Themenabend der Kulturkritik München: _Kapitalentwicklung, Staatswesen und Staatsbankrott_ Kurzfassung: In der Krise des Kapitals kehrt sich seine Verwertungslage um: Was bisher beständiges Wertwachstum war, gerät zur Wertvernichtung. Der Staat ist als Träger des gesellschaftlichen Ganzen daher jetzt in die Pflicht genommen, dem entgegen zu rudern. Und hierfür muss er sein bisheriges Dasein als Vermittler von Produktions-, Kultur- und Lebensbedingungen - eben als Sozialstaat - auch selbst umkehren in ein Verhältnis der Pflicht, die er seinen Bürgern überträgt: Sie müssen sich der allgemeinen Notwendigkeit seines Haushalts beugen, ihre Ansprüche aufgeben und ihre Leistungen erhöhen. So nimmt er die ganze Bevölkerung in die Pflicht und es gilt diese Pflicht einmal genauer zu hinterfragen: Was macht seinen Haushalt aus und was bewirkt die Beugung der Staatsbürger? Begründung: Damit Kapital sich entwickeln kann, bedarf es nicht nur einer Produktion und Konsumtion und dem Markt, auf dem sich das ganze Verhältnis im Austausch der Waren bewegt, es bedarf auch einer bestimmten Form eines bürgerlichen Gemeinwesens, worin sich der Organismus des ganzen gesellschaftlichen Verkehrs erhält, seine Form bewahrt und also institutionalisiert. Dieser Organismus aber ist nicht als ein gesellschaftliches Organ der Menschen, als ihr Gemeinwesen verwirklicht, sondern selbst nur Form einer abstrakten Gemeinschaft, einer Wert- und Wertegemeinschaft. Deshalb ist der Staat als geschichtliches Erzeugnis der bürgerlichen Gesellschaft ihr institutionalisierter Organismus, der formale Körper ihrer Bildung, ihre abstrakte Gliederung und ihr Gedächtnis. Er trägt die Geschichte des Gemeinwesens einer Gesellschaft in sich als gesellschaftliche Lebensbedingungen eines politisch begrenzten Lebensraums und legitimiert sich darin auch, aber als Institution dieser Geschichte tritt er nur als Mittel des ganzen gesellschaftlichen Verhältnisses in die unmittelbare Form ihres Selbsterhalts. So hat der moderne Staat die Aufgabe, alles, was dieses geschichtliche Verhältnis der gesellschaftlichen Lebensbedingungen beschädigt oder unmöglich macht, abzuhalten (z.B. durch Gesetze, Strafverfolgung, Ausbildung und Bildung, Gesundheitsfürsorge, Katastrophenschutz, Landesverteidigung, Kultur usw.). Und zugleich muss er die Infrastruktur bereitstellen, welche allen diesen Verhältnissen nötig ist, welche also jenseits des Marktes und seiner Wertigkeiten und Konkurennzen Voraussetzung für den ganzen "gesellschaftlichen Betrieb" ist. In dieser institutionellen Form des allgemein Notwendigen ist der Staat ein bürgerliches Gemeinwesen, also die Gemeinschaft eines befestigten Lebenszusammenhang, einer Burg, das sich auf Schutz des Bestehenden gegen die Not des Werdenden zu gründen hätte. So allgemein dies der Idee nach den Menschen auch vernünftig erscheinen mag, so kompliziert ist das in einer Wirklichkeit, in welcher die Politik wesentlich aus der Ökonomie bestimmt ist, aus den Erhaltungsinteressen des Marktes und des Kapitals, aus der politischen Ökonomie. Der Staat ist selbst zwar nicht Kapital, insgesamt aber besorgt er die Bedingungen der Wertproduktion und der Wertzirkulation, zwar im Großen und Ganzen eher reproduktiv als produktiv, aber wenn die produktive Reproduktion der Wertverhältnisse, wenn das Wertwachstum funktioniert, dann funktioniert auch der Staat - und zwar nur dann. Der Staat nämlich lebt von den Abgaben der Bürger und des Kapitals, also von Steuern und Sozialabgaben, und das sind Werte, die aus dem zirkulierenden Produktivvermögen abgetragen werden, zum großen Teil aus dem Vermögen der Arbeitskräfte, aus dem variablen Kapital, und zum anderen aus Mehrwert, nicht aber aus dem konstanten Kapital, dem also, was in Investitionen besteht und produktiv, also materielle Grundlage des Wertwachstums ist. Doch das Wertwachstum hat seine Tücken. Es ist nicht das Wachstum eines wirklichen materiellen Vermögens, sondern lediglich der Wertform des Kapitals, also Wachstum dessen, was das Kapital sich an menschlicher Arbeitszeit aneignet. Hierdurch stellt es eine Wertmasse da, die sich nur in der beständigen Erneuerung und Erweiterung der Aneignungsmacht bewegt und davon zehrt, dass immer mehr Arbeitszeit zugunsten der Kapitalverwertung abgeführt wird. Das aber hängt wesentlich ab von der wertgemäßen Realisierung dieser Mehrarbeit im Absatz der Arbeitsprodukte und vom Realisierungserfolg der Kapitalmacht, also dem wirklichen Wachstum der Abhängigkeiten von ihm, der Realisierung von zusätzlicher Zeitabgabe an Arbeit. Wertwachstum ist also die Bedrängung der Lebenszeit, die Beschleunigung des Lebens, die Potenzierung der Produktmasse und deren Konsumtion. Die Wertmasse der Kapitalanlagen steigt nur, solange ihr Verwertungsprozess in der menschlichen Arbeit funktioniert. Und das wird mit zunehmender Sättigung des Marktes und der Reichtumsproduktion zunehmend schwieriger. Die Verwertungskrisen des Kapitals sind die Krisen des Verwertungsprozesses, in welche die zirkulierende Wertmasse unweigerlich hineingerät. Sie können nicht einfach durch Geld behoben werden, weil Geld selbst nur Wertausdruck der Güter auf dem Warenmarkt ist. Die Steuern, welche die Bürger bezahlen sind also wertmäßig selbst abhängig vom Wachstumsertrag der zirkulierenden Wertmasse, bewerten, überwerten und entwerten sich mit dem Geldwert, der über die Lohntüten zirkuliert. Die Steuern stellen ein Analog zur gesamten Kapitalbewegung, zum Aufstieg und Fall des bürgerlichen Vermögens dar. Und je weniger sie dazu verwendet werden, dass die Reproduktions- und Produktionsbedingungen einer Gesellschaft sich verbessern (z.B. Gesundheits- und Bildungswesen, Kultur und Freizeit), desto geringer wird auch ihr sozialer Ertrag und desto dünner auch ihre Möglichkeiten, Wertwachstum zu befördern. Die kapitalistische Krise wird daher auch immer schnell eine Krise des bürgerlichen Staates. Rückläufiges Wertwachstum ist immer zugleich schon Wertschwund und lässt Arbeit und Vorsorge ineffizient werden, verschärft die Konkurrenz des Arbeitsmarktes, wirft viele Menschen auf die Straße und bedrängt auch die Wertrücklagen für Alter (Rente) und Gesundheit. In der Staatskasse zeigt sich dies an schwindenden Einnahmen und höheren Ausgaben (Soziales, Subventionen usw.). Zudem sind auch die Kapitaleinlagen in den Staat und das Vermögen seiner Banken beträchtlich, so dass ein Wertschwund sie unmittelbar entwertet. Ein Staatsbankrott, also das Unvermögen des Staates, seine Ausgaben zu haushalten durch Einnahmen oder Schulden, die Mehreinnahmen der Zukunft vorwegnehmen können, droht. Als größter Auftraggeber der Nationalwirtschaft will der Staat daher weniger ein wirkliches Gemeinwesen sein, als ein effektives. Daher reagiert er auf die kapitalistischen Krisen mit der Verstärkung des Effizienzdrucks seiner Mittel und der Weitergabe des Arbeitsdrucks auf die Bevölkerung. Auch er ist interessiert, dass die Menschen immer mehr Arbeitszeit abgeben, besonders dann, wenn Kapitalentwertung droht oder stattfindet. Denn nur die weitergreifende Zeitabgabe kann Kapital wieder aufwerten (siehe hierzu auch Negativverwertung). Also nimmt der Staat in einer Verwertungskrise seine eigene Bevölkerung als Pfand gegen sie, setzt den Druck auf sie ein, um die Arbeit für die Verwertung effektiver, also billiger und schneller und mit mehr Zeitergebnis zu beschleunigen. Der Staat kann also letztlich nicht anders, als sich gegen seine Bürger zu wenden. Mit den Verwertungsproblemen der bürgerlichen Gesellschaft geht auch er seinem Ende entgegen und kämpft als eigene politische Klasse mit einer Vehemenz gegen "sein Volk", dass er leicht auch die Fascies (die Steuerrute) einsetzt, also eine Form des Faschismus immer sein letztes Zucken bleibt. Und Faschismus kann ökonomisch nur funktionieren, wenn er die Wertproduktion wieder antreibt, also auch der Krise einen Sinn gibt, ihre Entwertung durch mangelnde Konsumtion umkehrt in eine beschleunigte Konsumtion durch Kriege, die letztlich der finale Ausdruck einer produktiven Wertvernichtung sind. Quellen: zu Staat: Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/st.html#staat) zu Bürgerlicher Staat: Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/bu.html#buergerlicherstaat) zu Nationalismus: Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/na.html#nationalismus) zu Staatsbankrott: Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/st.html#staatsbankrott) zu Negativverwertung: Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/ne.html#negativverwertung) zu Faschismus: Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/fa.html#faschismus) zu Nationalsozialismus: Kulturkritisches Lexikon (http://kulturkritik.net/begriffe/na.html#nationalsozialismus) Wolfram Pfreundschuh: Der Sozialstaat, Hartz IV und der Staatsbankrott |