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Aus der Zeitschrift Internationale Bibliothek, Nr.13, April 1892.
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Wilhelm Liebknecht hat im Jahre 1869 über dieses Thema zu Berlin eine Rede gehalten, welche verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. Vor uns liegt eine Broschüre aus dem Jahre 1874, welche eine Reproduktion dieses Vertrages enthält und worin Liebknecht sagt, dass ein fünfjähriges Nachdenken ihn nicht veranlassen konnte, seine Ansichten über diesen Gegenstand zu ändern. Er bemerkt in dieser Beziehung: „Zu widerrufen habe ich nichts, ebensowenig etwas zu mildern. Am wenigsten an meiner Kritik des Bismarck’schen Parlamentarismus, der sich im ‚Deutschen Reichstag‘ nicht minder glorreich bethätigt, als weiland im ‚Norddeutschen Reichstag’.“
„Wohl aber hätte ich die Verurtheilung dieses spezifischen Auswuchses auf den Parlamentarismus überhaupt ausdehnen sollen, der, wenn auch nirgends – selbst nicht im Bas-Empire des Bonaparte – zu einer so traurigen Rolle berufen, wie im Preussischen Deutschland, doch in allen Staaten, wo er grassirt, zur Täuschung und Knechtung des Volkes dient, – ein mit dem Schaumgold der Phrase beklebter Theatermantel, hinter dem der Absolutismus und die Klassenherrschaft ihre hässlichen Glieder und ihre Mordwaffen verstecken.“
Nach dieser ausdrücklichen Betonung Liebknechts, dass seine Ausführungen nicht etwa übereilt und unüberlegt gemacht wurden, sondern das Resultat reiflicher Erwägungen waren, zitiren wir im Folgenden alles Hauptsächliche. Liebknecht hat das Wort! Er sagt: „Ob wählen oder nicht wählen, ist bei allgemeinem Stimmrecht nur eine Frage der Nützlichkeit, nicht eine Prinzipienfrage. Wir haben ein Recht zu wählen – der Umstand, dass das Recht oktroyirt worden, beraubt uns nicht unseres natürlichen Rechts – und wenn wir einen Vortheil dabei sehen, so wählen wir. Von diesem Gesichtspunkt aus fassten wir in Sachsen bei Berufung des ‚Reichstags‘ die Sache auf.“
„Ein Theil war aus Nützlichkeitsgründen gegen, ein anderer für das Wählen. Für das Nichtwählen wurde geltend gemacht, dass es dem Volk die Rechtlosigkeit klarer zum Bewusstsein bringe, für das Wählen, dass bei Enthaltung der Demokratie die Gegner in den alleinigen Besitz der Rednerbühne gelangen, allein das Wort haben würden und so leichter das Rechtsgefühl des Volks verwirren könnten. Diese Erwägung schlug durch – man entschied für das Wählen. Meine persönliche Ansicht ging dahin, dass die von uns gewählten Vertreter mit einem Protest in den ‚Reichstag’ eintreten und ihn dann sofort wieder verlassen sollten, ohne jedoch ihr Mandat niederzulegen. Mit dieser Ansicht blieb ich in der Minorität; es wurde beschlossen, dass die Vertreter der Demokratie jede ihnen passend dünkende Gelegenheit benützen könnten, um im ‚Reichstag‘ ihren negirenden und protestirenden Standpunkt geltend zu machen, dass sie sich aber von den eigentlichen parlamentarischen Verhandlungen fern zu halten hätten, weil dies eine Anerkennung des Nordbunds und der Bismarck’schen Politik einschliesst und das Volk nur über die Thatsache täuschen kann, dass der Kampf im ‚Reichstag’ blos ein Schaukampf, blos eine Komödie ist. An dieser Richtschnur haben wir in der ersten und zweiten Session des ‚Reichstags‘ festgehalten. Bei Berathung der Gewerbeordnung, welche den Hauptgegenstand der gegenwärtigen Session bildete, glaubten einige meiner Parteigenossen im Interesse der Arbeiter und zu propagandistischen Zwecken eine Ausnahme machen zu müssen. Ich war dagegen. Die Sozialdemokratie darf unter keinen Umständen und auf keinem Gebiet mit den Gegnern verhandeln. Verhandeln kann man nur, wo eine gemeinsame Grundlage besteht. Mit prinzipiellen Gegnern verhandeln, heisst sein Prinzip opfern. Prinzipien sind untheilbar, sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert. Die geringste prinzipielle Konzession ist die Aufgebung des Prinzips. Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentirt; wer parlamentirt, paktin.“
„Wir haben ein lehrreiches und warnendes Exempel an der Fortschrittspartei. Zur Zeit des sogenannten preussischen Verfassungskonflikts liess sie es nicht an schönen und auch kräftigen Reden fehlen. Mit welcher Energie protestirte sie nicht gegen die Reorganisation – in Worten! Mit welcher ‚Gesinnungstüchtigkeit‘ und welchem ‚Talent‘ befürwortete sie nicht die Rechte des Volks – in Worten! Aber die Regierung kümmerte sich nicht um die Rechtsdeduktionen. Sie liess der Fortschrittspartei das Recht, und behielt und übte die Gewalt. Und die Fortschrittspartei? Statt auf den parlamentarischen Kampf zu verzichten, der unter solchen Umständen eine schädliche Albernheit geworden war, statt von der Rednertribühne abzutreten, die Regierung zum nackten Absolutismus zu zwingen und an das Volk zu appelliren – fuhr sie, in den eigenen Phrasen Befriedigung findend, unverdrossen fort, Proteste und Rechtsdeduktionen in die leere Luft zu hauchen und Beschlüsse zu fassen, von denen Jedermann wusste, dass sie wirkungslos sein würden. So ward das Abgeordnetenhaus aus einer politischen Arena in ein Komödienhaus verwandelt. Das Volk hörte stets dieselben Reden, sah stets dieselbe Resultatlosigkeit und es wandte sich ab, erst mit Gleichmütigkeit, dann mit Ekel. Das Jahr 1866 wurde möglich. Die ‚schönen‘, ‚kräftigen‘ Oppositionsreden der preussischen Fortschrittspartei haben der Blut- und Eisenpolitik den Boden geschaffen, – sie waren die Grabreden der Fortschrittspartei selbst. Im eigentlichsten Sinne des Worts hat die Fortschrittspartei sich todt geredet.“
„Lassalle verurtheilte auf das entschiedenste die Verfahrungsweise der Fortschrittspartei, und sagte die Folgen voraus. Er rieth den Abgeordneten, vom parlamentarischen Schauplatz zurückzutreten und ihre Mandate niederzulegen.“
„Jedenfalls stellte Lassalle das Verkehrte und Verderbliche der parlamentarischen Schönrednerei, des Redens um des Redens Willen, ins rechte Licht.“
„Wenn die Demokratie jetzt denselben Fehler begeht, wie vor sechs Jahren die Fortschrittspartei, dann wird die gleiche Ursache die gleiche Wirkung hervorbringen.
„Doch auch ganz abgesehen von dem eigentlich politischen Standpunkt hat eine Betheiligung unserer Partei an den Parlamentsdebatten nicht den mindesten praktischen Nutzen.“
„Dass bei der Zusammensetzung des ‚Reichstags‘ nicht daran zu denken ist, prinzipiell wichtige Anträge in unserem Sinne durchzusetzen, das wird mir von vornherein zugestanden werden.“
„Aber“, meint der Eine oder Andere, „im Reichstag haben wir die beste Gelegenheit, die Prinzipien der Sozialdemokratie zu entwickeln“. Gelegenheit dazu haben wir, allein sicherlich nicht die beste, nicht einmal eine gute. „Glauben Sie, dass der ‚Reichstag‘ seine Rednerbühne als Katheder gebrauchen lässt? Nehmen Sie an, ein Marx wollte den Abgeordneten eine Reihe theoretischer Vorträge halten, wie lange, wie oft würde man ihn anhören? Vielleicht einmal aus Neugierde, aber dann nicht mehr.“ „An eine gesetzgeberische Einwirkung, wie gesagt, ist nicht zu denken; – welchen Zweck soll aber dann um Himmels Willen, die Darlegung unserer Prinzipien im ‚Reichstag’ haben? Etwa die Bekehrung der Mitglieder? Diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, wäre mehr als kindlich, wäre kindisch.“
„Ebenso praktisch würde es sein, unsere Prinzipien den Meereswogen vorzuplaudern – und nicht so lächerlich. Die Braune und Konsorten wissen sehr gut, was wir wollen. Ihnen gegenüber, wie überhaupt den im Reichstag fast ausschliesslich vertretenen herrschenden Klassen gegenüber ist der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr, sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf der Strasse, auf dem Schlachtfelde zu lösen ist, gleich jeder anderen Machtfrage.“
„Ja, an eine Einwirkung auf den ‚Reichstag‘ selbst denken wir auch nicht; was wir wollen, ist, dass die Tribüne des Reichstages dazu benutzt werde, um zu dem Volk da draussen zu reden.“
„Allein ist sie denn der geeignete Ort für theoretische Entwickelungen? Das Ablesen ist im ‚Reichstag‘ verboten, und Sie werden mir Alle zugeben, dass der geübteste Redner – vorausgesetzt, was im ‚Reichstag‘ nicht der Fall ist, man höre ihn ruhig an – nicht im Stande ist, eine wissenschaftliche Arbeit so vollendet aus dem Kopfe vorzutragen und den Stenographen zu diktiren, als er sie daheim an seinem Pulte schreiben kann.“
„Aber im ‚Reichstag‘ kann er Manches aussprechen, was sonst verpönt ist.“
„Das leugne ich. Ich kann im ‚Reichstag‘ Angriffe auf die jetzige politische Ordnung der Dinge machen, die in keiner anderen preussischen Versammlung straflos bleiben würden, doch in sozialer Beziehung, namentlich auf theoretischem Gebiete, gibt es nichts, was nicht anderwärts mit der nämlichen Straflosigkeit gesagt werden könnte. Und sollen wir denn auch den Kampf mit den Gesetzen fürchten? Thatsache ist, dass jeden Tag ungehindert in Preussen weit Revolutionäreres geschrieben und gesprochen wird, als sämmtliche Reichstagsreden über die soziale Frage enthalten haben.“
„Doch angenommen, es gelänge, irgend eine sonst unaussprechbare Wahrheit in den ‚Reichstag‘ einzuschmuggeln – was wäre damit erreicht? Das Gesetz erlaubt unzweifelhaft den freien Abdruck der betreffenden Rede; allein das Gesetz macht auch die Presse, wenn sie bloss Auszüge aus einer Rede, oder eine einzelne Rede anstatt der ganzen Debatte bringt, für jedes Wort der vollständig oder auszüglich abgedruckten Rede verantwortlich. Und die ganzen Debatten nach dem allein berechtigten stenographischen Bericht mitzutheilen, ist selbst den grössten Zeitungen aus räumlichen Gründen unmöglich, geschweige denn den kleinen sozialdemokratischen Blättern.“
„Um die pfiffig in den ‚Reichstag‘ eingeschmuggelten Wahrheiten wieder aus dem ‚Reichstag‘ in’s Volk herauszuschmuggeln, bleibt demnach kein anderes Mittel, als der amtliche stenographische Bericht, der aber wegen seines Umfanges und seines Preises den Massen nicht zugänglich ist.“
„Was die Arbeiter von Debatten über die soziale Frage erfahren, erfahren sie durch die Arbeiterblätter, und was diese in der Form von Parlamentsberichten bringen, können sie weit besser, viel sorgfältiger ausgearbeitet, in Form von selbstständigen Leitartikeln und Abhandlungen bringen.“
Fassen wir zusammen:
„Einen direkten Einfluss auf die Gesetzgebung kann unser Reden nicht ausüben.“
„Den ‚Reichstag‘ können wir durch Reden nicht bekehren.“
„Durch unser Reden können wir unter die Massen keine Wahrheiten werfen, die wir anderweitig nicht viel besser verbreiten könnten.“
„Welchen ‚praktischen‘ Zweck hat also das Reden im ‚Reichstag‘? Keinen! Und zwecklos reden ist Thoren Vergnügen.“
„Nicht Ein Vortheil! Und nun auf der anderen Seite die Nachtheile: das Prinzip geopfert, der erste politische Kampf zur parlamentarischen Spiegelfechterei herabgewürdigt, das Volk zu dem Wahne verführt, der Bismarck’sche ‚Reichstag‘ sei zur Lösung der sozialen Frage berufen. Und wir sollen aus ‚praktischen Gründen‘ parlamenteln? Nur der Verrath und die Kurzsicht kann es uns zumuthen.“
„Was prinzipiell das Richtige, ist auch praktisch das Beste, Prinzipientreue ist die beste Politik.“
„Ich unterschätze nicht die Bedeutung des mündlichen Wortes. Allein in Zeiten der Krise, in Zeiten, wo eine Welt im Absterben, eine andere im Entstehen ist, gehören die Vertreter des Volks unter das Volk. Ich für meinen Theil halte es nicht blos für ehrenvoller, sondern auch für erspriesslicher, in einer Versammlung rechtschaffener Arbeiter zu reden, als in jener auf den Wink eines Recht und Menschen verachtenden Staatsmannes zusammengelaufenen Gesellschaft von Junkern, Apostaten und Nullen, die Norddeutscher ‚Reichstag‘ genannt wird.“
„Aber der ‚Reichstag‘ ist das Kind des allgemeinen Stimmrechts. Das allgemeine Stimmrecht ist der Wille des Volkes, und als Demokraten müssen wir den Willen des Volkes, folglich den ‚Reichstag‘ achten.“
„In diesem Raisonnement, das ziemlich gewöhnlich ist, begegnet uns jene unverständige Ueberschätzung des allgemeinen Stimmrechts, die, hauptsächlich auf Lasalle’s Autorität sich stützend, zu einem förmlichen Götzendienst geworden ist. Namentlich in Norddeutschland halten Viele das allgemeine Stimmrecht für die wunderthätige Springwurzel, welche den ‚Enterbten‘ die Pforten der Staatsgewalt öffnet; sie leben in dem Wahne, sich mitten im Polizei- und Militärstaat an dem allgemeinen Stimmrecht, wie weiland Münchhausen an seinem Zopf, aus dem Sumpf des sozialen Elends herausheben zu können. Münchhausens Zopf sollte ihr Hinterhaupt schmücken.“
„Als Bonaparte die Republik gemeuchelt hatte, proklamirte er das allgemeine Stimmrecht.“
„Als Graf Bismarck dem preussischen Junkerpartikularismus den Sieg verschafft, als er durch seine 1866er ‚Erfolge‘ das liberale Bürgerthum in Preussen überwunden und Deutschland zerrissen hatte, that er, was sein Vorbild 15 Jahr vorher gethan, – er proklamirte das allgemeine Stimmrecht.“
„Bei beiden Gelegenheiten besiegelte die Proklamirung, die Oktroyirung des allgemeinen Stimmrechts den Triumph des Despotismus. Das allein müsste den naiven Schwärmern des Evangeliums vom allgemeinen Stimmrecht die Augen öffnen.“
„Auf die Motive Bonapartes einzugehen, ist hier nicht der Ort. Was den Grafen Bismarck anbelangt, so liegen seine Beweggründe klar zu Tage.“
„Das Dreiklassenwahlsystem, undemokratisch und antidemokratisch wie es ist, hat doch zugleich einen antifeudalen Charakter, weil es den Schwerpunkt der parlamentarischen Vertretung in die besitzenden Klassen verlegt, die, wenn auch stets bereit, mit dem Absolutismus Front zu machen gegen die Arbeiter, gegen die Demokratie, dennoch, mit Ausnahme der Grossgrundbesitzer, Feinde des absolutistischen Staats, und bis zu einem gewissen Punkt ‚liberal‘ sind. Das liberale Abgeordnetenhaus, das Produkt des Dreiklassensystems war der Junkerregierung unbequem. Es galt ein Gegengewicht zu schaffen, und dies fand sich im allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrecht.“
„Wie Wenige sind in dem heutigen Polizeistaat, in dem Staat der geistigen und der militärischen Dressur geistig und materiell unabhängig? Macht doch die Bauernbevölkerung allein, die hier zu Lande dem Wink der Behörden willenlos gehorcht und gehorchen muss, zwei volle Drittel der gesammten Einwohnerzahl aus.“
„Dies berechnete Graf Bismarck, und er verrechnete sich nicht. Durch das allgemeine Stimmrecht fegte er die Opposition der besitzenden Klassen aus dem Weg und erlangte eine fügsame Reichstagsmajorität, wie sie das Dreiklassenwahlsystem ihm nimmermehr gegeben hätte.“
„Also nicht als Hebel der Demokratie, sondern als Waffe der Reaktion wurde das allgemeine Stimmrecht oktroyirt.“
„Es steht unter der vollständigsten Controle der Regierung – hier noch viel mehr als in Frankreich, wo das Volk politisch mehr geschult ist, wo es drei Revolutionen hinter sich hat und die vierte vor sich. Man kann mit Sicherheit behaupten, dass in Preussen kein Abgeordneter in den ‚Reichstag‘ gewählt werden kann, dessen Kandidatur die Regierung ernsthaft bekämpft. Ich erinnere an die letzte Wahl in Hannover, wie man die Aufrufe der Opposition konfiszirte, ihr tausenderlei Hindernisse in den Weg legte. Und hier handelte es sich nur um einen unbequemen, nicht um einen gefährlichen Kandidaten. Hätte die Regierung von ihrer ganzen Macht Gebrauch machen wollen – ich meine gesetzlichen Gebrauch, denn der ‚intelligente‘ Absolutismus kleidet sich meist in den Mantel des Gesetzes –, sie hätte die Wahl Ewald’s mit Leichtigkeit hintertrieben. Nehmen wir an, es tritt ein Kandidat auf, den die Regierung durchaus nicht in dem ‚Reichstag’ haben will: sie konfiszirt die Zeitungen, die seine Wahl empfehlen – gesetzlich; sie konfiszirt die Wahlaufrufe – gesetzlich; sie verbietet die Wählerversammlungen – gesetzlich; oder sie erlaubt die Wählerversammlungen und löst sie dann auf – gesetzlich; sie verhaftet die Fürsprecher des Kandidaten – gesetzlich; sie verhaftet sogar den Kandidaten selbst – gesetzlich. Verhaftete man doch neulich sogar einen ‚Reichstagsabgeordneten‘, und würde doch derselbe noch heute im Gefängniss sitzen, wenn die Nationalliberalen nicht durch ein Lächeln Bismarcks von der Harmlosigkeit des ‚Märtyrers‘ überzeugt worden wären.“
„Aber angenommen, die Regierung mache von ihrer Macht aus Kraftgefühl oder Berechnung keinen Gebrauch, und es gelinge, wie das der Traum einiger sozialistischen Phantasiepolitiker ist, eine sozialdemokratische Majorität in den Reichstag zu wählen – was sollte die Majorität thun? Hic Rhodus hic salta. Jetzt ist der Moment, die Gesellschaft umzugestalten und den Staat. Die Majorität fasst einen weltgeschichtlichen Beschluss, die neue Zeit wird geboren – ach nein, eine Kompagnie Soldaten jagt die sozialdemokratische Majorität zum Tempel hinaus, und lassen die Herren sich das nicht ruhig gefallen, so werden sie von ein paar Schutzleuten in die Stadtvogtei abgeführt und haben dort Zeit, über ihr donquixotisches Treiben nachzudenken.“
„Revolutionen werden nicht mit hoher obrigkeitlicher Erlaubniss gemacht; die sozialistische Idee kann nicht innerhalb des heutigen Staates verwirklicht werden; sie muß ihn stürzen, um ins Leben treten zu können.“
„Kein Friede mit dem heutigen Staat!“
„Und weg mit dem Kultus des allgemeinen und direkten Wahlrechts!“
„Die Gewalt erkennen wir wohl an, aber nur als eine Thatsache, nicht als Recht – als eine Thatsache, die wir so lange ertragen, bis die Gewalt nicht mehr die Gewalt hat, d.h. bis ihr eine grössere Gewalt entgegengesetzt werden kann. Wir legen die Hände nicht ruhig in den Schooss, sondern benutzen alle Waffen, welche die herrsehende Gewalt uns gelassen hat, zur Bekämpfung der herrschenden Gewalt. Und so ‚tragen auch wir den Verhältnissen Rechnung’ – in der einzigen Weise, die sich mit dem Prinzip und mit der Klugheit verträgt.“
„Von dem Moment an, wo jeder Zweifel in Bezug auf die politische Stellung der Sozialdemokratie beseitigt ist, wo die Sozialdemokratie, ohne den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zu vernachlässigen; auch den politischen Vorkampf führt, haben wir die Massen der Arbeiter hinter uns, können wir sagen: ‚Berlin gehört uns‘. Und dann gehört uns Deutschland; denn hier in Berlin sitzt der Hauptfeind, hier wird die Entscheidungsschlacht geschlagen. Von Berlin aus wurde Deutschland geknechtet; in Berlin muss Deutschland befreit werden.“
So weit Liebknecht. Wir stimmen seinen Ausführungen vollkommen bei. Besonders betonen wir, dass wir mit Liebknecht übereinstimmen, wenn er seinen einleitenden Worten das betreffs des Norddeutschen Reichstags Gesagte auf den Parlamentarismus überhaupt angewendet wissen will.
In den Vereinigten Staaten von Nordamerika wird mehr gewählt, als in irgend einem anderen Lande; und gerade hier ist der Stimmkasten zum wüstesten Auswuchs der Volksbeschwindelung geworden.
Wenn die Despoten Europa’s nicht ganz vernagelte, eigensinnige Tröpfe wären, und wenn die Parlamente der „alten Welt“ nicht gleichfalls bis zur Blindheit im Herkommensdusel befangen sein würden, so hätten sie sich längst sammt und sonders die Massen-Stimmkästnerei nach amerikanischem Schnitt zugelegt. Denn ein besseres System, die Volksmassen wie Tanzbären an der Nase herumzuziehen und denselben obendrein gleichzeitig alle Verantwortlichkeit für jede Schandthat und jeden Wahnwitz der Regierer höhnend aufzubürden, hätte der denkbar boshafteste Dämon auch nicht erfinden können.
Wer da glaubt, dass wir übertreiben, den machen wir auf folgende Punkte aufmerksam.
Je öfter gewählt wird und je zahlreicher die zu wählenden Funktionäre sind, desto weniger sind die Wähler im Stande, die zu Wählenden auch nur dem Namen nach zu kennen.
Je entschiedener das allgemeine Stimmrecht bei den Besetzungen aller erdenklichen Aemter etc. in Frage kommt, ein desto zahlreicheres und geriebeneres Demagogenthum von Aemterjägern beherrscht mehr und mehr das ganze öffentliche Leben.
Bei solcher Sachlage kann es nicht ausbleiben, dass nicht nur in den Reihen der Gewählten, sondern auch in denen der Wähler eine unausrottbare Korruptheit und damit eine allgemeine Charakterlosigkeit des Volkes einreisst. Diese drei Punkte sollten allein schon genügen, alle edel denkenden Menschen, insbesondere aber die Widersacher der heutigen Gesellschaft – in allererster Linie jedoch die konsequenten Revolutionäre, die Anarchisten, von der Theilnahme an der Wählerei fernzuhalten.
Allein für diese, wie überhaupt für alle organisirten Arbeiter kommen noch ganz andere Bedenken in Betracht.
Bei der Massenhaftigkeit der Kandidaten und der damit verknüpften herkömmlichen Nothwendigkeit, dieselben durch lauter redefähige Menschen, die obendrein eine Art „Berühmtheit“ aufzuweisen haben sollen, zu besetzen, kommen Arbeiterparteien selten in die Lage, aus ihrer Mitte heraus so viele dermassen qualifizirte Personen herauszugreifen, als nothwendig ist, um die üblichen „Tickets“ auch nur einigermassen annähernd auszufüllen. Es kann also selbstverständlich nicht ausbleiben, dass anderweite Personen als Kandidaten aufgestellt werden, was schon von vornherein eine prinzipgemässe Repräsentanz der betreffenden Wählerschaft mehr oder weniger ausschließt. Und da bei solcher Sachlage überhaupt in der Regel die Aemterjäger gar nicht erst gesucht zu werden brauchen, weil sich solche in grosser Menge zu dem ausgesprochenen Zwecke, öffentliche Anstellungen zu erobern, in die Arbeiterparteien einschleichen und dieselben durch allen erdenklichen Schwindel über kurz oder lang total korrumpiren, so leidet das Proletariat nicht nur unter den eigentlichen Wahlkonsequenzen (Ausverkauf, Verrath etc.), sondern überhaupt, indem jene Kreaturen alle erdenklichen Kniffe in Anwendung bringen, um das ganze Parteileben in den engen Zirkel der Wahlwühlerei zu bannen und jedes weitergehende Streben auf Tritt und Schritt zu beeinträchtigen, wenn nicht gar gänzlich zu hintertreiben.
Wenn man das Geheimnis, weshalb die Arbeiterbewegung in Amerika so sehr im Argen liegt, zu ergründen sucht, so stösst man im Wesentlichen auf die vorbemerkten Umstände. Weil die an der Spitze von Arbeitervereinigungen stehenden sogenannten „Führer“ vermöge der Wahlpolitik leicht in der Lage sind, gelegentlich jeder Wahl beträchtliche Bestechungsgelder einzuheimsen, schlagen diese jämmerlichen Burschen nicht nur Jahr aus, Jahr ein die Wahlpauke, sondern sorgen auch dafür, dass etwaige anderweite Agitationen alsbald unterdrückt werden, so dass sozusagen eine prinzipielle Entwickelung dieser Arbeiterverbände gar nicht stattfindet und ein wahrhaft chinesischer Konservatismus sich ausbreitet.
Denkt man vollends daran, was da in Amerika Alles gewählt wird, so steht einem ohnehin schon der Verstand still, falls man sich daneben vorstellen muss, dass sonst aufgeklärte Arbeiter sich dazu hergeben sollen, zur Einsetzung der betreffenden Personagen ihre Zustimmung zu geben. Richter, Staatsanwälte, Henker, Polizisten etc. – solche Kerle, die unter allen Umständen nur den Zweck haben, die Menschheit zu schuhriegeln, soll ein revolutionärer Arbeiter sich aufs Genick setzen? Er könnte sich ebenso gut selber ohrfeigen.
Freilich redet man uns vor, dass eben die besten Menschen zu wählen seien. Aber ach! Etwas Solches existirt ja gar nicht. Wirklich gute Menschen verzichten auf solche „Ehren“ und halb und halb verdorbene Naturen werden im Amt vollends zu abgefeimten Schurken. Ich sollte denken, es gibt in dieser Beziehung Beispiele genug, welche beweisen, dass selbst in den Parlamenten Europas wo die Versuchung nicht in solchem Massstabe an die Erwählten herantritt, wie in den Verwaltungsämtern, sogar von Hause aus edel veranlagte Menschen mehr und mehr verlumpt sind. Was soll man erst in Amerika erwarten – oder vielmehr, was hat man schon Alles in Amerika in diesen Beziehungen erlebt? Sind nicht im Laufe der letzten zehn Jahre in Amerika seitens der Arbeiterparteien schon mindestens 500 Arbeiter-Kandidaten für die verschiedenartigsten Verwaltungs- und Gesetzgebungsposten gewählt worden? Wie viele waren aber darunter, welche nicht eine ganz infame Rolle spielten? – Sollen solche üble Erfahrungen immer und immer wiederholt werden?
Hier stocken unsere Widersacher, die Stimmkästner, mit der Antwort. Aber sie lassen doch nicht locker und behaupten, man könne doch wenigstens in den Legislaturen manches schlechte Gesetz, das sonst zu Stande kommen würde, hintertreiben. Wir bestreiten das auch. Denn selbst in Europa ist man in dieser Beziehung über blosse Einbildungen und Behauptungen nicht hinausgekommen. Ein stichhaltiger Beweis ist für die Richtigkeit dieser Behauptung nicht zu erbringen, wie schon ein Blick auf die nummerische Ohnmacht der sogenannten Arbeitervertreter in allen Gesetzgebungskörpern, wo sich solche bisher versuchten, hinlänglich darthut.
Ebenso steht es mit der stimmkastenmässigen und repräsentativen Protestirerei der Arbeiter, von welcher neuerdings so viel gefackelt wird. Wer jemals in einer legislativen Quatschbude aus- und eingegangen ist, wird sich davon hinlänglich überzeugt haben, dass solche Protestereien in den Wind hinein gesprochen sind.
Bleibt noch die angebliche Agitation, welche in Wahlzeiten angeblich getrieben werden kann. Damit ist es erst recht Essig. Handelt es sich denn bei den Wahlklopffechtereien etwa um grosse gesellschaftliche Fragen, oder wird nicht vielmehr über allen erdenklichen ungeordneten Mist gequatscht, wie er gerade die Schädel der Pfahlbürger durchstinkt? Ja, schon des unvermeidlichen Stimmenfanges wegen werden alle Kandidaten und deren Mitschwätzer – selbst wenn sie an und für sich keine Demagogen wären – veranlasst, sich durch möglichst flaches Geschwätz in die Denkweise der Spiesser hineinzuarbeiten und durch allerlei Kleinigkeitskrämereien deren Beifall zu erwerben. Von solchem saft- und kraftlosen Gegackel bis zu allen erdenklichen Kompromisslereien mit anderen Parteien ist nur ein kleiner Schritt – besonders in Amerika, wo die Versuchung in dieser Beziehung nahezu immer unwiderstehlich ist.
Statt eine revolutionäre Agitation in Wahlzeiten und vor Stimmnullen betreiben zu können, verwickelt man sich also nur immer entschiedener in Prinzipienwidrigkeiten; und ehe es sich eine Arbeiterpartei, welche sich auf dieses Gebiet begibt, versieht, verwandelt sie sich unter solchen schlechten Einflüssen in eine breiige Masse, welche bald dieser, bald jener politischen Lumpazius in beliebige Formen knetet. Die besseren Elemente scheiden sich schließlich aus und verzweifeln, angeekelt von solchen Verhältnissen, oft ganz und gar an der Menschheit; der Rest ist und bleibt gedankenloses Stimmvieh. Wir danken für solche Agitationsresultate.
Bisher hat es in den Vereinigten Staaten wesentlich nur solche Bestrebungen des Proletariats gegeben, welche in der Hauptsache konservativ-gewerkschaftlicher Natur waren oder daneben allenfalls noch auf Bildungsmeierei und Produktivgenossenschaften durch Sparen hinausliefen. Jetzt auf einmal scheinen die amerikanischen Arbeiter zu merken, dass es damit noch lange nicht abgethan sein kann, zumal ihnen die öffentliche und private Gewalt der Kapitalisten auf Tritt und Schritt begegnet und ihre Anstrengungen im Lohnkampfe etc. vereitelt. Man hätte nun denken sollen, dass die üblen Erfahrungen, welche in diesen Beziehungen gemacht wurde, von revolutionärer Wirkung sein müssten, allein die Thatsachen zeigen die Dinge in einem anderen Lichte.
Der Volksstaat, welcher nun schon 100 Jahre lang existirt und nicht eine einzige Schattenseite der bürgerlichen Gesellschaft hintanzuhalten vermochte, ja, der sogar die Klassenherrschaft der Reichen über die Armen gerade am allerschärfsten entwickelte, soll nun plötzlich das geeignete Instrument der Unterdrückten geworden sein. Man stimmt hartnäckiger als je. Was soll wohl dabei herauskommen? Nehmen wir einmal an, die Wahl-Enthusiasten hätten in den nächsten Jahren eine beträchtliche Anzahl von siegreichen Abstimmungen zu verzeichnen, was würde das bedeuten? Die sogenannten Führer der organisirten Arbeiter kämen einfach nach und nach zu fetten Aemtern und Würden; und die Qualität dieser Leute bürgt dafür, dass damit lediglich für sie etwas gewonnen wäre.
Wir hatten oft genug Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die meisten Arbeiterführer Amerika’s entweder Konfusionsräthe oder geradezu Schurken sind. Was soll man wohl von solchen Burschen erwarten? – Da in Amerika wohl an 100.000 Wahlposten existiren, so ist die Möglichkeit, dass die Arbeiter-Vertreter in irgend einem Repräsentativkörper die Mehrheit erlangen, von vornherein ausgeschlossen; und die Minoritäten haben zu ihrer Entschuldigung natürlich die bequeme Ausrede, dass sie nichts machen können. Exekutiv-Beamte vollends vermögen schon gleich gar nichts zu reformiren, weil sie ja unter der Legislatur stehen. Von einem positiven Resultate kann also für das Proletariat bei der ganzen Geschichte auf keinen Fall die Rede sein.
Auf der anderen Seite dürfte es leicht vorkommen, dass sich im einen oder im anderen Staate, in dieser oder jener Kommune, die beiden alten Parteien ziemlich gleich stark gegenüber stehen, und dass die Arbeitervertreter in Folge dessen die sogenannte Balanz in Händen haben. Wo dies der Fall ist, da steht der schmutzigsten Korruption nichts mehr im Wege. Nach etlichem Spreitzen und Demagogisiren werden sich die edlen Seelen mit Haut und Haaren schliesslich an die Meistbietenden verkaufen.
Gehen wir aber noch weiter! Nehmen wir an, es käme zu Arbeiter-Majoritäten in einzelnen Repräsentativ-Körpern und es sei jeder Erwählte des Proletariats ein strikter Karakter und ein verständiger Mensch. Wir brauchen nicht gleichzeitig zu denken, dass die Betreffenden bis zum Begreifen des modernen Sozialismus gelangt seien, und dass sie die Absicht hätten, der Etablirung desselben gesetzgeberisch energisch Vorschub zu leisten. Es genügt, wenn wir uns vorstellen, dass die zu politischer Macht gelangten Arbeitervertreter dieselbe zur Einführung von solchen Reformen benützen, wie sie innerhalb der jetzigen Gesellschaft immerhin denkbar wären.
Glaubt irgend Jemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, dass Kapitalisten mit stoischem Fatalismus diese Dinge über sich ergehen lassen würden, und dass dieselben vor jedem neuen Gesetze, wie sehr es auch ihren Interessen zuwider sein mag, respektvoll und gehorsam in den Staub sich beugen werden, wie das bisher das Volk zu thun gewohnt war, wenn ihm von den kapitalistischen Gesetzgebern irgend welche reaktionäre Gesetze um die Ohren geschlagen wurden? Niemand, der ernst genommen sein will, besitzt die Naivität eines solchen Aberglaubens. Jeder hält es für selbstverständlich, dass die Kapitalisten auf alle Arbeitergesetze pfeifen werden.
Soll damit einfach die Trommel ein Loch haben? Ist es denkbar, dass die Arbeiter ihre Schafsgeduld so weit treiben, allen ihren Stimmanstrengungen ungeachtet, sich dermassen verhöhnen zu lassen? Die Proletarier werden ob der kapitalistischen Unverschämtheiten fuchsteufelswild werden. Erst wird es verdammt laute Debatten und hernach allgemeine Keilereien setzen. Mit anderen Worten: Selbst die zahmste Gesetzgeberei, wenn gegen die kapitalistische Klasse gerichtet, muss mit Naturnothwendigkeit zur sozialen Revolution führen. Das, was man durch langwierige Zickzackbestrebungen vermeiden wollte, wird also trotz alledem mit unabweisbarer Wucht in Erscheinung treten; und Alles, was bei der langwierigen Stimmkästnerei herauskam, war nur eine Verschleppung der Sachlage und mithin eine Verlängerung der Leiden des Volkes.
Der von uns zuletzt angenommene Fall ist aber noch der denkbar günstigste. Leider wird derselbe indessen kaum zu Tage treten; denn eine Klasse, welche nicht blos alle materiellen Güter besitzt, sondern auch sämmtliche Bildungsanstalten, resp. Verdummungsinstitute (Kirche, Schule, Presse etc.) kontrollirt, und von welcher obendrein die Masse des Volkes ökonomisch vollständig abhängig ist, hat es geradezu in der Hand, den Stimmkasten in letzter Instanz zu „reguliren“. Alles, was bei der ganzen Wählerei herauskommen kann, ist da und dort ein Scheinerfolg. Man vertröstet sich dann immer auf „das nächste Mal“, bis man die Geschichte endlich satt bekommt und unter die Pessimisten geht. Das ist dann der „moralische Effekt“ des Stimm Unfugs.
Man mag es drehen und wenden wie man will, das Wählen bringt nur Nachtheile. Wie daher die Dinge in Amerika sich immer entwickeln mögen, auf uns haben die Stimmutopisten niemals zu rechnen. Den Volksstaat belachen wir, an’s Wählen glauben wir nicht und unser Prinzip ist uns heilig. In Amerika ist das allgemeine Stimmrecht kein Spielzeug, welches, wie in Europa, wo eine wohlgeordnete Bureaukratie antiparlamentarisch regiert, den grossen Kindern behufs unfruchtbarer Schwätzerei überlassen wurde, sondern seit hundert Jahren die feste Basis, auf welcher – nicht die vielgepriesene Volksherrschaft, sondern die Macht der Bourgeoisie ruht.
Hier hat sich im Laufe der Zeit eine Maschinerie um den Stimmkasten gruppiert, welche sicher in den Händen der besitzenden Klassen sich befindet, und die nicht gebrochen werden kann durch Errichtung einer ähnlichen, aber nur mit den winzigen Mitteln der Armen ausgestatteten Mechanik.
Presse, Kanzel, Katheder, Wirthshaus, Lodginghaus und Lumpenproletariats-Herberge – sie alle stehen unter den Hebeln und Kurbeln dieser Maschinerie. Sämmtliche Beamte und Solche, die es werden wollen, nebst ganzen Schwärmen politischer Loafers beherrschen die Wahlagitation vollständig und werden zum schwunghaften Betriebe derselben von Denen, zu deren Gunsten sie ihre Aemter missbrauchen oder Wühlerei treiben – von den kapitalistischen Korporationen und sonstigen Galgenvögeln -reichlich mit Geld dazu versehen. Der Einfluss, den diese ganzen Gimpelfang-Institution auf das Volk hinsichtlich der Stimmerei ausübt, ist so ungeheuer, dass es geradezu lächerlich erscheint, wenn man hört, dass derselbe mittelst proletarischer Rednerei gebrochen“ werden sollte.
Selbst wenn man daher nicht einmal auf unserem Standpunkt der völligen Negation aller Majoritäts-Michelei und Abstimmungs-Kastrationen steht und wenn man glaubt, dass die Menschheit zu ihrer Hebung nicht eines Systems, sondern nur eines Personal-Wechsels bedürfe, muss man unter solchen Umständen doch wenigstens begreifen, dass weder die eingebildeten praktischen, noch auch nur moralische Erfolge für die Arbeiter auf dem Wege der Wahlhuberei zu erzielen sind.
Das ist aber noch immer nicht Alles, was ganz besonders in Amerika die Theilnahme der nach vorwärts strebenden, organisirten Proletarier am Abstimmungs-Unfug verbietet. Hier kommt noch das demoralisirende Element in Betracht, welches in dem Mitmachen der Wahlzauberei für die Arbeiter gegeben ist.
Erstens wird in Amerika nicht bloss sehr oft, sondern auch schubweise gestimmt. Man wirft sogenannte Tickets – ganze Litaneien von Kandidaten-Namen in die Urne. Kleinere Parteien, die ausserhalb der grossen Drahtzieherei wirken, werden da, ob sie ursprünglich wollen oder nicht, zum Ausverkauf verlockt, welcher am geschicktesten auf dem Wege gemischter Tickets (Namen der eigenen und solche einer anderen Partei enthaltend) bewerkstelligt wird. Die verleiteten Arbeiter pflegen solche Tickets unverändert abzugeben – im Glauben, dass die Partei, mit welcher Kompromisse abgeschlossen wurden, auch so handeln werde –, die Auskäufer jedoch streichen die Namen der Arbeiter-Kandidaten aus und setzen ihre Leute auf die Listen. Den Machern der amerikanischen Arbeiterbewegung ist das wohl bekannt, aber gerade deshalb stossen sie erst recht in die Stimmtrompete. Der Ausverkauf fällt ja in ihre Taschen.
Kommt aber wirklich ein Arbeiterkandidat durch, so findet sich bald dessen Preis, wie bei allen früheren Gelegenheiten, wo die Arbeiter „ihre Leute“ (?) in Amerika zum Siege brachten, bewiesen wurde. Endlich ist es, wie gesagt, ein Unsinn, wenn Arbeiter Richter, Staatsanwälte, Henker und dergleichen Menschenschinder überhaupt wählen wollen.
Und gerade darauf, sagen die Betreiber der neuesten Wahlhumbugerei, müsse in erster Linie gesehen werden. Man weiss nicht, soll man die Dummheit Derer, denen solches zugemuthet wird, oder die Frechheit, welche solche Vorschlage geboren hat, mehr anstaunen. Richter, welche kleine Spitzbuben im Sinne der Arbeiterbewegung verknurren; Staatsanwälte, die Jahr aus, Jahr ein den Pauperismus durch Anklagen wider arme Teufel „arbeiterfreundlich“ zu kuriren suchen; Henker, welche ihre Stricke nach den Vorschriften der Trades Unions den Opfern brutaler unsinniger Gesetze um die Hälse schlingen – Mephisto schlägt Purzelbäume vor Vergnügen. Wäre das Alles aber nicht so traurig, wie wir sagen, so wäre dennoch an einer Verbesserung der Lage der arbeitenden Massen durch den Stimmkasten nie und nimmermehr zu denken.
Schon Tiberius und Gajus Gracchus mussten vor mehr als 2.000 Jahren erfahren, was es heisst, an die Wunder von Volksabstimmungen zu glauben. Als der römische Senat sah, dass die Wahlmaschinerie nicht mehr zu seinen Gunsten arbeite, setzte er den Stimmzetteln geschwungene Stuhlbeine und gezogene Schwerter gegenüber und korrigirte so die Resultate der Urne. Die amerikanischen Kapitalisten und deren Tross haben bisher nicht gezeigt, dass sie weniger rechthaberisch und gewaltthätig seien, als die Reichen im alten Rom. Andererseits lässt sich in Amerika bekanntlich das Volk alle Augenblicke ganz heillos verknüppeln, ohne dass darob ein rebellischerer Geist entstünde, als er bei den verkommenen römischen Proletariern angetroffen wurde, wie überhaupt das Amerika von heute mit dem Rom der letzten Epoche der Republik eine entsetzliche Aehnlichkeit hat.
Die heiligste Pflicht eines jeden Revolutionärs ist es mithin, das Volk von den Stimmkästen fern zu halten und ihm die Vorbereitung zum gewaltsamen Umsturz der jetzigen Schand-, Mord- und Raub- Wirthschaft anzurathen.
Hier noch ein anderes Bild! Bereits vor vier Jahren karakterisirten wir den deutschen Parlamentarismus, wie folgt: Von 42 Millionen Deutschen besitzen ungefähr 8 Millionen das sogenannte „allgemeine Stimmrecht“; hiervon machen etwa drei Millionen durchschnittlich keinen Gebrauch. Zwei Millionen Stimmen (rund gerechnet) entfallen auf die sitzenbleibenden Kandidaten; mithin gelangen in der Regel die Bevollmächtigten von zirka drei Millionen Einwohnern Deutschlands in den Reichstag; die übrigen 39 Millionen sind von vornherein ohne Vertretung.
Der Reichstag ist beschlussfähig, wenn die Hälfte seiner Mitglieder, also die Repräsentanz von anderthalb Millionen Deutschen, anwesend ist, und selten sind mehr „Volksvertreter“ beisammen. Bei der Abstimmung über ein Gesetz entscheidet wiederum die einfache Majorität, also – gut gerechnet – die Vertreterschaft von 800.000 Stimmen.41.200.000 Einwohner sind durchschnittlich bei dieser konstitutionellen Gesetzmacherei absolut einflusslos, und nur 800.000 haben – und zwar, wohl gemerkt! indirekt – ein wenig dareingeredet. Dareingeredet? Welche Illusion! Wer diese „glücklichen“ 800.000, d.h. die Wähler der reaktionärsten Abgeordneten nicht blos zählen, sondern auch wiegen und messen könnte, namentlich in der Schädelgegend, der würde verdammt überraschende Beweise für die Richtigkeit der Darwinschen Theorie betreffend Herkunft des Menschen geliefert bekommen.
Diese einfachen und doch so deutlichen Zahlen sollten eigentlich schon genügen, den Parlamentarismus in Deutschland (und anderwärts steht es ja geradeso) zu illustriren; und doch zeigen sie lediglich die innere Leere desselben; das Fratzenhafte seiner äusseren Erscheinung kann man nur durch persönliche Anschauung anekeln lernen.
Wenn man den Berichten der Blätter nachgehen könnte, müsste man zu der Meinung verleitet werden: es herrsche da ein gewisser feierlicher, würdiger Ernst in den „heiligen Hallen“ der Gesetzgeber; es würden da die verschiedenen Meinungen mit Enthusiasmus vorgetragen und sorgfältig erwogen, bis endlich die vermeintlich gediegenste und durchschlagendste Ansicht Gesetzeskraft erhält. Wer ein einzige Mal den deutschen Reichstag an der Arbeit gesehen hat, vor dessen Augen sind längst solche Phantastereien wie Schaum zerflossen.
Da liest einer behaglich seine Morgenzeitung; dort plaudern und lachen zwei oder drei Andere über lustige Privaterlebnisse; hier „fixt“ ein Zeitungsmensch einige Artikel; da laufen Andere gähnend umher; manchmal schläft auch Dieser oder Jener auf einem der im Hintergrunde stehenden Sophas seinen vornächtlichen Rausch aus; die Meisten aber treiben sich außerhalb des Sitzungssaales umher: in der Bibliothek, im Lese- oder Schreibzimmer, im Rauchsalon, ganz besonders aber in der Restauration, deren Pächter gewiss nicht lügen würde, wenn er den Herren Gesetzgebern das Zeugniss ausstellte, dass ihre Bäuche zehnmal mehr leistungsfähig seien, als ihre Gehirne, denn es wird da unglaublich viel zusammengeschlemmt.
Inzwischen reden die Sprecher zu den leeren Parlamentssesseln, zu den Gallerie-Neugierigen, denen es wohlweislich nicht gestattet ist, sie auszupfeifen, und zu den Journalisten, welche ihre Quaseleien – nachdem dieselben in einen druckfähigen Stil umgewandelt worden – der Welt als staatsmännische Weisheit zu serviren haben. Die Abstimmung naht heran; der Präsident lässt nach allen Richtungen hin den Haustelegraphen spielen; am allerlautesten schellt es in der Kneipe; die „Volksvertreter“ taumeln allmälig herein; die Macher stellen sich an die Spitze ihrer betr. Parteien; die Anderen richten sich nach diesen.
Jetzt ist der feierliche Moment da – Eins–Zwei–Drei – die Abstimmung ist gemacht – das Gesetz ist fertig. – Das klingt recht heiter; es ist aber eine blutigernste Sache, dass die Völker gewöhnlich Jahrzehnte dazu brauchen, um solchermassen zu Stande gekommene Gesetze wieder abzuschaffen. Das ist der Parlamentarismus.
Was da vom Thun und Lassen der Parlamentarier in Deutschland gesagt wurde, passt genau auf alle übrigen Parlamentarier. Wir beobachteten einmal die Legislatoren von Washington an der „Arbeit“. Sie trieben es ebenso wie ihre Berliner Ebenbilder.
Was aber sollen wir thun? So ruft man uns hämisch zu. Sollen wir vielleicht die Hände in den Schoss legen und mit aufgesperrtem Munde auf den Ausbruch der sozialen Revolution lauern? Wir haben die Menschen unaufhörlich aufzureizen und sie, während sie unter solchem Ansporn die bestehenden Verhältnisse immer entschiedener hassen lernen, dahin zu belehren, was zu thun ist. Nicht Wahlmichel, sondern bewusste, denkende Soldaten der sozialen Revolution haben wir zu erziehen.
Das ist ein mühsames, aufreibendes Beginnen, sogar mit allen erdenklichen Gefahren verknüpft; allein die Lösung der sozialen Frage ist eben überhaupt kein Kinderspiel. Darum bleibt es bei unserer Parole: Nieder mit dem Stimmkasten!
Zuletzt aktualisiert am 23.1.2005