Der Antisemitismus im Lichte der Soziologie

von Franz Oppenheimer

In: Der Morgen, Monatsschr. d. dt. Juden, Berlin 1925, S. 148-161.

[S. 148] Eine der besten Errungenschaften der modernen Soziologie ist die Erkenntnis, in wie ungeheurem Maße der Einzelne von der Lagerung seiner Gruppe abhängig ist: die Lehre vom sozialpsychologischen Determinismus. Jede besondere Gruppe hat zu jeder Zeit je ihr besonderes "Interesse"; sie steht unter dem Druck ihrer Umwelt; dieser Druck bringt sie zum Strömen "vom Ort des höheren sozialen und wirtschaftlichen Drucks zum Ort des geringeren sozialen und wirtschaftlichen Drucks auf der Linie des geringsten Widerstandes." Alles was diese Strömung fördert, erscheint den Gruppenmitgliedern kraft eines in der Regel unwiderstehlichen sozialpsychologischen Zwanges als gut, gerecht und vernünftig; und alles, was sich dieser Strömung entgegenstellt, als schlecht, ungerecht und unverständig.

Von dieser Bindung ist von Haus aus niemand frei, auch nicht der Gelehrte, und deshalb auch nicht der Soziologe. In dieser seiner "persönlichen Gleichung", wie Herbert Spencer es nannte, liegt die von diesem Denker bereits erkannte große Schwierigkeit jeder soziologischen Untersuchung auf den weiten Gebieten der Wissenschaften von Staat, Wirtschaft, Recht und Geschichte. Und da es für den Gelehrten als solchen überhaupt nur eine sittliche Pflicht gibt: die zur Wahrheit, so macht Spencer es jedem Geisteswissenschaftler (das ist mit Soziologe gleichbedeutend) zur sittlichen Pflicht, seine persönliche Gleichung gerade so festzustellen, wie jeder Astronom die seine kennen muß (nämlich die für alle Menschen verschiedene Zeit, die vergeht zwischen der Aufnahme eines sinnlichen Eindrucks und der willkürlichen Muskelbewegung, die diese Aufnahme registriert).

Aus diesen Erwägungen, die sich auch für die sachliche Untersuchung als praktische erweisen werden, die vor uns liegt, geht hervor, daß ein jüdischer [S. 149] Soziologe, der sich den Antisemitismus als Untersuchungsobjekt wählt, zu äußerster Behutsamkeit verpflichtet ist, um nicht durch seine persönliche Gleichung, durch die von ihm an und in die Untersuchung eingebrachten Vorurteile, zu Ergebnissen zu gelangen, die der Wahrheit fernliegen. Er kann dieser Gefahr nur dadurch entgehen, daß er das ihm vorliegende sozialpsychologische Phänomen als Sonderfall einer ganzen Gruppe von ähnlichen Phänomenen auffaßt, an denen er seelisch nicht beteiligt ist: nur die allgemeinen Züge wird er mit Vertrauen verwerten dürfen.

Der Antisemitismus stellt sich dar als ein Sonderfall einer überaus verbreiteten primitiven gruppenseelischen Tatsache: des Gruppenhasses; er ist eines der gemeinsten, d. h. unseltensten Exemplare der sozialpsychologischen Flora, sozusagen, eine Wald-, Feld- und Wiesenblume. Wir wissen aus der Psychologie der Tiergesellschaften, daß sie nicht nur jedes Stück einer nicht verwandten, sondern sogar jedes Stück der gleichen Art, das aber nicht zu ihrer besonderen Gruppe gehört, von sich stoßen, daß z.B. Ameisen fremde Ameisen und Bienen fremde Bienen, die in ihren Bau oder Stock geraten, töten. Wenigstens ist das die Regel: die Tatsache, daß sich gewisse Ameisenarten Blattläuse als eine Art von Milchvieh, und daß andere Ameisenarten sich Sklaven halten, wird davon nicht berührt. Auch die gesellig lebenden höheren Tiere nehmen Gruppenfremde der gleichen Art entweder gar nicht oder erst nach Kampf in ihren engeren Kreis auf. Und diesen Instinkt hat der Mensch, der ja von gesellig lebenden Anthropoiden abstammt, übernommen und bis auf den heutigen Tag bewahrt. So innig der Zusammenhalt der Mitglieder der gleichen Gruppe auf primitiven Menschheitsstadien ist, so kraftvoll gliedert sie sich gleichzeitig nach außen ab; ein Zustand der Gesellschaft, der nur langsam überwunden wird, zum Teil auf friedlichem Wege durch Handel und Exogamie, zum Teil auf kriegerischem Wege durch Unterwerfung, aus der dauernde engere Beziehungen der beiden Gruppen sich ergeben. Von allem Anfang gilt das, was Naumann in seinen Grundzügen der deutschen Volkskunde (S. 61) von dem "primitiven Genossenschaftsgeist" aussagt, den er heute noch namentlich in der Bauernschaft aller zivilisierten Länder in fast ungebrochener Alleinherrschaft vorfindet: "Er äußert sich in einer starken Überschätzung der eigenen engeren Gemeinschaft . . . infolge dessen auch der eigenen Persönlichkeit, solange sie sich in dem engeren Verbande fühlt. Die eigene Gemeinschaft und man selbst ist gut, die Anderen sind schlecht, minderwertig, jedenfalls bedenklich. Die Nächstenliebe erstreckt sich tatsächlich nur auf die Nächsten, gegen die [S. 150] anderen Gemeinschaften ergeht man sich in Spott, dichtet Neckreime und erfindet Spitznamen. Gegen Fremde herrscht Mißtrauen, gegen seinesgleichen ist man offen und frei." Hier liegt der Keim jener zwiefachen Moral, die Max Weber glücklich als "Binnen- und Außenmoral" unterschieden hat: ein Dualismus, in dem ich geradezu das bewegende Moment des gesamten soziologischen Rhythmus erblicke. Gegenüber den Genossen der eigenen Gruppe folgt daraus, daß man im Verkehr das von mir so genannte ökonomische Mittel verwendet, den Verkehr, heißt das, auf der Grundlage der gegenseitig anerkannten Gleichheit der Rechte, also der Gerechtigkeit im höchsten philosophischen Begriff, die sich politisch in der Zuerkennung gleicher Rechte, wirtschaftlich darin äußert, daß beim Tausch das Gesetz der Äquivalenz als geltend anerkannt wird. Dem Ungenossen gegenüber aber ist das "politische Mittel" sittlich gestattet, d. h. politisch die Ungleichheit des Rechts: Zulässigkeit der Versklavung, der Leibeigenschaft, der Klassenherrschaft, und wirtschaftlich die Inäquivalenz des Tauschs, d. h. das Monopol und die monopolistische Ausbeutung. Jedoch das sind Ausgestaltungen, die erst auf höheren Stufen möglich sind.

Dieser Fremdenhaß muß auf primitiven Stufen schon durch starke Kräfte überwunden werden. Dazu gehört die Neugier, die den fremden Händler gastlich aufnimmt, weil er unbekannte neue Dinge bringt und weiß; diese Gastlichkeit wird verstärkt durch die Furcht vor möglichen magischen Zauberkräften des Fremden, die man nicht gegen sich heraufbeschwören will: noch in der Bibel wird geraten, den Fremden gastlich aufzunehmen, weil man nicht wissen könne, ob er nicht ein Engel, d. h. ein Bote Gottes sei. (Das Motiv spielt noch im deutschen Märchen von Gott und Petrus eine Rolle, die arm und unbekannt durchs Land wandern, die der Reiche von seiner Tür weist, der Arme aber gastlich aufnimmt.)

Diese Dinge wirken auch auf höchster Stufe noch kaum geschwächt weiter. Wir haben es ja während des Weltkrieges erlebt, daß die Völker der Entente die Deutschen, als Hunnen oder Boches, als eine viel niedrigere Art von Wesen, als eine Art von Halb- oder Tiermenschen mit wahrem Abscheu gehaßt haben. Und so durchbricht bei jedem akuten oder chronischen Konflikt der primitive Gemeinschaftsgeist die überaus dünne Firnisschicht, die die Zivilisation über ihn gebreitet hat, nicht nur in den akuten Konflikten der großen Kriege, sondern auch in den chronischen Konflikten solcher Gruppen, die auf dem gleichen Territorium unter dem gleichen Gesetz leben, aber verschiedene Sprachen sprechen. So z.B. glauben in Böhmen Deutsche und Tschechen allen Ernstes voneinander, [S. 151] sie hätten einen spezifisch unangenehmen Negergeruch. Und doch handelt es sich um die allernächsten Verwandten: Kreuzungen von zwei durch nichts als die Sprache unterscheidbaren Unterklassen der Spielart homo europaeus septentrionalis, und die einzelnen Exemplare, die der Zufall des salischen Gesetzes der Vaterlinie in der Namenführung oder der Zufall der Wahl des Wohnsitzes in das eine oder andere Lager geführt hat, sind sehr häufig Vettern oder gar leibliche Brüder. Ähnlich ist es in Polen und überall in Ländern, wo zwei nahe verwandte aber sprachlich verschiedene Gruppen neben einander hausen.

Wie der Gegensatz der Sprache wirkt auch der der Religion entfremdend und haßerregend. Gerade so wie man in Preußen oft hören kann, "die Sachsen seien falsch", geradeso behaupten viele ungebildete Protestanten dies von den Katholiken und umgekehrt. Der gleiche religiöse Gegensatz spaltet die völlig rassengleichen Parsi und Moslem Indiens, wie jeder weiß, der seine "Tausend und eine Nacht" gelesen hat. Hier erscheinen die Parsi, übrigens wie alle in der Diaspora lebenden kleinen Gruppen, etwa den Quäkern ähnlich, Menschen von besonderer sittlicher Tüchtigkeit, immer als tückische Mörder. Fast der gleiche Haß herrscht zwischen den ebenfalls durchaus rassegleichen indischen Moslem und Hindu; er spaltet in unserer eigenen politischen Sphäre noch heute die evangelischen Masuren und die katholischen Polen, diese und die aufs nächste stammverwandten Ukrainer und Russen, und er bedroht im Augenblick als ein nicht zu überbrückender Gegensatz zwischen den katholischen Kroaten und den ihnen vollkommen stammesgleichen orthodoxen Serben die kaum errungene Einheit des serbo-kroatisch-slovenischen Königreichs.

Und wieder die gleiche Psychologie besteht zwischen den verschiedenen einander über- und untergeordneten sozia1en K1assen einer nach Abstammung, Sprache und Glauben vollkommen gleichartigen Gesellschaft. Hier bestehen Klassentheorien, die so alt sind wie der Staat, d. h. wie die Geschichte im eigentlichen Sinne, die ja kaum mehr als Staatengeschichte ist. Der Staat ist bekanntlich eine Schöpfung erobernder Gewalt: ein Stamm hat einen anderen unterworfen und sich als Adel über ihn gesetzt, um ihn zu beherrschen und wirtschaftlich auszubeuten. Diese Herrschaft fordert von dem Augenblick an, wo die verschiedene ethnische Abstammung vergessen ist, wo also Sieger und Besiegte eine nach außen hin abgegrenzte Art von Genossenschaft darstellen, eine Rechtfertigung der fortbestehenden Tatsache, daß man den nunmehr in den Kreis der Genossen Aufgenommenen nach wie vor nach dem Gesetzbuch des [S. 152] politischen Mittels behandelt, ihn entrechtet und wirtschaftlich exploitiert. Und diese Rechtfertigung vor dem eigenen Gewissen lautet bei allen Völkern aller Rassen in allen Zonen und allen Zeiten gleich: die Unterklasse ist frech, faul und tückisch, aufsässig und feig und gänzlich unfähig, sich selbst zu verwalten und zu regieren. Es ist immer die alte Fabel vom Wolf und dem Lamm: nur daß sie im Laufe der Zeit einen Schein von Berechtigung erlangt; denn in der Tat wird die unterworfene Klasse durch den Druck der Herrschaft allmählich selbst verschlechtert, leiblich und seelisch. Da in solchen Gesellschaften immer eine doppelte Moral herrschen muß, eine für die Oberen und eine für die Unteren, so gilt so recht keine von beiden; und außerdem wird die Unterklasse zu den Eigenschaften des Hasen, des Fuchses und der Schlange, die in die Ferse sticht, geradezu erzogen. "In einer unvollkommenen Gesellschaft kann man keine vollkommenen Menschen erwarten" sagt Spencer mit vollem Recht: nur in der vollen Freiheit und Selbstachtung kann der Mensch physisch und psychisch das Ebenbild Gottes werden. Das haben uns die stolzen Indianer Nordamerikas, namentlich die Irokesen der sieben Nationen bewiesen die in einer sonst nie verwirklichten Demokratie lebten, die auch den Frauen das volle Bürgerrecht eingeräumt hatte. Ihre vornehme Haltung hat auf die einwandernden Weißen einen solchen Eindruck gemacht, daß noch heute jeder Amerikaner der obersten Klasse seinen Stammbaum in der einen Linie auf einen ihrer Häuptlinge zurückzuführen sucht, (während sie ihn auf der anderen Seite selbstverständlich an einen der Pilgerväter von der Mayflower anzuknüpfen bestrebt sind). Aber der Verdacht auch nur eines Tropfens von Negerblut bedeutet die gesellschaftliche Ächtung.

Wenden wir diese allgemeinen Erfahrungen auf unser Sonderproblem an. Die Juden stehen zu den Völkern, unter denen sie leben, nicht bloß in einem dieser Gegensätze, von denen wir soeben gesprochen haben, sondern in allen dreien. Zuerst muß der religiöse Gegensatz genannt werden, weil er ihre soziale Stellung entscheidend beeinflußt hat. Es ist bekannt, daß die Juden im ausgehenden Römerreich nicht nur Handwerker und Kleinhändler waren, sondern auch in der Oberklasse als große Feudalherren eine Rolle spielten. Es fanden sich unter ihnen bedeutende sogenannte Possessoren. Als aber die religiöse Bindung in den jungen germanischen Reichen eine sehr große Rolle zu spielen begann, da waren die Juden ebenso wohl als Grundbesitzer wie als Handwerker unmöglich geworden. Die Konzile verboten ihnen die Haltung christlicher Sklaven und Arbeiter, so daß sie notgedrungen ihren [S. 153] Grundbesitz aufgeben mußten, wenn sie sich nicht taufen lassen wollten; und ebenso war ihnen das Handwerk von dem Augenblick an gesperrt, wo die Zunft sich entwickelte. Denn die Zunft ist weit mehr als nur gewerbliche Genossenschaft: sie ist auch Wehrkörper, und vor allem Kultgenossenschaft. Alle ihre Versammlungen standen unter religiöser Weihe, und niemand, der nicht an den heiligen Prozessionen, Kirchgängen usw. teilnehmen konnte, konnte Mitglied der Zunft werden.

Um diese Absonderung noch zu verstärken, kam hinzu das Wesen der Ghetti. Sie sind in ihrer Grundform, als Kolonien fremder Kaufleute, die unter eigenen Vorstehern und nach ihren eigenen Gesetzen leben, durchaus nicht etwa auf die Judenschaft beschränkt, sondern sie stellen ein überaus begehrtes Privilegium der Kaufmannschaften dar, durch das die Fürsten primitiver Staatswesen fremde Kaufleute zu sich herein zu locken bestrebt waren. Sie finden sich überall: die bekanntesten Fälle sind die Ansiedlungen deutscher Hanseaten im Stahlhof in London, in der Tyske Brügge in Bergen, im Fondaco dei Tedeschi in Venedig und an vielen anderen Stellen; wir finden sie aber ebenso als Conventus der römischen Bürger im ganzen Kreis der Mittelmeerkultur, der Chinesen und Malaien in der Inselwelt des pazifischen und stillen Ozeans und heute noch als Reservationen der europäischen Kaufleute in Hongkong und Schanghai. Ein solches Privileg waren ursprünglich auch die jüdischen Ghetti, und erst späte Umschwünge gestalteten daraus die traurigen Käfige, als die wir sie kennen. Aber das Kennzeichen der Fremdheit heftete die Isolierung den Juden doch auf. Sie sind eine freiwillig abgesonderte Gruppe, und diese Scheidung wird dann, wenn Verkehr stattfindet, durch die strengen Speisegesetze noch verstärkt Man kann mit ihnen kein geselliges Kommerzium haben, und ebenso verbietet sich jedes Konnubium mit ihnen; und das verbittert, weil der Widerstand hier von jüdischer Seite mindestens mit derselben Kraft geleistet wird wie von christlicher. Wir wissen aus anderen Kulturkreisen, wie verhetzend gerade dieses Verhalten wirkt: "Wir selbst und unsere Speise sind ihnen unrein".

Zu diesem religiösen kommt nun der nationale Gegensatz. Er kommt hier weniger durch die Sprache zum Bewußtsein, da wenigstens die männlichen Juden, die mit der Bevölkerung in Verkehr treten, überall die Landessprache sprechen: aber, namentlich in den Nordländern, fällt der vorwiegend brünette Typus des "homo mediterraneus" als Gegensatz auf. Ferner [S. 154] hört man auch die Juden in ihren Synagogen in fremder Sprache beten und sich gelegentlich unter sich hebräisch unterhalten.

Drittens und schließlich sind die Juden vom frühen Mittelalter an Mitglieder der beherrschten und ausgebeuteten Klasse und werden von der Oberklasse nach dem vorhin dargestellten Typus eingeschätzt. Man schreibt ihnen alle die schlechten Eigenschaften zu, die man der Unterklasse überhaupt zuschreibt. Aber das wird noch verschlimmert durch die eigentümliche Stellung der Juden im Leben dieser Gemeinschaft. Und diese wurzelt wieder in ihrer besonderen Volksgeschichte.

Die in die europäischen Völkerschaften eingesprengten Juden sind zum großen Teile Abkömmlinge der schon vor der Zerstörung Jerusalems über alle Welt zerstreuten Kaufleute jüdischen Stammes und der von ihnen gemachten, gar nicht seltenen, Proselyten, zu denen, wie einige annehmen, die plötzlich aus der Geschichte verschwindenden phoenizisch-karthagischen Kaufleute ein beträchtliches Kontingent geliefert haben. (Übrigens ist auch jene Erscheinung der Zerstreuung nicht etwa auf einen angeborenen "Handelsgeist" der Juden zurückzuführen, sondern findet sich als typische und aus dem Lebensgang der mittelländischen Seestaaten als absolute Notwendigkeit folgende Tatsache in ebenso großer Verbreitung bei Griechen und Römern.) Ein anderer Teil der in die germanisch-slawischen Staaten eingesprengten Juden, namentlich der spanisch-portugiesischen, stammt von den nach der Eroberung des Titus ausgetriebenen Adligen, Patriziern und wohlhabenden Stadtbürgern. Es ist sehr wenig wahrscheinlich, daß die Römer, entgegen ihrer sonstigen Praxis, auch die ganze Landbevölkerung ausgetrieben haben sollten; soweit sie nicht als Sklaven verkauft wurden, sind sie höchstwahrscheinlich auf ihrer Scholle verblieben. Nun werden die flüchtenden Herren ja alle eine Anzahl von Dienern, Klienten usw. mitgenommen haben: aber das Gros der europäischen Juden stammt sicherlich von der ehemaligen Herrengruppe ihres Landes ab. Und nun gibt es ein soziologisches Hauptgesetz, daß eine solche ehemalige Herrengruppe als Ganze niemals versklavt werden kann. Man bringt sie durch den höchsten Druck wohl zu äußerlichem zähneknirschendem Gehorsam, aber niemals zu innerlicher Fügung, zu jener ergebenen Demut des Untertanen, die von der Herrenklasse gefordert wird, und niemals zu eigentlicher Knechtsarbeit. Man kann sie also auch nicht kraft rechtens als Hörige oder Leibeigene ausbeuten, und das wird ihnen als "Halsstarrigkeit" besonders verdacht. Es steigert den Haß und den Druck.

[S. 155] Roscher in seiner Politik (2. Auflage S. 124) und Max Weber in seiner prachtvollen Wirtschaftsgeschichte (S. 305) bezeichnen die Juden als ein Pariavolk. Und das mag richtig sein für die äußere Gestaltung ihres Lebens, ist aber unrichtig im Entscheidenden, nämlich in den psychischen Einstellung der Betroffenen selbst. Die Juden haben sich selbst niemals als Pariavolk betrachtet. Im Gegenteil! Alle Völker betrachten sich als auserwählt, und bei den Juden ist diese Selbsteinschätzung noch ungeheuer verstärkt worden durch den Umstand, daß ihr eigenes Heiliges Buch, auf das sie den großen Anspruch begründeten, auch vom Abendlande als der eine Teil der göttlichen Offenbarung anerkannt war. Das hat in ihnen den Geist der Auflehnung gegen den auf sie ausgeübten Druck um so stärker gespannt, als sie allein unter den Europäern das alte Testament mit seinen tief revolutionären prophetischen Büchern als tägliche Geistesnahrung gebrauchten (den christlichen Laien war es bekanntlich versperrt).

Das wird verstärkt durch andere wichtige Momente. Weil sie in dem wesentlich religiös geformten Aufbau der Gesellschaft keinen Platz hatten, weder in der Landwirtschaft, noch im Gewerbe, noch in dem gleichfalls zünftig organisierten städtischen Handel, bleibt ihnen die Möglichkeit wirtschaftlicher Existenz nur in den Fugen dieses Aufbaus: im Fern- und Hausierhandel, im Wechsler- und Bankiergewerbe, in Pfandleihe und Wucher - und in denjenigen Zweigen der Gelehrsamkeit, in denen man damals eine Existenz erwerben konnte, als Ärzte, Astrologen usw. Alles das band sie notwendig an die Stadt. Nun ist, auch das ist ein durchgehendes soziologisches Gesetz, der Städter aus vielen Gründen immer viel mehr neuerungsbegierig als der Bauer, und der Händler ist es wieder mehr als der Handwerker, und der Fernkaufmann und Hausierer mehr als der festsitzende Höker oder Ladner, der an seiner Scholle haftet. Und so mußten die Juden in ihrer dreifachen Eigenschaft als Städter, Händler und zur Unterklasse herabgedrückte ehemalige Herrenklasse in dreifacher Weise gegen das Bestehende gestimmt sein.

Erstens wirtschaftlich: Sie müssen, um bestehen zu können, in das feste Gefüge des mittelalterlichen Wirtschaftsbaues, in dem jeden seine Stellung und seine "Nahrung" angewiesen sind, als Störer eindringen; sie müssen neue Methoden der Konkurrenz, der Erzeugung, des Handels erfinden. Sie sind, wo immer sie stehen, in Verhältnissen, in denen der Mensch sich heftig rühren muß, um nicht unterzugehen. Sie haben das, was die Soziologie als "Pionier-Psychologie" bezeichnet: die Psychologie der Einwanderer in ein [S. 156] fremdes Land mit unbekannten Verhältnissen. Das schwächt die Kraft des Traditionalismus, der alle Initiative lähmt, zerbricht die "Stetigkeit" und beflügelt alle Kräfte des "Kulturwandels". Der Jude stand ursprünglich dem Traditionalismus seiner Umgebung überhaupt fern. Er hatte seine eigene Tradition, seine eigenen Gruppen-Imperative und war daher immer dafür frei, sich neue Wege zu öffnen. Und daher fällt er, namentlich in sehr stabilen Verhältnissen, überall unangenehm auf. Solange ein junges Agrarvolk noch keinen eigenen Stand von Handwerkern und Kaufleuten entwickelt hat, ist der Jude willkommen und sogar unentbehrlich: man kennt das Judenstatut der Bischofsstadt Speier, in dem der Bischof sich rühmt, die Juden hereingezogen zu haben, um den Reichtum und das Ansehen der Stadt zu erhöhen. Wenn sich aber an ihrem Muster ein Stamm christlicher Händler und Handwerker herangebildet hat, wenn die Verhältnisse sich konsolidiert haben, und namentlich seit Beginn der Neuzeit, sobald der dritte Stand des aufkommenden Kapitalismus sich bildet, der von vornherein scharf nationalistisch eingestellt ist und sich mit dem absoluten Nationalstaat verbündet: dann ergibt sich die Konkurrenz der Christen gegen die Fremden und kleidet sich nach dem einleitend dargestellten Hauptgesetz aller Sozialpsychologie gutgläubig in das Gewand des Religions- und später des Rassenhasses. Max Weber (S. 193) schreibt klipp und klar: "Dieser Kampf gegen Juden und andere Fremdvölker, Kaverschen (Kaufleute aus Cahors), Lombarden und Syrer ist ein Symptom für die Entstehung eines nationalen Händlertums". Es ist ein Teil des Kampfes um das Monopol des städtischen Marktes, der sich auf der anderen Seite gegen die auf dem Lande lebenden Kaufleute richtet. (Es ist überhaupt heute vollkommen anerkannt, daß aller Nationalismus in seinem modernen aggressiven Sinne, wohl zu unterscheiden von dem guten Nationalbewußtsein, eine Erscheinung der bürgerlich-kapitalistischen Psychologie ist.) Dann, wenn sie ihres Reichtums und der einst so glänzenden Stellung beraubt sind, wie namentlich in Polen und Rußland, dann müssen die Verarmten erst recht wieder die Pionierpsychologie entfalten, müssen als wirtschaftliche Revolutionäre in alle Spalten des Baues einzudringen, mit neuen Methoden sich durchzusetzen imstande sein. Und wenn ihnen eine Machiavellistische Fürstenpraxis keinen anderen Weg läßt als den des Wuchers, so müssen sie die Instrumente dieser "Schwamm-Politik" werden, wie Max Weber (S. 237) es nennt: "der Ausbeutung der Bevölkerung durch den Judenzins mit in unregelmäßigen Zeitabständen erfolgender Konfiskation des Gewinns und der Außenstände unter gleichzeitiger Ausweisung der jüdischen Gläubiger". Auf diese [S. 157] Weise sind die Juden von Stadt zu Stadt, von Land zu Land gehetzt worden. Es wurden förmliche Kartelle zu ihrer Beraubung zwischen den Fürsten abgeschlossen, etwa zwischen dem Bischof von Bamberg und dem hohenzollernschen Burggrafen von Nürnberg, dahingehend, daß sie sich in die Beute teilen würden, wenn die Juden aus dem Gebiet des einen in das des anderen fliehen würden. Im übrigen war es, wie Max Weber gleichfalls (S. 234) festgestellt, nicht eine Eigentümlichkeit der Juden, daß sie Zins nahmen: "Zins ist in der ganzen Welt genommen worden, z. B. auch von mittelalterlichen Klöstern", sondern das für die abendländischen Völker Auffallende und Anstößige war, "daß die Juden zwar von Christen Zins nahmen, aber nicht untereinander". Wieder ein Fall des Gegensatzes von Binnen- und Außenmoral.

Daß unter den Bedingungen so ungeheuerlicher Unsicherheit der Darlehnszins hoch sein mußte, durchschnittlich noch höher, als er auch sonst in jener kreditwirtschaftlich unentfalteten Zeit war, ist selbstverständlich und kann nur von Böswilligen oder Dummköpfen den Darleihern als besonderer sittlicher Makel angerechnet werden.

Und geradeso zwang die Juden ihre Lagerung, ihre "Konstellation" dazu, politisch revolutionär zu sein - wobei das Wort revolutionär im allerweitesten Sinne verstanden werden soll als die Tendenz gegen die bestehende Verfassung zu reagieren. Sie gehören nach der Verfassungs- oder doch der Verwaltungspraxis der Unterklasse an: aber ihr aus dem Handel stammender Reichtum spornt sie ebenso wie ihr altes Herrenblut, die Gleichberechtigung zu erzwingen. Sie sind das, was ich vorgeschlagen habe, als eine "Übergangsklasse" zu bezeichnen; das ist eine Schicht, die von unten her mehr empfängt, als sie leistet, und nach oben hin mehr leistet, als sie empfängt. Solche Übergangsklassen haben sich nun überall in der Welt an die Spitze des armen Teils der Unterklasse gesetzt, um eine beiden Teilen ungünstige Verfassung zu stürzen, oder wenigstens günstig zu verändern; das berühmteste Beispiel sind die reichen römischen Plebejer gewesen. Derart ist es wieder kraft eines soziologischen Gesetzes, daß die Juden überall mit in der Vorkämpfergruppe gegen den feudal-absolutistischen Staat standen und stehen. Nun sind den Agrar-Adligen die Kaufleute der Städte ohnehin verhaßt. Hier waltet der uralte Gegensatz der beiden Schichten, die bei der Entstehung des Staates den Hammer und den Amboß darstellten. Der Mann der Gewalt und des Schwerts haßt und verachtet den Mann der Arbeit und des Tauschs, der Vertreter des politischen den des ökonomischen Mittels. Dieser Haß richtet sich mit besonderer Schärfe [S. 158] gegen den jüdischen Städter, den jüdischen Kaufmann: denn dem christlichen Plutokraten kann man sich verschwägern und ihn dadurch seiner eigenen Klasse entfremden, politisch und sozial zu sich selbst herüberziehen, aber mit dem Andersgläubigen gibt es kein Konnubium und daher keine soziale Verschmelzung.

Dieser Haß gegen die Juden ist also vielfach verwurzelt. Es wird uns nicht mehr wundern, daß unser Feudaladel und die ihm seelisch verwandten, d. h. die von seiner Ideologie beeinflußten Volkskreise heute fast ihre ganze, und namentlich ihre Wahlpolitik auf den Antisemitismus abstellen: um so weniger wenn wir erwägen, daß, wieder nach einem Grundgesetz der Sozialpsychologie, jede Klasse, die in ihrer Politik Schiffbruch erlitten hat, zwangsläufig nach einem Sündenbock Umschau hält, auf den sie die Verantwortung abwälzt. Aber mit diesen Erwägungen dürfen wir uns nicht begnügen. Wir dürfen, wenn wir nicht unserer persönlichen Gleichung zum Opfer fallen sollen, nicht nur diejenigen Ergebnisse der Soziologie anziehen, die uns günstig sind, sondern auch diejenigen, die uns ungünstig sind:

Jede schwer unterdrückte Schicht leidet unter dem Druck, leiblich und seelisch; sie wird verbogen und verzerrt Die Ethnographie spricht von "Kümmerrasse" bei denjenigen Volksstämmen, die durch stärkere Feinde in die nahrungsarmen "Randgebiete" der Erde: Steppen, Wüsten, Polarkappen, unfruchtbare Hochplateaus gedrängt sind. Der Ausdruck ist wesentlich leiblich, somatisch gemeint, aber er muß auch psychisch verstanden werden. Eine dauernd unter hartem Druck stehende Menschenschicht muß in sich, um existieren zu können, die Eigenschaften des Hasen, des Fuchses und der Schlange, die in die Ferse sticht, notwendig entwickeln. Und das sind Eigenschaften, die auch uns selbst als weniger erfreulich erscheinen als die des Löwen oder auch nur des täppischen Bären.

Daß in dem Gesamtjudentum diese Eigenschaften in nicht unerheblichem Maße vorhanden sind, können und wollen wir nicht leugnen, ebensowenig, daß die vorwiegende Beschäftigung der Juden im Handel dazu beiträgt, gerade diese Eigenschaften noch zu verstärken. Wir dürfen und sollen den Standpunkt mit aller Kraft vertreten, daß diese relative Häufigkeit gewisser unerfreulicher Eigenschaften die Folge ist einerseits des grauenhaften Drucks, dem namentlich die Juden des europäischen Ostens seit Jahrhunderten unterworfen sind, andererseits der Einpferchung der Juden gerade in diejenigen Berufsarten, in denen jene Untugenden überhaupt die Bedingung zu üppigstem Wachstum finden: der Kapitalist, namentlich der kleinere Kapitalist im Aufstiege zur Großmacht, ist [S. 159] überall in der Welt, in Nordamerika und Japan nicht minder wie in Rußland und Westeuropa, der unerfreulichste Typ einer Herrenschicht, den die Geschichte bisher hervorgebracht hat. Wir dürfen aus diesem Grunde mit aller Kraft die Beschimpfung zurückweisen, daß diese Qualitäten mit unserer "Rasse" in notwendigem ursächlichen Zusammenhang stehen: eine Behauptung, die schon durch das Vorhandensein eines einzigen Juden von vorbildlichem Charakter widerlegt wird; wir dürfen daher mit aller Sicherheit behaupten, daß unsere Gemeinschaft unter günstigeren Verhältnissen in wesentlich größerem Maße die liebenswerteren Eigenschaften des Menschengeschlechts entfalten wird. Ja, wir dürfen uns vielleicht rühmen, daß wir uns unter diesem Druck von 2000 Jahren über alles Erwarten hinaus gehalten haben: aber wir dürfen uns keinesfalls auf den Standpunkt stellen, daß dieser Druck auf den durchschnittlichen Charakter der Gruppe ohne jeden Einfluß geblieben ist. Dann wären wir ein Volk von Göttern und nicht von Menschen.

Diese Dinge sind in den letzten Jahrzehnten noch arg verschlimmert worden durch die "Zerpulverung" der Völker in Individuen, wie Troeltsch einmal sagte. Sie hat alle Völker der europäisch-amerikanischen Zivilisation schwer betroffen und psychologisch völlig umgewandelt, aber keine Gruppe schwerer betroffen und stärker umgewandelt als die Judenschaft. Die Kraft, die die Judenschaft durch den Druck der Jahrtausende aufrecht und in so erstaunlichem Maße gesund erhalten hat, war ihre Religion. Nur in der Einordnung in eine gewachsene Gruppe kann der Mensch gedeihen; ihre Normen und Imperative sind für den einzelnen das Gerüst seiner Lebenshaltung, vor allem seiner Moral. Aus diesen Bindungen gelöst, verliert das Individuum Kompaß und Steuer und treibt hilflos im Ozean. So lange der Jude in seinem Ghetto lebte, war sein äußeres und inneres Leben streng geregelt, war seine Seele vor wirklich schweren Verirrungen bewahrt; als er ihm entrann, verlor er den Zusammenhalt mit seiner sozialen Gruppe und entbehrt seitdem ihrer Aufsicht und ihres wohltätigen Zwanges. So lange er dann in der Diaspora noch den vielfältigen religiösen Imperativen gehorsamte, von denen ja außerordentlich viele ethische Gebote sind, hatte er in der Regel noch halt genug. Als aber auch diese innere Bindung schwand, und in dem Maße wie sie schwand, war er fast völlig steuerlos, viel mehr als selbst der irreligiös gewordene Christ, der ja immer noch eine gewisse Einordnung in soziale Gruppen besaß, Gruppen, die dem Juden aber nur selten volle Aufnahme gewährten. So ist der Jude heute vielfach der Exponent der ungeheuren und verderblichen Atomisierung unserer [S. 160] Zeit, sind die von ihm gebildeten Gruppen die pulverisiertesten von allen; sie sind kaum noch als "natürliche", sondern fast nur noch als "statistische" Gruppen zu betrachten.

Und darum muß sich an ihnen, auch das ist eine soziologische Notwendigkeit, die Folge der Atomisierung in allen kulturellen Dingen mit äußerster Klarheit herausbilden.

Ein großer Teil der Juden, namentlich die durch den Krieg im Tiefsten erschütterte und an der heutigen "Ordnung" völlig irre gewordene Jugend versucht den Rückweg zu besseren Gestaltungen zu finden. Das kann dem Einzelnen bei gutem festen Willen immer glücken: wie weit es der Gesamtheit glücken kann, hängt aber nicht von ihr ab, sondern von der Entwicklung der sozialen Verhältnisse in Europa überhaupt. Wenn die ganzen Völker am Gift des Kapitalismus dahinsiechen, kann sich eine einzelne Gruppe, ein Organ des großen Körpers, dem Siechtum unmöglich entziehen.

Es waren ernste Worte, die wir an die eigenen Gruppengenossen zu richten hatten, wir fordern das Recht für uns, uns mit ebenso ernsten Worten an die größere Gruppe zu wenden, der wir angehören, an das deutsche Volk. Wir sind der Anschauung, daß der Antisemitismus als Massenbewegung eines der schwersten Krankheitssymptome dieser Zeit ist, ja mehr, daß er eine, vielleicht die Einfallspforte gewesen ist, durch die die tödlichsten Krankheitserreger in den noch vor einem halben Jahrhundert kerngesunden Körper des deutschen Volkes eindringen konnten. Das möchten wir noch an den zwei wichtigsten Erscheinungen der allerletzten Zeit darzustellen versuchen.

Daß wir den gewaltigen Krieg so furchtbar verloren haben, vielleicht daß wir ihn überhaupt verloren haben, ist die Schuld der Etappe. Der böse Geist aber der Überhebung, der hier waltete, ist sicherlich im deutschen Heer zuerst gezüchtet worden im Verhältnis des Unteroffizierkorps und der Militärbeamten zu den jüdischen Wehrmännern, namentlich zu den Einjährig-Freiwilligen. Hier zuerst hat der einst so pflichttreue preußische Beamte gelernt, daß Gesetze nicht unbedingt gelten, daß ihre Übertretung nicht nur straflos, sondern unter Umständen sogar preiswürdig ist. Denn das ist der Fluch der bösen Tat, daß arger Aktion eine noch bösere Reaktion entsprechen muß.

Und nun die Nachkriegszeit! Nur der Antisemitismus, von den eigentlichen Urhebern und Verlierern des Krieges mit geradezu teuflischer Verschlagenheit immer tiefer in die Volksseele eingebrannt, hindert unser Volk, die [S. 161] wahren Ursachen seines Unglücks zu erkennen und den Weg zu ihrer Abstellung in ernster Selbstbesinnung zu suchen und zu betreten. Diese Art der Demagogie, die alles Trübe, das eine Gemeinschaft befällt, auf einen immer vorhandenen Sündenbock abwälzt, ist das tödliche Gift, an dem jedes Gemeinwesen zugrunde gehen muß.

Wir sagen das im tiefsten Ernst, weil wir kaum noch den Mut haben, an eine Änderung und Besserung zu glauben. Nur eine Reform des gesamten Aufbaus unseres Volkes an Haupt und Gliedern, nur die Ausrottung des volksverderbenden Kapitalismus kann mit allen den anderen großen Fragen auch diese Teilfrage zur Lösung bringen. Aber, ob in diesem zerklüfteten und zerspaltenen, von Massenhaß, Klassenhaß und Rassenhaß verseuchten Europa die ungeheuren sittlichen Kräfte noch vorhanden sind, deren es bedürfte, um den in seinen Grundfesten schon wankenden Bau vor dem Zusammensturz zu bewahren: das ist die schwerste und größte von allen Fragen, auf die nur die Zukunft Antwort geben kann.


 

Zur "Franz Oppenheimer Homepage"