" (WIR) mit heute rund 80.000 Konten. In Deutschland wurde bereits 1929 in Erfurt die "Wära-Tauschgesellschaft" mit einer eigenen Währung gegründet, aber von der Regierung verboten. Seit 1994 existieren in Deutschland LETS-Gruppen, derzeit sind es etwa 150 Tauschringe.
Britische LETS-Leute berechneten Mitte der 90er Jahre, daß in den dortigen Ringen durchschnittlich im Monat je TeilnehmerIn nur 40 Mark umgesetzt wurden. Das LETS/Talente-System ist entweder eine Spielerei oder eine Form der Schattenwirtschaft oder ein vom Staat gefördertes Instrument, um Marginalisierte ruhigzustellen, indem sie ihre Existenz in einer bescheidenen Tauschwirtschaft fristen können. Insofern hat LETS durchaus Perspektiven bei fortschreitender Verelendung und sozialer Demontage.
LETS funktioniert nach kapitalistischen Mechanismen. Wer keine Dienstleistungen oder Güter einbringen kann, etwa Kranke, Behinderte und Alte, ist prinzipiell ausgeschlossen. Die Strafzinsen verhindern eine Vorsorge in Form von Ersparnissen. Sie sind eine Vorwegnahme der Schwundgeld-Utopie, mit deren Hilfe Gesell die begrenzte Nachfrage als Fessel einer unbegrenzten Produktion überwinden wollte.
Faschisten im Tauschring Stade
1997 berichtete die Presse über braune Aktivitäten des Ehepaars Alfred und Sigrid Beyer im "Tauschring Oste Talente" (TOSTA) bei Stade in Niedersachsen. Alfred Beyer hatte eine erwerbslose Frau gebeten, zwei Buttons für die Deutschland-Bewegung Alfred Mechtersheimers zu entwerfen. Von einem anderen Talente-Kollegen ließ sich Beyer zu einem Treffen des neuheidnischen Bundes der Goden chauffieren. In der TOSTA-Marktzeitung warb Beyer, der den örtlichen Ring mitgegründet hatte, für ein Buch über Nietzsche mit dem Titel "Neues Licht über Zarathustra". Das Werk enthält frauenfeindliche und rassistische Positionen; es stammt von einem ehemaligen Mitglied der Waffen-SS und wird von der faschistischen Tempelhofgesellschaft herausgegeben. Beyer fungierte als regionale Kontaktperson der Deutschland-Bewegung und trat sowohl bei Mechtersheimers brauner Truppe als auch bei den sogenannten "Hetendorfer Tagungen" als Referent auf. Das Nazi-Schulungszentrum Hetendorf wurde im Februar 1998 vom niedersächsischen Innenministerium geschlossen und die beiden Trägervereine, deren Vorsitzender Nazianwalt Jürgen Rieger war, verboten. TOSTA-Sprecherin Sigrid Beyer war jahrelang in der ebenfalls von Rieger geführten Artgemeinschaft aktiv. Ihr wird außerdem vorgeworfen, den Holocaust in Frage zu stellen. Die Beyers vertrieben darüberhinaus allerlei esoterische Literatur.1
Zwar wurden die FaschistInnen von anderen TOSTA-Mitgliedern verteidigt, unter anderem auch vom TOSTA-Sprecher und ehemaligen Kreisvorsitzenden der Cuxhavener Grünen, Uwe Groß. Aufgrund der überregionalen Berichterstattung distanzierte sich aber eine TOSTA-Mitgliederversammlung von den Vorfällen. In der Erklärung ist immerhin "von den rechtsextremen Thesen des Silvio Gesell" die Rede und TOSTA verzichtete auf das bisherige Runensymbol im Logo. Der Kreis löste sich schließlich völlig auf.
Bemerkenswert ist der Eiertanz um Silvio Gesell. Jeder der im Tauschring akiv war, müsse wissen, heißt es in einer Stellungnahme, "daß wir nicht die Ideen des Silvio Gesell vertreten". Dabei haben TOSTA-Leute, wie andere Tauschringe auch, Veranstaltungen mit prominenten Gesellianern wie Hermann Benjes organisiert. Benjes ist Mitglied der deutschen Gesellianer-Partei Freisoziale Union (FSU) und im wissenschaftlichen Beirat der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), einer Rechtsabspaltung der Grünen. Sein Diavortrag ist eine einzige Lobhudelei auf Gesell und endet mit einem Holzschnitt, der den großen Meister darstellt.
Die Wirtschaftstheorie des Silvio Gesell
Daß sich Leute gegenseitig helfen, etwa Haareschneiden gegen Babysitten tauschen, ist ja nicht schlecht. Worum es hier geht, sind Tauschringe, die sich auf Gesell beziehen und/oder gemäß den Prinzipien seines Schwundgeldes funktionieren. Die personelle Verflechtung wird deutlich, wenn ein Tauschring für Gesell-Propagandisten wie Helmut Creutz oder Benjes die Bühne bereitet oder die OrganisatorInnen in einschlägigen Blättern wie der FSU-Zeitschrift "Der Dritte Weg" auftauchen oder sich sogar als AktivistInnen von offenen Gesellianer-Gruppen wie den "Christen für eine gerechte Wirtschaftsordnung" (CGW) outen.
Der Mentor der Tauschringe, Silvio Gesell, wurde 1862 in St.Vith (Belgien) geboren, absolvierte eine kaufmännische Lehre in Malaga und lebte abwechselnd in Argentinien, der Schweiz und Deutschland. Er arbeitete als Kaufmann und bewirtschaftete in der Schweiz ein Landgut. 1891 erschien eine erste Schrift des Autodidakten ("Die Reformation im Münzwesen als Brücke zum sozialen Staat"), in der er erstmals die "Idee des rostenden Geldes" formulierte. Im Ersten Weltkrieg erwog Gesell als Freiwilliger ins deutsche Heer einzutreten, zog sich dann aber auf sein Schweizer Landgut zurück.2
In seinem Hauptwerk "Die natürliche Wirtschaftsordnung" (1911) versuchte Gesell, Marx zu widerlegen, der die Ausbeutung des Menschen im Produktionsprozeß analysierte. Marx zufolge stellen die Arbeiter Produkte her, deren Wert höher ist, als der Lohn den sie ausbezahlt bekommen. Der Lohn entspricht etwa dem Wert der Güter und Dienstleistungen, die notwendig sind, um die menschliche Arbeitskraft zu erhalten. Die Differenz zwischen Lohn und dem Wert der hergestellten Produkte ist der berühmte Mehrwert, den das Kapital einbehält. Soweit in aller Kürze und Schlichtheit. Bei Gesell bedeutet Mehrwert dagegen nur Zinsen und Renten. Er stellt sich ausdrücklich in die Tradition von Pierre-Joseph Proudhon (1809-65), einem französischen Anarchisten. Der habe schon behauptet, das Problem liege in der Zirkulation, knappes Geld lähme Produktion und Austausch. Schuld sind die Geldbesitzer, die dieses Tauschmittel horten, um Zinsen zu kassieren.3 Gesells Definition von Arbeiter lautet deshalb: "...jeder, der vom Ertrag seiner Arbeit lebt, Bauern, Handwerker, Lohnarbeiter, Künstler, Geistliche, Soldaten, Offiziere, Könige sind Arbeiter in unserem Sinne. Einen Gegensatz zu all diesen Arbeitern bilden in unserer Volkswirtschaft einzig und allein die Rentner, denn ihr Einkommen fließt ihnen völlig unabhängig von jeder Arbeit zu."4 Mit Rentner sind hier Personen gemeint, die von Kapitalzinsen leben. Gesell fordert das Recht aller Arbeiter (gemeint sind also Kapitalisten und Lohnabhängige) am "gemeinsamen vollen Arbeitsertrag", also ohne Abzug von Zinsen oder Renten.
Ausdrücklich geht es dem Kaufmann nicht um die Verteilung zwischen Kapital und Lohnabhängigen: Durch den Wegfall der Zinsen und Renten würden sich alle Einkommen erhöhen, verteilt wird "nach den Gesetzen des Wettbewerbs" gemäß dem Prinzip: "Dem Tüchtigsten der höchste Arbeitsertrag."5
Die Utopie der Gesellianer, eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, basiert auf drei Säulen: Freiland, Freihandel und Freigeld. Das Privateigentum an Boden soll in einem ersten Schritt vollkommen abgeschafft werden. Gesell erklärt, dass dann staatliche Grenzen abgebaut und der allgemeine Friede gesichert wäre, weil Staaten nicht mehr um Territorien kämpfen würden. Unabhängig von "der Rasse, der Religion, der Bildung und körperlichen Verfassung", habe jeder dann das Recht auf völlige Freizügigkeit und dürfe überall soviel Boden pachten, wie er bebauen könne.6 Dieses Recht ist allerdings strikt bürgerlich-formal: Verpachtet wird an den Meistbietenden.7 Silvio Gesell unterstellt, daß sich das Freiland-Prinzip dank seiner ökonomischen Vorzüge weltweit ausbreiten wird. Staaten, die sich weigern und weiter Monopolgewinne ermöglichen, würden, so schreibt er, "die Arbeitsscheuen der ganzen Welt ins Land ziehen... Alle Bummler, Sonnenbrüder und Zigeuner würden dorthin ziehen, wo man die Bodenschätze an das Ausland mit Renten belastet abgibt."8
Der Arbeitsertrag aus dem Freiland fungiert als "Höchst- und Mindestmaß des allgemeinen Arbeitslohnes". Sinkt der angebotene Lohn unter diesen Ertrag, mutieren die Proleten einfach zu Pachtbauern, mehr Lohn als die Bauern können und sollen die Arbeiter nicht bekommen. Klassenkampf und Streik lehnt Gesell strikt ab. Freiland ist damit die "einzige Stütze bei Lohnverhandlungen", eine Ausweichmöglichkeit für weiße, europäische Proletarier im Sinne von Auswanderung. Das "freie Land", das Gesell meint, ist angeblich "herrenloses" Land im Trikont.9 In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die Abschottung der USA gegen den Handel mit Europa und Einwanderung aus Italien oder Asien: Wegen "dieser amerikanischen Rassenpolitik (könnten)", kritisiert Gesell "die Neger eines Tages die Oberhand gewinnen."10 Implizit vertrat Gesell ein kolonialistisches Expansionsprogramm, er qualifizierte Afrikaner ab und predigte ein Arbeitsethos, sozialrassistisch abgegrenzt gegen "Arbeitsscheue" und "Zigeuner".
Freiland allein ist laut Gesell kein Mittel gegen Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit.11 Das Problem liege im Austausch der Waren. Weil dieser durch Geld vermittelt wird, existiere eine "Zwangsnachfrage nach Geld".12 Den Umfang dieser Nachfrage nach Geld bestimme der Warenstrom, gemeint sind Konsumgüter.13 Letztlich setzt Gesell den Preis des Geldes sowohl mit dem Wert der Arbeitserzeugnisse als auch mit dem Lohn plus Zins und Bodenrente gleich und eliminiert theoretisch die Ausbeutung in der Produktion.14 Nur beim Austausch von Waren kommt es zur Ausbeutung, jeder betrügt jeden.15 Dann würde entweder Ausbeutung nicht existieren, weil jeder Betrüger und Betrogener ist, oder Gesell denkt an eine Konzentration von Reichtum bei den schlauen Betrügern und eine Verarmung der dummen Betrogenen, ein Ausleseprozeß aufgrund angeborener oder erlernter Fähigkeiten?
Die oben skizzierte Marxsche Werttheorie, die Ausbeutung im Produktionsprozeß festmacht, lehnt Gesell jedenfalls ab.16 Nur so kann er die Ausbeutung in der Zirkulation verankern und für fairen Wettbewerb plädieren. Gesells Ideen reflektieren die Ängste und Illusionen eines Kleinbürgers. Ein Beispiel: Angenommen Produzent A und Produzent B stellen bei gleichen Ausgaben für den Lebensunterhalt in der selben Zeit 10 bzw. 100 Stück einer Ware her. Gesell selber wird ja nicht müde die Vorzüge der Arbeitsteilung — Produktionssteigerung oder weniger Arbeitszeit pro Produkteinheit — zu preisen. Trotz des höheren Materialaufwandes und Verschleißes an Werkzeug kann B seine Produkte billiger verkaufen, A. bleibt auf seinen Waren sitzen oder verkauft unter seinen Produktionskosten. Höhere Arbeitsproduktivität setzt sich unter Konkurrenzbedingungen durch, weil sie weniger menschliche Arbeitskraft je Wareneinheit bedeutet. Insofern reguliert der Wert der Waren "in letzter Instanz" die Preise, was nicht bedeutet, der Wert, d.h. die Arbeitszeit diktiert immer den Preis, sondern dieser schwankt. Der Wert setzt sich als "blindwütiges Durchschnittsgesetz" durch, schrieb Marx.17
Zinsen und "Schwundgeld"
Wirtschaftskrisen entstehen nach der Gesellschen Theorie weil Geld gehortet und damit Zins erpresst, also arbeitsloses Einkommen erzielt werden kann. Die gute Marktwirtschaft verwandelt sich zum ausbeuterischen Kapitalismus, der Gegensatz verläuft zwischen den "Schaffern", Arbeitern und Unternehmern, und den Raffern, den "parasitären" Kapitalisten. Ein Ansatz, der das antisemitische Stereotyp vom jüdischen Wucherer befördert. Kapitalismus wird von den Gesellianern als Zinswirtschaft definiert. Bei nachlassender Konjunktur sinken die Gewinne, der Zinssatz aber laut Gesell nur bis zum "Urzins", das heißt nicht unter 2,5 Prozent. Sonst horten die Geldbesitzer lieber und bringen dadurch die zirkulierende Geldmenge und das Warenangebot in ein Ungleichgewicht. Möglich wird das Horten, weil Geld nicht verfault, wie er glaubt. 1891 formuliert Gesell deshalb bereits die Idee des "rostenden Geldes", später Frei- oder Schwundgeld genannt. Gemeint ist, daß auch Geld in bestimmten Zeiträumen an Wert verliert, ebenso wie Waren und deshalb ausgegeben bzw. investiert werden muß.18
Die gesamte obskure Lehre fußt auf der falschen Annahme, daß Geld nicht "rostet" oder "verfault". Tatsächlich kann Geld durchaus an Wert verlieren, durch Inflation, durch Wechselkursschwankungen, im Gefolge ökonomischer und politischer Entwicklungen. In Deutschland wurde das Geld 1923 und 1948 völlig entwertet: Die Besitzer von Produktionsmitteln, von Fabriken, Boden, Maschinen oder Rohstoffen, profitierten.
Moderne Gesellianer wie Klaus Schmitt und Margrit Kennedy beziehen den Wertschwund nur auf konkretes Bargeld.19 Immer noch, schreibt Kennedy, werde Geld gehortet, von Privatleuten "unter der Matratze", oder nach Einbrüchen und Diebstählen, oder als Geldbestände in ausländischen Währungen.20 Ein lächerlicher Ansatz: Der Gesell-Kritiker Jürgen Kaun schreibt, daß gerade acht Prozent des gesamten zinstragenden Geldvermögens der privaten Haushalte (!) Tauschgeld ist, das eine von Gesellianern vorgeschlagene Hortungssteuer betrifft.21 Auch bei Experimenten mit dem Schwundgeld, etwa dem Paradebeispiel der Gesellianer in dem österreichischen Dorf Wörgl 1932, tauschten die BürgerInnen ihr Bargeld gegen neues Schwundgeld um. Diese neue Währung verlor jeden Monat ein Prozent ihres Wertes. Die Gemeinde hatte dadurch 2.000 Schilling Gewinn im Monat, konnte Schulden abzahlen und die Infrastruktur ausbauen. Weder die Bankguthaben der Reichen, noch deren Sachwerte wurden angegangen, sondern die Bargeldbestände aller BürgerInnen. Schwundgeld ist also nichts anderes als eine verkappte nichtprogressive Steuer.22
Krisen erklärt Schmitt folgendermaßen: Aufgrund eines hohen Angebots purzeln unter Konkurrenzbedingungen Gewinne und Zinsen.23 Wenn in einer solchen Lage alle Sparstrümpfe und Raffzähne auf Zinsen verzichten und investieren, steigt das Angebot weiter, zumindest wachsen die Kapazitäten. Das steht im Gegensatz zu den Behauptungen von Schmitt oder Kennedy, ohne "Zinsknechtschaft" lebten wir in einem ökologischen Paradies, ohne "pathologischen Wachstumszwang" (Kennedy).24 Investiert wird, wenn Profite winken, niedrige Zinsen könnten sogar noch einen Wachstumsschub bewirken. Gesell selber, schreibt sein österreichischer Schüler Gerhard Senft, sah den Zins als Wachstumsbremse, die er beseitigen wollte.25 Jürgen Kaun kritisiert die Freiwirtschaft, weil sie "einen kräftigen Wachstumsschub mit vermehrten Umweltschäden" bewirken würde. "Zinslose Investitionsdarlehen würden... extrem kapitalintensive Großtechnologien verhältnismäßig am stärksten verbilligen", also Atomkraft, Atomfusion, Luft- und Raumfahrt, Gentechnik.26
Rassenhygiene mit Freigeld und Freiland
Freiland, Freihandel und Freigeld bilden laut Gesell die Elemente einer "natürlichen Wirtschaftsordnung". Er rühmt diese als "eine Ordnung, in der die Menschen den Wettstreit mit der ihnen von der Natur verliehenen Ausrüstung auf vollkommener Ebene auszufechten haben, wo darum dem Tüchtigsten die Führung zufällt, wo jedes Vorrecht aufgehoben ist und der Einzelne, dem Eigennutz folgend, geradeaus auf sein Ziel lossteuert, ohne sich in seiner Tatkraft durch Rücksichten ankränkeln zu lassen..."27 Der Marx der Anarchisten entpuppt sich als Sozialdarwinist und Liberaler: "Diese natürliche Wirtschaftsordnung", fährt Gesell fort, "könnte man auch als ,Manchestertum’ bezeichnen, jene Ordnung, die den wahrhaft freien Geistern immer als Ziel vorgeschwebt hat... Die Manchesterschule war auf dem richtigen Wege, und auch das, was man von Darwin her später in diese Lehre hineintrug, war richtig."28 Die Fehler des Manchesterkapitalismus, Privilegien des Grund- und Geldbesitzes zu akzeptieren, will Gesell korrigieren, um das eigentliche Ziel, die Höherzüchtung der Menschheit, zu garantieren: "Die Auslese durch den freien, von keinerlei Vorrecht mehr gefälschtem Wettstreit wird in der Natürlichen Wirtschaftsordnung vollständig von der persönlichen Arbeitsleistung geleitet... Denn die Arbeit ist die einzige Waffe des gesitteten Menschen in seinem ,Kampfe ums Dasein`. (...) Doch steht es außerhalb jedes Zweifels, daß der freie Wettbewerb den Tüchtigen begünstigt und seine stärkere Fortpflanzung zur Folge hat."29 Eine solche "Rassenpolitik", schreibt Gesell, "darf nicht an Staaten, Landesgrenzen, an Staatsgesetze gebunden werden. Rassenpolitik ist ureigene Angelegenheit jedes einzelnen Menschen". Es folgt ein antisemitisches Stereotyp: "Das einzige Volk, das seit Jahrtausenden beharrlich Rassenpolitik treibt, die Juden, hat überhaupt kein eigenes Land, und kennt die Staatshoheit nicht."30
Die Auslese leitet Gesell aus angeblich ewigen Naturgesetzen ab: "Diese Gesetze aber wollen den Wettstreit. Nur auf dem Wege des Wettbewerbs, der sich überwiegend auf wirtschaftlichem Gebiete abspielt, kann es zur förderlichen Entwicklung, zur Hochzucht kommen. Wer daher die Zuchtgesetze der Natur in ihrer vollen, wundertätigen Wirksamkeit erhalten will, muß die Wirtschaftsordnung darauf anlegen, daß sich der Wettbewerb auch wirklich so abspielt, wie es die Natur will, d.h. mit der von ihr gelieferten Ausrüstung, unter gänzlicher Ausschaltung von Vorrechten. Der Erfolg des Wettstreites muß ausschließlich von angeborenen Eigenschaften bedingt sein, denn nur so wird die Ursache des Erfolges auf die Nachkommen vererbt... Dann darf man hoffen, daß mit der Zeit die Menschheit von all dem Minderwertigen erlöst werden wird, mit dem die seit Jahrtausenden von Geld und Vorrecht geleitete Fehlzucht sie belastet hat, daß die Herrschaft den Händen der Bevorrechteten entrissen werden und die Menschheit unter Führung der Edelsten den schon lange unterbrochenen Aufstieg zu göttlichen Zielen wieder aufnehmen wird." Der französische Adelige Boulainvilliers verteidigte 1727 die Privilegien seiner Kaste mit dem Verweis auf eine rassische Abstammung von den fränkischen Eroberern. Dem Kleinbürger Gesell zufolge führen Privilegien zur Degeneration, mann ist dem "Kampf ums Dasein" enthoben.
Auch das Freiland-Konzept dient eugenischen Zielen. Die Pachtzahlung erfolgt zunächst an den Staat "und wird restlos an die Mütter nach der Zahl der Kinder verteilt"31, als "Mutterrente". Die "Rückkehr der Frau zur Landwirtschaft" ist laut Gesell "die glücklichste Lösung der Frauenfrage".32 Die "Vorrechte bei den Geschlechtern" sind aufgehoben, die Grundrente als ökonomische Sicherheit gewährt den Frauen "das freie Wahlrecht... und zwar nicht das inhaltsleere politische Wahlrecht, sondern das große Zuchtwahlrecht, dieses wichtigste Sieb der Natur."33 Die Frauen würden damit den schädlichen Einfluß der Medizin ausgleichen, die die "Erhaltung und Fortpflanzung der fehlerhaft geborenen Menschen" bewirkt. "Soviel Krankhaftes auch der Auslesebetätigung der Natur durch die Fortpflanzung der Fehlerhaften zugeführt wird, sie wird es bewältigen. Die ärztliche Kunst kann dann die Hochzucht nur verlangsamen, nicht aufhalten."34
In dem Roman "Der abgebaute Staat" betont Gesell die Züchtung von "Kraft, Gesundheit, Geist, Schönheit" als gesellschaftliche Ziele. Frauen haben sich dem unterzuordnen, Verhütung ist schlecht, weil es dann an menschlichem "Auslesematerial" mangelt. Kopfzerbrechen bereitet Gesell das "Überbevölkerungsproblem". Einerseits werde es weniger Geburten geben, weil Frauen länger nach geeigneten Väter suchen und nur "die Lebensbejahenden" gebären. Die übrigen Frauen würden sich sterilisieren lassen und lohnabhängig sein. Nach seiner sozialdarwinistischen Logik sterben diese Frauen aus und nur die "Lebensbejahenden" pflanzen sich fort, so daß Gesell die "Gefahr einer künftigen Überbevölkerung" befürchtet.35
Antisemitismus und die Lehre von der Zinsknechtschaft
Gesell konstruierte wie sein Vorbild Proudhon eine widersinnige Differenz zwischen einem guten, weil produzierenden, und einem bösen, weil zinsheckenden Kapital. Letzteres identifizierte die antisemitische Propaganda mit dem Juden, die Nazis teilten in "schaffendes" und "raffendes" Kapital. In Wahrheit ist dieses "schaffende" Kapital immer auch Geldbesitzer und umgekehrt die Banken Miteigentümer an Unternehmen; Finanz- und Industriekapital sind untrennbar miteinander verflochten. Wer, wie die AnhängerInnen der Zinsknechtslehre, alle Übel dieser Welt in der Zirkulationssphäre ausmacht, verdrängt die Ausbeutung in der Produktion und pflegt ein falsches Bild vom Kapitalismus, das strukturell antisemitisch ist.
In einem Text von 1891 spricht sich Gesell vordergründig gegen Antisemitismus aus. Tatsächlich pflegt er das Stereotyp des raffenden, faulen, nicht-arbeitenden Juden. Gesell schreibt: "Die Judenhetzerei ist eine colossale Ungerechtigkeit und eine Folge einer ungerechten Einrichtung, eine Folge des heutigen Münzwesens (...) Die Münzreform [gemeint ist sein Vorschlag, P.B.] macht es unmöglich, daß jemand erntet ohne zu säen, und die Juden werden durch dieselbe gezwungen werden, die Verwerthung ihrer großen geistigen Fähigkeiten nicht mehr im unfruchtbaren Schacher zu suchen, sondern in ... der ehrlichen Industrie."36
Einer der wichtigsten Epigonen ist Yoshito Otani. Für seine Bücher wurde in der FSU-Zeitschrift Der Dritte Weg oder von den Christen für eine Gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) geworben. Otani stellt die Vernichtung der Jüdinnen und Juden infrage, zweifelt an der Existenz der Gaskammern in Auschwitz und leugnet die Kriegsschuld der Deutschen. Selbst am Ersten Weltkrieg seien "jüdische Banken" schuld. Otani bezeichnet die antisemitische Fälschung "Protokolle der Weisen von Zion", die angebliche Weltherrschaftspläne der Juden beinhaltet, als wahr.37
Der Antikommunist Gesell und die Münchner Räterepublik
Vorwürfe der Rechtslastigkeit kontern Gesell-Fans mit dem Hinweis, ihr Meister habe bei der Münchner Räterepublik mitgemischt. Halbwahrheiten wirken oft wie ganze Lügen. Die Rätebewegung in München gliedert sich in drei Phasen: Die erste dauerte vom Sturz der Monarchie bis zur Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD) am 21. Februar 1919. Am 7. April riefen der Münchner Zentralrat, Vertreter der sozialistischen Parteien und der Anarchisten die erste Räterepublik aus. Ernst Niekisch (SPD), der sich später als Faschist hervortat und Hitler von rechts kritisierte, ernannte Gesell zum Volksbeauftragten für Finanzen. In seiner Autobiographie wertete Ernst Toller, damals Vorsitzender der Münchner USPD und Kommandant der Roten Armee, diese Wahl als Ausdruck von Unwissenheit und Unklarheit.38 Am 13. April wurde diese erste Räteregierung abgesetzt, ein Bündnis unter Führung der KPD rief die zweite Räterepublik aus.
Anfang Mai 1919, nachdem die Freikorps die Rätebewegung zerschlagen hatten, wurde Gesell verhaftet. Sein Anhänger Rolf Engert verfaßte eine Verteidigungsschrift, die Gesell inhaltlich billigte, und in der es darum geht, sich von der Linken zu distanzieren, weil diese kommunistisch sei. Immer schon habe Gesell Marx bekämpft, insbesondere "das von jenem verkündete Streikprinzip und predigt statt dessen die unverdrossene, ja gesteigerte Arbeit". Engert schrieb weiter: "Daß die Verbindung Gesells mit den Männern der ersten Räterepublik Bayern — und nur ihr gehörte er an — seinen Ideen im Grunde widersprach, geht am klarsten aus der Befremdung, ja dem Unwillen hervor, den dieser Schritt Gesells bei vielen seiner Anhänger hervorrief." Gesells Aktivität in der Räteregierung wird als besonders schlaue antikommunistische Taktik angedient: "er wollte den Kommunismus mattsetzen... Gesell erblickt im Kommunismus das Übel aller Übel... er vertritt statt dessen den ausgesprochensten — bisher noch nie verwirklichten wirtschaftlichen Individualismus", mitgemacht habe er nur, um "seine Idee selbst noch in letzter Stunde zur Rettung des deutschen Volkes zu verwirklichen"39 Er würde sich "auch jeder anderen Regierung mit seiner völlig unpolitischen, seiner reinen Facharbeit zur Verfügung stell(en).." Daß man in einem politischen Prozeß angesichts des Weißen Terrors die eigene Beteiligung herunterspielt, ist verständlich, diese Art der Distanzierung aber belastete andere Angeklagte.
Der rechte Rand der Anarchie
Die Gesellianer versuchen mit einer Vielzahl von Gruppen und Projekten und einer breiten Bündnispolitik im rechten und esoterischen Spektrum, aber auch in der linken und der umweltbewegten Szene AnhängerInnen zu rekrutieren. Die FSU verfügte in den 50er Jahren über Kontakte zur nazistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP), in den 60ern kooperierte die FSU mit dem ökofaschistischen Weltbund zum Schutz des Lebens (WSL). Die Gesellianerin Margret Kennedy trat in Berlin bei dem Ökofaschisten Rudolf Bahro auf und publizierte in der Zeitschrift "Der Gesundheitsberater" des braunen Ernährungspapstes Max Otto Bruker. Bemerkenswert ist bei diesen Kooperationen die Mischung aus Gesellianern, Anthroposophen und offenen Faschisten, personifiziert durch Bruker und Günter Bartsch.
Bruker, langjähriger Funktionär des WSL und 1969 FSU-Kandidat für den Bundestag, predigt in seinen Büchern eine sozialdarwinistische Ideologie. So konstruiert er einen Zusammenhang zwischen "Frauenkrankheiten" und Verhütungsmitteln bzw. gesundheitsschädlicher Lebensweise.40 Wenn eine Frau dadurch "ihren Körper schädigt", hofft Bruker aus Selektionsgründen auf Sterilität: "vom biologischen Standpunkt aus eine sinnvolle Maßnahme, weil dadurch der Anteil der Bevölkerung von der Fortpflanzung ausgeschlossen wird, der keine gesunde Nachkommenschaft gewährleisten kann".41 Weil Frauen Erziehungsarbeit scheuen, komme es zu immer mehr verweichlichten Einzelkindern. "Zur Vorbereitung für die späteren Lebensaufgaben sind drei Kinder geeigneter als nur zwei. Dies entspricht dem Kampf ums Dasein im späteren Leben mehr. Bei drei Kindern sieht sich das eine meist einer Mehrheit von zweien gegenüber."42
Krebs ist für Bruker eine "vollendete Krankheit.. dazu ausersehen, dem verblendeten Fortschrittsgläubigen die Augen zu öffnen" oder aber es wird "der fortschrittliche Teil der Menschheit in einem Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit durch Krankheit, insbesondere Krebs liquidiert."43 Chronische Schlafstörungen erklärt der Ernährungspapst mit Hilfe der Anthroposophie als "starke(n) Mangel an Vertrauen zu dieser Welt und damit zu Gott".44 Ausgehend von der anthroposophischen Lehre vom Menschen als Geist-Seele-Leib-Einheit und einem mystischen Naturbegriff ("das ursprünglich Gegebene", "Göttlich-Geheimnisvolles und Letztes") wettert Bruker gegen die rationale Wissenschaft als "Höhepunkt materialistischen Denkens".45
Eine schillernde politische Biographie weist Günter Bartsch auf. Von 1947 bis 1953 war er Mitglied der KPD. 1972 veröffentlichte er ein Werk über Anarchismus in Deutschland, darin wird Silvio Gesell als "Anarcho-Liberaler" charakterisiert. Drei Jahre später schreibt Bartsch ein Buch unter dem Titel "Revolution von rechts?", positiv Bezug nehmend auf Teile der sogenannten Neuen Rechten sowie den Nazi Otto Strasser. Mit dem Buch "Vom Kronstadt zum Achbergerlebnis" schlägt Bartsch 1977 eine Brücke vom Anarchismus zur Anthroposophie. Artikel aus seiner Feder wurden in den rechten Blättern "Wir selbst", "Criticon" und "Junges
Forum" sowie in den SPD-nahen "Frankfurter Heften" abgedruckt. 1989 erschien eine Biographie von ihm über Otto Strasser im Verlag von Siegfried Bublies (Ex-NPD, Republikaner), der auch "Wir selbst" herausgibt.461989 verfaßte Günter Bartsch zusammen mit Klaus Schmitt das Buch "Silvio Gesell — Marx der Anarchisten?", das im anarchistischen Karin Kramer Verlag publiziert wurde. Bartsch räumt "eine Spur von Sozialdarwinismus" bei Gesell ein: "Jedoch richtet sie sich vor allem gegen Ehen mit Alkoholikern."47 Bei freier Liebeswahl der Frauen und freiem Wettbewerb unter den Männern ist "natürliche Auslese" möglich, dann "platzen die Eiterbeulen, die größten Probleme — Staat, Klerus, Überbevölkerung, Krieg."48 Schmitt feiert Gesell unter dem Titel "Geldanarchie und Anarchofeminismus" als Nachfolger Proudhons. Besonders schätzt Schmitt die Freiland-Idee: Der gesamte Boden solle von einem "Bund der Mütter" verwaltet und an Meistbietende verpachtet werden. Die Pachteinnahmen gehen an die Mütter und ihre Kinder. Gesell habe dies als Beitrag zur "biologischen und kulturellen Fortentwicklung der Menschheit" verstanden, als Möglichkeit den potentiellen Vater auch unter eugenischen Gesichtspunkten auszuwählen. "Immerhin ist dieser Gedanke einer für die Gesunderhaltung des Erbguts und für die Evolution der menschlichen Art vorteilhaften und von den betroffenen Individuen selbstbestimmten Eugenik eine diskutable Alternative zu den auf uns zukommenden, von Staat und Kapital fremdbestimmten Genmanipulationen", schreibt Schmitt.49
Mit Rassismus habe dies nichts zu tun, behauptet Schmitt. In Gesells Roman "Der abgebaute Staat", auf den er sich bezieht, wird die Utopie einer Frauenkommune entworfen, deren Bewohnerinnen vielfache sexuelle Beziehungen unterhalten. Schmitt schreibt dazu: Ihre Kinder stammen von verschiedenen Vätern "hoher physischer und psychischer Qualität ab, und zwar von Männern aus den verschiedensten Völkern und Rassen der Erde! Es geht hier also nicht um die ,Aufnordung’ einer bestimmten Rasse, wie es die NS-Rassisten vorhatten, sondern um die Fortentwicklung der gesamten Gattung Mensch."50 Leider, fährt Schmitt fort, seien die "ausdrücklich staatsfreien und naturverbundenen Eugenik- und Wahlzuchtvorstellungen... heute in linken Kreisen äußerst verpönt". Die Kritik der Linken schiebt er einer "lust- und lebensfeindlichen, aus christlich-masochistischer Moral gespeister Ideologie" zu. Dabei sollten wir zur Kenntnis nehmen, daß "durch den Schutzraum der Kultur (ist) der Ausleseprozeß ausgeschaltet, die weiterwirkenden Mutationen führen jedoch zur überwiegend negativen Veränderung der menschlichen Natur: zu Domestikationserscheinungen". Genauso formulierte schon 1943 der Nazibiologe Konrad Lorenz, bei dem sich Schmitt im nächsten Absatz auch bedankt.51
Welch einen Fortschritt bieten Gesell und Schmitt, der Anarchist, gegenüber den Nazis und Aldous Huxleys "Schöner neuer Welt"! Die einen benötigten den Terror, im Roman müssen befruchtete Eizellen noch in einer Brut- und Normzentrale manipuliert werden. Sozialdarwinismus im anarchistischen Gewande merzt selbstbestimmt Alkoholiker, Kranke und Behinderte aus. Die Menschen in dieser Horror-Utopie Gesells haben die Selektion in "höher"- und "minderwertiges" Leben soweit verinnerlicht, daß ökonomische Zwänge sowie staatliche Macht und Manipulation überflüssig sind.
Die Attraktivität Gesells bei Teilen des anarchistischen Spektrums ist weder Zufall noch Unwissenheit. Das individualistische Konzept, das von einigen Strömungen vertreten wird, ist offen für Mystik, für einen Egokult und die Verteidigung des Eigentums, wie sie Max Stirner (1806-1856) vertrat, bis hin zu faschistischen Konsequenzen.52 Daß sich Gesell ebenso auf Nietzsche und Stirner wie auf Proudhon beruft, ist korrekt.53 Mit letzterem stimmte er nicht nur in der Zins-Kritik überein. Trotz der berühmten Formulierung "Eigentum ist Diebstahl" verteidigte Proudhon Privateigentum, wenn es aus eigener Arbeit entspringt, gegen Wucher und Spekulanten. Er bekämpfte jegliche revolutionäre Politik und die Emanzipation der Frau und war ein erklärter Antidemokrat und ein Antisemit.54 In Gesells anarchistischem Utopia gibt es keine soziale Fürsorge und keine Gefängnisse, sondern Ellbogenmentalität und Lynchjustiz: "Der Friedhof ist hier das einzige Gefängnis", schreibt Gesell.55
Schlichte Gemüter aus dem alternativen und anarchistischen Milieu begnügen sich mit Parolen "gegen die Zinsknechtschaft der Dritten Welt". Selbst im Terminkalender der autonomen Berliner Zeitschrift Interim (Nr.258, 21.Oktober 1993) wurde eine Veranstaltung "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus" im Infoladen Bambule mit Klaus Schmitt angekündigt. Auf Initiative einer Künstlergruppe galt im Stadtviertel Prenzlauer Berg in Berlin zwei Monate lang eine zweite Währung, der sogenannte "Knochen". Die Idee basierte ebenfalls auf der sogenannten Schwundgeldtheorie. Silvio Gesell, den sein österreichischer Anhänger Gerhard Senft als "großen Sozialreformer" rühmt, verbrachte seine letzten Jahre in der Lebensreformer-Obstbaugenossenschaft Oranienburg bei Berlin. Außer vegetarischer Ernährung, heißt es 1917 in einem Programmheft von Eden, war zum "natürlichen" Leben in der alternativen Kommune "deutsch-völkische Gesinnung Voraussetzung. Und dazu befähigt nur deutsches Ariertum".56
Anmerkungen
1 vgl. Stader Wochenblatt, 30.8.97, 10.9.97, 17.9.97, Stader Tageblatt, 8.11.97, 10.11.97, Niederelbe-Zeitung, 8.11.97 und 11.11.97, Der Spiegel, Nr.46/1997
2 vgl. Siegbert Wolf, Silvio Gesell. Eine Einführung in Leben und Werk eines bedeutenden Sozialreformers, Hannoversch Münden, 1983
3 vgl. Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung, 4. überarbeitete Auflage, Gesammelte Werke, Bd.20, Lütjenburg, 1991, S.3 ff.
4 zit. ebd., S.10
5 zit. ebd., S.10 f.
6 vgl. ebd., S.72, S.99
7 vgl. ebd., S.72
8 zit. ebd., S.70
9 vgl. ebd., S.41 f.
10 zit. ebd., S.63
11 vgl. ebd., S.106 f.
12 vgl. ebd., S.119
13 vgl. ebd., S.172
14 vgl. ebd., S.162
15 vgl. ebd., S.130
16 vgl. ebd., S.111, S.122 f., S.124
17 vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd.1, MEW 23, S.117
18 vgl. Gesell, a.a.O., S.194 ff.
19 vgl. Klaus Schmitt, Günther Bartsch (Hg.), Silvio Gesell — "Marx" der Anarchisten?, Berlin, 1989, S.90 f., Margret Kennedy, Geld ohne Zinsen und Inflation, München, 1991, S.49 f.
20 vgl. Kennedy, a.a.O., S.111 f.
21 vgl. Jürgen Kaun, Keine Begrenzung des Wirtschaftswachstums, in: Contraste, Nr.84, 1991
22 vgl. Experiment Wörgl, in: Bartsch, Schmitt, a.a.O., S.258
23 vgl. Schmitt, a.a.O., S.63 ff.
24 vgl. ebd., S.24
25 vgl. Gerhard Senft, Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Silvio Gesell und das libertäre Modell der Freiwirtschaft, Berlin, 1990, S.145, S.147
26 vgl. Kaun, Keine Begrenzung des Wirtschaftswachstums, in: Contraste, Nr.84, 1991
27 zit. Gesell, a.a.O., Vorwort zur Dritten Auflage, Herbst 1918, S.XVII
28 zit. ebd., S.XVII f.
29 zit. ebd., S.XX f., ebenso: Klaus Schmitt, a.a.O., S.214, S.218, in der Anmerkung 255 wird wieder Konrad Lorenz positiv zitiert, ohne Wettbewerb keine "selektiven Vorteile".
30 zit. ebd., S.64
31 zit. ebd., S.72
32 zit. ebd., S.92
33 zit. ebd., S.XXI, vgl. ebd., S.93
34 zit. ebd., S.XXI
35 vgl. Silvio Gesell, Der abgebaute Staat — Leben und Treiben in einem gesetz- und sittenlosen hochstrebenden Kulturvolk, 1927, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S.252ff.
36 zit. Gesell, Nervus rerum — Fortsetzung zur Reformation im Münzwesen, S.140f., in: Gesell, 1988, nach Oliver Geden, Rechte Ökologie, Berlin, 1996, S.158
37 vgl. Volkmar Woelk, Natur und Mythos, Duisburg, 1992, S.22, Geden, a.a.O., S. 162ff.
38 vgl. Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland, Leipzig, 1990, S.109
39 zit. Rolf Engert, Silvio Gesell in München 1919, Hannoversch-Münden, 1986, S.38 ff.
40 vgl. Max O. Bruker, Gesund durch richtiges Essen, München, 16. überarbeitete Auflage, 1989, S.146 ff.
41 zit. ebd., S.147 f.
42 zit. Bruker, Lebensbedingte Krankheiten, Hopferau, 1982, S.280
43 zit. Bruker, Gesund durch richtiges Essen, a.a.O., S.198 f.
44 vgl. ebd., S.216, S.220 ff.
45 vgl. Bruker, Lebensbedingte Krankheiten, a.a.O., S.147 ff.
46 vgl. Raimund Hethey, Peter Kratz, Hrsg., In bester Gesellschaft. Antifa-Recherche zwischen Konservativismus und Neo-Faschismus, Göttingen, 1991, S.126 f., Margret Feit, Die Neue Rechte in der Bundesrepublik, Frankfurt/M., 1987, S.180, Wölk, a.a.O., S.44 ff.
47 zit. Günter Bartsch, Silvio Gesell, die Physiokraten und die Anarchisten, in: Bartsch, Schmitt, Silvio Gesell — Marx der Anarchisten?, Berlin, 1989, S.14
48 zit. ebd., S.15
49 zit. Schmitt, Geldanarchie und Anarchofeminismus, in: Silvio Gesell — Marx der Anarchisten?, a.a.O., S.129
50 zit. ebd., S.131
51 zit. ebd., S.241 f., Anmerkung 117
52 vgl. Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd.1, 1981, S.186 ff.,
53 vgl. Gesell, Natürliche Wirtschaftsordnung, a.a.O., S.XXVI
54 vgl. Thilo Ramm, Hrsg., Pierre-Joseph Proudhon, Ausgewählte Texte, Stuttgart, 1963
55 zit. Gesell, Der abgebaute Staat, a.a.O., S.302
56 zit. nach Louis Lerouge, Rinks und lechts kann flau/mann nicht velwechsern — odel doch?, in: Contraste 106/107, Juli/August 1993
Editorische Anmerkungen:
Der Artikel ist eine Spiegelung von
http://www.contextxxi.at/html/lesen/archiv/c21010207.html*) Peter Bierl ist Mitglied der Ökologischen Linken und Co-Autor des Buches "Ganzheitlich und ohne Sorgen in die Republik von morgen" mit Beiträgen u.a. von Thomas Ebermann und Colin Goldner zu Antisemitismus, Irrationalismus und Esoterik, das im April 2001 im Alibri-Verlag erschien.