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Die Kommune von Kronstadt

Von Klaus Gietinger

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Vor 76 Jahren am 16. März 1921 griffen 50000 Rotarmisten unter General Tuchatschewski die Festung Kronstadt an, in der sich 14000 Matrosen verschanzt und zweieinhalb Wochen lang, zusammen mit der Zivilbevölkerung der Stadt, die „Dritte Revolution“ gelebt und verkündet hatten. Es waren jene Matrosen, die von Trotzki einmal als »Schönheit und Stolz der Oktoberrevolution« gepriesen worden waren. weil sie über drei Jahre zuvor den Bolschewiki zum Sieg verholfen hatten.

Kronstadt gab einem Aufstand den Namen, der den Niedergang der Oktoberrevolution symbolisiert, wie kein anderer. Kronstadt ist der point of no return der russischen Revolution. Danach war die Sache praktisch gelaufen. Wie aber kam es zum Kronstädter Aufstand? War es ein konterrevolutionärer Putsch oder der Versuch, die Revolution in die Hand derer zurückzuholen, die sie gemacht hatten, die »werktätigen Massen«?

»Es gibt nur ein einziges Land unter den kriegführenden Staaten«, das dank seiner »Entwicklung über solche ökonomischen und geistigen und kulturellen Mittel verfügt, daß es (...) den nottuenden Zusammenschluß der ganzen Kulturwelt verwirklichen kann. Dieses Land heißt Deutschland« Der da 1916 sprach, hieß nicht Ludendorff oder Wilhelm II. Nein, dieser Mann hieß Trotzki.

In Rußland angekommen, verkündete er am Vorabend der Oktoberrevolution im August 1917: »Für die Einführung der Kontrolle der Produktion und die Verteilung hatte das Proletariat sehr wertvolle Vorbilder in Westeuropa, vor allem in dem sogenannten >Kriegssozialismus< Deutschlands. «

Dieser Kriegssozialismus war im April des selben Jahres so nett gewesen, Trotzkis Chef einen Zug, freies Geleit durch Deutschland und eine Menge Geld zu verschaffen (50 Millionen Goldmark). Lenin kam pünktlich an auf dem Finnischen Bahnhof in Petrograd, dem ehemaligen St. Petersburg und noch nicht Leningrad, das hat er nicht vergessen.

Die Preußen machten mächtig Eindruck auf die Bolschewiki: »Solange in Deutschland die Revolution noch mit ihrer Geburt säumt, ist es unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme noch stärker zu beschleunigen, (...) ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken«, schrieb Lenin im Mai 1918.

Deutlich ist hier die Verbindung von Organisation, Disziplin und ßarbarei. Und da hätten die Deutschen einiges zu bieten. Der »militärische Realismus« benötigt einen richtig angewandten und zweckmäßig geregelten Terrorismus«. Kein Leninzitat, auch keins von Dserschinski, dem Haupt der 1917 geschaffenen Terrortruppe, der Tscheka. Nein, dieses Zitat stammt vom dem deutschen General von Hartmann aus seinem Buch »Miltärische Notwendigkeit und Humanität«, geschrieben im Jahr 1878. Seit 1902 war es faktisch Militärdoktrin des deutschen Generalstabes. »Kriegsräson geht vor Kriegsmanier« bzw. »Not kennt kein Gebot« hießen die hunnischen Regeln. Und 1914 zeigten die Deutschen, was sie darunter verstanden. Tausende von belgischen Arbeitern wurden als Arbeitssklaven verschleppt, 6000 Zivilisten dieses kleinen Landes hingerichtet, die massenhafte Geiselnahme eingeführt.

Wir wissen nicht, ob Lenin und Trotzki diese Taten des deutschen »Kriegssozialismus« im Einzelnen kannten, doch verblüfft das Bestreben, es »noch besser« zu machen. Denn im Februar des Jahres 1918— als sich die Bolschewiki noch die Macht mit den linken Sozialrevolutionären, die die Kleinbauern Rußlands vertraten, teilen mußten — waren die Friedensverhandlungen von Brest­Litowsk (vorerst) gescheitert und die Revolution vom Vormarsch der Deutschen bedroht.

Lenin erließ sein Dekret: »Das sozialistische Vaterland in Gefahr«. Die Bevölkerung wurde zur Verteidigung des Landes und des Sozialismus aufgerufen. Ganz nebenher sollten dabei »feindliche Agenten, Spekulanten, Plünderer, Rowdys, konterrevolutionäre Agitatoren und deutsche Spione (...) am Tatort«, also ohne Gerichtsverfahren, erschossen werden. Isaak Steinberg, Volkskommissar für die Justiz, linker Sozialrevolutionär und als solcher Gegner der Todesstrafe — sie war am Tag 1 der Oktoberrevolution mit den Stimmen der Bolschewiki abgeschafft worden — hatte Einwände. Lenin antwortete: »Glauben Sie, daß wir siegreich sein können ohne den wahrhaft grausamsten revolutionären Terror?« Steinberg glaubte es: »Wozu brauchen wir dann noch ein Kommissariat für Justizwesen, nennen wir es doch einfach Kommissariat für soziale Ausrottung!« »Das ist genau das, was es sein sollte«, erwiderte Lenin, »aber das können wir nicht sagen. «

Aus dem Volkskrieg und der sozialen Ausrottung wurde nichts. Noch nichts. Denn die Bolschewiki (selbst in dieser Frage zerrissen) unterschrieben den Friedensvertrag mit den Deutsche doch noch, gegen den heftigen Widerstand der linken Sozialrevolutionäre, die deswegen aus der Regierung austraten. Rosa Luxemburg wettert ebenfalls. Doch die hatte es sich spätesten sei ihrem bösen Artikel (Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, 1905) gegen Lenins reaktionäre, dem deutschen Militarismus verwandten Disziplinvorstellungen mit ihm verdorben.

Außerdem saß sie im Gefängnis. So verloren die Bolschewiki die Ukraine, Polen, Estland, Lettland, Litauen, Teile Weißrußlands und 50 Prozent der Industrie des Zarenreiches.

Die von Lenin erhoffte Atempause für die Revolution aber blieb aus. Ab Sommer 1918 fielen mehrere lnterventionsheere in Rußland ein und überzogen das Land mit Terror, weißem Terror. Trotzki organisierte die Rote Armee, baute diese nach klassischen Vorbild auf: Dem preußischen Kadavergehorsam. Dies bedeutete die Rücknahme wichtiger Errungenschaften der Revolution (Milizsystem. Wahl der Offiziere, Soldatenräte) und war, wie die Zertrümmerung der Soldatenräte durch die SPD in der deutschen Novemberre­volution, konterrevolutionär.

Dem Einwand, gegen einen von allen Seiten einfallenden Feind hilft keine demokratisch organisierte Armee. kann man mit Rudi Dutschke antworten, daß »eine solche Situation gerade für Milizen und Partisanenkampf geeignet« ist. Aber Lenin und Trotzki gaben die »basisdemokratische« Reorganisation des sich auflösenden Heeres — nach ersten Mißerfolgen — nur zu schnell auf. Die Bolschewiki (außer Teilen ihres linken Flügels) wollten keine Armee von unten, genauso wie in Lenins Schrift »Staat und Revolution«, in der er sich dem Anarcho-Syndikalismus und den russischen Massenbewegungen näherte, nur als Nebelwerfer diente (der beim zweiten Hinsehen den alten Autokratismus nur versteckte).

Gleiches gilt für die Übernahme der Losung »Alle Macht den Sowjets«. Dies war nur ein verzweifelter (und geglückter) Versuch Lenins gewesen. die Revolution fünf Minuten vor 12 an sich zu reißen und den Massen wegzunehmen, wie es Arthur Rosenberg richtig feststellte.

Auf seine Kaderpartei und auf seinen den Preußen abgeguckten diktatorischen Stil wollte Lenin nie verzichten. Und Trotzki? Noch 1905 schoß er mit Rosa Luxemburg gegen Lenin, aber spätestens 1911, als diese auch ihm »jesuitische Politik« vorwarf, hatte auch sie es bei ihm verschissen. Trotzki begeisterte sich fortan für Lenin und fürs deutsche Militär.

Genüßlich rieb sich der Chef der Obersten Heeresleitung, Groener, im Dezember 1918 in Berlin die Hände und ließ den Widerhall seines Militarismus im fernen Rußland den deutschen unabhängigen Sozialdemokraten in der deutschen Revolutionsregierung um die Ohren krachen: »Übrigens gestalten auch die Russen ihr Heer in alter Weise mit Drill und nichtgewählten Offizieren«. Deutsche Militärs und russische Kommunisten waren bestens voneinander unterrichtet.

Mit der Abschaffung der Rätedemokratie in der russischen Armee (sie lebte nur von Oktober 1917 bis April 1918) war nun aber auch die entscheidende Bresche in das Rätesystem selbst gelegt. Unter dem Druck der alten und neuen bolsche­wistischen Organisationsprinzipien, die sich durch den Bürgerkrieg nur beschleunigt durch­setzten, entstand das, was später >Kriegskommunismus< genannt werden sollte und zur totalen Katastrophe führte.

»Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die sozialistische Sowjetrepublik retten«, hieß der Titel von Trotzkis Vorschlag zur Militarisierung der ganzen russischen Gesellschaft. »Sozialismus ist uns Organisation, Ordnung und Solidarität«, sagte der deutsche »Bolschewik«, der Mehrheits-Sozialdemokrat Friedrich Ebert, im Januar 1919 auf der Eröffnung der Nationalversammlung. Hatte er von Trotzki abgeschrieben? Oder klangen beide nur so ähnlich, weil sie Freunde des deutschen Militarismus waren?

Wie auch immer, für Lenin, war klar: »Widerspruchslose Unterordnung unter einen einheitlichen Willen ist für den Erfolg der Prozesse der Ar­beit, die nach dem Typus der maschinellen Großindustrie organisiert wird, unbedingt notwendig.« Also wurden die Räte (Sowjets) und die Betriebskomitees, die die Sozialisierung von unten massenweise (und ohne Anleitung von oben) durchgeführt hatten, entmachtet. Die kollektive Leitung in den Betrieben durch Einzelleitung (meist der alten Besitzer) ersetzt. Die syndikalistischen Versuche, die Wirtschaft über einen Allrussischen Betriebsrätekongreß zu organisieren, hatte man mit Hilfe der Gewerkschaften schon im Januar 1918 verhindert. Der Kongreß fand nie statt.

Statt dessen wurde eine gigantische bürokratische Behörde geschaffen, der Oberste Volkswirtschaftsrat, dessen vom Zarismus geerbter Wasserkopf umständlich-lustlos (und vergeblich) versuchte, einen Wirtschaftsplan zu erstellen. Links-kommunistische Führer wie Ossinski (die Kompromisse zwischen Zentralplan und Arbeiterkontrolle im Kopf hatten) ersetzte man bald durch den rigorosen Zentralisten Larin: »Ich nahm die deutschen Kriegsgesellschaften und übersetzte sie ins Russische.« So einfach war das. Statt Sozialismus mit Arbeiterkontrolle und Betriebsräteherrschaft entstand so ein starres, von der Partei kontrolliertes, nicht funktionierendes Leitungssystem. Dies war die zweite konterrevolutionäre Maßnahme der Bolschewiki.

Auf die Spitze getrieben wurde solcherart Kriegskommunismus durch die von Lenin gefürchteten, aber trotzdem geduldeten Versuche der Abschaffung des Geldes. Sich auf Marx‘ dürre Kritik des Gothaer Programm stützend (»Jeder erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (...) und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat soviel Konsumtionsmittel heraus, als gleich viel Arbeit kostet.«), glaubten die Bolschewiki, im Sozialismus würde Geld sehr schnell überflüssig. Also ließ man munter die Gelddruckpressen laufen, bis die Inflation gigantische Ausmaße annahm. Da es aber nicht gelang, ein Rechnungssystem der Betriebe untereinander zu entwickeln, hatten die Bolschewiki die einzig taugliche Rechnungsgröße vernichtet. Gleichzeitig wurden Güter des täglichen Bedarfs, Wohnen, Energieversorgung, Transport und kulturelle Versorgung für kostenlos erklärt. Das Kommissariat für Versorgungsfragen (der zweite bürokratische Wasserkopf) sollte die Verteilung organisieren. Doch der schwarze Markt, auf dem die Russen ihre kostenlos erhaltenen Waren verscherbelten, war, wie der Igel gegen den Hasen, immer schneller. Dies wurde durch landwirtschaftliche Experimente noch verschlimmert.

Die Diktatur des Proletariats hatte in einem Staat, der zu 80 Prozent aus Bauern und nur zu weniger als 15 Prozent aus Arbeitern bestand, seine Schwierigkeiten. Trotzki haßte die Bauern. Lenin wußte, daß er ohne sie nicht auskam, auch wenn er ihnen »kleinbürgerliche Tendenzen« unterstellte. So kamen die Bolschewiki gleich zu Beginn der Forderung der linken Sozialrevolutionäre nach und führten eine Bodenreform durch. Die Gutsbesitzer wurden enteignet, das Land (entgegen dem Verstaatlichungsprogramm der Bolschewiki) verteilt. Faktisch war dies nur eine Legalisierung der von den Bauern »wild sozialisierten« Flächen. Tatsächlich betrug der Landgewinn der Bauern kaum mehr als 10 Prozent — viele gingen leer aus.

Die das größte Mehrprodukt liefernden landwirtschaftlichen Großbetriebe wurden dadurch aber zerschlagen, und die Schicht sogenannter Mittelbauern wuchs an. Die von Marx (aber nicht von den Bolschewiki) so geschätzte archaische russische Dorfgemeinde, die Obscina, gelangte unbeabsichtigt zu neuer Blüte. Gleichzeitig aber beanspruchten Lenin und seine Partei autokratisch das (schon von Kerenski eingeführte) Getreidemonopol. Bürgerkrieg, Inflation und der Crash der Industrieproduktion verschärften das Ganze. Die Rote Armee und die Städte brauchten dringend Nahrungsmittel, die die Bauern nicht verkauften oder tauschten. weil sie dafür nichts oder nur wertloses Papier bekamen.

Also verlangten die Kommunisten von den Bauern, ihre sämtlichen Überschüsse abzugeben. Um dies durchzusetzen, erklärten sie faktisch den Dörfern den Krieg, gründeten »Komitees der Dorfarmut«, mit denen sie einen Keil in die Dorfgemeinschaften treiben wollten, und belegten das Land mit rücksichtslosem Terror. Eintreibungskommissionen verbreiteten Angst und Schrecken.

Dies, die »Raswjorstka«, war die dritte konterrevolutionäre Maßnahme der Bolschewiki. Dabei hätten die Bauern, die ja erstmal von der Revolution profitiert hatten, durchaus mit sich reden lassen. Die amerikanische Anarchistin Emma Goldmann, damals monatelang in Rußland, berichtet:

»Die Bauern weigerten sich in der Tat, ihre Produkte den Agenten der Regierung auszuhändigen. Sie forderten das Recht, mit den Arbeitern direkt in Verbindung treten zu können, doch das wurde ihnen verweigert.« Die Bolschewiki zogen es vor, 80 Prozent der Bevölkerung ihres Arbeiter- und Bauernstaates Mores zu lehren.

Maria Spiridonowa, 1906 Attentäterin auf einen zaristischen Staatsrat und linke Sozialrevolutionärin, sammelte mit Entsetzen die Berichte der verzweifelten Bauern: »Wir haben das Getreide nicht verborgen, wir haben laut Befehl nach dem Dekret neun Pud pro Kopf für ein Jahr für uns behalten (1 Pud entspricht zirka 16,4 Kilo, die benötigte Jahresration eines Erwachsenen wurde auf mindestens 14 Pud geschätzt). Da sandten sie uns ein Dekret, dem zufolge wir nur sieben Pud behalten durften. Das haben wir getan. Da kamen die Bolschewiki mit militärischen Abteilungen und raubten uns völlig aus.«

»Verprügelungen von Bauern sind in einigen Gouvemements festgestellt worden. Enorm aber ist die Zahl der Erschießungen, der Ermordungen, während der Gemeindeversammlungen, am helllichten Tage und in der Nacht, ohne Gerichts­verhandlungen«, schreibt Spiridonowa an das Zentralkomitee der Bolschewiki. »Im Gouverne­ment Kaluga wurden im Bezirk Medyn 170 Per­sonen erschossen. Erschossen wurden auch vier Lehrerinnen, die sterbend unter den Kugeln: >Es lebe die Reinheit der Räteherrschaft< gerufen haben (...) Panzerautos und giftige Gase wurden zur Anwendung gebracht (...), in 13 Dorfgemein­schaften innerhalb sieben Tagen 200 Menschen erschossen (...) Smolensk, Bezirk Welisch, 600 Menschen erschossen (...), die Bauern an Stöcke gebunden und bis zu dreimal in Löcher, die man ins Eis geschlagen hatte, getaucht.« Das Ergebnis eines Jahres Kriegskommunismus.

Kein Wunder, daß die Bauern zu Feinden der Bolschewiki wurden, nur noch für den persönlichen Bedarf anbauten und sich ihrer Haut wehrten. Der Effekt: Es gelang den Bolschewiki nicht, die Bevölkerung mit Brot zu versorgen. Die Zwangsmaßnahmen waren wirtschaftlich ein totaler Reinfall. Politisch wirkten sie noch katastrophaler. Das Land war nun praktisch im permanentem Aufstand gegen die städtische Herrschaft der Bolschewiki. Lenin ordnete am 6. August 1918 an, daß jeder Bauer, der mit der Waffe in der Hand angetroffen wurde, sofort zu erschießen sei. Der deutsche »Mehrheitler« Noske hat einen solchen Befehl gegen die deutschen Arbeiter erst im März 1919 erteilt. Die Bolschewiki waren eben schneller.

Auch vorher schon hatten sich Lenin und Co. längst gewappnet. Im Dezember 1917 war die Tscheka gegründet worden. Anfangs nur als Ermittlungsbehörde gedacht, wurde sie sehr schnell zu einem mit unbeschränkten Vollmachten ausgestatteten Terrorinstrument der Bolschewiki. Ganz offiziell ließ Lenin (nach einem Attentat auf ihn) am 4. und 5.9.1918 die »Dekrete über den Roten Terror« verkünden, die Geiselnahmen und Massenerschießungen nicht nur erlaubten, sondern zur Pflicht machten.

Er hütete sich freilich, selbst zu unterschreiben. Rosa Luxemburg, in Deutschland im Gefängnis nur unzureichend informiert, schrieb: »Der Einfall von Radek, z. B. die Bourgeoisie abzuschlachten oder auch nur eine Drohung in diesem Sinn ist doch Idiotie summo grado; nur Kompromittierung des Sozialismus.«

Doch die Idiotie summo grado meldete sich zu Wort: »Wir dürfen nicht nur die Schuldigen hinrichten. Die Hinrichtung der Unschuldigen wird die Masse noch weit mehr beeindrucken,« meinte Krylenko, Steinbergs Nachfolger als Volkskommissar für die Justiz (und später berüchtigter Ankläger in Stalins Schauprozessen). Und die Idi­otie summo grado handelte: Die Tscheka verhaftete, sperrte ein, nahm Geiseln und tötete schließ­lich, wann und wen sie wollte.

50 000 bis 280 000 Menschen (nach unterschiedlichen Schätzungen) fielen bis 1920 allein dem Roten Terror zum Opfer. Doch dann waren die Weißen Armeen (die nicht weniger brutal vorgingen) im Herbst 1920 besiegt (und die Bourgeoisie auch physisch dezimiert). Es gab eigentlich niemand mehr, vor dem man sich hätte fürchten müssen. Lockerten die Bolschewiki nun ihr Regime? Führten sie die Rätedemokratie in den Betrieben, in der Armee, in den politischen Institutionen wieder ein? Wurde nun die Losung: »Alle Macht den Sowjets« Wirklichkeit? Lassen wir Trotzki sprechen: »Unsere Aufgabe ist die Beherrschung der Masse.« Lenin war hier kein Renegat. Die Bolschewiki dachten nicht daran, ihre autokratische Einparteienherrschaft aufzugeben.

Eine gewaltige Hungersnot kam auf Rußland zu und außer Bauernaufständen auch massive Streiks des Vorzeige-Proletariats in Moskau und Petrograd. Die Lage für die Bolschewiki wurde bedrohlich. Da sprang der Funke von Petrograd über auf die »Schönheit und den Stolz der Revolution« (Trotzki) — auf die Matrosen von Kronstadt.

Matrosen scheinen zur Rebellion geboren. Und doch sind es die Verhältnisse, die den Kessel zum Kochen bringen. Schlachtschiffe waren anfangs dieses Jahrhunderts die technisch kompliziertesten Waffen, die modernsten. Moderne Waffen brauchen Fachpersonal:

Facharbeiter. Die sind meist klassenbewußter als ihre Kollegen. Sie bringen das Bewußtsein des Widerspruchs mit. Und der ist auf See schärfer denn sonstwo. Die Regeln sind alt, uralt und starr. Die Knute ist am schlimmsten, der Unterschied zwischen Offizier und Mannschaft am größten in der Marine. Feudal sind die Verhältnisse dort, wo die Maschinen am modernsten hämmern. Und dann die große, weite Welt: Join the navy and you see the world. Nur hat der Matrose nichts oder we­nig davon. Aber immerhin, er ahnt die Freiheit. Und empfindet die Enge, den Drill und die Demütigung doppelt. Schlechtes Fleisch reicht dann aus für eine Rebellion.
Kongenial zeigt dies Eisensteins immer noch unerreichter Film »Panzerkreuzer Potemkin« für das Jahr 1905, nicht ganz so genial, aber immer noch achtbar: Kurt Maetzigs »Lied der Matrosen« für die Deutsche Revolution 1918/19. (Westdeut­sche Filme über Matrosenrevolten gibt‘s schlicht und einfach nicht!) Alle wichtigen Revolutionen dieses Jahrhunderts wurden von meuternden Matrosen ausgelöst oder begleitet.

Kronstadt war voller Matrosen. Kronstadt, die Stadt auf der Inseln Kotiin, auserkoren zum Schutz der Stadt, die 20 Kilometer östlich den Namen ihres Erbauers trug: Petersburg. Zar Peter, »der Große«, machte aus Kronstadt eine Festung. Eine Festung mit vielen kleinen Festungsmonden drumherum, einen Archipel. Kein fremdes Schiff, keine fremde Flotte sollte »das Tor Rußlands zum Westen«, sollte St. Petersburg, angreifen können.

Doch nicht nur der Kapitalismus schafft sich seine Totengräber selbst. Der Zarismus zeigte sich hier nicht klüger. Kronstadt, ein Hort der Rebellion, von Anfang an. Schon 1901 tauchten dort die ersten illegalen Flugblätter auf, und vier Jahre später, bei der ersten Revolution, waren Kronstadt und seine Matrosen ganz vorne mit dabei. Der Auslöser: schlechtes Essen. Mit Rufen wie »Tötet den Kommandanten!« stürmten die Matrosen durch die Stadt, errichteten Barrikaden, Unterlagen aber nach zwei Tagen den Regierungstruppen. 17 Tote, 82 Verletzte und 3000 Arretierungen waren das Ergebnis. Nur Monate später, im Sommer 1906, kam es erneut zu offener Meuterei in der Basis der Baltischen Flotte. Wieder war der Haß auf das autokratische Regime der Offiziere und deren Lust am Kadavergehorsam die Ursache. »Ihr habt lange genug unser Blut getrunken«, riefen die Matrosen. Und wieder ließ der Zar den Aufruhr blutig niederschlagen. Doch diesmal gab es Exekutionen: 37 Matrosen wurden an die Wand gestellt, Hunderte nach Sibirien geschickt.

Knapp elf Jahre hielt die trügerische Ruhe an. Dann kam das Jahr 1917. Mit einem riesigen Knall atomisierte sich die 300jährige Herrschaft der Romanows. Das meiste Pulver dafür lieferten die Kronstädter Matrosen. Und diesmal nahmen sie Rache. Am 28. Februar wurde der Kommandierende Admiral der Baltischen Flotte, R. N. Viren, aus seinem Hauptquartier geholt und auf dem sogenannten Ankerplatz in der Stadtmitte augenblicklich exekutiert. 40 Marineoffiziere folgten ihm. Wenn man bedenkt, daß während der Februar-Revolution in ganz Rußland insgesamt 76 Marineoffiziere gelyncht wurden, kann man den Haß der Kronstädter ermessen.

Der Platz, der — im wahrsten Sinne des Wortes — vom Blut der alten Herrschaft getränkt war, ent­wickelte sich nun zu einer Art »freien Univer­sität«. Täglich versammelten sich die Matrosen hier (es sollen 25000 Menschen dort Platz gefun­den haben) und praktizierten permanente Basisdemokratie. Räte entstanden. »Alle Macht den So­wjets« hieß die Devise, ja es entwickelten sich sogar Agrarkommunen. Eine solche Agrarkom­mune bestand aus 50 Mitgliedern, man bestellte freie Flächen auf der Insel und versuchte sich in landwirtschaftlichem Kommunismus. Tatsächlich bewahrten diese Agrarkommunen die Stadt in der Zeit des Bürgerkriegs (1918—1920) vordem Hun­gertod.

War dies aber alles spontan geschehen oder folgte man hier einer Tradition? Tatsächlich hat­ten, mehr noch als die Bolschewiki, die Anarchi­sten und die Linken Sozialrevolutionäre viele Anhänger unter den Matrosen. Diese rekrutierten sich nämlich nicht nur aus der Facharbeiterschaft, sondern der Anteil der Bauern unter ihnen war sehr groß. Vor allem die Linken Sozialrevolu­tionäre (LSR), eine Partei, die sich im Laufe des Weltkrieges von den rechten Sozialrevolutionären und ihrer Kriegspolitik distanzierte und so zu neu­er Parteigründung gezwungen war, erfreute sich großer Beliebtheit. Die Sozialrevolutionäre waren aus der Volkstümlerbewegung (Nardoniki) her­vorgegangen, die sich für die unter dem Zarismus erniedrigte und beleidigte Masse der Kleinbauern einsetzten und die Enteignung des Großgrundbe­sitzes forderten.

Die LSR wiederum arbeiteten eng mit den Bolschewiki zusammen. Man hatte das gleiche Ziel: Kommunismus. Doch während die LSR individuellen Terror (ausgeübt mittels Attentate auf zaristische Generäle oder Machtinhaber) bejahten, lehnten sie den eigentlichen Terror,. den »Staatsterror«, ab. Daß die Bolschewiki genau anders­herum dachten, sollte sich erst noch finden.

Im Mai 1917 zeigte sich die Radikalität des Kronstädter Sowjets. Man weigerte sich schlicht und einfach, die Autorität der Provisorischen Re­gierung anzuerkennen. Kerenski, rechter Sozialrevolutionär (damals noch Kriegsminister, später Ministerpräsident), setzte den Kronstädter Sowjet ab. Doch diese Maßnahme stand nur auf dem Pa­pier und juckte die Matrosen und Arbeiter auf der Insel nicht. Schon hier umwehte der Geist der le­gendären Pariser Kommune von 1871 die Insel Kotlin. Heerscharen von Delegationen (von der Front wie aus dem Hinterland) besuchten das »Mekka der Revolution«, um praktizierten Kom­munismus zu studieren. »Republik Cronstadt« höhnte die bürgerliche Presse und bezichtigte die Matrosen damit gleichzeitig des Separatismus und Anarchismus.

Während der stürmischen JuliTage eilten die Kronstädter Matrosen dann nach Petrograd (so hieß St. Petersburg seit 1914) und spielten im ersten Versuch der Bolschewiki, die Macht zu erlangen, die zentrale Rolle. Trotzki war so hingerissen, daß er die Matrosen als »Schönheit und Stolz der Revolution« titulierte. Knapp vier Jahre später hätte er sich wegen dieses Ausspruches wohl gern die Zunge abgebissen. Doch damals stellt er sich noch schützend vor den rechten Sozialrevolutionär und Landwirtschaftsminister Viktor Tschernow und verhinderte, daß er gelyncht wurde. Damals! Denn zu jener Zeit hat der bewaffnete Prophet Leo Dawidowitsch Trotzki wohl selbst nicht daran geglaubt, daß er den Sprung vom Revolutionär zum Exterminator so schnell vollziehen würde.

Am 25. Oktober 1917, jenem Tag, der die Welt erschütterte, beteiligten sich viele Kronstädter Matrosen am Sturm auf das Winterpalais, auf zuvor schon der Panzerkreuzer »Aurora« seine Breitseite abgeschossen hatte. Noch getragen von den Massen, errichteten die Bolschewiki ihre Herrschaft.

Aber schon bald kam es zu Reibungsverlusten zwischen den Matrosen und den Bolschewiki, erstere nämlich forderten (wie die LSR) eine Koalition aller sozialistischen Parteien (Menschewiki, Rechte und Linke Sozialrevolutionäre, Anarchisten und Bolschewiki). Doch außer den LSR lehnten alle anderen Parteien das ab. Gleichwohl vertraten die Kronstädter Matrosen ihre Forderung mit Nachdruck: Dem Rat der Volkskommissare unter Führung Lenins versprachen sie nämlich, daß die Kanonen ihrer Schlachtschiffe, so wie das Winterpalais, auch eines Tages das Smolny-Institut (wo die Kommissare saßen) unter Feuer nehmen könnten. Eine originelle Art, die Bolschewiki an die demokratischen Ideale der Revolution zu erinnern.

Das hinderte die Matrosen allerdings nicht, Lenin beim Verjagen der Duma, dem russischen Parlament, im Januar 1918 behilflich zu sein, ein Akt, der nicht nur bei den deutschen Sozialdemo­kraten ihre Bolschewismuspsychose auslöste, sondern auch von Rosa Luxemburg kritisiert wurde.

Während Lenin sich vom Parlament (auch wenn die sozialistischen Parteien die Mehrheit hatten) die Revolution nicht aus der Hand nehmen lassen wollte, war die Dumafeindlichkeit bei den linken Sozialrevolutionären und den Matrosen anders gelagert. Sie mißtrauten jeder zentralen Institution. Sie glaubten an die von Lenin okkupierte Parole: »Alle Macht den Räten!« Sie glaubten an die Dialektik von Diktatur der Werktätigen (Arbeiter, Bauern und Soldaten) und direkter Demokratie durch die Räte, das was Rosa Luxemburg meinte, als sie schrieb: »Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung.«

Sie alle hatten ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht. Für Lenin zählten nicht die Räte, für ihn zählte die Partei »neuen Typs«, der eigentlich ein ganz alter war: die Kaderpartei, die zentralistisch von oben nach unten funktioniert.

Und wenn Lenin die populäre Formel ausgab »Kommunismus ist Rätemacht plus Elektrifizierung!«, war das erste gelogen und das zweite mit Wunderglauben belegt. Drei Jahre nach ihrer Ausgabe wurde die magische Formel als das, was sie war, als bloßer Fetisch, von den Matrosen erkannt und umgedichtet: »Bolschewistischer Kommunismus ist Herrschaft der Kommissare plus Erschießungen.«

Doch im Jahr 1918 ließ sich dies noch schwer erkennen, denn die Zeiten waren schwer und schienen außerordentliche Maßnahmen zu rechtfertigen. Im Februar rückten die Deutschen von Westen her immer weiter vor, im Frühjahr fielen konterrevolutionäre Truppen, angeführt von ehemaligen zaristischen Generälen, von Süden, Nordwesten und Osten in das Land ein. Der Widerstand mußte organisiert werden. Nur zu schnell gaben die Bolschewiki das von Marx geerbte Kommuneprinzip, die direkte Demokratie in der Armee auf. Eine verlorene Schlacht — und schon wischten die Bolschewiki alle revolutionären Prinzipien beiseite.

Die Rote Armee wurde nach westlich-kapitalistisch-militaristischem Prinzip aufgebaut. Und dies sahen die Matrosen gar nicht gerne. Im März lösten die Bolschewiki, trotz heftigem Widerstand, das flotteneigene gewählte Zentralkomitee (Tsentrobalt) auf und übertrugen seine Funktionen einem von der Partei kontrollierten Rat der Kommissare.

Gleichzeitig schlossen Lenin und Trotzki (nach langem inneren Ringen) Frieden mit den Deutschen bzw. mußten sie einem Annektionsfrieden zustimmen. Dies betrachteten nicht nur die Matrosen als Kniefall vor dem deutschen lmperialismus.

Anarchisten, linke Kommunisten und linke Sozialrevolutionäre sahen nun die Weltrevolution gefährdet und Rußland im Würgegriff dessen, was wir heute als Sachzwänge bezeichnen. Im April verabschiedeten Matrosen der Baltischen Flotte eine scharfe Resolution, in der sie den Bolschewiki vorwarfen, sie wollten die Flotte liquidieren, um den deutschen Wünschen zu entsprechen. Die Resolution ging sogar soweit, zum allgemeinen Aufstand gegen die Bolschewiki aufzurufen: »Verjagt sie!«

Im Juli 1918 war es dann fast soweit. Unter Führung von Maria Spiridonowa, der Vorsitzenden des Allrussischen Bauemkongresses, heckten die linken Sozialrevolutionäre einen romantisch-naiven Plan aus: Mit einem Attentat auf den deutschen Gesandten in Moskau, Graf von Mirbach, wollten sie einen Volksaufstand gegen die deutschen Besatzer in der Ukraine und Weißrußland auslösen. Das Attentat gelang und stürzte die Herrschaft der Bolschewiki in eine ernste Krise. Denn Dserschinski, der Leiter der Tscheka, wurde von seinem eigenen Stellvertreter, dem Linken Sozialrevolutionär Alexandrow, festgesetzt. Keine Frage, daß auch hier Kronstädter Matrosen beteiligt waren. Auch Latsis, einer der Vasallen Dserschinskis, geriet in die Hände der Blaujacken. Mehrere Regimenter der Roten Armee in der Hauptstadt erklärten sich für neutral, ja sogar Lenins Gardetruppe, die lettischen Schützen, wankte. Wladimir Iljitsch war — wenn auch nur für Stunden — ohne bewaffnete Macht.

Allerdings zeigte sich hier auch das Dilemma der Linken Sozialrevolutionäre. Sie wollten zwar einen Volksaufstand, aber ihnen ging jeder Wille zur Macht ab. Das unterschied sie von den Bolschewiki. Im speziellen hieß dies, Alexandrow widersetzte sich einer Liquidierung Dserschinskis — an dessen Händen schon zu dieser Zeit massenhaft Blut klebte — durch die Matrosen, er ließ ihm das Leben. Dserschinski dankte es ihm nicht, nachdem der Volksaufstand ausblieb und die Bolschewiki ihre Herrschaft wieder stabilisiert hatten, ließ Genosse Felix als erstes seinen Stellvertreter Alexandrow an die Wand stellen. Die Linken Sozialrevolutionäre wurden als Partei und etwa 200 von ihnen als Menschen exekutiert.

»Der Eindruck von der letzten Wendung der Dinge im Allgemeinen hundsmäßig. Man möchte die Beki (Bolschewiki — K.G.) mächtig beschimpfen,« kommentierte Rosa Luxemburg die Ereignisse, die sie bald zu ihrer berühmten Schrift »Zur russischen Revolution« anstacheln sollten.

Wieder wanderten Matrosen in Gefängnisse, diesmal in bolschewistische. Das hinderte das Gros ihrer Kronstädter Kameraden nicht, sich mutig in den von 1918 bis Herbst 1920 dauernden Bürgerkrieg gegen die weißen Armeen zu stürzen. An allen Fronten kämpften die Matrosen in den vordersten Linien. Die Revolution hatte ihren Zauber noch nicht eingebüßt, sterben für die blutrote Fahne erschien noch »süß und ehrenvoll«.

Doch als der Bürgerkrieg siegreich zu Ende gebracht war, war auch die Revolution besiegt, hatten sich die »Beki« selbst und endgültig in Konterrevolutionäre verwandelt. Denn entgegen den Erwartungen machten sie ihre mit dem Bürgerkrieg begründeten Maßnahmen der Entmachtung der Sowjets in Armee, Betrieben und Politik nicht rückgängig. Sie lockerten ihre Einparteiendiktatur um keinen Deut.

Die Matrosen aber verlangten nun, da die Gefahr der weißen Invasionen vorüber war, die Rückkehr zu den demokratischen Leitungsprinzipien in der Flotte. Ende 1920 entstand eine sogenannte Flottenopposition, ähnlich der Arbeiteropposition in den Fabriken. Entscheidender Antrieb der Matrosen war der eigene Augenschein. Denn zum erstenmal nach langen Jahren konnten die Matrosen Urlaub machen. Der aber führte sie in die Dörfer ihrer Kindheit, wo sie aufgewachsen waren und wo die Eltern noch als Bauern lebten. Was da die Matrosen zu Gesicht bekamen, spottete jeder Beschreibung. Sie erlebten mit eigenen Augen den Krieg der Bolschewiki gegen die Bauern: die blutige Arbeit der Requisitionstrupps, den Roten Terror, den Hunger. Stephan Petrichenko, einer der »Anführer« des Kronstädter Aufstandes, berichtete später einem Reporter der New York Times: »Jahrelang, während wir an der Front kämpften oder auf See waren, hatte die bolschewistische Zensur die Geschehnisse zuhause verschwiegen. Als wir heimkamen, fragten uns unsere Eltern, warum wir für die Unterdrücker kämpften. Das machte uns nachdenklich,« (Übersetzung KG.)«

Auf dem Weg zurück wurden die Matrosen von den gleichen Straßensperren behelligt, die den in Scharen aufs Land geflüchteten Arbeitern im Schwarzhandel ergatterte Lebensmittel abnahmen (und sie meist selbst verscherbelten). Mutters Freßpaket kam nicht bis Kronstadt. Hunger und schlechtes Essen hielten nun wieder ins Matrosenleben Einzug. Die Desertationsrate in der Baltischen Flotte stieg stark an. Scharenweise traten Matrosen aus der Partei der Bolschewiki, der Russischen Kommunistischen Partei (RKP), aus. Die Flottenopposition innerhalb der RKP bekam im Februar 1921 Oberwasser und forderte die Dezentralisierung der politischen Kontrolle. Trotz eisiger Kälte war eine gewisse Schwüle förmlich zu spüren. Eine Schwüle, die Revolten gebiert. Als kurz darauf die Arbeiter in Petrograd in den Ausstand traten, war das Faß zum Überlaufen voll.

»Der Blitz, der die Wirklichkeit, mehr als alles andere, erhellte« (Lenin), durchzuckte den Himmel über Rußland. Der Aufstand von Kronstadt begann. An seinem Ende war der Mythos vorn Arbeiter und Bauernstaat zerstört.

ls der Delegierte der Freien Arbeiterunion Deutschlands (FAUD), der Anarchist Augustin Souchy, im Jahr 1920 auf Einladung Lenins nach Rußland fuhr, war er begierig, die Verwirklichung der Losung »Alle Macht den Sowjets« zu erleben. Der 28jährige wurde bitter enttäuscht: »Die Putilow-Werke waren, ähnlich wie in Deutschland die Krupp-Werke, die größte Waffenfabrik in Rußland. Als ich da hinging und mir das angesehen habe — die Arbeiterräte in den Putilow-Werken hatten überhaupt keine Rechte. Ihre Rechte bestanden darin, Lebensmittel zu verteilen, nach hygienischen Bedingungen zu sehen, daß das in Ordnung ist.«

Souchy sprach Sinowjew (erschossen 1936) darauf an. »Hören Sie mal, Sie sagen, Sie haben Räte hier, aber die Fabriken und die Betriebe werden ja nicht von den Räten geleitet, sondern von dem Ministerium.« Sinowjew entgegnete: »Aber das geht doch nicht, Genosse, das, was Sie da wollen, ist ja kleinbürgerlicher Pluralismus. Da hätten wir ja anstelle von etwa 1000 Aktienbesitzern, na sagen wir, 6000 Kleinbesitzer.« Nun, bei diesen 6000 verhinderten kleinbürgerlichen Kleinbesitzern der Putilow-Werke war Sinowjew schon damals der bestgehaßte Mann. Die restlichen Proletarier im ehemaligen St. Petersburg sahen es nicht anders. Dabei galten die Petrograder Arbeiter, wie die Kronstädter Matrosen, als die revolutionärsten Elemente Rußlands. Entweder sie hatten sich gewandelt oder aber Sinowjew. Einer von beiden Seiten mußte konterrevolutionär geworden sein. Sinowjew, selbst im Apparat als »Grammophonplatte Lenins« verschrien, wie der Spartakist Karl Retzlaw berichtete, sollte in den kommenden Ereignissen noch eine unrühmliche Rolle spielen.

Offiziell gab es keine Märkte mehr. Aber im Rußland des Kriegskommunismus blühte der Tauschhandel. Dies aber nicht aus böser Absicht, sondern aus Überlebensnotwendigkeit. In Scharen machte die städtische Bevölkerung eine Landpartie, und zwar in ungeheizten Viehwaggons, dicht gedrängt, »Rucksack an Rucksack. Oft blieb der Zug auf der Strecke stehen, der Brennstoff war ausgegangen, die Reisenden stiegen aus und sammelten Holz«, berichtet die französische Anarchistin lda Mett, die eines der besten Bücher über den Kronstädter Aufstand geschrieben hat. Auf dem Land wurden dann Mangelwaren wie Salz, Zündhölzer, Schuhe oder Petroleum gegen Kartoffeln oder Mehl, das die Bauern vor den Requisitionstrupps versteckt hatten, getauscht. Der Schwarzmarkt rettete vor dem Verhungern. Im Sommer 1920, als der Bürgerkrieg praktisch beendet war, die Versorgung aber nicht besser wurde, verbot Sinowjew, auch den bis dahin geduldeten »Handel unter der Hand«.

Da der bolschewistische Staat trotz Ende der ausländischen Blockade sich aber nicht in der Lage sah, die Bevölkerung zu ernähren, nahm der Hunger stetig zu. Am 22. Januar 1921 kürzte die Regierung die mageren Rationen für die Großstädte um ein Drittel. Die Tagesration der Bevölkerung sank unter 700 Kalorien am Tag. Dies war hauptsächlich Folge der verfehlten Landwirtschaftspolitik, die nicht nur die Bauern zu Feinden der Bolschewiki hatte werden lassen, sondern auch die Spannungen zwischen Stadt und Land unablässig verschärfte. Starke Schneefälle und Treibstoffknappheit ließen darüber hinaus die Transportzüge aus Sibirien und dem nördlichen Kaukasus nicht durchkommen. Die Kaufhäuser in Moskau und Petrograd waren leer.

Vor allem Petrograd, weit entfernt von den großen Getreideanbaugebieten war stark betroffen davon. Aber auch die Betriebe bekamen keine Rohstoffe mehr. Anfang Februar mußten in Petrograd 60 Fabriken schließen. Der Reallohn eines Arbeiters dort hatte den Wert von 8,9 Prozent des Jahres 1913 erreicht. Stadtflucht setzte ein. Nur wer überhaupt keine Verbindung zum Land hatte, blieb: das echte Stadtproletariat.

Der Unmut der Arbeiter machte sich zuerst in Moskau breit. Es kam zu Demonstrationen. In Petrograd aber schwoll die Welle des Protestes noch stärker an. Am 23. Februar 1921, hielten die Arbeiter der Trubotschnij-Werke die ersten Fa­brikmeetings ab. Man beschloß zu streiken. Am 24. Februar kam es zu Straßendemonstrationen Die Menge wuchs auf 2000 Arbeiter an. Der Vor­sitzende der Petrograder Gewerkschaften Antse­lowitsch eilte ihnen entgegen und forderte sie auf, in ihre Betriebe zurückzukehren, doch im Nu flog er von seinem Auto und bezog Prügel. Der Streik griff nun auf die Baltisky-Werke, die Patronny-Munitionswerke, auf die Tabakfabrik Laferm, die Schuhfabrik Skorohhod und weitere Betriebe über.

Am gleichen Tag zeigte die Avantgarde der Arbeiterklasse, die Partei der Bolschewiki, was sie von ihren Proletariern hielt. Man gründete ein »Verteidigungskomitee« gegen sie. Wiederum am selben Tag proklamierte das Exekutivkomitee des

Petrograder Sowjets unter Vorsitz von Sinowjew, der sich gebärdete »wie ein morgenländischer Satrap« (Ida Mett), den Belagerungszustand: nächtliches Ausgehverbot, Verbot aller Versammlungen, Bestrafung nach Kriegsrecht. Die übliche Waffen der Bourgeoisie, der neuen Bourgeoisie.

Am 25. Februar beschimpfte der Petrograd Sowjet die, die er eigentlich vertreten sollte, sie arbeiteten den Weißen Garden in die Hände und hätten die Judenitschs, die Koltschaks, Denikins und Wrangels vergessen (alles weißgardistische Generäle des Bürgerkriegs). Eine Unverschämtheit sondersgleichen, wenn man bedenkt, das dies eben jenen Proletariern vorgeworfen wurde, die die Stadt im Oktober 1919 gegen die Einnahme durch Judenitschs Truppen verteidigt hatten.

Doch es kam noch besser. Laschewitsch, Mitglied des »Verteidigungskomitees« (er nahm sich später selbst das Leben) verpaßte den Arbeitern, in Projektion des eigenen Standpunkts, den Titel »Gegenrevolutionäre.« Als Rädelsführer macht er die Trubotschnij-Arbeiter dingfest und empfahl, als hieße er Krupp oder Thyssen, die Aussperrung. Dies bedeutete aber für die Betroffenen automatisch Streichung ihrer Lebensmittelrationen.

Der Petrograder »Sowjet« nahm den Vorschlag an. Solcherhand Feingefühl der Partei neuen Typs blieb nicht ohne Wirkung: Was als »Hungerrevolte« begann, lud sich nun sehr schnell mit politischen Parolen auf. Am 27. Februar konnte man an den Mauern der Stadt folgende Forderungen der Streikenden lesen: »Eine vollständige Änderung der Regierungspolitik ist notwendig. Zuallererst brauchen die Arbeiter und Bauern Freiheit. Sie wollen nicht nach den Dekreten der Bolschewiki leben, sie wollen selbst über sich verfügen. Genossen, bewahrt revolutionäre Ordnung! (...) Freilassung aller verhafteten Sozialisten und parteilosen Arbeiter. Abschaffung des Kriegsrechts; Rede-, Preß- und Versammlungsfreiheit für alle Arbeitenden. Freie Wahl von Werkstatt- und Fabrikkomitees (sawkomi) und von Arbeitergesellschafts- und Sowjetvertretern.«

Die Partei der Arbeiterklasse antwortete mit Verhaftungen und weiteren Verboten. Große Mengen Militär aus der Provinz wurden in der Stadt konzentriert, als schwankend angesehene Verbände entwaffnet oder in die Kasernen verbannt und ihnen die Stiefel abgenommen. Kommunistische Milchgesichter aus den Kadettenanstalten (kursanti) zerstreuten die Demonstranten. Dies ließ Teile der Arbeiter unter »bürgerlichen« Einfluß geraten. »Reaktionäre Schlagwörter machten sich hörbar,« schreibt der amerikanische Anarchist Alexander Berkman, der sich mit seiner Lebensgefährtin Emma Goldmann in einem Petrograder Hotel befand. »Nieder mit der Sowjetregierung! Es lebe die Konstituierende Versammlung!« forderten »sozialistische Arbeiter des Newsksy-Distrikts.« Wenn dies auch nicht Forderung der Mehrheit war, so ist daran interessant, daß später in Kronstadt solche Stimmen nicht laut wurden. Am 28. Februar erreichte die Streikwelle die Putilow-Werke (1917 Zentrum der Revolution, wie es in Pudowkins Spielfilm »Das Ende von St. Petersburg« nachdrücklich geschildert ist).

Die Ereignisse in Petrograd blieben nicht ohne Wirkung auf die Matrosen im 20 Kilometer entfernten Kronstadt. Am 26. Februrar versammelten sich die Mannschaften der Schlachtschiffe »Petropawlowsk« und »Sewastopol«, die eingefroren im Eis des Kronstädter Hafens lagen. Man beschloß, eine Delegation in die ehemalige Hauptstadt zu schicken. Sie sollte die Lage erkunden. Zwei Tage später kamen die Männer zurück und berichteten schlimme Dinge. Petrograd war zu einem Heerlager geworden, die Fabriken von Truppen und Militärkadetten umstellt. Erneut versammelten sich die Matrosen auf den Stahlkolossen und verabschiedeten eine Resolution, deren Sprengkraft die der beiden Schlachtschiffe bei weitem überstieg.

Da es sich um das Herzstück des politischen Programms der Kronstädter handelt, ist die Resolution hier zum Großteil wiedergegeben. Man forderte:

1. Angesichts der Tatsache, daß die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht ausdrücken, sofort neue Wahlen mit geheimer Abstimmung abzuhalten (...)
2. Rede- und Preßfreiheit einzuführen für Arbeiter und Bauern, Anarchisten und linksstehende sozialistische Parteien.

3. Versammlungsfreiheit für Arbeitergesellschaften und Bauernorganisationen zu sichern.
4. Eine parteilose Konferenz der Arbeiter, Soldaten der Roten Armee und Matrosen von Petrograd, Kronstadt und der Petrograder Provinz für nicht später als den 10. März 1921 einzuberufen.

5. Alle politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien und alle in Verbindung mit Arbeiter- und Bauernbewegungen eingesperrten Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen zu befreien.

6. Eine Kommission zu wählen zur Revision der Fälle der in Gefängnissen und Konzentrationslagern Befindlichen. (So die wörtliche Übersetzung von Alexander Berkman aus dem Jahr 1923. Trotzki hatte erstmals im Mai 1918 von »Konzentrationslagern« gesprochen. Der Begriff stammt ursprünglich aus den Kolonialkriegen Ende des 19. Jahrhunderts. Unter dem preußischen Innenminister Severing (SPD) wurden übrigens im Jahr 1921 kurzfristig Konzentrationslager in Deutschland für Osteinwanderer eingeführt. —KG.)

7. Alle kommunistischen Parteizellen (zur Überwachung und Propaganda — K.G.) abzuschaffen (...) An deren Stelle sollten erzieherische und kulturelle Kommissionen errichtet werden, lokal gewählt und von der Regierung finanziert.

8. Sofort alle Kontrollabteilungen abzuschaffen (gemeint sind die Straßenblockaden zur Konfiszierung von getauschten Lebensmitteln — K.G.).

9. Die Rationen aller Arbeitenden gleichzumachen, mit Ausnahme der in gesundheitsschädlichen Beschäftigungen Tätigen.

10. Die kommunistischen Kampfabteilungen (...) abzuschaffen.

11. Den Bauern volle Aktionsfähigkeit in bezug auf ihr Land zu geben, ebenso das Recht, Vieh zu halten, unter der Bedingung, daß sie mit ihren eigenen Mitteln auskommen, d.h. sich keiner Lohnarbeit bedienen.

12. Alle Zweige der Armee und unsere Kameraden, die Kadetten (kursanti) zu ersuchen, unseren Beschlüssen beizutreten.
13. Zu verlangen, daß die Presse unsere Beschlüs­se im vollstem Umfang an die Öffentlichkeit bringt.

14. Ein mobiles Kontrollbüro einzusetzen.

15. Freie handwerkliche Produktion auf der Basis eigener Hände (d.h. ohne Lohnarbeit — K.G.).
Diese berühmte, sogenannte Petropawlowsk-Resolution widerspiegelt nicht nur den politischen Willen der Baltischen Flotte, sondern der werktätigen Massen in Stadt und Land. Sie bringt deren Nöte auf den Punkt und ist ein Indikator dafür, wie weit sich Lenin und seine Partei von deren Willen entfernt hatten. Die Resolution war (obwohl die Frage der Arbeiterkontrolle in den Betrieben gar nicht angesprochen wurde) eine Breitseite gegen den preußisch-bolschewistischen Kriegskommunismus. Denn schon der erste Punkt kam einem Stoß ins Zentrum der autokratischen Herrschaft der RKP gleich, auch wenn er nur die Verwirklichung der Losung der Oktoberrevolution »Alle Macht den Sowjets« verfolgte. Die Bolschewiki konnten sich dies aus der Position, in die sie sich selbst manövriert hatten, nämlich der einer Einparteien-Diktatur statt einer Diktatur der Werktätigen, nicht gefallen lassen. Dies erklärt, warum sie so prompt und hysterisch reagierten.

Doch zurück zum weiteren Ablauf. Am nächsten Tag, dem 1. März 1921 gab es eine Versammlung auf dem Ankerplatz. Etwa 15000 Matrosen, Soldaten und Arbeiter erschienen (Mehr als ein Viertel der Bevölkerung Kronstadts). Und es kamen zwei hochrangige bolschewistische Funktionäre: Der Präsident der Russischen Sozialistischen Föderativrepublik M. I. Kalinin (ausnahmsweise eines natürlichen Todes gestorben) und der Kommissar der Baltischen Flotte N. N. Kusmin (verschwunden 1938).

Die beiden waren zusammen mit Sinowjew zur Beruhigung der Lage nach Kronstadt geschickt worden. Doch letzterer hatte bereits in Oranienbaum kehrtgemacht und das Hasenpanier ergriffen. Die »Grammophonplatte Lenins« fürchtete offensichtlich, in Kronstadt ein paar Kratzer abzubekommen. Eine erst mal unbegründete Angst. Denn Kalinin und Kusmin wurden mit militärischen Ehren empfangen. Der Vorsitzende des Kronstädter Sowjets, der Bolschewik Wassiljew, eröffnete die Versammlung. Zuerst berichtete die nach Petrograd geschickte Matrosendelegation. Dann wurde die Petropawlowsk-Resolution verlesen. Kalinin, früher Fabrikarbeiter und Bauernsohn aus der Provinz Twer, ein Mann, dem man Verständnis für die Nöte der Massen nachsagte, erhob sich und sprach.

Doch er verwarf die Resolution als Ganzes. So kam es, daß er schon nach wenigen Worten von Zwischenrufen unterbrochen wurde. »Schau auf deine Pöstchen, die du alle bekommen hast, ich wette, sie bringen dir eine Menge ein!« oder »Wir wissen selber, was wir brauchen. Und du alter Mann, kehr‘ zurück zu deiner Frau.« Sehr bald ging Kalinins Stimme in einem Pfeifkonzert unter.

Kusmin erging es nicht besser. Obwohl er die Matrosen an ihre heroischen Taten im Bürgerkrieg zu erinnern suchte, biß er damit auf Granit. »Hast du vergessen, wie du jeden zehnten an der nördlichen Front hast erschießen lassen?« Ein Ausruf, der sich wohl auf »Disziplinarmaßnahmen« während des Bürgerkriegs bezog. Kusmin legte nun wieder typisch bolschewistisches Feingefühl an den Tag und antwortete: »Die Arbeiterklasse hat schon immer Verräter unserer Sache erschossen, und sie wird es auch in Zukunft tun. Meiner Ansicht nach sollte jeder fünfte von euch erschossen werden und nicht jeder zehnte.«

Das wären dann 3000 gewesen. Die Versammlung tobte. Es dauerte Minuten, bis Kusmin fortfahren konnte. Doch der wurde nicht klüger. Er schrie: »Die Petropawlowsk-Resolution ist konterrevolutionär. Disziplinlosigkeit und Verrat werden von der eisernen Hand des Proletariats zerschlagen.« Lynchte das Proletariat Kusmin dafür oder verprügelte es ihn? Nicht die Spur. Die beiden blieben ungeschoren. Aber sie schwiegen fortan.

Die Versammlung ging nun in den »Besitz« der Matrosen und Arbeiter über. Man zählte nochmals die Verantwortung der Bolschewiki für die wirtschaftliche Lage, die blutigen Requisitionstrupps und vor allem die Tatsache auf, daß sechs Monate nach Beendigung des Bürgerkriegs keine Lockerung der Herrschaft in Sicht war. Schließlich wurden freie Wahlen der Sowjets im ganzen Land fordert! Gegen drei Gegenstimmen (Wassiljew, Kusmin und Kalinin) nahmen die 15 000 die Petropawlowsk-Resolution an. Kusmin und Kalinin verließen die Versammlung ungeschoren. Kalinin gar reiste unbehelligt nach Petrograd zurück.

Am 2. März fand eine Konferenz im Haus Erziehung zur Neuwahl des Kronstädter Sowjets statt. 300 Delegierte, zwei von jedem Schiff, jeder Einheit. Fabrik und Gewerkschaft, waren dazu in der Nacht vorher gewählt worden. Viele Kommunisten befanden sich unter ihnen. Stefan Maximowitsch Petritschenkow, ein Schiffsmaat der »Petropawlowsk«, vormals Klempner und Bauernsohn aus der Ukraine, einer der zentralen Figuren des Aufstands, hatte den Vorsitz. Ein fünfköpfiges Präsidium wurde gewählt. Der Anarchist Alexander Berkman, in den USA wegen eines Attentats auf den Kohlenmagnaten Frick zu 22 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er 14 abgesessen hatte, berichtet: »Der Geist der Konferenz war durchaus sowjetisch: Kronstadt verlangte Sowjets, die von der Einmischung einer politischen Partei frei waren. (...) Die Haltung der Delegierten war feindlich gegen die willkürliche Herrschaft bürokratischer Kommissare, aber freundlich gegenüber der Kommunistischen Partei als solcher.«

Erneut meldete sich Kusmin zu Wort und griff die Versammlung an. Seine von Anmaßung und Unverschämtheit strotzende Rede endete mit einer pathetischen Geste. »Ich bin eurer Gnade ausgeliefert, ihr könnt mich sogar erschießen, wenn ihr wollt. Aber wenn ihr es wagt, die Hand gegen die Regierung zu erheben, werden die Bolschewiki euch bis zum Äußersten bekämpfen.« Ein zaristischer General hätte wahrscheinlich nichts anderes gesagt (nur »Bolschewiki« durch den »Zaren« ersetzt).

Das Maß war nun voll, Kusmin und Wassiljew (ausdrücklich aber nicht die anderen anwesenden Kommunisten) wurden unter Arrest gestellt. In diesem Augenblick verbreitete sich das Gerücht, die Bolschewiki würden mit 15 Lastwagenladungen Soldaten gegen die Versammlung vorgehen. In aller Eile wurde ein Provisorisches Revolutionäres Komitee gegründet. Die größte Revolte, der die bolschewistische Herrschaft je ausgesetzt war, hatte begonnen. Und sie kam von links.

Die kommunistische Partei, die das Land regiert, hat die Verbindung zu den Massen verloren und sich als unfähig erwiesen, das Land aus dem Zustand allgemeiner Zerrüttung herauf auszuführen. Sie hat den Unruhen. die in letzter Zeit in Petrograd und Moskau ausbrachen (...) nicht Rechnung getragen. Auch die Forderungen, die die Arbeiter erhoben, hat sie nicht berücksichtigt. Sie hält alles das für Umtriebe der Konterrevolution. Doch sie irrt sich gewaltig.« Mit diesen Worten beginnt der Leitartikel der Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt Nr. 1 vom 3. März 1921 (Kronstädter Iswestija).

Am Tag zuvor war dieses Komitee (in der Hauptsache altgediente Matrosen und Arbeiter) gewählt worden. Unter seiner Führung bewaffneten sich alle Werktätigen und besetzten die strategischen Punkte der Stadt, der Festung und die Druckerei der Jswestija. Auf den Schiffen wurden Troikas gewählt, die freie Wahl der Sowjets vor­bereitet. Kronstadt war wie neu geboren. Der Geist des Oktober 1917 durchwehte die Stadt. Eu­phorie erfaßte die Menschen.

»Zu neuem rechtschaffenen sozialistischen Aufbau zum Wohl aller Werktätigen«, verkündete die Iswestija. »Alle Macht den Sowjets und nicht den Parteien« war der Wahlspruch der Kronstädter (falsch ist: »Alle Macht den Sowjets und nicht den Bolschewiki«, wie immer wieder behauptet wird). Tatsächlich breitete sich die Bewegung aus. Die Fliegerdivision von Oranienbaum auf dem Festland schloß sich sofort den Kronstädtern an. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch die Werktätigen Petrograds vom revolutionären Feuer Kronstadts erfaßt würden. Man hatte deshalb noch einmal eine 30köpflge Delegation in die Stadt an der Newa geschickt. Auf ihre Rückkehr warteten die Kronstädter vergeblich, sie wurde nie mehr gesehen. Ähnlich erging es 200 Matrosen, die als Boten die Petropawlowsk­Resolution in alle Städte der Provinz Petrograd tragen sollten, sie wurden abgefangen.

Denn am 2. März ergriffen die Bolschewiki schärfste Gegenmaßnahmen. Lenin und Trotzki verloren keine Zeit. Die ganze Provinz kam unter verschärftes Kriegsrecht. Ein verleumderischer Befehl verkündete, die Matrosen seien »Werkzeuge früherer zaristischer Generäle« und der rechten »Sozialrevolutionäre«, »Produkt von Interventionisten der Entente und französischer Spione.« Angeführt würden die Kronstädter von dem zaristischen General Koslowsky. »Dieser und drei seiner Offiziere, deren Namen noch nicht festgestellt wurden, übernahmen offen die Rolle einer Rebellion.«

Der arme Koslowsky, den Trotzki, entsprechend der üblichen Politik in der Roten Armee seit der Abschaffung des Kommuneprinzips, als militärischen Berater in Kronstadt eingesetzt hatte, ein Mann, der nichts mit der Rebellion zu tun hatte, wurde exkommuniziert und für »außerhalb des Gesetzes stehend« erklärt.

Der Befehl gibt die totale Verlegenheit wider, mit der die Bolschewiki dem Problem »in ohnmächtiger Wut, hilflos und verwirrt« (Kronstädter Iswesttja Nr. 5) gegenüberstanden. Wie sollten sie aber auch auf Leute reagieren, die die Parolen des Oktober ernst nahmen? Eine ganze Stadt als unter »linker Kinderei« leidend zu stigmatisieren, wäre bestimmt nicht so wirksam gewesen. Da griff man schon lieber zur Lüge von den »Weißgardisten«.

Und wie reagierten die Kronstädter auf diese »provokatorischen Gerüchte«? Die »Mitteilung rief allgemeines Gelächter unter den Matrosen und Arbeitern der Versammlung hervor. In noch heiterere Stimmung geriet die Versammlung, als

das vom Flugzeug über Kronstadt abgeworfene >Kommunistische Manifest< verlesen wurde. >Bei uns gibt es nur einen General, den Kommissar der Ostseeflotte Kusmin, und der ist verhaftet worden< — erschallte es aus den hinteren Reihen.« (Kronstädter Iswestija Nr. 3)

Doch mit den Bolschewiken war nicht zu spaßen. Das Petrograder »Verteidigungskomitee« stellte den Inselbewohnern ein Ultimatum. Wie immer nicht zimperlich, kam Genosse Sinowjew darin zur Sache: »Wenn ihr nicht nachgebt, wird man euch der Reihe nach wie Rebhühner abschießen.« Spricht auch manche Übersetzung von »Enten« oder gar »Hasen«, so ändert sich nichts am perfiden Inhalt. Noch 1981 bemühten sich deshalb Trotzkisten, in einem Buch ihren bewaffneten Propheten vom Makel dieses Satzes zu befreien. Nein, Trotzki hat ihn nicht gesagt. Er hat ihn in die Tat umgesetzt.

Wie aber entwickelte sich die Lage in Petrograd? Am 4. März wurden alle Verwandten von Kronstädter Matrosen, derer man in Petrograd habhaft werden konnte, in Sippenhaft genommen (eine von Trotzki im September 1918 entwickelte Methode, die er, wie sollte es anders sein, den Preußen abgeguckt hatte). Frauen, Alte und Kinder wanderten als Faustpfand für die arretierten Kusmin und Wassilijew in die Kerker. Wenn ihnen »auch nur ein Haar gekrümmt wird, werden diese Geiseln dafür ihren Kopf hinhalten«, beschrieb das »Verteidigungskomitee« seinen Kampf für das Menschenrecht.

Wie reagierten die Kronstädter? Mit einer Radiobotschaft: »Die Garnison von Kronstadt betont, daß in Kronstadt die Kommunisten die volle Freiheit genießen und daß ihre Familien absolut unangestastet bleiben; sie weigert sich, dem Beispiel des Petrograder Sowjet zu folgen, denn sie betrachtet eine solche Handlungsweise, selbst wenn sie vom Haß diktiert ist, als unendlich niedrig und verwerflich. Solche Methoden hat die Geschichte noch nicht gesehen.« (Kronstädter Iswestija Nr. 5)

Tatsächlich gab es in Kronstadt keinerlei Terror, niemand wurde hingerichtet. Die Matrosen versuchten, jedes Blutvergießen zu vermeiden, und dachten, ihre »gerechte Sache« würde sich durchsetzen, sei ein Fanal für ganz Rußland. Sie verstanden sich als Avantgarde der »Dritten Revolution« (der Ausdruck taucht zum ersten Mal am 8. März auf), des wirklichen Sozialismus, die quasi naturnotwendig alle Werktätigen (Arbeiter, Bauern, Soldaten) Rußlands erfassen würden. Sie sahen nicht, daß sie sehr bald isoliert waren und es auch blieben.

Denn Sinowjew fing an, seinen Verstand zu gebrauchen. Er wußte, er würde Kronstadt nur in seine Hände kriegen, wenn sich die Lage in Petrograd beruhigte. Also benutzte er statt der Peitsche auch mal das Zuckerbrot. Die Straßenblockaden gegen den Schwarzhandel wurden für den Bezirk Petrograd aufgehoben (eine Forderung der Kronstädter), für mehrere Millionen Rubel Lebensmittel im Ausland gekauft und nach Petrograd geschafft. Sogar Schokolade, für Rußland schon immer ein absoluter Luxus, war dabei.

Und diesmal lagen die Kronstädter mit ihrer Einschätzung falsch: »Aber wir wissen, daß man mit diesen Almosen das Petrograder Proletariat nicht kaufen kann.« (Kronstädter Iswestija Nr.4) Eben doch. Der gezielte Einsatz von Repression, Zugeständnis und Lügenpropaganda beruhigte die Lage, auch wenn in so mancher Petrograder Fabrik die Kronstädter Jswestija an der Wand hing, ja sogar ein LKW durch die Straßen fuhr, der Kronstädter Flugbätter abwarf. Die Strategie der Bolschewiki verwirrte die Arbeiter. Mit einer weißgardistischen Verschwörung, bezahlt von französischen Agenten, wollte man nun doch nichts zu tun haben. »Die Kommunisten haben sich die alte Taktik der Jesuiten >Verleumdet, verleumdet, es bleibt ja vielleicht doch hängen< vor­züglich angeeignet«, konstatierten die Rebellen (Rosa Luxemburg hatte schon zehn Jahre zuvor Trotzki ähnliches nachgesagt). Gleichzeitig wurden die Betriebsleitungen ausgetauscht, die Arbeiter entlassen und dann wurde sofort mit Neueinstellungen begonnen. Allerdings blieben jene, die am aktivsten am Streik beteiligt waren, arbeitslos.

Die Bolschewiki hatten ihr erstes Etappenziel erreicht. Das Proletariat von Petrograd reichte den Rebellen auf der Insel Kotlin nicht die Hand, es ging murrend zwar, aber mit etwas Essbarem im Bauch und dem unbestimmten Gefühl, daß es sich vielleicht doch nicht um zaristische Generäle handelte, die in Kronstadt revoltierten, wieder zur Arbeit.

Äußerst bewegt von den Ereignissen und im Angesicht des drohenden Blutbades schrieben Emma Goldman, Alexander Berkmann u. a. am 5. März aus ihrem Petrograder Hotel an Sinowjew einen Brief: »Jetzt zu schweigen ist unmöglich, sogar verbrecherisch. Die jüngsten Ereignisse zwingen uns Anarchisten zu reden. (...) Der Gebrauch von Gewalt durch die Arbeiter- und Bauernregierung gegen Arbeiter und Matrosen wird eine reaktionäre Wirkung auf die internationale revolutionäre Bewegung ausüben und wird überall der sozialen Revolution unberechenbaren Schaden zufügen. Genossen Bolschewiken, überlegt wohl, bevor es zu spät ist! Spielt nicht mit dem Feuer.«

Dann machten Goldman/Bergmann Vermittlungsvorschläge. Doch sie bekamen keine Antwort. Aber plötzlich gelangte, inmitten der Vernichtungsdrohungen, ein moderates Angebot nach Kronstadt: »Meldet nach Petrograd, ob einige Leute aus dem Sowjet — Parteilose und Parteimitglieder von Petrograd aus nach Kronstadt geschickt werden können, um sich zu informieren, um was es geht.«

Wurden die Bolschewiki nun selbst wankend? Gab es Meinungsverschiedenheiten? Oder war das Angebot nur ein Trick? Letzteres ist am wahrscheinlichsten. Denn als die Kronstädter umgehend zurückfunkten: »Der Parteilosigkeit eurer Parteilosen trauen wir nicht. Wir schlagen vor, daß aus den Betrieben und aus den Kreisen der Rotarmisten und Matrosen Vertreter der Parteilosen in Anwesenheit unserer Delegierten gewählt werden. Außerdem könnt ihr noch 15 Prozent Kommunisten schicken«, bekamen sie keine Antwort mehr.

Vielleicht lag das auch daran, daß die Kronstädter Delegierten längst auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren. Jedenfalls hatte die Rote Armee sich zur gleichen Zeit schon in Bewegung gesetzt. Zuerst liquidierte man den »Außenstützpunkt« Kronstadts. Auf mehreren Panzerzügen dampften Trotzkis Kadetten nach Oranienbaum. Es wurde kurzer Prozeß gemacht. 45 Sowjetpiloten inklusive des dortigen Provisorischen Revolutionskomitees und des Chefs der Division der Roten Marineflieger kamen an die Wand. Maschinengewehrfeuer gellte über die Bucht.

Kronstadt war plötzlich allein. Und die Matrosen begingen militärtaktische Fehler. Anstatt sich des strategisch wichtigen Oranienbaum erneut zu bemächtigen, anstatt das Eis um die Insel mit ihrer Artillerie aufzureißen und somit einen Infanterieansturm auf die Festung unmöglich zu machen, vertrauten sie auf die moralische Kraft ihrer Rebellion. Sie glaubten, sie brauchten nur sogenannte Radiobotschaften (per Morsezeichen) zu verbreiten, um die Werktätigen aller Länder und vor allem Rußlands für eine neue Revolution zu gewinnen. Doch die Werktätigen Rußlands besaßen keine Morseapparate. Die waren in den Händen der Partei der Bolschewiki, und die gab die Nachrichten selbstredend nicht weiter.

Kronstadt war isoliert, eingefroren wie die Schlachtschiffe im Hafen, die deswegen ihre Feu­erkraft nicht nutzen konnten und festbetoniert, wie die vielen Artillerieforts um die Insel, deren Kanonen nur nach Westen und Norden schießen konnten, dort wo man potentielle Feinde erwartete. Mit Nachdruck versuchte eine Gruppe Kronstädter Matrosen, die Besatzung des Eisbrechers Truwor im Petrograder Hafen für ihre Sache zu gewinnen. Doch bevor sie auslaufen konnten, wurden sie von Sinowjews Truppen umstellt und verhaftet. Die einzige Hoffnung war nun, daß das Eis schmolz. Dann wären einerseits die hochmoderne Baltische Flotte im Kronstädter Hafen und die Festung selbst fast unschlagbar gewesen, andrerseits hätten die Matrosen eine ungeheure Mobilität erlangt, um ihre Ideen zu verbreiten. Doch der Frühling kam nicht, dafür die Rote Armee.

Am 7. März 1921 eröffneten die Batterien von Krasnaja Gorka und Lisij Nos das Feuer auf Kronstadt. Flugzeuge warfen Bomben ab. Wütend schossen die Rebellen zurück. Dann führte der ehemalige zaristische Offizier und 28jährige Heißsporn Michail Tuchatschewski (erschossen 1937) die rasch zusammengestellten Einheiten. darunter auch Kadetten und Tscheka-Leute der Festung entgegen, bzw. er versuchte es.

Denn die Truppen waren kaum zu bewegen. das Eis, über das ein starker Schneesturm fegte. zu betreten und gegen ihre »Brüder«, die »baltischki«, wie sie im Volksmund hießen, zu kämpfen. Nach langen Diskussionen und unter Androhung empfindlicher Strafen griffen die mit Schneehemden ausgestatteten Soldaten von mehreren Seiten an.

Doch die Rebellen waren im Vorteil. Sie feuerten aus allen Rohren ihrer Geschütze und Maschinengewehre. Die Granaten rissen mächtige Löcher ins Eis, die zum Massengrab vieler Rotarmisten wurden. Eine gespenstische Szenerie, nicht unähnlich der Schlacht auf dem Eis, wie sie Sergej Eisenstein 1938 in seinem Film »Alexander Newski« inszenierte. Die Soldaten begannen zu meutern. Scharenweise liefen sie zu den Kronstädtern über und kämpften mit ihnen statt gegen sie. »Die Offiziere kehrten allein zurück«, heißt es lapidar im offiziellen Heeresbericht der Roten Armee. Mehrere Regimenter mußten gewaltsam entwaffnet werden. »Revolutionäre« Tribunale verhängten drastische Strafen. Augenzeugen berichteten, daß einige Verbände schon beim Vorrücken die Hälfte ihrer Männer verloren, noch bevor sie in feindliches Schußfeld gerieten: Die Tscheka-Einheiten hatten sie wegen Befehlsverweigerung oder Desertation erschossen. Doch auch die Maschinengewehre im Rücken der Rotgardisten nutzten nichts. »Es ist unmöglich, die Armee einen zweiten Angriff auf die Bastion ausführen zu lassen«, berichtete Ouglanow, Kommissar für den Nordabschnitt. Selbst die sonstigen Musterkommunisten, die Kadetten, »wollen die Absichten der Kronstädter kennenlernen und beabsichtigen, Delegierte in die Stadt zu schicken«.

Der erste Angriff war ein alptraumhaftes Desaster für die Rote Armee. Hunderte von Tote schwammen im eisigen Wasser, 2000 Verwundete schickten ihre Schmerzensschreie über die eisige Bucht. Das Glück schien auf der Seite der Rebellen. Erneut glaubten sie, nun würden die Werktätigen Rußlands sich auf ihre Seite schlagen. Euphorisch morsten sie am 8. März: »Heute ist ein Weltfeiertag — der Tag der Arbeiterinnen. Inmitten des Kanonendonners, inmitten explodierender Granaten, die die Feinde des werktätigen Volkes, die Kommunisten, gegen uns schleudern, entbieten wir Kronstädter euch, Arbeiterinnen der ganzen Welt, unseren brüderlichen Gruß. Wir grüßen euch aus dem aufständischen roten Kronstadt, aus dem Reich der Freiheit. Mögen unsere Feinde versuchen, uns zu vernichten. Wir sind stark, wir sind unbesiegbar. Wir wünschen euch, ­daß ihr möglichst bald die Befreiung von jeder Form der Unterdrückung und Gewalt erringen möget. Es leben die freien, revolutionären Arbeiterinnen! Es lebe die soziale Weltrevolution!«

Wie uns aus Wien telegraphiert wird, hat die Entente durch einen antibolschewistischen General einen Aufstand anzetteln lassen,« meldet Die Rote Fahne vom 5. März 1921 lapidar den Ausbruch der Kronstädter Rebellion. Obwohl an dieser Meldung so ziemlich alles falsch ist, war es wiederum die Rote Fahne, die vier Tage später ein nationalistisches Brikett nachlegte: »Es handelt sich diesmal um das Vorspiel (!) eines wohlorganisierten Angriffes, der sich von den früheren dadurch unterscheidet, daß seine Erfinder ihn gleichzeitig nach zwei Fronten zu führen gedenken: gegen die Macht der Arbeiter und Bauern (!) in Rußland, um sie zu stürzen, und gegen Deutschland, um es ein für allemal zu isolieren.« Einerseits werden also die von den Bolschewiki verbreiteten Märchen kritiklos übernommen, andererseits fühlt sich der Autor dank unaufgeforderter Befragung des Urgrundes seiner deutschen Seele auch noch von fremden Mächten umringt. Gnadenloser konnte die KPD ihren desolaten Zustand am Vorabend der von Grigorij Sinowjew initiierten katastrophalen Märzaktion nicht demonstrieren.

Und wie sahen die Kollegen von der SPD die Ereignisse in Kronstadt? Nun, anfänglich war man den Aufständischen durchaus gewogen. Die Mehrheitsozialdemokraten nahmen nämlich an, die Kronstädter befürworteten ein bürgerliches Parlament. Doch der Vorfreude der SPD, die Matrosen würden in den Tanz ums allein seligmachende Goldene Kalb einschwenken, folgte bittere Enttäuschung: Kronstadt entsagte dem Parlamentarismus. Fortan vergaß der Vorwärts die Angelegenheit einfach, nicht ohne — in seltener Einmut mit den Bolschewiki — davor zu warnen, daß »die schwarzen Schakale (!) über Rußland herfallen und das Ruder ins andere Extrem drehen werden.« (Vorwärts, 13.3.1921)

Einzig die USPD-Zeitung Freiheit bemühte sich (nach anfänglicher Tendenz, die bolschewistische Haltung zu übernehmen), aus dem Wust an Desinformation und Spekulation die Wahrheit herauszufiltern. Während die Arbeiter-Zeitung in Wien die Ente vom »General Koslowsky, der scheinbar an der Spitze steht«. übernahm, wußte die Freiheit schon bald, daß der »General Koslowski und die übrigen Offiziere (...) keineswegs als Führer der Bewegung hervorgetreten« waren.

Die 1920 in Deutschland und Holland entstandenen ultralinken Kommunistischen Arbeiter-Parteien wiederum brauchten Jahre, um Kron­stadt richtig zu begreifen: Erst war es die Wühlarbeit des Ententekapitals, das unter scheinsozialistischen Parolen einen neue Vorstoß gewagt ha­be, dann wußte man, daß der Aufstand »in seiner ersten Phase dem Wesen einer 3. Revolution gleichartig war« (die KAP wollte eine solche Revolution!), dann verschwanden Monate später die Begriffe »konterrevolutionär« bzw. »anarchistisch«, um schließlich 1947, in der Auseinandersetzung mit den Trotzkisten, der Erkennnis zü weichen, daß die Kronstädter »die Macht der Arbeiterräte gegenüber dem Staat vergrößern« wollten.

Die Trotzkisten wußten dagegen 1938 ganz genau, wer in Kronstadt am Werke gewesen war, nämlich »die sozialen Kräfte«, die ihren »triumphierenden Ausdruck im Sieg des Stalinismus« gefunden hätten. Die Stalinisten sahen das umgekehrt: Kronstadt wurde den Trotzkisten in die Schuhe geschoben. Und der inzwischen unbewaffnete Prophet selbst? Er bemängelte vor allem, daß seine 1917er Hätschelkinder 1921 »einen großen Prozentsatz völlig demoralisierter Elemente umfaßten, die protzig glockenförmige Hosen trugen und das Haar nach der letzten Mode frisiert hatten« (Trotzki, 1938).

Wie ist das Programm der Kronstädter aber nun tatsächlich zu sehen, und wie verhält es sich zum Programm der im Oktober 1917 weitgefächerten Linken Rußlands?

Zentral ist die Forderung nach freien Sowjets, deren Kandidaten nicht von vorneherein, wie längst üblich, durch die RKP bestimmt werden sollten (Punkt 1 der Petropawlowsk-Resolution). Aber als der rechte Sozialrevolutionär und »Vorsitzende der konstituierenden Versammlung«, Viktor Tschernow, von Reval aus seine Hilfe anbot, winkten die Kronstädter dankend ab. Klar und deutlich heißt es am 8. März 1921: »Die Arbeiter und Bauern schreiten unaufhaltsam voran, sie lassen die Konstituante mit ihrer bürgerlichen Ordnung ebenso hinter sich wie die Diktatur der kommunistischen Partei mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus.« (Kronstädter Jswesti­ja, Nr. 6)

Wie die Anarchisten wenden sie sich gegen den Staatssozialismus: »Nachden sie die Produktion unter der >Arbeiterkontrolle< hatten verfallen lassen, führten die Bolschewiki die Nationalisierung der Betriebe und Fabriken durch. Aus einem Sklaven des Kapitalisten wurde der Arbeiter nun zu einem Sklaven der Staatsbetriebe.« (Kronstädter Iswestija, Nr. 14) Das vom Kapitalismus übernommene »Antreibersystem, das Taylor-System«, (Ebenda) wird von den Kronstädtern ebenso angegriffen wie von den linken Kommunisten (z. B. Ossinskij) und der Arbeiteropposition (Schlapnikow/Kollontai).

Mit den Linken Sozialrevolutionären sind sich die Kronstädter einig im Anprangern der katastrophalen Landwirtschaftspolitik: »Als Gegenleistung für das Brot, das fast vollständig requiriert wurde, und die weggenommenen Kühe und Pferde gab es Razzien der Tschekisten und Erschießungen. Ein schöner Warentausch in einem Arbeiterstaat: für Brot Blei und Bajonette.« (Ebenda)

Ja, sie entlarvten gar die zum stigmatisierenden Kampfbegriff verkommene Bezeichnung »Kulak«: »Das ganze werktätige Bauerntum wurde zum Volksfeind erklärt und den Kulaken zugerechnet.« (Ebenda) Was ja bekanntlich knapp zehn Jahre später grausame Ergebnisse zeitigte. Von den Maximalisten, einer linken Abspaltung der Sozialrevolutionäre, hatten sie die Losung »Alle Macht den Sowjets und nicht den Parteien.« Mit Rosa Luxemburg sahen sie sich einig im Anprangern des Kadavergehorsams und geißelten wie sie die Vernichtung der »Schule des öffentlichen Lebens«. Die Werktätigen sind »an die Kette einer strengen Disziplin gelegt. Als sich die Kommunisten dann stark genug fühlten, schalteten sie zuerst Schritt für Schritt die Sozialisten anderer Richtungen aus, und schließlich stießen sie die Arbeiter und Bauern selbst vom Ruder des Staatsschiffes weg, fuhren aber gleichzeitig fort, das Land in seinem Namen zu regieren.« (Ebenda)

Sogar der Trotzkist Ernest Mandel hat diesen Vorgang als »Substitutionismus« angeprangert, und sein Idol gar selbst beklagte in einem späten lichten Moment: »Das Verbot der Oppositionsparteien zog das Verbot der Fraktionen nach sich; das Fraktionsverbot mündete in das Verbot, anders zu denken als der unfehlbare Führer. Die polizeiliche Einheitlichkeit der Partei brachte die bürokratische Straffreiheit mit sich, die zur Quelle aller Formen der Zügellosigkeit und des Verfalls wurde.« (Trotzki. 1936) Für die Kronstädter kam die entwaffnende Selbsterkenntnis Trotzkis leider viel zu spät.

Wie auch immer, die Rebellen auf der Insel Kotlin wollten keinen Kapitalismus, kein Parlament und keinen freien Handel. Sie wollten Sozialismus, Marx´ freie Assoziation der Produzenten, nichts anderes: »Eine Sowjetrepublik der Ar­beiter, in der der Produzent selbst uneingeschränkt Herr und Verwalter über die Produkte seiner Arbeit sein wird.« (Kronstädter Iswestrja. Nr. 14)

Weder die Sozialrevolutionäre noch die Menschewiki oder gar weißgardistische Generäle hatten die Kronstädter unterwandert. Nicht einmal die Linken Sozialrevolutionäre oder die Anarchisten führten das Wort. Die Ideen Kronstadts wurzelten in der plebejischen Narodniki-Bewegung genauso wie im Anarchismus und Rätekommunismus. Sie entsprachen den Wünschen der Massen im Oktober 1917. den Massen, die die Revolution gemacht hatten.

Gleichwohl spielten das Land, die bäuerliche Herkunft eine wichtige Rolle. Dies trennte die Kronstädter von den städtisch-proletarischen linken Kommunisten und der Arbeiteropposition, welche »nur« innerparteilich und in den Betrieben Demokratie und Räteherrschaft forderten, zum Teil aber einem rigorosen Zentralismus frönten.

Man kann das Programm der Matrosen, Arbeiter und Bauern Kronstadts daher als eine Mischung aus Maximalismus, Anarcho-Syndikalismus und Rätekommunismus bezeichnen, als letzten Versuch, die Ideale des Oktober 1917 zu verwirklichen. Der Vergleich mit der Pariser Kommune ist durchaus berechtigt. Konterrevolutionär war an diesem Programm gar nichts, konterrevolutionär waren die, die die Ideale verraten hatten.

Und wie stand Lenin zum Ganzen? Zehn Tage hatte sich Wladimir Iljitsch vornehm zurückgehalten, zehn Tage mußten Sinowjew und Trotzki die Drecksarbeit machen, und zehn Tage waren diese dafür von den Kronstädtern mit Hohn und Spott belegt worden. Lenin aber hatten die Rebellen geschont. Kein Wort des Hasses, kein Wort des Angriffs. Der Ruhm Lenins war schon so hoch gestiegen, daß keiner glauben mochte, er habe dies gewollt (Noch 1992 schiebt Ernest Mandel den »Altbolschewiken« den »Substitutionismus« in die Schuhe).

Dann kam der 10. Parteitag, und Lenin sprach. Und was er sagte, gehört zum armseligsten, ja zum schäbigsten, was dieser Mann je gesagt hat. Wider besseres Wissen bzw. in einem Akt des Selbstbetrugs stellte er fest: Die Kronstädter seien kleinbürgerlich, konterrevolutionär, gegen die Diktatur des Proletariats, für den freien Handel und wollten ein bürgerliches Parlament »als Brücke für den Übergang zur weißgardistischen Macht.« Lenin: »Zweifellos haben die weißen Generale (also gleich mehrere Koslowskys — K. G.) — Sie alle wissen das — dabei eine große Rolle gespielt. Das ist vollauf erwiesen.« Erbringt Genosse Lenin irgendeinen Beweis? Natürlich nicht. Indem Lenin sagt, es sei bewiesen, ist es so. Daß diese »weißgardistischen Generäle« von ihm haufenweise als militärische Berater engagiert wurden, bleibt im übrigen unerwähnt. Doch er setzt seiner brillanten Rede noch die rote Krone auf: »Die Freiheit des Handels wird, selbst wenn sie anfänglich mit den Weißgardisten nicht so verknüpft ist, wie Kronstadt mit ihnen verknüpft war, dennoch unvermeidlich zu diesem Weißgardistentum, zum Siege des Kapitals, zur völligen Restauration führen.«

Wir haben es hier mit einer besonderen Art von Dialektik zu tun. Diese schwere Anklage führt ein Mann, der zur gleichen Zeit schon die Pläne für die Neue Ökonomische Politik in der Tasche hatte, mit freiem Handel, Rücknahme von Sozialisierungen, deutschem Kapital und Tralala. Er warf also den Matrosen vor, was sie nicht gefordert hatten, er aber insgeheim beabsichtigte und was ihm offiziell als »Schreckgespenst« die Begründung für die blutige Niederschlagung der Rebellion lieferte.

Und doch gibt es einen Halbsatz. in dem die große Verlegenheit die Größe des Staatlenkers einholt. Als er nämlich feststellt, daß die Kronstädter »scheinbar nur ein klein wenig rechter als die Bolschewiki, ja vielleicht sogar auch >linker< als die Bolschewiki« seien. Wie bekommt man das aber mit den weißgardistischen Generälen zusammen? Ganz einfach, die verstehen es, »sich den Anstrich von Kommunisten zu geben, ja sogar von Kommunisten, die am weitesten links stehen«

Wladimir Iljitschs Stern sank nun auch bei den Kronstädtern. »Man hätte erwarten können, daß Lenin in diesem großen Augenblick, da die Werktätigen um ihre verletzten Rechte kämpfen, nicht heucheln, sondern die Wahrheit sagen würde. Irgendwie machten sich die Arbeiter und Bauern von Lenin eine ganz andere Vorstellung als von Sinowjew und Trotzki.« Aber Lenin »wiederholte die üblichen Lügen der Kommunisten über das aufständische Kronstadt.« Und »aus irgendeinem Grund war er erschrocken«, weil »die Anführer der Partei, die ihr Maß überschritten hat, spüren daß das Ende ihrer Autokratie gekommen ist. Die grenzenlose Verwirrung Lenins durchzieht daher auch all seine Reden über Kronstadt.« Doch ganz haben sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben und sehen Lenin als Gefangenen seiner Gesinnungsgenossen. Er »muß genau so verleumden wie sie auch.« Und erneut wird erklärt, Kronstadt »fordert nicht >Freiheit des Handels<, sondern echte Macht der Sowjets.« (Kronstädter Jswestija. Nr. 12)

Als die Kronstädter aber dann feststellten, dass Lenin nicht der Gefangene, sondern der Antreiber war, ließen sie auch ihn fahren und reihten ihn ein in die »Firma Lenin, Trotzki und Co.« (Kronstädter Iswestija, Nr. 13)

Ein anderes Mitglied der »Firma«, der Liebling der Partei, Nikolai Bucharin (erschossen 1938); machte Monate später vor, wie man in ein und derselben Rede verleumden und heucheln kann. Einerseits betonte er auf dem Dritten Kongreß der Komintern im Juli 1921, die Dokumente »zeigen klar, daß diese Affaire von reinen Weißen Zentren ausgeheckt wurde.« Um dann später scheinheilig zu fragen: »Wer behauptet, die Kronstädter Rebellion war Weiß? Niemand. Um der Idee willen, um der Aufgabe willen, waren wir genötigt, die Revolte unserer irrenden Brüder niederzuschlagen. Wir lieben sie als unsere wahren Brüder unser eigen Fleisch und Blut.« Was die Bolschewiken mit ihrem eigenen Fleisch und Blut alles anstellten, werden wir noch sehen.

Victor Serge, in Belgien geborener Kommunist und Mitglied der RKP, war im März 1921 in Petrograd. Er erklärte sich im Gegensatz zu Bergman/Goldman für neutral, wurde aber ob der Handlungsweise und Verlautbarungen der Bolschewiki in tiefe Verwirrung gestürzt. Eine Verwirrung, die ihn, obwohl er sich weiter als Kommunist verstand, nicht mehr verließ und die er in seinen Erinnerungen auf den Punkt brachte: »Das Schlimmste war, daß uns die offizielle Lüge lähmte. Daß uns die eigene Partei derart belog, das war noch nie vorgekommen.«

Als er Pöstchensammler Grigori Sinowjew (Vorsitzender des Exekutivkomitees der Komintern, Vorsitzender des Petrograder Sowjets, Parteivorsitzender der Petrograder RKP, Vorsitzender des Verteidigungskomitees) auf einer bolschewistisch dominierten außerordentlichen Versammlung des Petrograder Sowjets die Kronstädter zum wiederholten Mal als Weißgardisten beschimpfte, stand ein alter Arbeiter der Arsenal-Werke auf und zeigte mit dem Finger auf Sinowjew. »Deine grausame Gleichgültigkeit und die deiner Partei haben uns zum Streik getrieben und die Sympathie unserer Matrosenbrüder geweckt, die Seite an Seite mit uns in der Revolution gekämpft haben. Sie haben sich keines anderen Verbrechens schuldig gemacht, und das wißt ihr sehr gut. Ihr verleumdet sie absichtlich und schreit nach ihrer Vernichtung.«

Im darauffolgenden Tumult sprach der Mann laut, aber ruhig weiter. »Vor knapp drei Jahren hat man Lenin, Trotzki, Sinowjew und euch alle als Verräter und deutsche Spione beschimpft. Wir, die Arbeiter und Matrosen, haben euch vor der Kerenski-Regierung gerettet. Wir sind es gewesen, die euch zur Macht verholfen haben. Habt ihr das vergessen? Und nun droht ihr uns mit dem Schwert. Bedenkt, daß ihr mit dem Feuer spielt.«

Sinowjew war dem Nervenzusammenbruch nahe, berichtet Emma Goldman, die die Versammlung aus nächster Nähe miterlebte. Nun erhob sich ein riesenhafter Kronstädter Matrose und versuchte, dem Arbeiter beizupflichten. Am revolutionären Geist seiner Kameraden habe sich nichts geändert. Sie wären bereit, die Revolution bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Dann versuchte er, die Petropawlowsk-Resolution zu verlesen. Doch die Versammlung tobte. Hysterisch kreischend verlangte Sinowjew die sofortige Unterwerfung von Kronstadt und drohte, es andernfalls »dem Erdboden gleichzumachen.« (Goldman)

Dies war am 4. März 1921 gewesen. Bald darauf ließ sich Petrograd mit Lebensmitteln, Zugeständnissen und dem Schreckgespenst einer weißgardistischen lnvasion beruhigen. Ein letzter Versuch der Arbeiter der Arsenal-Werke. am 7. März den Generalstreik durchzusetzen, scheiterte.

»Unsere Feinde betrügen euch, Sie behaupten, der Kronstädter Aufstand sei von Menschewiki, Sozialrevolutionären, Spionen der Entente und zaristischen Generälen organisiert worden. Die führende Rolle schreiben sie Paris zu. Unsinn! Unser Aufstand wurde ebensowenig in Paris ge­macht wie der Mond in Berlin. Wir wollen nicht zum Alten zurückkehren. Wir sind keine Diener der Bourgeoisie, keine Mietlinge der Entente. Wir sind für die Macht aller Werktätigen, aber nicht für die schrankenlose, tyrannische Gewalt irgendeiner einzelnen Partei. In Kronstadt gibt es keinen Koltschak, keinen Denikin und auch keinen Judenitsch (alles weiße Generäle des Bürgerkriegs — K. G.) In Kronstadt regiert das werktätige Volk.« (Kronstädter Jswestija Nr. 9)

Der revolutionäre Geist war nach der ersten Attacke der Roten Armee Trotzkis (am 8. März) ungebrochen. Was aber machten die Kommunisten in Kronstadt?

Kusmin, Wassiljew und einige andere Funktionäre, die sich hatten verdrücken wollen, waren verhaftet. Der Rest genoß Freizügigkeit. Einige nutzten dies, um den Bolschewiki Lichtzeichen zu geben oder telefonisch Informationen über die Rebellen auszuplaudern. Auch sie kamen in Arrest. Doch die meisten Mitglieder kehrten der Partei den Rücken. Die Kronstädter lswestija ist voll von Austrittserklärungen. So schreibt die Lehrerin Marija Nikolajewna Satel: »Die Revolution von 1917 eröffnete meiner Arbeit unbegrenzte Möglichkeiten; ich steigerte meine Kräfte, und mit noch größerer Energie fuhr ich fort, meinem Ideal zu dienen. Die kommunistische Lehre mit Ihrer Losung >Alles für das Volk< nahm mich durch ihre Reinheit und Schönheit gefangen. (...) Doch beim >ersten Schuß< auf die friedliche Bevölke­rung, auf meine heißgeliebten Kinder, die in Kronstadt etwa 6000—7000 zählen (... ) betrachtete ich mich nicht mehr als Kandidatin der RKP. «(Kronstädter Iswestija Nr. 8)

Die aber, die in der Partei blieben, schlossen sich trotzdem den Forderungen der Kronstädter an: »Wir, die unterzeichneten Mitglieder der RKP. halten die Taktik der Partei für von Grund auf falsch und sind der Ansicht. daß die Partei büirokratisch geworden ist und den Kontakt zu den Massen ganz verloren hat.«<Ebenda) Sogar Trotzki mußte später zugeben. daß der Löwenanteil der Parteimitglieder sich dem Aufstand angeschlossen hatte. Und doch geriet die Stadt in große Schwierigkeiten, eben weil der Funken der Revolte nicht aufs Festland zurücksprang.

Waren beim ersten Ansturm der Bolschewiki noch relativ wenig Opfer auf Seiten der Kronstädter zu verzeichnen gewesen, so nahm der Druck doch physisch und psychisch zu. Obwohl sie auch noch mehreren kleineren Nachfolge-Attacken der Bolschewiki und Tschekisten zwischen dem 9. und 14. März standhielten, wußten die Kronstädter, daß sie nicht ewig ausharren konnten. Das weitgestreute Archipel der im 19. Jahrhundert vom zaristischen General Totleben entworfenen Forts und Bunker erforderte einen enormen Personalbestand und dezentralisierte die Kräfte. Essen, Treibstoff und Munition würden irgendwann ausgehen, die langen schlaflosen Nächte auf Wache zerrten an den Nerven. Und dann forderten die ständigen Beschießungen der 50000 Einwohner zählenden Stadt durch die Küstenbatterien ihre Opfer. Schließlich gingen Mitte des Monats die Medikamente aus. Die Todesrate stieg sprunghaft an.

Doch die Kronstädter gaben nicht auf: »Es gibt kein Zurück mehr. Es bleibt nur der eine Weg nach vorne — zur freien Arbeit und zur freien Macht der Sowjets.« (Kronstädter Iswestija Nr. 7) Zur gleichen Zeit sammelten Trotzki und Tuchatschewski ihre Kräfte, um zum entscheidenden Schlag auszuholen. Noch einmal würden sie sich nicht blamieren. Also taten sie das, was sie den Kronstädtern vorwarfen, sie holten zaristische Offiziere und fremde Truppen heran, aus der Ukraine, aus Polen, Lettland, ja aus China. Ahnungslose Tartaren und Baschkiren plus Tschekisten und Kommissare sollten dem »Sozialismus in Anführungszeichen« (Kronstädter lswestija Nr. 14) zum Siege verhelfen. Doch nicht genug damit: 3OO Delegierte des parallel stattfindenden 10. Parteitages in Moskau meldeten sich freiwillig an die eisige Front. Darunter demokratische Zentralisten (z. B. Bubnow) und Mitglieder der Arbeiteropposition, deren Ziele — Demokratisierung von Partei und Wirtschaft — sich gar nicht so sehr von denen Kronstadts unterschieden.

»Wir gehören zu den ersten Freiwilligen, die gegen die Rebellen kämpfen«, tönte Alexandra Kollontai (der einzige Mensch der Arbeiteropposition, der eines natürlichen Todes starb). Kurz darauf bekam sie von Lenin einen Maulkorb umgehängt.

Doch bevor die Opposition sich brav selbst auflöste, erklärten Bubnow (liquidiert 1940), Zatonsky (verschwunden 1938) und Pjatakow (erschossen 1937) noch den Truppen, warum sie ihre Brüder zu meucheln hätten: »Freie Sowjets, bedeuten die Restauration der Bourgeoisie, der Junker, Generäle, Admiräle, Adligen, Prinzen und anderer Parasiten« und auch »das Niederwerfen der Sowjetmacht.« Die umwerfende Logik solcher Aussagen störte wohl keinen der kritischen Intellektuellen. Ebensowenig Lenins Dialektik der höheren Art: »In Kronstadt will man die Weißgardisten nicht, will man unsere Macht nicht — eine andere Macht gibt es nicht.«

Marxismus-Leninismus von seiner besten Seite. Ein Delegierter versuchte, diesen Standpunkt den Divisionen auf dem Eis folgendermaßen nahezubringen: »Entweder mit den Weißen Garden gegen uns oder mit uns gegen die Weißen Garden.« Versteht sich, daß die Moral der roten Truppen schlecht blieb. Immer noch rumorte es unter den Kadetten und den Divisionen in Oranienbaum. Eisenbahnarbeiter machten Dienst nach Vorschrift. Die Züge kamen kaum voran. In Krasnoje Solo (südwestlich Petrograds) weigerten sie sich sogar, Truppen gegen Kronstadt zu transportieren.

Doch der Parteitag und sein Kopf hatten noch einen Taschenspielertrick in petto. Am 15. März wurde plötzlich beschlossen, die blutigen Zwangsrequisitionen in der Landwirtschaft abzuschaffen und durch eine Naturalsteuer zu ersetzen. Plötzlich, nach drei Jahren Kriegskommunismus‘ hatte Lenin die »Einsicht in die Notwendigkeit« und startete den Versuchsballon der Neuen Ökonomischen Politik. Aber warum erst jetzt? Und warum genau zu diesem Zeitpunkt? Lenin wußte, den Bolschewiki ging es an den Kragen. Die Bauernaufstände im ganzen Land, die Streiks der Arbeiter in den Großstädten und jetzt noch Kronstadt, das war auf die Dauer nicht zu liquidieren. Also mußte — wider besseren Wissen? — gehandelt werden.

Die Nachricht dieser Maßnahme verbreitete sich in Windeseile. Der schlaue Parteienlenker hatte ein Hauptargument der Kronstädter entkräftet, nämlich daß die Bolschewiki die Feinde der Bauern seien. Sie blieben es weiterhin, aber eine wichtige Ursache für die Revolte war nun weggefallen. Die Moral der Truppen stieg.

Michail Tuchatschewski hatte 50000 Mann aus dem ganzen Sowjetstaat zusammengekarrt, doppelt soviele wie beim ersten Versuch. Die zaristischen Offiziere Kasanski, Sediakin und Kamenew unterstützten ihn. Von drei Seiten (Norden, Süden und Südosten) sollte angegriffen werden. Als am 16. März die letzte Ausgabe der Kronstädter Iswestija erschien und verkündete: »Wir werden die Ketten Trotzkis und den Zaren Lenin abschütteln«, feuerten die Küstenbatterien der Bolschewiki bereits aus allen Rohren auf die Stadt.

Und diesmal trafen sie bestens. Granaten schlugen auch im Friedhof ein, wo die Kronstädter gerade ihre umgekommenen Genossen begruben. Sofort antworteten die Matrosen mit ihrer Artillerie und den Geschützen der im Hafen liegenden Großkampfschiffe. Aber die Bolschewiki hatten Glück. Die »Sewastopol« und die »Petropawlowsk« erhielten mehrere schwere Treffer. Dutzende von Matrosen starben. Der psychologische Effekt war noch viel größer. Die Schiffe, von denen die Revolte ausgegangen war, lagen brennend im Hafen.

Dann folgte eine trügerische Ruhe. Am 17. März 1921, zwei Uhr morgens, schließlich griffen die Bolschewiki an. Mit Freiwilligen an der Spitze schlichen sich Tausende von Soldaten über das Eis und im Schutz der Nacht an die Festung heran. Kriechend näherten sich die Angreifer den Batterien der Aufständischen. Als sie die Stachel­drahtbarrieren durchzuschneiden begannen, wurden sie plötzlich von gleißend hellem Licht und Suchscheinwerfern angestrahlt. Stimmen riefen:

»Wir sind eure Freunde. Wir sind für die Macht der Sowjets. Wir schießen nicht!« Doch diesmal blieben die Soldaten taub — manche verstanden vermutlich nicht einmal die russische Sprache —und machten weiter.

Ein mörderischer Kampf begann. Maschinengewehrfeuer blitzte aus allen Ecken auf und unter großen Verlusten nahmen die bolschewistischen Truppen Fort um Fort. Gefangene wurden kaum gemacht. Bajonette und Erschießungstrupps arbeiteten unermüdlich. Schließlich erreichte eine lnfanteriebrigade, darunter die Freiwilligen vom 10. Parteitag, den Hafen. Das Artillerie- und Maschinengewehrfeuer der Rebellen nahm noch zu. Wieder weigerten sich zahlreiche Angreifer, weiter vorzugehen. Wieder wurden exemplarische Exekutionen veranstaltet. Noch einmal gelang es den Rebellen, die Angreifer zurückzuschlagen. Die bolschewistische Brigade wurde fast vollständig aufgerieben, Hunderte von Soldaten, darunter auch mancher Parteidelegierte, fanden in den von Granaten aufgerissenen Eislöchern ihr Grab. Als der Morgen dämmerte, war es mehreren Regimentern am Ostende der Stadt gelungen, das sogenannte Petrograder Tor zu erreichen. Ein überlebender Bolschewik berichtete: »Es war, als feuerten die Maschinengewehre aus allen Fenstern und Dächern auf uns.« Und ein zweiter wußte zu erzählen: »Das Weiß des Schnees und des Eises war über und über mit Blut bedeckt.«

Auch die Kronstädter Frauen griffen in den Kampf ein. Schließlich gelang es den Angreifern doch, in die Stadt zu kommen. Aber ein verzweifelter Gegenangriff warf sie zurück aufs Eis. Und immer wieder redeten die Delegierten des Parteitages auf die Männer ein. Immer wieder griffen die Truppen Tuchatschewskis an. So ging es den ganzen Tag über.

Schließlich war das Tor nicht mehr zu halten. Straße um Straße und Haus um Haus rückten »Feldmarschall Trotzkis« Divisionen vor. Bei Sonnenuntergang hatten sie schon schwere Artillerie in die Stadt geschafft und beschossen die Häuser, aus denen heraus sich die Rebellen immer schwächer verteidigten. Mit Kronstadt ging es zu Ende.

Doch auch jetzt wurden die Rebellen nicht zu Barbaren. Sie schonten ihre kommunistischen Gefangen und liquidierten sie nicht. Was man umgekehrt von den Bolschewisten nicht behaupten kann. Haufenweise wurden die Kronstädter exekutiert. Dies veranlaßte den verbleibenden Rest, die Flucht zu versuchen. Mehreren tausend Matrosen gelang es, im Schutz der Nacht übers Eis nach Finnland zu entkommen, darunter auch Petrichenkow. Sogar der alte Koslowsky — für vogelfrei erklärt — mußte fliehen, obwohl er mit dem Aufstand nichts zu tun hatte.

Im Morgengrauen des 18. März stürmten Kadetten die schwer angeschlagenen Schlachtschiffe. Bis in den Abend hinein zogen sich noch die letzten Kämpfe. Dann kehrte Ruhe ein.

Der Kampf um Kronstadt war einer der blutigsten des ganzen Bürgerkriegs. Mindestens 10000 Toten und Verwundeten auf Seiten der Rotarmisten standen mehrere tausend auf Seiten der Matrosen und Arbeiter gegenüber, von denen nicht wenige nach Feuereinstellung massakriert wurden.

Das »Morgenrot der Dritten Revolution. (Kronstädterlswestija Nr. 14) war im Blut erstickt worden, der Traum »eines Sozialismus anderer Art« (Ebenda) endgültig ausgeträumt.

2500 Matrosen wanderten in die Gefängnisse nach Petrograd. Doch dort holte man sie bald heraus und deportierte sie, wie neue Dokumente belegen, auf Wunsch Lenins in die Straflager im Gouvernement Archangelsk und zwei Jahre später in die besonders berüchtigten »Nördlichen Lager zur besonderen Verwendung« (SLON) auf die Solowetzi-Inseln im Weißmeer, wo die meisten vermutlich elendig zugrunde gingen. Die Bolschewiki hatten, um sich an Bucharins Worte zu erinnern, gezeigt, wie sie mit ihren »Brüdern«, m ihrem »eigenen Fleisch« umgingen.

Wir waren wie betäubt. Sascha (Alexander Berkman, KG.), dessen letzter Rest von Vertrauen in die Bolschewiki gebrochen war, streifte verzweifelt in den Straßen umher. Ich hatte Blei in den Gliedern und war unaussprechlich müde. Schlaff saß ich da und starrte in die Nacht. Petrograd war in ein schwarzes Leichentuch gehüllt, ein häßlicher Leichnam. Die Straßenlaternen flackerten gelblich — Kerzen für die Toten.« So beschreibt Emma Goldman jene Nacht, in der Kronstadt fiel.

Am nächsten Morgen wurde die Anarchistin unsanft von Militärmusik und Marschtritten geweckt. Die Bolschewiki feierten den 50. Jahrestag der Pariser Kommune just an dem Tag. an dem sie die Kommune von Kronstadt endgültig liquidiert hatten. Hießen die Henker in Paris Thiers und Gallifet, waren ihre Namen nun Tuchatschewski, Sinowjew und Trotzki. Zynisch krönten die Bolschewiki ihr Werk, indem sie die Rebellenschiffe »Petropawlowsk« und »Sewastopol« in »Marat« und »Pariser Kommune« umbenannten. Der neue, von den Bolschewiki eingesetzte Diktator Kronstadts, Dybenkow (erschossen 1938), jener Mann, dem man fälschlicherweise anarchistische Neigungen nachgesagt hatte und mit dem die Kronstädter Matrosen 1918 das Parlament verjagten, ließ offizielle Hinrichtungen auf die vielen inoffiziellen Gefangenentötungen in Kronstadt folgen.

Als »Beweis« einer »weißgardistischen Verschwörung« wurden 13 Menschen (fünf Ex-Marine-Offiziere aus der »Bourgeoisie«, ein ehemaliger Priester und sieben bäuerlicher Herkunft), die mit dem Aufstand nichts zu tun hatten (keiner war Mitglied des provisorischen Revolutionskomitees gewesen), exekutiert. Die Familien der gefangenen Matrosen teilten in einigen Fällen das Schicksal ihrer rebellischen Oberhäupter, sie wurden in die nördlichen Lager deportiert. Auch die Frau des unbeteiligten Generals Koslowskys und deren Kinder (mit Ausnahme der elfjährigen Tochter) kamen ins Lager. Die geflüchteten Matrosen aber wurden in Finnland interniert. Viele von ihnen kehrten — gelockt von einem Amnestie-Versprechen — nach Rußland zurück und kamen ins Lager. Petritschenkow, einer der Anführer der Rebellion, blieb fast 25 Jahre in Finnland. Zeitweise kooperierte er mit Emigrantenzirkeln in Europa. Doch später schloß er sich prosowjetischen Gruppen an. 1945 trieb ihn das Heimweh nach Rußland, wo er sofort festgenommen wurde. Ein oder zwei Jahre später starb er in einem Lager.

Doch zurück zum Ende Kronstadts. Nicht nur die. Anarchisten Bergman/Goldman sahen Petrograd nun mit anderen Augen. Auch der Kommunist Viktor Serge, der sich schweren Herzens für die Niederschlagung der Kronstädter Rebellion ausgesprochen hatte, berichtete: »Düsterer 18. März! (...) In den Büros des Smolny herrschte ein böses Unbehagen. Man vermied es, miteinander zu sprechen, wenn man nicht gerade sehr intim befreundet war, und was man sich unter intimen Freunden sagte, war bitter. Nie erschien mir die weite Newalandschaft fahler und trostloser.«

Die Revolution war endgültig entzaubert, die Losung »Alle Macht den Sowjets« zur hohlen Floskel verkommen. In Rußland herrschte weder die Diktatur der Werktätigen noch die der Arbeiterklasse noch die einer Partei, sondern ein kleines Gremium von Männern um Lenin, eine Junta mit einem Diktator an der Spitze. Rosa Luxemburgs Prophezeiung von 1918 hatte sich erfüllt: »Das öffentliche Lehen schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren. unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquen­wirtschaft. (...) Ja noch weiter: Solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen: Attentate, Geiselerschießungen etc.«

Dabei schien der 10. Parteitag der RKP in Moskau vom 8. bis 15. März 1921 — einer der dramatischsten überhaupt — zur Stunde der Opposition zu werden. Welcher Opposition? Zuerst waren da die »Demokratischen Zentralisten«. Männer wie Ossinski (erschossen 1938). Smirnow (erschossen 1938) und Bubnow (erschossen 1940), die wichtige Posten in der Wirtschaftsleitung, im Sowjet oder der Partei innegehabt hatten. Sie prangerten seit 1918 den Hyperzentralismus von Lenin und Genossen an, machten Vorschläge für eine Kombination von Arbeiterselbstverwaltung und Zentralwirtschaft, geißelten die Einmannleitung und den Taylorismus in den Betrieben. Auch wenn die Demokratischen Zentralisten von den Bauern nichts hielten und den roten Terror durchaus be­fürworteten, ist die Nähe zu einigen Kronstädter Forderungen augenscheinlich.

Ossinski hatte sich schon im April 1918 in ei­ner »linksabweichlerischen« Zeitschrift namens Kommunist, in der auch Radek und Bucharin schrieben, über die »kleinbürgerlichen Gebote« der »neuen Orientierung« Lenins mokiert und dessen manischen, an den amerikanischen Trusts und dem deutschen »Staatskapitalismus« orien­tierten Zentralismus angeklagt: »In Preußen sind sämtliche Eisenbahnen in die Hände des Staates übergegangen, aber niemand glaubt deshalb, daß das eine Maßnahme des Übergangs zum Sozialis­mus gewesen sei.« Ossinski hielt dem entgegen, daß der Sozialismus »erst dann auf sicheren Füßen stehen« wird, »wenn die Organisation dieser Wirt­schaft die Arbeiter selbst organisieren«. Tue man das aber nicht und entlasse sie aus der Leitung der Produktion, seien analog der kapitalistischen Kommandogewalt Akkordlohn, Stechuhr und Taylorismus unausweichlich, was wiederum zu Konkurrenz und Spaltung unter den Arbeitern führe.

Ossinski machte Gegenvorschläge: Drittelparität in der Betriebsleitung (ein Drittel gewählte Arbeiter, ein Drittel aus dem Gebiets-Volkswirtschaftsrat und den Gewerkschaften, ein Drit­tel technische Intelligenz), regionale, von den Arbeitern gewählte Wirtschaftsräte, Wahl des obersten Volkswirtschaftsrates aus diesen Gremien. zentraler Plan. Dieses System nannte er im Gegensatz zum zentralistischen Bürokratismus Lenins und dem Syndikalismus der Anarchisten »demokratischen Zentralismus« und »kollegiale Leitung«. Ein Versuch, es in die Praxis umzusetzen, wurde nicht gemacht.

Gleichwohl hatten Ossinski und Genossen auf dem 9. Parteitag der RKP im Frühjahr 1920 ihre Thesen über die kollegiale Leitung vorgestellt, die sich allerdings schon in einigen Punkten der »Militarisierung der Arbeit« durch Trotzki und Lenin angepaßt hatten. Lenin bügelte die Thesen trotz­dem ab und brandmarkte sie als »Synonym für Zerfall und Lockerung der Disziplin.«

Ein Jahr später, auf dem dramatischen 10. Par­teitag, zeitgleich zur Kronstadter Revolte, schwiegen die Demokratischen Zentralisten schon. An ihre Stelle trat die »Arbeiteropposition« unter Führung von Schlapnikow (ersthossen 1937) und Kollontai (natürlicher Tod 1952). Alexandra Kol­lontai, im November 1917 Volkskommissarin für staatliche Fürsorge und damit vermutlich die erste Frau Ministerin der Welt, hatte eine Broschüre verteilen lassen, die für den internen Gebrauch bestimmt war, aber bis nach Deutschland zu den »Linksabweichlern« von der KAP gelangte. Kollontai beklagte, Hamlet zitierend, »daß etwas faul ist im Staate Dänemark.« Nämlich: »Das Wesen des Streits dreht sich darum, ob wir den Kommunismus mit Hilfe der Arbeiter verwirklichen wer­den oder über ihre Köpfe hinweg vermittels der Sowjetbeamten.«

Ihre Forderung: »Die Verwaltung der Volkswirtschaft muß von dem allrussischen Kongreß der Produzierenden, die sich in Verbänden nach Berufen oder lndustriezweigen zusammenschließen. organisiert werden. Diese wählen einen Zen­tralrat. der die ganze Wirtschaft der Republik verwaltet.« Die entscheidende Funktion sollte dabei den Gewerkschaften zukommen. Kollontai sah sie nicht wie Trotzki als »Stock«, der die Massen erziehe und allerhöchstens Hausmeistertätigkeiten nachgehen dürfe. Im Gegenteil: Die Verwaltung der Volkswirtschaft sei »eine Sache der Gewerkschaften« und nicht der Partei. Die habe allenfalls die Aufgabe, »den freien Spielraum zu schaffen für die Heranbildung der Arbeiter zu Schöpfern der neuen Arbeitsmethoden«. Zentral war auch hier die Wahl und »Schaffung eines Organs der Volkswirtschaftsverwaltung aus den produzieren­den Arbeitern selbst«.

Die — nicht beabsichtigten —Gemeinsamkeiten mit Forderungen der Kronstädter Rebellen sind — bei aller städtisch-proletarischen Fixiertheit Kollontais — auch hier unübersehbar. Die Ex-Volkskommissarin berichtete, wie Lenin ihre Broschüre aufnahm: »Schnell, schnell blättert er sie durch und schüttelt mißbilligend den Kopf.« Kurz darauf folgte der Sturm. Lenin wetterte in seiner Rede gegen die Opposition, ja, er verleumdete sie.

Ihre Kritik der Parteipolitik habe die Rebellen von Kronstadt ermutigt, die Waffen gegen die Regie­rung zu erheben. Danach griff er sich die Kollon­tai: »Wissen Sie, was Sie da angerichtet haben? Das ist ein Aufruf zur Spaltung! (...) Und das in diesem Augenblick. Das ist Syndikalismus!«

Wieder so ein stigmatisierender Kampfbegriff. Syndikalismus kam von den Anarchisten, und die waren »kleinbürgerlich« wie die Kronstädter. Wla­dimir Iljitsch hatte die Opposition erneut mit den Rebellen verglichen. Kollontai kuschte. Die anderen Oppositionellen kuschten. Lenin nutzte die Stunde in doppelter Hinsicht. Einerseits zauberte er die Neue Ökonomische Politik aus dem Ärmel, um so die Bauern zu beruhigen und die Lage öko­nomisch in den Griff zu bekommen (die Hunger­snot von 1921 mit etwa fünf Millionen Toten war allerdings nicht mehr abzuwenden), andererseits diente Kronstadt zur endgültigen Unterdrückung der Opposition. »Mit Worten wie Freiheit der Kritik wird man uns nicht hinters Licht führen. (...) Wir brauchen jetzt keine Opposition. (...) Und ich denke. er Parteitag wird diese Schlußfolgerung ziehen müssen. daß es jetzt mit der Opposition zu Ende sein, ein für allemal aus sein muß, daß wir jetzt der Opposition müde sind!«

Lenins Gedanken waren dem Parteitag Befehl. Eine scharfe Resolution wurde verabschiedet:

»Der Parteitag erklärt (...) ausnahmslos alle Grup­pen, die sich auf der einen oder anderen Plattform gebildet haben (wie die Gruppen der >Arbeiteropposition<, des >Demokratischen Zentralismus< usw.) für aufgelöst bzw. ordnet ihre sofortige Auflösung an. Die Nichtausführung dieses Parteitagsbeschlusses hat unbedingt und sofort den Aus­schluß aus der Partei nach sich zu ziehen.« In ei­nem nichtveröffentlichten Zusatzpunkt wurde das ZK der Partei ermächtigt, auch Mitglieder des obersten Parteigremiums auszuschließen. Karl Radek (vermutlich 1939 im Gefängnis umgekommen) hatte ein ungutes Gefühl. Er fürchtete, »hier würde eine Regel eingeführt, von der noch nicht sicher ist, gegen wen sie angewandt werden kann,« und stimmte, hier ganz Bolschewik, zu. Jahre später zählte er zu den ersten Opfern dieses Beschlusses.

Opposition wurde im März 1921 zum Verbrechen, auch innerhalb der Partei. Außerhalb wurden die letzten Reste der anderen sozialistischen Parteien zerschlagen, ihre Führer verbannt oder verurteilt. Selbstverständlich ging es auch den Anarchisten an den Kragen.

Dabei hatten die Herren Parteiführer einige Überlegungen über das friedliche Miteinander angestellt. Stalin soll vorgeschlagen haben, die Kronstädter sich selbst zu überlassen. Trotzki gar hatte über Reservate für Renegaten nachgedacht. Er erörterte nach eigener Aussage »häufig mit Lenin die Frage, ob es nicht möglich sei, den Anarchisten gewisse Gebietsteile zu überlassen, damit sie im Einverständnis mit der betreffenden Bevölkerung mit ihrer Staatenlosigkeit die Probe aufs Exempel machen. Doch die Bedingungen des Bürgerkrieges, der Blockade und des Hungers ließen zu wenig Raum für derartige Pläne.« Man möchte hinzufügen und die Blockade in den Köpfen Lenins und Trotzkis. Denn Anarchisten wie Nestor Machno und seine Armee hatten ihre relative Freiheit genau während des Bürgerkrieges. eben weil er zu dieser Zeit den Bolschewisten gegen die Weißen half. Erst danach wurde er geschlagen. Da Lenin und Trotzki aber schon die ei­gene Opposition in der Partei (wieder nach dem Ende von Bürgerkrieg und Blockade) knebelten, ist klar: Nie und nimmer, unter welchen Bedin­gungen auch immer, hätte das Paar solche Reservate zugelassen.

Die beiden starken Männer Rußlands waren Kinder des 19. Jahrhunderts, Freunde des Preußentums, der Disziplin und des Autokratismus. Lenin hatte dies spätestens 1902 mit »Was tun« und 1904 mit »Einen Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück« bewiesen, Trotzki, als er sich 1917 den Bolschewiki anschloß und seine Kritik von 1904 auf den Müllhaufen des Kommunismus warf.

Und die Umstände entfalteten in ihnen das. was schon angelegt war. Die Angst vor den Massen, die sie zur Revolution gebracht hatten, und von denen sie nun vielleicht hinweggefegt werden könnten, schnürte den Bolschewiki die Kehle zu. Hier gingen sie mit den deutschen Mehrheitssozialdemokraten d‘accord. So seltsam es klingen mag: Die Bolschewismusfurcht der SPD hatte ihre Entsprechung in der Anarchismusfurcht der Bolschewiki.

Darum duldeten sie erst keine fremden Götter neben sich, dann keine in der Partei. und schließlich gab es nur noch einen Gott. Und der konnte nach dem 10. Parteitag kommen. Was die Kronstädter Matrosen so gefährlich gemacht hatte war in der Tat, im Gegensatz zu den Weißen, daß sie im Namen der Sowjets revoltierten. Sie gaben den Massen eine Stimme und trafen die Bolschewiki mehr als jede andere Opposition ins Mark. Die Männer der Parteiopposition aber. um zu beweisen, was für aufrechte Kommunisten sie doch waren. auch wenn sie Kritik übten, wollten die ersten sein, die Kronstadt als Freiwillige liquidieren halfen.

Bubnow. der Demokratische Zentralist, bekam den Orden des Roten Banners für die Massakrierung der Kronstädter. Das schützte ihn nicht davor, daß er selbst massakriert wurde, 19 Jahre später. So ging es allen Oppositionellen, egal ob und wann sie der Opposition entsagten, sie wurden umgebracht: Ossinski, Smimow, Jurenew, Maksimowski, Kamenski, Sapronov, Boguslawski, Rafail, Mjasnikow, Schlapnikow. Nur die Kollontai hatte als einzige Glück. Aber auch die, die nicht in der Opposition waren, die treu und redlich der Diktatur Lenins und Trotzkis gehuldigt und deshalb das Massaker auf dem Eis geleitet hatten, kamen an Kobas Wand: Sinowjew, Tuchatschewski, Dybenkow, Kusmin. Ja, dem verhinderten Stalin selbst, Leo Dawidowitsch Trotzki spaltete in der Hitze Mexikos ausgerechnet ein Eispickel den Kopf. Kronstadt hat sie alle eingeholt.

Und so erfüllte sich — mit Ausnahme des letzten Satzes — die Weissagung der rebellischen Matrosen : »Das Blut der Unschuldigen wird auf die Häupter machttrunkener und grausamer kommunistischer Fanatiker kommen. Es lebe die Macht der Sowjets!«

 

Editoriale Anmerkung:

Der Text
 ist eine Spiegelung von
http://www.bone-berlin.de/kronstadt.htm