Der Staat
von Franz Oppenheimer

Seitenzählung nach dem Neudruck der 3. überarbeiteten Auflage von 1929
Libertad Verlag, Berlin 1990

Vorwort des Autors

Einleitung

a) Die Staatstheorien
b) Die soziologische Staatsidee
7

11
11
14

Vorwort und
Einleitung

I. Die Entstehung des Staates
a) Politisches und ökonomisches Mittel
b) Staatenlose Völker: Jäger und Hackbauern
c) Vorstaatliche Völker: Hirten und Wikinge
d) Die Entstehung des Staates
18
19
21
23
32

1. Teil

II. Der primitive Eroberungsstaat
a) Die Form der Herrschaft
b) Die Integration
c) Die Differenzierung: Gruppentheorien und Gruppenpsychologie
d) Der primitive Eroberungsstaat höherer Stufe
46
46
48
50
56
2. Teil
III. Der Seestaat
a) Der vorstaatliche Handel
b) Der Handel und der primitive Staat
c) Die Entstehung des Seestaates
d) Wesen und Ausgang des Seestaates
64
64
71
74
81
3. Teil
IV. Die Entfaltung des Feudalstaates
a) Die Entstehung des Großgrundeigentums
b) Die Zentralgewalt im primitiven Eroberungsstaat
c) Die politische und soziale Zersetzung des primitiven Eroberungsstaates
d) Die ethnische Verschmelzung
89
89
92
96
106
4. Teil
V. Die Entfaltung des Verfassungsstaates
a) Die Emanzipation der Bauernschaft
b) Die Entstehung der Gewerbestadt
c) Die Einflüsse der Geldwirtschaft
d) Der moderne Verfassungsstaat

IV. Die Tendenzen der staatlichen Entwicklung
113
114
115
118
124

131
5. Teil

Vorwort

[S. 7] Dieses Büchlein erschien zuerst 1909 als erweiterte Fassung eines vorher in der »Neuen Rundschau« veröffentlichten Aufsatzes. Es hat seinen Weg ganz ordentlich gemacht, und nicht nur in Deutschland. Es ist in autorisierten Übersetzungen in englischer, französischer und serbischer Sprache erschienen; die in Amerika gedruckte englische Ausgabe von 1914 hat 1922 sogar ihre zweite Auflage erlebt. Ohne meine Autorisation ist das Buch ungarisch und meines Wissens ganz oder zum Teil auch japanisch, russisch, hebräisch und yiddisch erschienen. Nur der ungarische Verleger hat sich wenigstens dazu herbeigelassen, mir ein Belegexemplar zuzusenden.

Mit Ausnahme einer kleinen aber grundsätzlich bedeutsamen Änderung, in der meine völlig gewandelte Einstellung zu der sogenannten ökonomischen Geschichtsauffassung zum Ausdruck kam, ist auch die letzte deutsche Ausgabe von 1923 fast völlig unverändert geblieben. Ich habe auch später noch keine Veranlassung gefunden, an dem alten Text irgend etwas zu ändern, als ich ihn, zum großen Teile wörtlich, in mein »System der Soziologie«, vor allem in dessen zweiten Teil, den 1926 erschienenen »Staat«, hineinarbeitete. Meine Grundauffassung ist nicht nur unerschüttert, sondern hat anläßlich der letzten Tagung der deutschen soziologischen Gesellschaft im September dieses Jahres in Zürich durch die führenden Ethnologen Deutschlands eine fast völlig uneingeschränkte Bestätigung erfahren: mir ein neuer Beweis für die Leistungsfähigkeit der deduktiven Methode. Denn mein ethnologisches Gepäck war zu der Zeit, als ich 1898, in meinem Buche »Großgrundeigentum und soziale Frage«, den Grundgedanken zuerst aussprach, außerordentlich leicht; ich hatte, soviel ich mich erinnern kann, außer Julius Lippert's »Kulturgeschichte der Menschheit« überhaupt nichts von Ethnographie und Ethnologie kennen gelernt. Nicht einmal die Schriften von Ludwig Gumplowicz, dem ich mich später mit Entschiedenheit anschloß, waren mir damals bekannt, was mir der Altmeister, als ich mich ihm später näherte, einigermaßen verübelt hat. Ich war eben ein vollkommener Autodidakt auf dem ganzen großen Gebiete meiner späteren Arbeit!

[S. 8] Da, wie soeben gesagt, der größte Teil dieses kleinen in den großen »Staat« eingegangen ist, stellte sich mir jetzt, als die letzte Ausgabe zu Ende ging, sehr ernsthaft die Frage, ob ich das Buch überhaupt noch einmal in der alten Gestalt herausbringen sollte. Ich habe mich dazu entschlossen aus mehreren Gründen: weil die große Fassung in ihrem Umfang von 860 Seiten für das große Lesepublikum ein zu schweres Kaliber, und weil sie wenigstens für viele deutsche Leser von heute leider zu teuer ist. Ferner weil einzelne Teile des kleinen »Staat« nicht in den zweiten, sondern in den ersten Teil meines Systems, in die allgemeine Soziologie, eingegangen sind. Und schließlich aus demselben Grunde, aus dem ich auch fast alle meine älteren Arbeiten (mit einziger Ausnahme des als Lehrbuch verbreiteten dritten Teils des Systems der Soziologie: der »Theorie der reinen und politischen Ökonomie«, und des in seiner dritten Auflage völlig neu bearbeiteten Büchleins »Wert und Kapitalprofit«) in völlig unverändertem Text immer wieder habe erscheinen lassen: weil solche Leser, die sich an diese älteren und zum Teil durch meine späteren Arbeiten überholten Werke wenden, in der Regel den Originaltext besitzen wollen, um die Entwicklungslinie des Verfassers verfolgen zu können.

So erscheint denn auch jetzt wieder der alte Text fast völlig unverändert. Nur der erste Absatz des einleitenden Kapitels über die Staatstheorien ist im Anschluß an die große Ausgabe neu gestaltet worden.

Dem Leser, der den Wunsch hat, tiefer in den gewaltigen Gegenstand einzudringen, wird nichts anderes übrig bleiben, als sich in den großen »Staat« zu vertiefen. Er findet hier eine geistesgeschichtliche Darstellung der Theorien vom Staate vom griechischen Altertum an bis auf die neueste Zeit im Umfang von einem Vierteltausend Seiten; er findet ferner eine ausführliche Darstellung des Verlaufs der ungeheuren Volkskrankheit, die die Stadtstaaten der Antike verheerte, findet die genauere Darstellung der Staatsformen, die auf den entfalteten Feudalstaat folgen: Lehensstaat, Ständestaat, absoluter und moderner Verfassungsstaat; und findet schließlich eine viel weiter ins einzelne ausgeführte Schilderung der künftigen »klassenlosen Gesellschaft«, auf die, wenn ich recht sehe, die Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung hindrängt: alles Dinge, die in dieser Skizze gerade eben nur angedeutet werden konnten.

[S. 9] So mag denn das kleine Buch noch einmal hinausgehen und versuchen, ob es sich und seinem Verfasser neue Freunde zu den vielen alten erwerben kann.

Frankfurt am Main, den 1. November 1928.

Franz Oppenheimer.


Einleitung

a) Die Staatstheorien

[S. 11] Diese Abhandlung spricht lediglich von dem geschichtlichen Staat. Nicht von den Tierstaaten, die der Zoologie und Tierpsychologie zufallen, und ebensowenig von den sogenannten »Staaten« der prähistorischen Zeit, von denen Vorgeschichte und Ethnologie zu handeln haben. Von dieser »Stammesorganisation« sagt Wilhelm Wundt: »Sie ist nicht im Geringsten eine unvollkommene, noch unausgebildete Staatsordnung, sondern ganz etwas anderes«[1]. Diese Abhandlung spricht ferner nicht von »den« Staaten: die sind der Gegenstand der Historik, sondern von »dem« Staate: sie will ihn als allgemeine gesellschaftliche Erscheinung in seiner Entstehung und seiner Entfaltung bis zum neuzeitlichen Verfassungsstaat verfolgen; und will versuchen, darüber hinaus eine begründete Voraussage seiner künftigen Entwicklung zu gewinnen. Das heißt: sie betrachtet den Staat vom Standpunkt des Soziologen. Nicht von dem des Philosophen: denn der interessiert sich nur für den Staat, wie er sein soll. Aber der Staat, wie er war und ist, der geschichtliche Staat, sagt z. B. Fichte, »geht den Erleuchteten gar nichts an«. Auch nicht vom Standpunkt des Juristen: denn ihn interessiert nur die äußere Form, während der Soziologe den Inhalt, das Leben der Staatsgesellschaft verstehen will.

Aus diesem Grunde scheiden alle Staatsrechtslehren aus unserer Betrachtung von vornherein aus. Aber nicht minder zeigt eine schnelle Übersicht der eigentlichen Staatstheorien, daß wir von ihnen über Entstehung, Wesen und Zweck des Staates keine Aufklärung erwarten dürfen. Sie stellen alle Schattierungen dar zwischen den äußersten denkbaren Extremen. Wenn Rousseau den Staat aus einem Gesellschaftsvertrage, Carey aber aus einer Räuberbande entstehen läßt; wenn Platon und die Marxisten dem Staate die Omnipotenz zuschreiben, ihn zum absoluten Herrn des Bürgers in allen politischen und wirtschaftlichen, Platon sogar in den geschlechtlichen Beziehungen erheben will, während der Liberalismus ihn zur Impotenz des [S. 12] »Nachtwächterstaates« verdammt, und der Anarchismus ihn gar gänzlich ausrotten will - dann ist ein Versuch, auf der mittleren Linie zwischen solchen sich ausschließenden Lehren zu einer zureichenden Auffassung des Staates zu gelangen, aussichtslos.

Dieser unversöhnliche Zwiespalt der Theorien vom Staate erklärt sich daraus, daß keine von ihnen vom soziologischen Gesichtspunkte aus entstanden ist. Der Staat ist ein universalgeschichtliches Objekt und kann nur durch breit spannende universalgeschichtliche Betrachtung in seinem Wesen erkannt werden. Wir müssen fragen, welche Eigenschaften zu dem Begriff des Staates als solchem wesentlich gehören, und können die Antwort auf diese Frage nur finden, wenn wir womöglich alle Staaten der Vergangenheit und Gegenwart daraufhin betrachten, welche Eigenschaften sie sämtlich besitzen. Da es große und kleine, straff zentralisierte und locker koordinierte, monarchische, aristokratische, plutokratische und demokratische Staaten gibt; da ihre Einwohner allen Rassen und Farben angehören, nieder und hoch zivilisiert sind, vorwiegend von Agrikultur oder von Gewerben oder vom Handel leben: so ist es klar, daß das Wesen des Staates weder in seiner Ausdehnung, noch in dem Grade seiner Zwangsmacht über sein Gebiet und seine Bewohner, noch in seiner Verfassung, noch in seiner Kulturstufe und Technik beruhen kann.

Ältere staatsphilosophische Systeme haben den Versuch einer solchen umfassenden Abstraktion gemacht und sind zu dem noch heute vielfach gelehrten Ergebnis gelangt, daß das Wesen des Staates das einer Schutzanstalt sei: der Grenzschutz nach außen, der Rechtsschutz nach innen sei seine ratio fiendi et essendi. So sagt Grotius: »Der Staat ist eine vollkommene Verbindung freier Menschen, welche sich des Rechtsschutzes und des Nutzens wegen zusammengetan haben.«

Und in der Tat hat die Anschauung einen richtigen Kern: aber sie ist nicht vollständig. Sie hat einen wichtigen, allen Staaten gemeinsamen Charakterzug übersehen: jeder Staat der Vergangenheit und Geschichte, dem dieser Name unbestritten zukommt, jeder Staat vor allem, der in seiner Entwicklung zu höheren Stufen der Macht, der Größe und des Reichtums weltgeschichtlich bedeutsam geworden ist, war oder ist ein Klassenstaat, d. h. eine Hierarchie von einander über- und untergeordneten Schichten oder Klassen mit verschiedenem Recht und verschiedenem Einkommen.

Unsere Erörterung wird zeigen, daß dieser Zug der wichtigste, [S. 13] der entscheidende, der primäre Charakter des Staates ist, aus dem allein seine Entstehung und sein Wesen erkannt werden kann; sie wird es nämlich klar machen, daß die Schutzfunktion des Staates nach innen und außen verstanden werden muß als sekundäre, von der Oberklasse im Interesse ihrer Herrschafts- und Einkunftsrechte übernommene Pflicht. Der Staat entsteht nicht im Interesse der Schutzfunktion, sondern es entsteht umgekehrt die Schutzfunktion im Interesse des schon bestehenden Staates.

Damit haben wir bereits die Erklärung für die auffällige Tatsache erhalten, daß die bisherigen Staatstheorien so sehr von einander verschieden sind. Sie sind sämtlich Klassentheorien! Eine solche aber ist nicht Ergebnis des forschenden Verstandes, sondern des begehrenden Willens; sie braucht Argumente nicht zur Ergründung der Wahrheit, sondern als Waffen im Kampfe um materielle Interessen; sie ist nicht Wissenschaft, sondern Mimicry der Wissenschaft. Und darum können wir wohl aus dem Verständnis des Staates das Wesen der Staatstheorien, aber nimmermehr aus dem Verständnis der Staatstheorien das Wesen des Staates erkennen.

Stellen wir also zunächst in einer kurzen Übersicht der Klassentheorien vom Staat fest, was der Staat alles nicht ist:

Der Staat ist nicht aus dem »Bedürfnis des Zusammenschlusses« entstanden, wie Platon meint; er ist kein »Gebilde der Natur«, wie ihm Aristoteles erwidert; und hat in specie nicht, wie Ancillon erklärt, »denselben Ursprung, den die Sprachen haben«. Es ist durchaus unrichtig wenn er annimmt, daß, »wie die Sprachen aus dem Bedürfnis und aus der Fähigkeit des Menschen, seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen, sich von selbst erzeugt und gebildet haben, so auch sich die Staaten aus dem Bedürfnis und aus dem Trieb der Geselligkeit entwickelt haben«; der Staat ist auch nicht »un droit gouvernement de plusieurs ménages et de ce qui leur est commun avec puissance souveraine« (Bodin); der Staat ist auch nicht entstanden, um dem »bellum omnium contra omnes« ein Ende zu machen, wie Hobbes und nach ihm viele andere meinten; der Staat ist ebensowenig das Ergebnis eines »contrat social«, wie schon lange vor Rousseau Grotius, Spinoza und Locke glauben machen wollten; der Staat ist vielleicht »das Mittel für den höheren Zweck der ewig gleichmäßig fortgehenden Ausbildung des rein Menschlichen in einer Nation«, wie Fichte behauptete; aber sicherlich hat der Staat nicht [S. 14] diesen Zweck; ist nicht zu diesem Zweck entstanden und wird nicht zu diesem Zweck erhalten; der Staat ist auch nicht »das Absolute«, wie Schelling, und ebensowenig »die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Willen, der sich denkt und weiß und das, was er weiß, vollführt«, wie Hegel ebenso schön, wie klar behauptet. Wir können auch Stahl nicht beistimmen, wenn er den Staat das »sittliche Reich menschlicher Gemeinschaft« und, »tiefer betrachtet, eine göttliche Institution« nennt. Und ebensowenig Marcus Tullius Cicero, wenn er fragt: »quid est enim civitas nisi juris societas?« Und noch weniger seinem Nachfolger von Savigny, wenn er in der »Staatsentstehung eine Art der Rechtserzeugung, die höchste Stufe der Rechtserzeugung überhaupt« erblickt und den Staat selbst als »die leibliche Erscheinung des Volkes« definiert. Ähnlich erklärt Bluntschli den Staat für eine »Volksperson« und leitet damit die Reihe jener Theoretiker ein, die den Staat, oder die Gesellschaft, oder eine irgendwie beschaffene Mischung beider für einen »Überorganismus« erklären, eine Auffassung, die ebensowenig haltbar ist, wie die Behauptung von Sir Henry Maine, daß der Staat durch die Zwischenglieder: Geschlecht, Haus und Stamm, aus der Familie sich entwickelt habe. Der Staat ist auch keine »Verbandseinheit«, wie der Jurist Jellinek annimmt. Der alte Böhmer kam der Wahrheit recht nahe, wenn er aussprach, daß »denique regnorum praecipuorum ortus et incrementa perlustrans virn et latrocinia potentiae initia fuisse apparebit«; und dennoch ist Carey auf dem Holzwege, wenn er den Staat als von einer Räuberbande gegründet betrachtet, die sich zu Herren ihrer Volksgenossen aufgeschwungen hat. In manchen dieser Erklärungen steckt ein größeres oder kleineres Teilchen Wahrheit, aber erschöpfend ist keine, und die meisten sind ganz falsch.

b) Die soziologische Staatsidee

Was ist also der Staat im soziologischen Begriffe? Schon die Geschichte des Wortes sagt es uns. Es stammt aus dem Italienischen der Renaissanceperiode. Dort bezeichnete es den, zumeist durch Gewalt zur Herrschaft gelangten, Fürsten samt seinem Anhang: »Die [S. 15] Herrschenden und ihr Anhang heißen lo stato, und dieser Name durfte dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren«, sagt Jakob Burckhardt. So hatte Ludwig XIV. mit seinem hochfahrenden Wort: »L'Etat c'est moi« in einem tieferen Sinne recht, als er selbst ahnte. In unserem Worte »Hofstaat« lebt die alte Bedeutung noch fort.

Das ist »das Gesetz, nach dem er angetreten«, und das ist der Staat geblieben. Er ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger.

Kein primitiver »Staat« der Weltgeschichte ist anders entstanden [2]; wo eine vertrauenswerte Überlieferung anders berichtet, handelt es sich lediglich um Verschmelzung zweier bereits vollentwickelter primitiver Staaten zu einem Wesen verwickelterer Organisation; oder es handelt sich allenfalls um eine menschliche Variante der Fabel von den Schafen, die sich den Bären zum Könige setzten, damit er sie vor dem Wolfe schütze; aber auch in diesem Falle wurden Form und Inhalt des Staates völlig dieselben wie in den »Wolfsstaaten« reiner, unmittelbarer Bildung.

Schon das bißchen Geschichtsunterricht, das unserer Jugend zuteil wurde, reicht hin, um diese generelle Behauptung zu erweisen. Überall bricht ein kriegerischer Wildstamm über die Grenzen eines weniger kriegerischen Volkes, setzt sich als Adel fest und gründet seinen Staat. Im Zweistromlande Welle auf Welle und Staat auf Staat: Babylonier, Amoriter, Assyrer, Araber, Meder, Perser, Makedonier, Parther, Mongolen, Seldschucken, Tataren, Türken; am Nil Hyksos, Nubier, Perser, Griechen, Römer, Araber, Türken; in Hellas [S. 16] die Dorierstaaten, typischen Gepräges; in Italien Römer, Ostgoten, Langobarden, Franken, Normannen, Deutsche; in Spanien Karthager, Römer, Westgoten, Araber; in Gallien Römer, Franken, Burgunder; in Britannien Sachsen, Normannen. Welle auf Welle kriegerischer Wildstämme auch über Indien bis hinab nach Insulindien, auch über China ergossen; und in den europäischen Kolonien überall der gleiche Typus, wo nur ein seßhaftes Bevölkerungselement vorgefunden wurde: in Südamerika, in Mexiko. Wo es aber fehlt, wo nur schweifende Jäger angetroffen werden, die man wohl vernichten, aber nicht unterwerfen kann, da hilft man sich, indem man die auszubeutende, fronpflichtige Menschenmasse von fern her importiert: Sklavenhandel!

Eine scheinbare Ausnahme bilden nur diejenigen europäischen Kolonien, in denen es nicht mehr erlaubt ist, durch Import von Sklaven den Mangel einer seßhaften Urbevölkerung zu ersetzen. Eine dieser Kolonien, die United States, ist eins der gewaltigsten Staatengebilde der Weltgeschichte. Hier erklärt sich die Ausnahme so, daß sich die auszubeutende, fronpflichtige Menschenmasse selbst importiert durch eine massenhafte Auswanderung aus solchen primitiven Staaten oder ihren höheren Entwicklungsstufen, in denen die Ausbeutung einen allzu krassen Grad erreicht hat, während die Freizügigkeit bereits erreicht ist. Hier liegt also sozusagen eine Ferninfektion mit »Staatlichkeit« von auswärtigen Seuchenherden vor. Wo aber in solchen Kolonien die Einwanderung, sei es durch die, hohe Übersiedlungskosten bedingende, übergroße Entfernung, sei es durch Einwanderungsbeschränkungen, sehr gering ist, da haben wir bereits eine Annäherung an dasjenige Endziel der Staatsentwicklung, das wir schon heute als notwendig kommend erkennen können, an einen Endzustand, für den uns aber noch der wissenschaftliche Terminus fehlt. Hier ist einmal wieder in der Dialektik der Entwicklung eine Änderung der Quantität in eine Änderung der Qualität umgeschlagen: die alte Form hat sich mit neuem Inhalt gefüllt. Wir haben noch einen »Staat«, insofern er straffe, durch äußere Machtmittel gesicherte Regelung des sozialen Zusammenlebens einer großen Menschenmasse darstellt: aber er ist nicht mehr »Staat« im alten Sinne, ist nicht mehr Instrument der politischen Beherrschung und wirtschaftlichen Ausbeutung einer sozialen Gruppe durch die andere, ist nicht mehr »Klassenstaat«, sondern ein Zustand, der ausschaut, als wäre er [S. 17] wirklich durch einen »Contrat social« vereinbart worden. Diesem Stadium sehr nahe stehen die australischen Kolonien; und fast erreicht ist er in Neu-Seeland.

So lange nicht ein communis consensus über Ursprung und Wesen der historischen Staaten oder, was dasselbe ist, des »Staates« im soziologischen Sinne erzielt ist, wird es vergebens sein, für diese vorgeschrittensten Gemeinwesen einen neuen Namen durchsetzen zu wollen. Man wird sie trotz aller Proteste nach wie vor »Staaten« nennen, schon der ersprießlichen Verwirrung der Begriffe zuliebe. Bezeichnen wir sie in dieser Betrachtung, um für einen neuen Begriff einen Handgriff zu haben, als »Freibürgerschaften«.

Die summarische Übersicht über die Staaten der Vergangenheit und Gegenwart müßte, wenn Raum wäre, noch ergänzt werden durch Prüfung der Tatsachen, die uns die Völkerkunde über diejenigen Staaten darbietet, die nicht in den Gesichtskreis unserer mit Unrecht so genannten »Weltgeschichte« fallen. Hier mag nur versichert werden, daß auch hier unsere allgemeine Regel keine Ausnahme duldet. Auch im malaiischen Archipel, auch in dem »großen soziologischen Laboratorium Afrika«, kurz überall auf diesem Planeten, wo die Entwicklung der Stämme überhaupt eine höhere Form bereits erreicht hat, ist der »Staat« entstanden durch Unterwerfung einer Menschengruppe durch eine andere, und war und ist seine raison d'être, sein »zureichender Grund«, die ökonomische Ausbeutung der Unterworfenen.

Uns mag aber in dieser Betrachtung die flüchtige Überschau, die wir soeben gemacht haben, nicht nur als Beweis des grundlegenden Satzes dienen, den wir, um den Bahnbrecher zu nennen, vor allem Ludwig Gumplowicz, dem Grazer Staatsrechtler und Soziologen, zu danken haben, sondern sie mag uns auch sofort in kurzem Blitzlichte den Weg erleuchten, den der »Staat« im Leidensgange der Menschheit zurückgelegt hat, und auf dem wir ihm jetzt folgen werden: vom primitiven Eroberungsstaat durch tausend Übergänge zur Freibürgerschaft.

I. Die Entstehung des Staates

[S. 18] Eine einzige Kraft treibt alles Leben, eine einzige Kraft hat es emporentwickelt von der Einzelle, dem im warmen Ozean der Urzeit treibenden Eiweißklümpchen, bis zum Wirbeltier, bis zum Menschen: der Trieb der »Lebensfürsorge« (Lippert), gegabelt in »Hunger und Liebe«. Von da an tritt die »Philosophie« mit in das Kräftespiel ein, das Kausalbedürfnis des Aufrechtschreitenden, um fortan mit »Hunger und Liebe den Bau der Menschenwelt zusammenzuhalten«. Freilich ist die Philosophie, die »Vorstellung« Schopenhauers, in der Wurzel auch nichts anderes als ein Geschöpf der Lebensfürsorge, die er den »Willen« nennt; sie ist ein Organ der Orientierung in der Welt, eine Waffe im Kampfe ums Dasein. Aber dennoch werden wir das Kausalbedürfnis als eine selbständige Kraft des gesellschaftlichen Geschehens kennen lernen, als Mitbildner am soziologischen Entwicklungsgange. Zuerst, und auf der Anfangsstufe der menschlichen Gesellschaft mit ungeheurer Kraft, wirkt sich dieser Trieb in den oft so bizarren Vorstellungen der »Superstition« aus, die auf Grund völlig logischer Schlüsse aus unvollkommenen Beobachtungen Luft und Wasser, Erde und Feuer, Tiere und Pflanzen mit einem Heere gütiger oder ungnädiger Geister erfüllt glaubt; erst sehr spät, erst in der hellen Neuzeit, die nur wenige Völker erreichen, entsteht die jüngere Tochter des Kausaltriebes, die Wissenschaft, als das logische Ergebnis aus vollkommenerer Beobachtung der Tatsachen; die Wissenschaft, der nun die Aufgabe zufällt, die breit eingewurzelte, mit unzähligen Fäden in der menschlichen Gesamtpsyche verwurzelte Superstition auszurotten.

Als Schöpfung dieser drei aus dem Urtriebe der Lebensfürsorge erwachsenen menschlichen Haupttriebe: dem der Selbsterhaltung, dem der Arterhaltung, und dem Kausalbedürfnis, entsteht die Gesellschaft und in ihr ein neuer, allbeherrschender tertiärer Trieb, der eigentliche Motor allen sozialen Geschehens: der Trieb nach sozialer Hochgeltung und womöglich Höchstgeltung.

Dieser Trieb, den schon die Ilias nennt, das kann sich in seltenen Fällen, namentlich auf höherer Stufe der Gesellschaft, unmittelbar befriedigen: durch Leistungen der Wissenschaft, der Kunst, der Bürgertugend, [S. 19] auch der körperlichen Tüchtigkeit im Wettkampf. Aber in der Regel kann der Trieb sein Endziel nicht erreichen, ohne sich vorher eines bestimmten Zwischenzieles bemächtigt zu haben - und dieses Zwischenziel ist - Reichtum, denn Reichtum verleiht Macht oder vielmehr: ist Macht: das Wort bedeutet von jeher Verfügung über Menschen, während Wohlstand Verfügung über Sachen bedeutet.

Aus diesem Grunde fast allein strebt der vergesellschaftete Mensch nach Reichtum. Fast allein: denn selbstverständlich kann er auch »Hunger und Liebe«, und sogar sein Kausalbedürfnis reichlicher und mit edleren Mitteln sättigen, wenn er reich ist. Aber es ist eine den Menschen demütigende und verleumdende Auffassung, wenn man glaubt, sein Endziel sei der Erwerb von Gütern zu üppigem Genuß. Er ist nur ein Zwischenziel, nur Mittel zu dem eigentlichen, zu dem viel edleren Endziel, zur sozialen Hochgeltung.

Aber freilich, das Zwischenziel ist er, und das besagt, daß fast alle Politik und fast alle Wirtschaft zunächst auf den Gütererwerb hinläuft, etwa wie viele Eisenbahnlinien auf einen großen Knotenpunkt. Und darum kann eine soziologische (und das bedeutet eine sozialpsychologische!) Betrachtung der Geschichte nicht wohl anders vorgehen, als daß sie sich vorläufig der ökonomischen Geschichtsauffassung bedient, d.h., daß sie die Methoden des Gütererwerbs in ihrer allmählichen Entfaltung verfolgt. Sie darf dabei nur nicht vergessen, daß es sich lediglich um Mittel, nicht aber um das Endziel handelt.

a) Politisches und ökonomisches Mittel

Es gibt zwei grundsätzlich entgegengesetzte Mittel, mit denen der überall durch den gleichen Trieb der Lebensfürsorge in Bewegung gesetzte Mensch die nötigen Befriedigungsmittel erlangen kann: Arbeit und Raub, eigne Arbeit und gewaltsame Aneignung fremder Arbeit. »Raub! Gewaltsame Aneignung!« Uns Zeitgenossen einer entwickelten, gerade auf der Unverletzlichkeit des Eigentums aufgebauten Kultur klingen beide Worte nach Verbrechen und Zuchthaus; und wir werden diese Klangfarbe auch dann nicht los, wenn wir uns davon überzeugen, daß Land- und Seeraub unter primitiven Lebensverhältnissen [S. 20] geradeso wie das Kriegshandwerk - das ja sehr lange auch nur organisierter Massenraub ist - die weitaus angesehensten Gewerbe darstellen. Ich habe aus diesem Grunde und auch deshalb, um für die weitere Untersuchung kurze, klare, scharf gegeneinander klingende Termini für diesen sehr wichtigen Gegensatz zu haben, vorgeschlagen, die eigne Arbeit und den äquivalenten Tausch eigner gegen fremde Arbeit das »ökonomische Mittel«, und die unentgoltene Aneignung fremder Arbeit das »politische Mittel« der Bedürfnisbefriedigung zu nennen.

Das ist nicht etwa ein neuer Gedanke: von jeher haben die Geschichtsphilosophen den Gegensatz empfunden und zu formulieren versucht. Aber keine dieser Formeln zeigt den Gedanken völlig zu Ende durchgedacht. Nirgend kommt es klar zur Erkenntnis und Darstellung, daß der Gegensatz nur in den Mitteln besteht, mit denen der gleiche Zweck, der Erwerb ökonomischer Genußgüter, erreicht werden soll. Und gerade darauf kommt es an. Man kann es an einem Denker vom Range Karl Marx' beobachten, zu welcher Verwirrung es führen muß, wenn man ökonomischen Zweck und ökonomisches Mittel nicht streng auseinanderhält. Alle Irrtümer, die die großartige Theorie zuletzt so weit von der Wahrheit abführten, wurzeln im tiefsten in jenem Mangel an scharfer Unterscheidung zwischen Zweck und Mittel der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung, der ihn dazu führte, die Sklaverei als eine »ökonomische Kategorie« und die Gewalt als eine »ökonomische Potenz« zu bezeichnen: Halbwahrheiten, die gefährlicher sind als Ganzunwahrheiten, weil sie schwerer entdeckt werden und Fehlschlüsse kaum vermeidbar machen.

Unsere scharfe Scheidung zwischen den beiden Mitteln zum gleichen Zweck wird uns dazu verhelfen, jener Verwirrung auszuweichen. Sie wird uns der Schlüssel sein zum Verständnis der Entstehung, des Wesens und der Bestimmung des Staates; und, weil alle Weltgeschichte bis heute nichts anderes als Staatengeschichte war, zum Verständnis der Weltgeschichte. Alle Weltgeschichte bis heute, bis empor zu uns und unserer stolzen Kultur, hat und wird haben, bis wir uns zur Freibürgerschaft durchgekämpft haben, nur einen Inhalt: den Kampf zwischen dem ökonomischen und dem politischen Mittel.

b) Staatslose Völker (Jäger und Hackbauern)

[S. 21] Der Staat ist die Organisation des politischen Mittels. Und darum kann ein Staat nicht eher entstehen, als bis das ökonomische Mittel einen gewissen Stamm von Gegenständen der Bedürfnisbefriedigung geschaffen hat, die kriegerischer Raub erwerben kann. Darum sind die primitiven Jäger staatlos, und auch die höheren Jäger bringen es nur dann zur Staatenbildung, wenn sie in ihrer Nachbarschaft entwickeltere Wirtschaftsorganisationen vorfinden, die sie unterwerfen können. Die primitiven Jäger aber leben durchaus in praktischer Anarchie.

Große [3] berichtet von den primitiven Jägern im allgemeinen:

»Da es keine wesentlichen Vermögensunterschiede gibt, so fehlt eine Hauptquelle für die Entstehung von Standesunterschieden. Im allgemeinen sind alle erwachsenen Männer innerhalb des Stammes gleichberechtigt. Die älteren danken ihrer reicheren Erfahrung eine gewisse Autorität; aber niemand fühlt sich ihnen zum Gehorsam verpflichtet. Wo einzelne Häuptlinge anerkannt werden - wie bei den Botokuden, den Zentralkaliforniern, den Wedda und den Mincopie - ist ihre Macht außerordentlich gering. Der Häuptling hat kein Mittel, um seine Wünsche gegen den Willen der übrigen durchzusetzen. Die meisten Jägerstämme haben jedoch überhaupt keine Häuptlinge. Die ganze männliche Gesellschaft bildet noch eine homogene, undifferenzierte Masse, aus welcher nur diejenigen Individuen hervorragen, die man im Besitz magischer Kräfte glaubt.«

Hier besteht also kaum eine Andeutung von »Staatlichkeit« im Sinne irgendeiner Staatslehre, geschweige denn im Sinne der richtigen »soziologischen Staatsidee«.

Die Gesellschaftsbildungen der primitiven Ackerbauern haben kaum mehr Ähnlichkeit mit einem »Staate« als die Jägerhorden. Wo der mit der Hacke den Boden bearbeitende Bauer in Freiheit lebt - der Pflug ist schon immer Kennzeichen einer höheren Wirtschaftsform, die nur im Staate vorkommt, nämlich der von unterworfenen Knechten betriebenen Großwirtschaft [4] -, da gibt es noch keinen »Staat«. Isoliert voneinander, weithin zerstreut in einzelnen Gehöften, vielleicht Dörfern, durch Streitigkeiten wegen Gau- und Ackergrenzen [S. 22] zersplittert, leben sie bestenfalls in losen Eidgenossenschaften, nur locker von dem Bande zusammengehalten, das das Bewußtsein gleicher Abstammung und Sprache und gleichen Glaubens um sie schlingt. Selten nur, vielleicht einmal im Jahre, eint sie die gemeinsame Feier berühmter Ahnen oder der Stammesgottheit. Eine über die Gesamtheit herrschende Autorität besteht nicht; die einzelnen Dorf-, allenfalls Gauhäuptlinge haben je nach ihren persönlichen Eigenschaften, namentlich nach der ihnen zugetrauten Zauberkraft, mehr oder weniger Einfluß in ihrem beschränkten Kreise. Wie Cunow [5] die peruanischen Hackbauern vor dem Einbruch der Inka schildert, so waren und sind die primitiven Bauern überall in der Alten und Neuen Welt: »ein ungeregeltes Nebeneinander vieler unabhängiger, sich gegenseitig befehdender Stämme, die sich ihrerseits wieder in mehr oder weniger selbständige, durch Verwandtschaftsbande zusammengehaltene Territorialverbände spalteten«. In einem solchen Zustande der Gesellschaft ist das Zustandekommen einer kriegerischen Organisation zu Angriffszwecken kaum denkbar. Es ist schon schwer genug, den Gau oder gar Stamm zur gemeinsamen Verteidigung mobil zu machen. Der Bauer ist eben immobil, bodenständig, wie die Pflanze, die er baut. Er ist durch seinen Betrieb auch dann tatsächlich »an die Scholle gebunden«, wenn er rechtlich frei beweglich ist. Und welchen Zweck sollte ein Raubzug in einem Lande haben, das weithin nur von Bauernschaften besetzt ist? Der Bauer kann dem Bauern nichts nehmen, was er nicht selbst schon besitzt. Jedem von ihnen bringt wenig Arbeit in der extensiven Kultur eines durch Überfluß an Feldland ausgezeichneten Gesellschaftszustandes so viel, wie er braucht; ein Mehr wäre ihm überflüssig, seine Erwerbung verlorene Mühe, selbst wenn er das erbeutete Korn länger aufbewahren könnte, als in so primitiven Verhältnissen möglich, wo es schnell durch Witterungseinflüsse oder Ameisenfraß u. dgl. zugrunde geht. Muß doch nach Ratzel der zentralafrikanische Bauer den überschüssigen Teil seiner Ernte schleunigst in Bier verwandeln, um ihn nicht ganz zu verlieren!

Aus allen diesen Gründen geht dem primitiven Bauern der kriegerische Offensivgeist gänzlich ab, der den Jäger und Hirten auszeichnet: der Krieg kann ihm keinen Nutzen bringen. Und diese friedliche Stimmung wird noch dadurch verstärkt, daß ihn seine Beschäftigung [S. 23] nicht gerade kriegstüchtig macht. Er ist wohl muskelstark und ausdauernd, aber von langsamen Bewegungen und zögerndem Entschluß, während der Jäger und der Hirt durch ihren Beruf zu Schnelligkeit und rascher Tatkraft erzogen werden. Darum ist der primitive Bauer zumeist von sanfterer Gemütsart als jene[6]. Kurz: in den ökonomischen und sozialen Verhältnissen des Bauerngaues besteht keine Differenzierung, die zu höheren Formen der Integrierung drängte, besteht weder der Trieb noch die Möglichkeit zu kriegerischer Unterwerfung der Nachbarn, kann also kein »Staat« entstehen, und ist auch nie ein solcher entstanden. Wäre kein Anstoß von außen, von Menschengruppen anderer Ernährungsart gekommen - der primitive Bauer hätte den Staat nie erfunden.

c) Vorstaatliche Völker (Hirten und Wikinge)

Dagegen finden wir beim Hirtenstamme, auch bei dem isoliert vorgestellten, eine ganze Reihe von Elementen der Staatenbildung vor; und in der Tat haben die vorgeschritteneren Hirten den Staat schon fast fertig ausgestaltet bis auf das letzte Merkmal, das den Begriff im modernen Sinne ganz erfüllt, bis auf die Seßhaftigkeit im fest umgrenzten Staatsgebiete.

Das eine Element ist ein ökonomisches. Auch ohne das Dazwischentreten von außerökonomischer Gewalt kann sich im Hirtenleben eine immerhin ziemlich bedeutende Differenzierung des Vermögens und Einkommens entwickeln. Nehmen wir selbst als Anfangszustand [S. 24] die volle Gleichheit des Herdenbestandes an, so kann und wird doch binnen kurzer Zeit der eine reicher, der andere ärmer sein. Ein besonders geschickter Züchter wird seine Herde schnell wachsen sehen, ein besonders aufmerksamer Wächter und kühner Jäger wird sie besser vor der Zehntung durch Raubtiere bewahren. Das Glück tut das Seinige dazu: der eine findet eine besonders gute Weidestelle und gesunde Wasserplätze, dem anderen raubt eine Seuche oder ein Schneesturm oder ein Samum sein ganzes Vermögen.

Vermögensunterschiede bringen überall Klassenunterschiede hervor. Der verarmte Hirt muß sich dem reichgebliebenen verdingen und sinkt dadurch unter ihn, wird von ihm abhängig. Das ist eine Erscheinung, die uns aus allen drei Erdteilen der Alten Welt berichtet wird, d.h. überall, wo Hirten leben. Meitzen [7] berichtet von den lappischen Nomaden in Norwegen: »300 Stück pro Familie waren ausreichend; wer nur noch hundert hat, muß in den Dienst der Reichen treten, deren Herden bis zu 1000 Stück zählen.« Und derselbe Berichterstatter sagt von den zentralasiatischen Nomaden: »Eine Familie braucht 300 Stück Vieh zur Behaglichkeit; 100 Stück ist Armut; dann kommt Schuldnerschaft. Der Knecht muß den Acker des Herrn bauen« [8]. Aus Afrika berichtet Ratzel [9] von den Hottentotten eine Art von »Commendatio«: »Wer nichts hatte, suchte sich bei den Reichen zu verdingen; sein einziges Ziel war, in den Besitz von Vieh zu kommen.« Laveleye, der das gleiche aus Irland berichtet, führt sogar Ursprung und Namen des Feudalsystems (système féodal) auf die Viehleihe der reichen an die armen Stammesgenossen zurück: danach war ein fee-od (Vieheigen) das erste Lehen, mit dem der Große den Kleinen als »seinen Mann« an sich band, bis er seine Schuld getilgt hatte.

Wie sehr diese ökonomische und dann soziale Differenzierung durch das mit dem Patriarchat verbundene Ober- und Opferpriesteramt schon in friedlichen Hirtengesellschaften gefördert werden konnte, wenn der Älteste den Aberglauben seiner Clangenossen geschickt gebrauchte, um seinen eignen Herdenbesitz zu vergrößern, kann hier nur angedeutet werden.

[S. 25] Indessen hält sich diese Differenzierung, so lange das politische Mittel nicht einwirkt, in sehr bescheidenen Grenzen. Geschick und Tüchtigkeit sind nicht mit Gewißheit erblich, der größte Herdenbestand wird zersplittert, wenn viele Erben in einem Zelte wuchsen, und das Glück ist launisch. Noch in unseren Tagen ist der reichste Mann der schwedischen Lappen in kürzester Zeit so völlig verarmt, daß er von der Regierung unterhalten werden mußte. All diese Gründe wirken dahin, den ursprünglichen Zustand ökonomischer und sozialer Gleichheit immer wieder annähernd herzustellen.[10] »Je friedlicher, ursprünglicher, echter der Nomade ist, um so weniger gibt es fühlbaren Unterschied des Besitzes. Die Freude ist rührend, womit ein alter Fürst der Tsaidam-Mongolen sein Tributgeschenk: eine Handvoll Tabak, ein Stück Zucker, und 25 Kopeken empfängt« [11]

Erst das politische Mittel zerstört diese Gleichheit auf die Dauer und in stärkerem Maße: »Wo Krieg geführt und Beute gemacht wird, gibt es größere Unterschiede, die im Besitz von Sklaven, Weibern, Waffen, edlen Reittieren zum Ausdruck gelangen.« [12]

Der Besitz von Sklaven! Der Nomade ist der Erfinder der Sklaverei und hat damit den Keimling des Staates geschaffen, die erste Bewirtschaftung des Menschen durch den Menschen.

Auch der Jäger führt Kriege und macht Gefangene. Aber er macht sie nicht zu Sklaven, sondern tötet sie oder adoptiert sie in seinen Stamm. Was sollte er mit Sklaven anfangen? Jagdbeute läßt sich noch viel weniger aufspeichern, »kapitalisieren« als Korn. Der Gedanke, aus einem Menschen einen Arbeitsmotor zu machen, konnte erst auf einer Wirtschaftsstufe entstehen, auf der ein Vermögensstamm, ein Kapital, gebildet ist, das nur mit Hilfe abhängiger Arbeitskräfte verwertet werden kann.

Dieser Zustand ist erst auf der Hirtenstufe erreicht. Die Kräfte einer Familie reichen ohne fremde Hilfe nur hin, um eine Herde von sehr begrenzter Größe zusammenzuhalten und vor tierischen und [S. 26] menschlichen Feinden zu schützen. Ehe das politische Mittel eingreift, sind solche Hilfskräfte nur sehr spärlich vorhanden: in den erwähnten armen Clangenossen und in Flüchtlingen aus fremden Stämmen, die wir überall als schutzbefohlene Abhängige in dem Gefolge der großen Herdenbesitzer finden [13]. Hier und da tritt wohl auch ein ganzes armes Hirtenvolk halb freiwillig in den Dienst eines reichen: »Ganze Völker nehmen ihrem Besitz entsprechende Stellungen zueinander ein. So bemühen sich die Tungusen, die sehr arm sind, in der Nähe von Tschuktschen-Niederlassungen zu leben, weil sie bei den an Rentierherden reicheren Tschuktschen als Hirten Verwendung finden; sie werden dann mit Rentieren bezahlt. Und die Unterwerfung der Ural-Samojeden durch die Sirjänen folgte der allmählichen Usurpation ihrer Weidegründe [14].

Aber vielleicht mit Ausnahme des letztgenannten Falles, der schon stark staatsähnlich ist, reichen die paar im Clan vorhandenen kapitallosen Arbeitskräfte doch nicht hin, um sehr große Herden zu hüten. Und doch zwingt der Betrieb selbst dazu, sie zu teilen; denn ein Weidegrund darf nicht ohne Schaden »überstoßen«, d.h. zu stark besetzt werden, wie man in der Schweizer Alpenwirtschaft sagt; und die Gefahr, den ganzen Bestand zu verlieren, mindert sich in dem Maße, wie man ihn auf verschiedene Weiden verteilt. Dann vernichten Seuchen, Stürme usw. nur einen Teil, und auch der Grenzfeind kann nicht alles auf einmal nehmen. Darum ist z.B. bei den Hereros »jeder nur etwas reichere Besitzer gezwungen, neben der eigentlichen Hauptwerfte immer noch einige Viehposten zu haben, worüber die jüngeren Brüder oder andere nahe Verwandte oder in Ermanglung dieser erprobte alte Knechte die Aufsicht führen« [15]

Darum schont der entwickelte Nomade den kriegsgefangenen Feind: er kann ihn als Weidesklaven brauchen. Wir können in einer Kultsitte der Skythen noch den Übergang von der Tötung zur Verknechtung beobachten: sie opferten an ihren Gaumalstätten je einen von hundert gefangenen Feinden. Lippen, der die Tatsache berichtet [16], [S. 27] erblickt darin »eine eintretende Beschränkung, und der Grund derselben liegt sichtlich in dem Werte, welchen der gefangene Feind für ein Hirtenvolk als Knecht gewonnen hatte.«

Mit der Eingliederung der Sklaven in den Hirtenstamm ist der Staat - bis eben auf das in Seßhaftigkeit besessene festbegrenzte Gebiet - in seinen wesentlichen Elementen fertig. Er hat die Form der Herrschaft und den Inhalt der wirtschaftlichen Ausbeutung menschlicher Arbeitskräfte. Und nun kann die ökonomische Differenzierung und soziale Klassenbildung in ganz anderem Schrittmaß vorangehen. Die Herden der Großen, klug verteilt und von zahlreichen bewaffneten Knechten stärker bewacht als die der kleinen Gemeinfreien, erhalten sich in der Regel auf ihrem Bestande und vermehren sich durch den größeren Anteil an der Beute, den der Reiche, entsprechend der von ihm ins Feld gestellten (unfreien!) Kriegerzahl, erhält, schneller als jene. Das Oberpriesteramt wirkt weiter mit, und so spaltet eine immer breitere Kluft die ehemals gleichen Clangenossen, bis ein echter Adel, die reichen Nachkommen der reichen Patriarchen, den kleinen Gemeinfreien gegenübersteht. »Die Rothäute haben auch in ihrer fortgeschrittensten Organisation keinen Adel und keine Sklaverei ausgebildet [17], und dadurch unterscheidet sich ihre Organisation am wesentlichsten von der der alten Welt. Beides erhebt sich erst auf dem Boden des Patriarchats tierzüchtenden Völker.« [18] Und so finden wir denn bei allen entwickelten Hirtenvölkern die soziale Scheidung in drei verschiedene Klassen: Adel (Fürsten der Stammhäuser im biblischen Ausdruck), Gemeinfreie und Sklaven. Im besonderen haben nach Mommsen [19] »alle indogermanischen Völker die Sklaverei als rechtliche Institution«. Und was für die Arier und die Semiten Asiens und Afrikas (Masai und Wahuma usw.) und die Mongolen gilt, gilt auch für die Hamiten. Bei allen Fulbe der Sahara »teilt sich die Gesellschaft in Fürsten, Häuptlinge, Gemeine und Sklaven« [20]. Und wieder das gleiche finden wir, wie selbstverständlich, [S. 28] überall, wo die Sklaverei rechtlich besteht, bei den Hova [21] und ihren polynesischen Verwandten, den »See-Nomaden«. Die Menschenpsyche wirkt sich überall unter gleichen Verhältnissen in gleichen Ordnungen aus, ganz unabhängig von Farbe und Rasse.

So gewöhnt sich der Hirt allmählich an den Kriegserwerb und an die Bewirtschaftung des Menschen als eines verknechteten Arbeitsmotors. Und man muß anerkennen, daß seine ganze Lebensweise ihn dazu antreiben muß, von dem »politischen Mittel« immer mehr Gebrauch zu machen.

Er ist körperlich stärker und ebenso gewandt und entschlossen wie der primitive Jäger, dessen Nahrungserwerb allzu unregelmäßig ist, als daß er zu der, der Gattung bestimmten höchsten Größe und Kraft aufwachsen könnte. Der Hirt aber, dem in der Milch seiner Herdentiere der Nahrungsquell ohne Unterbrechung fließt, und der Fleischnahrung hat, so oft er sie begehrt, wächst fast überall zum »Riesen«: der arische Roßnomade nicht minder wie der Rinderhirt Asiens und Afrikas, z.B. der Sulu. Zum zweiten ist der Hirtenstamm an Kopfzahl viel stärker als die Jägerhorde, nicht nur, weil die Erwachsenen viel mehr Nahrung von einem gegebenen Gebiete erzielen können, sondern vor allem auch, weil die Verfügung über tierische Milch die Säugeperiode der Mütter abkürzt und eine größere Zahl von Geburten und die Aufzucht von mehr Geborenen erlaubt. Daher sind die Weidesteppen der Alten Welt zu jenen unerschöpflichen Staubecken geworden, die periodisch in Überschwemmungen austraten, zu den »vaginae gentium«.

Eine bedeutend größere Anzahl wehrhafter Krieger also, als bei den Jägern, jeder einzelne stärker, und doch alle zusammen mindestens ebenso beweglich wie die Jägerhorde, die Reiter unter ihnen (Kamel- und Rossereiter) sogar ungleich beweglicher! Und diese größere Masse bester Einzelkräfte zusammengehalten durch eine Organisation, wie sie nur unter dem Schilde des sklavenhaltenden, herrschaftsgewöhnten Patriarchats möglich war, eine Organisation, die dem lockeren Gefolgsdienst der einem Häuptling geschworenen jungen Krieger der Jägerstufe gar nicht verglichen werden kann, und die schon durch den Beruf vorbereitet und ausgebildet ist.

Der Jäger nämlich jagt am vorteilhaftesten allein oder in kleinen Gruppen: der Hirt aber bewegt sich am vorteilhaftesten in dem [S. 29] großen Zuge, in dem der einzelne am besten geschützt ist, und der in jedem Sinne ein Heereszug ist, wie der Rastplatz in jedem Sinne ein Feldlager darstellt. So bildet sich ganz von selbst die Übung taktischer Manöver, strenger Ordnung, fester Disziplin aus. »Man geht wohl nicht fehl,« bemerkt Ratzel [22], »wenn man zu den disziplinierenden Kräften im Leben des Nomaden die seit Urzeiten gleiche Zeltordnung rechnet. Jeder und alles hat hier seine feste, altbestimmte Stelle; daher die Raschheit und Ordnung in Auf- und Abbruch, Neu-Aufstellung und -Einrichtung. Unerhört, daß jemand ohne Befehl oder dringendsten Grund seinen Platz verändert. Nur dieser festen Ordnung ist es zu verdanken, daß das Zelt mit seinem ganzen Inhalt in Zeit von einer Stunde verpackt und verladen werden kann.«

Ganz dieselbe, uralt hergebrachte, in Jagd, Krieg und friedlicher Wanderung erprobte Ordnung beherrscht nun auch den kriegerischen Marsch des Hirtenstammes. Und dadurch werden sie zu berufsmäßigen und, bis der »Staat« nicht noch höhere und mächtigere Organisationen schafft, zu unwiderstehlichen Kämpfern. Hirt und Krieger werden identische Begriffe. Was Ratzel von den zentralasiatischen Nomaden ausspricht [23], gilt von allen: »Der Nomade ist als Hirt ein wirtschaftlicher, als Krieger ein politischer Begriff. Ihm liegt es immer nahe, aus irgendeiner Tätigkeit in die des Kriegsmannes und Räubers überzugehen. Alles im Leben hat für ihn eine friedliche und kriegerische, eine ehrliche und räuberische Seite; je nach den Umständen kehrt er diese oder jene heraus. Sogar Fischerei und Seefahrt schlugen in den Händen der ostkaspischen Turkmenen in Seeräubertum um. (...) Der Gang des anscheinend friedlichen Hirtendaseins bestimmt den des Krieges; der Hirtenstab wird zur Waffe. Im Herbst, wenn die Pferde gekräftigt von der Weide herein kommen, und die zweite Schafschur vollendet ist, sinnt der Nomade, welchen Rache- oder Raubzug (Baranta, wörtlich Vieh machen, Vieh rauben) er bis dahin vertagt hatte. Das ist der Ausdruck eines Faustrechts, das in Rechtsstreitigkeiten, im Ehrenhandel und bei Blutrache Vergeltung und Unterpfand im Wertvollsten sucht, das der Feind besaß, in seinen Herdentieren. Junge Männer, die keine Baranta mitgemacht, haben sich den Namen Batir, Held, und Anspruch auf Ehre und Achtung [S. 30] erst zu erwerben. Zur Lust der Abenteuer gesellt sich die Freude am Besitz; und so entwickelt sich die dreifache, abwärtsführende Stufenreihe von Rächer, Held und Räuber.«

Ganz ähnlich, wie bei den Landnomaden liegen die Verhältnisse bei den Seenomaden, den »Wikingen«. Um so mehr, weil in den für die Universalgeschichte wichtigsten Fällen die Seenomaden nichts anderes sind als auf das Meer hinausgegangene Landnomaden.

Wir haben soeben eine der unzähligen Tatsachen angeführt, die zeigen, daß der Hirt sich nicht lange besinnt, statt des Pferdes oder des »Schiffs der Wüste« die »Rosse der See« zum Raubkriege zu benutzen. Sie betraf die ostkaspischen Turkmenen [24]. Ein anderes Beispiel geben die Skythen: »In dem Augenblicke, da sie den Nachbarn die Kunst ablernen, das Meer zu befahren, verwandeln sich die Wanderhirten, Homers »verehrliche Rosselenker und Milchesser und Habelose, die rechtlichsten Menschen« (Ilias XIII, 3) genau wie ihre baltischen und skandinavischen Brüder in kühne Seefahrer. Strabo (Cas., p. 301) klagt: Seitdem sie sich aufs Meer wagten, sind sie, Seeraub treibend und die Stammfremden ermordend, schlechter geworden, und, mit vielen Volksstämmen verkehrend, nehmen sie an dem Kleinhandel und der Verschwendung dieser teil« [25].

Wenn die Phönizier wirklich »Semiten« gewesen sind, so bilden sie ein weiteres, für die Universalgeschichte unvergleichlich wichtiges Beispiel für die Umwandlung von Land- in See-»Beduinen«, d.h. kriegerische Räuber. Und dasselbe gilt wahrscheinlich für die Mehrzahl der zahlreichen Völker, die von der kleinasiatischen, dalmatinischen und nordafrikanischen Küste aus von den frühesten Zeiten an, über die wir in den ägyptischen Denkmälern Nachrichten finden, (die Hellenen wurden in Ägypten nicht zugelassen) [26] bis zur Gegenwart (Rifpiraten) die reichen Länder um das Mittelmeer brandschatzten. Die nordafrikanischen »Mauren«, als Araber wie als Berber ursprünglich, beide Teile der Mischung, Landnomaden, sind vielleicht das berühmteste Beispiel dieser Wandlung.

Indessen können Seenomaden, d.h. Seeräuber, auch ohne die [S. 31] Zwischenstufe des Hirtentums unmittelbar aus Fischervölkern entstehen. Wir haben soeben die Ursachen kennen gelernt, die den Hirten die Überlegenheit über die Hackbauern verleihen: die relativ bedeutende Volkszahl der Horden, bei einer Tätigkeit, die den einzelnen Mann zu Mut und schnellem Entschluß, und die Masse als Ganzes zu straffer Disziplin erzieht. All das gilt auch für den seeanwohnenden Fischer. Reiche Fischgründe gestatten eine bedeutende Volksdichtigheit, wie die Nordwest-Indianer (Tlinkit usw.) zeigen; sie machen auch die Sklavenhaltung möglich, da der Sklave beim Fischfang mehr erwirbt, als seine Nahrung kostet; und so finden wir, hier allein unter den Rothäuten, das Institut der Sklaverei ausgebildet und finden daher auch bleibende ökonomische Unterschiede zwischen den Freien, die sich als eine Art von Plutokratie darstellen, ähnlich wie bei den Hirten. Der Befehl über Sklaven erzeugt hier wie dort die Gewohnheit der Herrschaft und den Geschmack am »politischen Mittel«; und hier wie dort kommt diesem Wunsche die straffe Disziplin zugute, die der Beruf, hier die Seefahrt, ausbildet. »Beim gemeinsamen Fischfang ist nicht der letzte Vorteil die Disziplinierung der Mannschaften, die sich in den größeren Fischerbooten einen Anführer wählen, dem unbedingt zu gehorchen ist, da vom Gehorsam jeglicher Erfolg abhängt. Die Regierung des Schiffes erleichtert dann die des Staates. Im Leben eines gewöhnlich völlig zu den Wilden gerechneten Volkes, wie der Salomon-Insulaner, ist unzweifelhaft das einzige, kräftezusammenfassende Element die Schiffahrt« [27]. Wenn die Nordwestindianer keine so berühmten Seeräuber geworden sind, wie ihre altweltlichen Genossen, so liegt das nur daran, daß sich in ihrer erreichbaren Nachbarschaft keine reiche Hochkultur entfaltet hat: aber Piraterie treiben alle höheren Fischer.

Aus diesen Gründen sind die Wikinge ebenso befähigt, das politische Mittel zur Basis ihrer wirtschaftlichen Existenz zu wählen wie die Hirten, und sie sind, wie sie, in großem Maßstabe Staatengründer geworden. Wir werden im folgenden die von ihnen gegründeten Staaten als »Seestaaten« von den durch Hirten (und in der Neuen Welt durch Jäger) gegründeten »Landstaaten« unterscheiden. Von den ersteren wird unten ausführlich zu handeln sein, wenn von den Ausgängen des entfalteten Eroberungsstaates die Rede ist. Fürs erste, [S. 32] solange wir von der Entstehung des Staates und von dem primitiven Eroberungsstaat zu handeln haben, dürfen wir uns aus dem Grunde im wesentlichen auf die Betrachtung des Landstaates beschränken und den Seestaat zurücktreten lassen, weil dieser zwar in allen grundsätzlichen Dingen genau dasselbe Wesen und dieselbe Entwicklung aufweist, aber doch den typischen Gang dieser Entwicklung minder klar erkennen läßt.

d) Die Entstehung des Staates

Die an Zahl und auch an Wert des einzelnen Kämpfers unvergleichlich schwächeren Jägerhorden, mit denen die Hirten gelegentlich zusammenstoßen, können dem Anprall natürlich nicht widerstehen. Sie weichen aus in Steppen und Gebirge, in die ihnen die Hirten nicht folgen wollen und können, weil das Vieh dort keine Weide findet; oder treten zu ihnen in eine Art von Klientenverhältnis: eine Erscheinung, die sich namentlich in Afrika häufig und seit uralter Zeit findet. Schon mit den Hyksos zogen solche abhängigen Jäger ins Nilland ein. Aber der Jäger zahlt wohl allenfalls einen geringen Tribut an Jagdbeute gegen Schutz und versteht sich zum Kundschafter- und Wächterdienst; aber er, der »praktische Anarchist«, läßt sich eher vernichten, als zum regelmäßigen Arbeitsdienst zwingen. Daher wuchs aus solchen Zusammenstößen niemals ein »Staat« hervor.

Auch der Bauer kann mit seiner undisziplinierten Landwehr, die aus ungeübten Einzelkämpfern besteht, dem Anprall der reisigen Hirten nicht auf die Dauer widerstehen, selbst wenn er in starker Überzahl ficht. Aber der Bauer weicht nicht aus, denn er ist bodenständig; und der Bauer ist an regelmäßige Arbeit schon gewöhnt. Er bleibt, läßt sich unterwerfen und steuert seinem Besieger: das ist die Entstehung des Landstaates in der Alten Welt!

In der Neuen Welt, wo die großen Weidetiere, Rinder, Pferde, Kamele ursprünglich nicht vorhanden sind, tritt an die Stelle des Hirten der dem Hackbauern durch Waffengewandtheit und kriegerische Disziplin immer noch unendlich überlegene höhere Jäger. »Der in der Alten Welt kulturzeugende Gegensatz von Hirten- und Ackerbauvölkern reduziert sich in der Neuen auf den Gegensatz von wandernden [S. 33] und ansässigen Stämmen. Wie Iran und Turan kämpfen mit den im Ackerbau aufgehenden Tolteken die von Norden hereinbrechenden wilden Scharen, deren militärische Organisation hochentwickelt war« [28].

Das gilt nicht nur für Peru und Mexiko, sondern für das ganze Amerika, ein starker Beweis für die Meinung, daß die Grundlage des Menschen überall gleich ist und sich unter den verschiedensten wirtschaftlichen und geographischen Bedingungen durchsetzt. Wo er die Gelegenheit findet und die Macht besitzt, zieht der Mensch das politische Mittel dem ökonomischen vor. Und vielleicht nicht nur der Mensch: nach Maeterlincks »Leben der Bienen« soll ein Bienenstock, der einmal die Erfahrung gemacht hat, daß er den Honig, statt in mühsamer Tracht, auch durch Raub aus einem fremden Stock gewinnen kann, fortan für das »ökonomische Mittel« verdorben sein. Aus Arbeitsbienen sind Raubbienen geworden.

Lassen wir die neuweltlichen Staatenbildungen außer Acht, die ja ohnehin für die große Linie der Weltgeschichte keine Bedeutung gewonnen haben, so haben wir als Triebkraft aller Geschichte, als Entstehungsgrund aller Staaten, zu betrachten den Gegensatz zwischen Ackerbauern und Hirten, zwischen Arbeitern und Räubern, zwischen Tiefland und Weidesteppe, wie Ratzel, der die Soziologie vom geographischen Zipfel aus faßte, es treffend ausdrückt: »Daß der Nomadismus nicht rein zerstörend der sedentären Kultur gegenübertritt, ruft uns die Tatsache ins Gedächtnis, daß wir es von nun an nicht nur mit Stämmen, sondern auch mit Staaten, und zwar Staaten mächtiger Art, zu tun haben. In dem kriegerischen Charakter der Nomaden liegt eine große staatenschaffende Macht, die sich vielleicht noch klarer als in den von Nomadendynastien und -armeen beherrschten großen Staaten Asiens: dem von Türken regierten Persien, dem von Mongolen und Mandschu eroberten und verwalteten China, den Mongolen und Radschputenstaaten Indiens, am Rande des Sudans ausspricht, wo die Verschmelzung der erst feindlichen, dann zu fruchtbarem Zusammenwirken vereinigten Elemente noch nicht so weit fortgeschritten ist. Nirgends zeigt es sich so klar wie hier auf der Grenze nomadisierender und ackerbauender Völker, daß die großen Wirkungen der kulturfördernden Anstöße der Nomaden nicht aus friedlicher Kulturtätigkeit hervorgehen, sondern als kriegerische Bestrebungen [S. 34] friedlichen zuerst entgegenwirken, ja schaden. Ihre Bedeutung liegt in dem Talent der Nomaden, die sedentären und leicht auseinanderfallenden Völker energisch zusammenzufassen. Das schließt aber nicht aus, daß sie dabei viel von ihren Unterworfenen lernen können (...) Was aber alle diese Fleißigen und Geschickten nicht haben und nicht haben können, das ist der Wille und die Kraft, zu herrschen, der kriegerische Geist und der Sinn für staatliche Ordnung und Unterordnung. Darum stehen die wüstengeborenen Herren der Sudanstaaten über ihren Negervölkern wie die Mandschu über ihren Chinesen. Was anderes aber erfüllt sich hier als das von Timbuktu bis Peking gültige Gesetz, daß bevorzugte Staatenbildungen in den an weite Steppen grenzenden, reichen Ackerbauländern entstehen, wo eine hohe materielle Kultur sedentärer Völker gewaltsam in den Dienst energischer, herrschfähiger, kriegerischer Steppenbewohner gezogen wird?« [29]

Bei der Entstehung des Staates aus der Unterwerfung eines Ackerervolkes durch einen Hirtenstamm oder durch Seenomaden lassen sich sechs Stadien unterscheiden. Wenn wir sie im folgenden schildern, so ist nicht die Meinung, als wenn die reale historische Entwicklung gezwungen gewesen sei, in jedem einzelnen Falle die ganze Treppe, Stufe für Stufe, zu erklettern. Zwar ist hier nichts theoretische Konstruktion; jede einzelne Stufe findet sich in zahlreichen Vertretern in Weltgeschichte und Völkerkunde, und es gibt Staaten, die sie augenscheinlich sämtlich absolviert haben. Aber es gibt mehr, die eine oder mehrere der Stufen übersprungen haben.

Das erste Stadium ist Raub und Mord im Grenzkriege: ohne Ende tobt der Kampf, der keinen Frieden noch Waffenstillstand kennt. Erschlagene Männer, fortgeführte Kinder und Weiber, geraubte Herden, brennende Gehöfte! Werden die Angreifer mit blutigen Köpfen heimgeschickt, so kommen sie in stärkeren und stärkeren Haufen wieder, zusammengeballt durch die Pflicht der Blutrache. Zuweilen rafft sich wohl die Eidgenossenschaft auf, sammelt die Landwehr, und es gelingt ihr vielleicht auch einmal, den flüchtigen Feind zu stellen und ihm auf eine Zeitlang die Wiederkehr zu verleiden; aber allzu schwerfällig ist die Mobilmachung, allzu schwierig die Verpflegung in der Wüste für die Bauernlandwehr, die nicht, wie der Feind, ihre Nahrungsquelle, die Herden, mit sich führt - wir erlebten [S. 35] in Südwestafrika, was eine vorzüglich disziplinierte Überzahl mit Train und Eisenbahnnachschub und den Millionen des deutschen Reiches hinter sich dulden mußte, um eine Handvoll Hirtenkrieger zur Strecke zu bringen - und schließlich ist der Kirchtumsgeist mächtig, und daheim liegen die Äcker brach. Darum siegt auch in solchen Fällen auf die Dauer fast immer die kleine, aber geschlossene bewegliche Macht über die größere zersplitterte Masse, der Panther über den Büffel.

Das ist das erste Stadium der Staatsbildung. Sie kann jahrhunderte-, vielleicht jahrtausendelang darauf stehen bleiben, wie das folgende, überaus charakteristische Beispiel zeigt: »Jedes Weidegebiet eines Turkmenenstammes grenzte einst an eine weite Zone, die man als sein Raubgebiet bezeichnen konnte. Der ganze Norden und Osten von Chorassan gehörte jahrzehntelang mehr den Turkmenen, Jomuden, Goklanen und anderen Stämmen der angrenzenden Steppen als den Persern, deren Herrschaft nur nominell war. Ähnlich waren Grenzstriche von Chiwa und Bochara den Raubzügen der Tekinzen verfallen, bis es gelang, andere Turkmenenstämme mit Gewalt oder durch Bestechung als Stoßkissen einzuzwängen. Die Geschichte der Oasenkette, die Ost- und Westasien quer durch die Steppen Zentralasiens verbindet, wo seit alter Zeit die Chinesen durch den Besitz weltgeschichtlicher Schlüsselpunkte wie der Oase Chami dominierten, gibt zahllose weitere Belege. Immer versuchten die Nomaden, von Süden und Norden her an den Inseln fruchtbareren Bodens zu landen, die ihnen wie Inseln der Glückseligen erscheinen mochten, und jeder Horde stand, ob sie erfolgreich abzog oder geschlagen flüchtete, die schützende Steppe offen. Ward auch die schwerste Bedrohung durch die zäh fortgesetzte Schwächung des Mongolentums und die faktische Beherrschung Tibets beseitigt, so hat der letzte Dunganenaufstand gezeigt, wie leicht doch die Wellen eines beweglichen Volkstums über diesen Kultureilanden zusammenschlagen. Erst die Vernichtung des Nomadismus, die unmöglich ist, solange es Steppen in Zentralasien gibt, vermöchte ihre Existenz ganz sicherzustellen.« [30]

Zum ersten Stadium zu rechnen sind auch die aus der ganzen altweltlichen Geschichte bekannten Massenzüge, soweit sie nicht auf Eroberung, sondern lediglich auf Plünderung abzielten, Massenzüge, [S. 36] wie sie Westeuropa durch die Kelten, Germanen, Hunnen, Avaren, Araber, Magyaren, Tataren, Mongolen und Türken vom Lande und durch die Wikinge und Sarazenen vom Wasser her erlitten hat. Sie überschwemmten weit über das gewohnte Raubgebiet hinaus ganze Erdteile, verschwanden, kehrten wieder, versickerten und hinterließen nur eine Wüste. Häufig genug aber schritten sie in einem Teil des überfluteten Gebietes unmittelbar zum sechsten und letzten Stadium der Staatsbildung, indem sie eine dauernde Herrschaft über die Bauernbevölkerung errichteten. Ratzel schildert diese Massenzüge vortrefflich wie folgt: »Der Gegensatz zu dieser tröpfelnden und vorsichtigen Bewegung sind die Züge der großen Nomadenhorden, mit deren fürchterlicher Gewalt vor allem Mittelasien seine Nachbarländer übergoß. Die Nomaden dieses Gebietes, wie Arabiens und Nordafrikas, vereinigen mit der Beweglichkeit ihrer Lebensweise eine ihre ganze Masse zu einem einzigen Zwecke zusammenfassende Organisation. Gerade der Nomadismus ist ausgezeichnet durch die Leichtigkeit, womit er aus dem patriarchalischen Stammeszusammenhange despotische Gewalten von weitreichendster Macht entwickelt. Dadurch entstehen Massenbewegungen, die sich zu anderen in der Menschheit vor sich gehenden Bewegungen wie angeschwollene Ströme zu dem beständigen, aber zersplitterten Geriesel eines Quellgeäders verhalten. Ihre geschichtliche Bedeutung tritt aus der Geschichte Chinas, Indiens und Persiens nicht weniger klar hervor als aus der Europas. So wie sie in ihren Weideländereien umherzogen mit Weibern und Kindern, Sklaven, Wagen, Herden und aller Habe, brachen sie über ihre Nachbarländer herein; und was ihnen dieser Ballast an Schnelligkeit nahm, das gab er ihnen an Masse. Damit trieben sie die erschreckten Einwohner vor sich her und wälzten sich über die eroberten Länder aussaugend hin. So wie sie alles mit sich trugen, ließen sie sich auch am neuen Orte mit allem nieder; ihre Festsetzungen gewannen dadurch an ethnographischer Bedeutung. Wir erinnern an den Einzug der Magyaren in Ungarn, der Mandschu in China oder der Turkvölker in die Lande von Persien bis zur Adria.« [31]

Was hier von hamitischen, semitischen, mongolischen und - sicherlich wenigstens teilweise - auch arischen Hirtenvölkern gesagt wird, gilt auch von den echten Negern, soweit sie eben ein Hirtendasein [S. 37] führen: »In den beweglichen, kriegerischen Hirtenvölkern der Kaffern ruht eine Expansionskraft, die nur eines verlockenden Zieles bedarf, um zur gewaltsamen Wirkung zu gelangen und die ethnologischen Verhältnisse weiter Gebiete von Grund aus umzugestalten. Ein solches Ziel bot das östliche Afrika, das zahlreichen friedlichen Ackerbauvölkern Raum zur Entwicklung gewährt hatte, ohne doch, wie die Länder des Inneren, aus klimatischen Gründen die Viehzucht zu verbieten und damit die Stoßkraft der Nomaden von Anfang an zu lähmen. Gleich verheerenden Strömen ergossen sich wandernde Kaffernstämme in die fruchtbaren Sambesiländer und bis an das Hochland zwischen dem Tanganyika und die Küste hinein, wo sie im Unyamwesi bereits den Vorposten einer von Norden kommenden hamitischen Völkerwelle, den Watusi, begegneten. Zum Teil sind die älteren Bewohner dieser Gebiete vernichtet, zum Teil bebauen sie als Hörige den ehemals freien Boden ihrer Heimat, zum Teil endlich haben sie den Kampf noch nicht aufgegeben oder hausen noch ungestört in Siedlungen, an denen der Sturm der Eroberung seitwärts vorüberbrauste« [32].

Was sich hier noch eben vor unseren Augen abgespielt hat und sogar noch abspielt, das hat seit vielen Jahrtausenden »ganz Ostafrika vom Sambesi bis zum Mittelmeere erschüttert«. Der Einfall der Hyksos, Ägyptens mindestens halbtausendjährige Unterwerfung unter die Hirtenstämme der östlichen und nördlichen Wüsten, »Stammverwandte jener Völker, die heut noch zwischen Nil und Rotem Meer ihre Herden weiden«, [33] ist nur die erste uns bekannte dieser Staatsgründungen, denen im Nilland selbst und weiter südlich so viele andere nachfolgten, bis auf das Reich des Muata Jamvo am Südrand des mittleren Kongogebietes, von dem die portugiesischen Händler in Angola schon am Ende des 16. Jahrhunderts erfuhren, und bis auf das Kaiserreich Uganda, das erst in unseren Tagen der stärkeren Kriegsorganisation der Europäer erlag. »Wüste und Kulturland ruhen nie und nirgend kampflos nebeneinander; aber ihre Kämpfe sind einförmig und voll Wiederholungen« [34].

»Einförmig und voll Wiederholungen!« das ist die Weltgeschichte [S. 38] in ihren Grundzügen überhaupt, weil die menschliche Psyche ebenfalls in ihren Grundzügen überall die gleiche ist und auf die gleichen Einwirkungen der Umwelt gleichmäßig reagiert, bei allen Rassen aller Farben in allen Erdstrichen, in den Tropen, wie in den gemäßigten Zonen. Man muß nur weit genug zurücktreten, den Standpunkt so hoch wählen, daß das bunte Spiel der Einzelheiten uns die großen Massenbewegungen nicht mehr verbirgt; dann entschwinden unserem Blick die »Modi« der kämpfenden, wandernden, arbeitenden Menschheit, und ihre »Substanz«, ihre ewig gleiche, ewig erneute, ihre im Wechsel dauernde, enthüllt uns ihre »einförmigen« Gesetze.

Allmählich entsteht aus diesem ersten Stadium das zweite, namentlich dann, wenn der Bauer, durch tausend Mißerfolge gekirrt, sich in sein Schicksal ergeben, auf jeden Widerstand verzichtet hat. Dann beginnt es selbst dem wilden Hirten aufzudämmern, daß ein totgeschlagener Bauer nicht mehr pflügen, ein abgehackter Fruchtbaum nicht mehr tragen kann. Er läßt im eigenen Interesse den Bauern leben und den Baum stehen, wenn es möglich ist. Die reisige Expedition kommt nach wie vor, waffenstarrend, aber nicht mehr eigentlich in Erwartung von Krieg und gewaltsamer Aneignung. Sie brennt und mordet nur so viel, wie erforderlich ist, um den heilsamen Respekt zu erhalten oder vereinzelten Trotz zu brechen. Aber im allgemeinen, grundsätzlich, nach einem fest gewordenen Gewohnheitsrecht - der erste Keim alles staatlichen Rechtes! - nimmt der Hirt nur noch den Überfluß des Bauern. Das heißt, er läßt ihm Haus, Geräte und ausreichend Lebensmittel bis zur nächsten Ernte [35]. Ein Vergleich: der Hirt im ersten Stadium ist der Bär, der den Bienenstock zerstört, indem er ihn ausraubt; im zweiten ist er der Imker, der ihm genug Honig läßt, um zu überwintern.

Ein ungeheurer Schritt vorwärts zwischen erstem und zweitem Stadium! Wirtschaftlich und politisch ein ungeheurer Schritt! Denn zuerst war der Erwerb des Hirtenstammes rein okkupatorisch; schonungslos zerstörte der Genuß des Augenblickes die Reichtumsquelle [S. 39] der Zukunft; jetzt ist der Erwerb wirtschaftlich, denn alles Wirtschaften heißt weise haushalten, den Genuß des Augenblickes der Zukunft halber einschränken. Der Hirt hat gelernt, zu »kapitalisieren«. Ein ebenso gewaltiger Schritt politisch: der blutsfremde Mensch, bisher vogelfreie Beute, hat einen Wert erhalten, ist als Reichtumsquelle erkannt; das ist zwar der Anfang aller Knechtschaft, Unterdrückung und Ausbeutung, aber auch der Anfang zu einer über die Verwandtschaftsfamilie hinausgreifenden höheren Gesellschaftsbildung; und schon spann sich, wie wir sahen, zwischen Räubern und Beraubten der erste Faden einer Rechtsbeziehung über die Kluft fort, die bisher zwischen den Nichts-als-Todfeinden klaffte. Der Bauer erhält eine Art von Recht auf die Lebensnotdurft; es wird ein Unrecht, den nicht Widerstehenden zu töten oder ganz auszuplündern. Und besser als das! Feinere, zartere Fäden knüpfen sich zu einem noch sehr schwachen Netze, menschlichere Beziehungen, als sie der brutale Gewohnheitspakt der Teilung nach dem Muster der partitio leonina enthält. Da die Hirten nicht mehr im Kampfzorn rasend mit den Bauern zusammentreffen, so findet auch wohl einmal eine demütige Bitte Erfüllung, oder eine begründete Beschwerde Gehör. Der kategorische Imperativ der Billigkeit, »was du nicht willst, das man dir tu'«, dem auch der Hirt im Verkehr mit seinen eigenen Bluts- und Stammesgenossen streng gehorcht, beginnt zum erstenmal, ganz schüchtern noch und leise, auch für den Blutsfremden zu sprechen. Hier ist der Keim zu jenem grandiosen äußeren Verschmelzungsprozeß, der aus den kleinen Horden die Völker und Völkerbünde geschaffen hat und dereinst den Begriff der »Menschheit« mit Leben erfüllen wird; hier ebenso der Keim zu der inneren Vereinheitlichung der einst Zersplitterten, die vom Haß der zur allumfassenden Menschenliebe des Christentums und des Buddhismus führte.

Volkstum und Staat, Recht und höhere Wirtschaft, mit allen Entwicklungen und Verzweigungen, die sie schon getrieben haben und noch treiben werden, entstanden gemeinsam in jenem Moment unvergleichlicher weltgeschichtlicher Bedeutung, in dem zuerst der Sieger den Besiegten schonte, um ihn dauernd zu bewirtschaften. Die Wurzel alles Menschlichen taucht nun einmal in das dunkle Erdreich des Tierischen, Liebe und Kunst nicht minder wie Staat, Recht und Wirtschaft.

[S. 40] Bald kommt ein anderes hinzu, um jene seelischen Beziehungen noch enger zu knüpfen. Es gibt in der Wüste außer dem jetzt in den Bienenvater umgewandelten Bären noch andere Petze, die auch nach Honig lüstern sind. Unser Hirtenstamm sperrt ihnen die Wildbahn, er schützt »seinen« Stock mit der Waffe. Die Bauern gewöhnen sich, die Hirten herbeizurufen, wenn ihnen eine Gefahr droht; schon erscheinen sie nicht mehr als die Räuber und Mörder, sondern als die Schützer und Retter. Man stelle sich den Jubel der Bauern vor, wenn die Rächerschaar die geraubten Weiber und Kinder samt den abgehauenen Köpfen oder abgezogenen Skalpen der Räuber ins Dorf zurückbringt. Was sich hier knüpft, sind keine Fäden mehr, das ist ein Band von gewaltiger Festigkeit und Zähigkeit. Hier ist die vornehmste Kraft der »Integration« gezeigt, die im weiteren Verlauf aus den beiden ursprünglich blutsfremden, oft genug sprach- und rassefremden ethnischen Gruppen zuletzt ein Volk mit einer Sprache und Sitte und einem Nationalgefühl schmieden wird: gemeinsames Leid und Not, gemeinsamer Sieg und Niederlage, gemeinsamer Jubel und Totenklage. Ein neues gewaltiges Gebiet hat sich erschlossen, auf dem Herren und Knechte gleichen Interessen dienen; das erzeugt einen Strom von Sympathie, von Zusammengehörigkeit. Jeder Teil ahnt, erkennt im anderen mehr und mehr den Menschen; das Gleiche der Anlage wird herausgefühlt, während vorher nur das Verschiedene in der äußeren Gestalt und Tracht, in der fremden Sprache und Religion zu Haß und Widerwillen aufreizte. Man lernt sich verständigen, erst im eigentlichen Sinne, durch die Sprache, dann auch seelisch; immer dichter wird das Netz der seelischen Zusammenhänge.

In diesem zweiten Stadium der Staatsbildung ist alles Wesentliche bereits in der Anlage enthalten. Kein weiterer Schritt kann sich an Bedeutung mit demjenigen messen, der von der Bären- zur Imkerstufe führte. Wir können uns darum mit kurzen Andeutungen begnügen.

Das dritte Stadium besteht darin, daß der »Überschuß« der Bauernschaften von ihnen selbst regelmäßig als »Tribut« in das Zeltlager der Hirten abgeliefert wird, eine Regelung, die augenscheinlich für beide Teile bedeutende Vorteile hat. Für die Bauern, weil die kleinen Unregelmäßigkeiten, die mit der bisherigen Form der Besteuerung verbunden waren: ein paar erschlagene Männer, vergewaltigte Frauen und niedergebrannte Gehöfte, nun ganz fortfallen; für die Hirten, [S. 41] weil sie, um sich ganz kaufmännisch auszudrücken, für dieses »Geschäft« keine »Spesen« und Arbeit mehr aufzuwenden haben und die freigewordene Zeit und Kraft auf »Erweiterung des Betriebes« verwenden, d.h. mit anderen Worten, neue Bauernschaften unterwerfen können.

Diese Form des Tributs ist uns aus historischen Zeiten bereits sehr geläufig, Hunnen, Magyaren, Tataren, Türken zogen aus den europäischen Tributen ihre besten Einnahmen. Unter Umständen kann sich bereits der Charakter eines Tributes, den Unterworfene an ihre Herren zu bezahlen haben, hier mehr oder minder verwischen, und die Leistung nimmt den Anschein eines Schutzgeldes oder gar einer Subvention an. Man kennt die Sage von Attila, den der kaiserliche Schwachkopf in Byzanz als seinen Lehnsfürsten abschildern ließ, weil ihm der Tribut als Hilfsgeld erschien.

Das vierte Stadium bedeutet wieder einen sehr wichtigen Schritt vorwärts, weil es die entscheidende Bedingung für das Zustandekommen des »Staates« in seiner uns geläufigen äußeren Form hinzubringt: die räumliche Vereinigung der beiden ethnischen Gruppen auf einem Gebiete [36]. (Bekanntlich kann keine juristische Definition des Staates ohne den Begriff des Staatsgebietes auskommen.) Von jetzt an wandeln sich die ursprünglich internationalen Beziehungen beider Gruppen immer mehr in intranationale.

Diese räumliche Vereinigung kann äußere Gründe haben: vielleicht haben stärkere Horden die Hirten vorwärtsgedrängt; vielleicht ist die Volksvermehrung in der Steppe über die Nährkraft der Weiden hinausgewachsen; vielleicht hat ein großes Viehsterben die Hirten [S. 42] gezwungen, die unbegrenzte Weite mit der Enge des Flußtales zu vertauschen. Im allgemeinen reichen aber schon innere Gründe hin, um die Hirten zu veranlassen, die Nachbarschaft der Bauern zu suchen. Die Schutzpflicht gegen die »Bären« zwingt sie, mindestens ein Aufgebot junger Krieger in der Nähe des Stockes zu halten, und das ist gleichzeitig eine gute Vorsichtsmaßregel, um die Bienen von Aufruhrgelüsten oder einer etwaigen Neigung zurückzuhalten, einen anderen Bären als Bienenvater über sich zu setzen. Denn auch das ist nicht selten. So sind, wenn die Überlieferung recht berichtet, Ruriks Söhne nach Rußland gelangt.

Zunächst ist die räumliche Nachbarschaft noch keine staatliche Gemeinschaft im engeren Sinne, d. h. eine Einheitsorganisation.

Wo sie es mit ganz unkriegerischen Unterworfenen zu tun haben, führen die Hirten, wandernd und weidend, ihr Nomadenleben ruhig weiter zwischen ihren Periöken und Heloten. So die hellfarbigen Wahuma, [37] »die schönsten Menschen der Welt« (Kandt) in Zentralafrika; so der Tuareg-Clan der Hadanara vom Stamme der Asgar, der seine »Wohnsitze unter den Imrad genommen hat und zu wandernden Freibeutern geworden ist. Diese Imrad sind die dienende Klasse der Asgar, von der diese leben, obwohl jene imstande sind, zehnmal mehr Streiter zu stellen; ihre Stellung ist ungefähr wie die der Spartaner zu den Heloten.« [38] So die Teda im benachbarten Borku: »So wie das Land in nomadennährende Halbwüste und Gärten und Dattelhaine, so teilt sich seine Bevölkerung in Nomaden und Ansässige. Beide halten sich die Wage, was ihre Zahl anbetrifft: es mögen 10 - 12.000 insgesamt sein; aber es ist selbstverständlich, daß diese von jenen beherrscht werden.« [39]

Und ähnliches gilt von der gesamten Hirtenvölkergruppe der Galla, Masai und Wahuma:

»Während die Besitzunterschiede groß sind, gibt es wenige Sklaven als dienende Klasse. Sie werden durch niedriger gestellte Völker vertreten, die räumlich abgesondert leben. Das Hirtentum ist die Grundlage der Familie, des Staates und zugleich das Prinzip der politischen Bewegungen. In diesem weiten Gebiet gibt es zwischen Schoa und dessen südlichen Vorländern auf der einen und Sansibar auf der anderen Seite keine feste politische [S. 43] Macht, trotz der hochentwickelten sozialen Gliederung.« [40]

Wo aber entweder das Land für Großviehzucht ungeeignet ist - wie z. B. Westeuropa fast überall - oder wo eine weniger unkriegerische Bevölkerung Erhebungsversuche erwarten läßt, da wird die Herrenbevölkerung mehr oder weniger seßhaft, sitzt, natürlich an festen oder strategisch wichtigen Punkten, in Zeltlagern oder Burgen oder Städten. Von hier aus beherrschen sie ihre »Untertanen«, um die sie sich im übrigen nicht weiter kümmern, als das Tributrecht es verlangt. Selbstverwaltung und Kultübung, Rechtsprechung und Wirtschaft ist den Unterworfenen völlig überlassen; ja, sogar ihre autochthone Verfassung, ihre lokalen Autoritäten bleiben unverändert.

Wenn Frants Buhl [41] recht berichtet ist, so war das der Anfang der israelitischen Herrschaft in Kanaan. Abessynien, diese uns als Vollstaat imponierende gewaltige Militärmacht, scheint auch noch nicht weit über das vierte Stadium hinaus zu sein. Wenigstens berichtet Ratzel [42]: »Wie sich die orientalischen Monarchen in alter und neuer Zeit nie viel um die innere Regierung und Gerechtigkeitspflege der unterworfenen Völker bekümmerten, war und ist Hauptsorge der Abessynier der Tribut.«

Das beste Beispiel aber für das vierte Stadium bietet uns die Geschichte in der Ordnung des alten Mexiko vor der Conquista:

»Die Konföderation, an deren Spitze die Mexikaner standen, hatte etwas fortgeschrittenere Begriffe von Eroberung. Von ihr wurden nur die Stämme vernichtet, die Widerstand leisteten. Sonst aber wurden die Überwundenen bloß ausgeplündert und dann zu Tribut verpflichtet. Der geschlagene Stamm regierte sich wie vorher durch seine Vorgesetzten, kein Gedanke, wie in Peru, an Bildung eines zusammenhängenden Reiches begleitete den ersten Überfall, nur Einschüchterung und Ausbeutung. So war denn das sogenannte Reich von Mexiko zur Zeit der Eroberung bloß eine Kette von eingeschüchterten Indianerstämmen, die, selbst untereinander scheu getrennt lebend, durch Furcht vor den Ausfällen aus einem unangreifbaren Raubnest in ihrer Mitte niedergehalten wurden. [43]

Wie man sieht, ist hier von einem Staat im eigentlichen Sinne [S. 44] noch nicht die Rede. Ratzel stellt das in der nachfolgend wiedergegebenen Bemerkung trefflich fest:

»Sieht man, wie weit die von Montezumas Kriegern unterworfenen Punkte durch nicht unterworfene Gebiete voneinander getrennt waren, so fühlt man sich versucht, Vergleiche mit der Hovaherrschaft über Madagaskar zu ziehen. Die Verstreuung einiger Garnisonen, besser: militärischer Kolonien, über das Land, die mühselig einen Beutekreis von ein paar Stunden in Unterwerfung halten, bedeutet uns nicht die Alleinherrschaft.« [44]

Aber von diesem vierten führt die Logik der Dinge schnell zum fünften Stadium, das nun schon fast der volle Staat ist.

Streitigkeiten entstehen zwischen benachbarten Dörfern oder Gauen, deren gewaltsamen Austrag die Herrengruppe nicht dulden kann, da dadurch die »Prästationsfähigkeit« der Bauern leiden müßte; sie wirft sich zum Schiedsrichter auf und erzwingt im Notfall ihren Spruch. Schließlich hat sie an dem »Hofe« jedes Dorfkönigs oder Gauhauptes ihren beamteten Vertreter, der die Macht ausübt, während dem alten Herrn der Schein der Macht bleibt. Für primitive Verhältnisse bildet der Inka-Staat das typische Beispiel dieser Ordnung.

Hier saßen die Inka in Cuzko vereint, wo sie ihre Erbländereien und ihre Wohnungen hatten. [45] Aber in jedem Bezirk residierte ein Vertreter der Inka, ein »Tucricuc«, am Hofe des eingeborenen Häuptlings. Er »hatte die Aufsicht über alle Angelegenheiten seines Bezirkes; er hatte die Aushebung der Mannschaften für das Heer zu veranlassen, die Einlieferung der Abgaben zu überwachen, die Frondienste, Wege- und Brückenbauten anzuordnen, das Rechtswesen zu leiten, kurz alles, was seinen Bezirk betraf unterstand seiner Aufsicht.« [46]

Was amerikanische Jäger und semitische Hirten ausgebildet haben, findet sich auch im Bezirk der afrikanischen Hirten. In Ashanti ist das System der Tucricuc ebenfalls typisch ausgebildet [47], und auch die Dualla haben über den in abgesonderten Dörfern lebenden [S. 45] Untertanen »ein auf Eroberung begründetes Mittelding von Lehnswesen und Sklaverei« [48] errichtet. Und von den Barotse berichtet derselbe Autor eine Verfassung, die schon fast völlig der mittelalterlichen Feudalordnung frühester Stufe entspricht: Ihre »Dörfer sind (...) in der Regel von einem Kranze von Weilern umgeben, wo Leibeigene wohnen, die in der nächsten Umgebung für ihre Herren Felder bestellen, Getreide anbauen oder auch Viehherden hüten müssen.« [49] Hier ist für unsere Begriffe nur fremdartig, daß die einzelnen Herren nicht in Burgen oder Hallen, sondern dorfweise zwischen den Unterworfenen hausen.

Von den Inka zu den Doriern in Lakedämon, Messenien und Kreta ist nur noch ein ebenso kleiner Schritt, wie von den Fulbe, Dualla und Barotse zu den verhältnismäßig straff organisierten Feudalstaaten der afrikanischen Negerreiche Uganda, Unyoro usw. und zu den ganz entsprechenden Feudalreichen Ost- und Westeuropas und ganz Asiens. Die Dinge entwickeln sich überall kraft derselben sozialpsychologischen Logik zum gleichen Ziele. Die Notwendigkeit, die Unterworfenen in Raison und bei voller Leistungsfähigkeit zu erhalten, führt Schritt für Schritt vom fünften zum sechsten Stadium, nämlich zur Ausbildung des Staates in jedem Sinne, zur vollen Intranationalität und zur Entwicklung der »Nationalität«. Immer häufiger wird der Zwang, einzugreifen, zu schlichten, zu strafen, zu erzwingen; die Gewohnheit des Herrschens und die Gebräuche der Herrschaft bilden sich aus. Die beiden Gruppen, erst räumlich getrennt, dann auf einem Gebiete vereint, aber noch immer nur erst nebeneinandergelegt, dann durcheinandergeschüttelt, eine mechanische »Mischung« im Sinne der Chemie, werden mehr und mehr zu einer »chemischen Verbindung«. Sie durchdringen sich, mischen sich, verschmelzen in Brauch und Sitte, Sprache und Gottesdienst zu einer Einheit, und schon spannen sich auch Fäden der Blutsverwandtschaft von der Ober- zur Unterschicht. Denn überall wählt sich das Herrenvolk die schönsten Jungfrauen der Unterworfenen zu Kebsen, und ein Stamm von Bastarden wächst empor, bald der Herrenschicht eingeordnet, bald verworfen und dann kraft des in ihren Adern rollenden Herrenblutes die geborenen Führer der Beherrschten. Der primitive Staat ist fertig, Form und Inhalt.


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Fußnoten

1. Wilh. Wundt, Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig 1912. p. 301. [Zurück zum Text]
2. »Die Geschichte vermag uns kein Volk aufzuzeigen, bei dem die ersten Spuren der Teilung der Arbeit und des Ackerbaues nicht auch mit solchen wirtschaftlicher Ausbeutung zusammenfielen, bei dem nicht die Last der Arbeit den einen, und deren Frucht den anderen zugefallen wäre, bei dem, mit anderen Worten, die Teilung der Arbeit sich nicht in der Form der Unterwerfung der einen unter die andern gebildet hätte.« (Rodbertus-Jagetzow, Beleucht. der soz. Frage. 2. Aufl. Berlin 1890. p. 124.) [Zurück zum Text]
3. Große, Formen der Familie. Freiburg u. Leipzig 1896. p. 39. [Zurück zum Text]
4. Ratzel, Völkerkunde. 2. Aufl. Leipzig u. Wien 1894/5. II, p. 372. [Zurück zum Text]
5. Die soziale Verfassung des Inkareichs. Stuttgart 1896. p. 51. [Zurück zum Text]
6. Dieser psychologische Gegensatz, der vielfach ausdrücklich bezeugt ist, ist doch nicht die absolute Regel. Große (Formen der Familie, p. 137) schreibt: »Einzelne Kulturhistoriker stellen freilich die Ackerbauer den kriegerischen Nomaden als friedliebende Völker gegenüber. Man kann allerdings von ihrer Wirtschaftsform nicht wie von der Viehzucht behaupten, daß ihr Wesen zum Kriege erziehe und locke. Nichtsdestoweniger aber findet man gerade in dem Bereiche dieser Kultur eine Menge der kriegslustigsten und grausamsten Völker, die man überhaupt finden kann. Die wilden Kannibalen des Bismarckarchipels, die mordgierigen Vitianer, die Menschenschlächter von Dahome und Aschanti - sie alle betreiben die »friedliche« Ackerwirtschaft; und wenn die übrigen Pflanzenbauer auch nicht ganz so schlimm sind, so scheint uns doch die Sanftmut der meisten mindestens fragwürdig.« [Zurück zum Text]
7. Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen usw. Berlin 1895. I, p. 273. [Zurück zum Text]
8. l. c. I, p. 138. [Zurück zum Text]
9. Ratzel, l. c. I, p. 702. [Zurück zum Text]
10. Dazu kommt entscheidend, daß überall in diesen Gesellschaften der Reiche durch den Druck der öffentlichen Meinung gezwungen ist, reichlich, und oft überreichlich, bis zum Ruin, herzuschenken. [Zurück zum Text]
11. Ratzel, l. c. II, p. 555. [Zurück zum Text]
12. Ratzel, l. c. II, p. 555. [Zurück zum Text]
13. Z.B. bei den Ovambo nach Ratzel, l. c. II, 214, wo sie sich zum Teil »in sklavischer Stellung zu finden scheinen«; so nach Laveleye im alten Irland (Fuidhirs). [Zurück zum Text]
14. Ratzel, l. c. I, p. 648. [Zurück zum Text]
15. Ratzel, l. c. II, p. 99. [Zurück zum Text]
16. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit. Stuttgart 1886, II, p. 302. [Zurück zum Text]
17. Diese Angabe Lipperts ist nicht ganz korrekt. Die höheren seßhaften Jäger und Fischer Nordwest-Amerikas haben beides, Adel und Sklaven. [Zurück zum Text]
18. Lippert l. c. II, p. 522. [Zurück zum Text]
19. Röm. Geschichte. 6. Aufl. Berlin 1874. I, p. 17. [Zurück zum Text]
20. Ratzel, l. c. II, p. 518. [Zurück zum Text]
21. Ratzel, l. c. I, p. 425. [Zurück zum Text]
22. Ratzel, l. c. II, p. 545. [Zurück zum Text]
23. Ratzel, l. c. II, p. 390/1. [Zurück zum Text]
24. Ratzel, l. c. II, p. 390/1. [Zurück zum Text]
25. Lippert, l. c. I, p. 471. [Zurück zum Text]
26. Kulischer, Zur Entwicklungsgeschichte des Kapitelzinses. Jahrb. f. Nat.-Ök. u. Stat. III. Folge, 18. Bd. Jena 1899. p. 318. (»Plünderer und bei der Dürftigkeit ihrer Heimat nach fremdem Land begierig«, sagt Strabo.) [Zurück zum Text]
27. Ratzel, l. c. I, p. 123. [Zurück zum Text]
28. Ratzel, l. c. I, p. 591. [Zurück zum Text]
29. Ratzel, l. c. II, p. 370. [Zurück zum Text]
30. Ratzel, l. c. II, p. 390/1. [Zurück zum Text]
31. Ratzel, l. c. II, p. 388/9. [Zurück zum Text]
32. Ratzel, l. c. II, p. 103/4. [Zurück zum Text]
33. Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten. Zeitschrift f. Soz. Wissenschaft Bd. 4 (1901), p. 700/1. [Zurück zum Text]
34. Ratzel, l. c. II, p. 404/5. [Zurück zum Text]
35. »Viele Sklaven zu halten, verbietet die Schwierigkeit ihrer Ernährung. Man hält also ganze Bevölkerungen in Untertänigkeit, denen man alles nimmt, was über das Bedürfnis der Lebensfristung hinausgeht. Man wandelt ganze Oasen in Domänen um, die man zur Erntezeit besucht, um ihre Bewohner auszurauben: eine echt wüstenhafte Beherrschung.« (Ratzel, l. c. II, p. 393, von den Arabern). [Zurück zum Text]
36. Bei den Fulbe besteht sogar etwas wie ein Übergangszustand zwischen den drei ersten und dem vierten Stadium, ein halb inter-, halb intranationaler Zustand der Herrschaft: »Das erobernde Volk streckt wie ein Polyp zahlreiche Arme hier- und dorthin zwischen die bestürzten Eingeborenen, deren Uneinigkeit eine Menge von Lücken bietet. So fließen langsam die Fulbe in die Benuëländer hinein und durchdringen sie ganz allmählich. Mit Recht vermeiden es daher auch neuere Beobachter, bestimmte Grenzen anzugeben. Es gibt viele zerstreute Fulbeortschaften, die einen bestimmten Ort als Mittelpunkt und zugleich als Machtzentrum ansehen; so ist Muri Vor- und Hauptort der zahlreichen am mittleren Benuë zerstreuten Fulbeniederlassungen, und ähnlich ist wohl die Stellung Yolas im Gebiet von Adamaua. Eigentliche Reiche, die sich fest gegeneinander und gegen die unabhängigen Stämme abgrenzen, gibt es noch nicht. Selbst diese Hauptorte sind übrigens noch weit davon entfernt, fest zu liegen.« (Ratzel, l. c. II, p. 492.) [Zurück zum Text]
37. Ratzel, l. c. II, p. 165. [Zurück zum Text]
38. Ratzel, l. c. II, p. 485. [Zurück zum Text]
39. Ratzel, l. c. II, p. 480. [Zurück zum Text]
40. Ratzel, l. c. II, p. 165. [Zurück zum Text]
41. Buhl, Soziale Verhältnisse der Israeliten, p. 13. [Zurück zum Text]
42. Ratzel, l. c. II, p. 455. [Zurück zum Text]
43. Ratzel, l. c. I, p. 628. [Zurück zum Text]
44. Ratzel, l. c. I, p. 625. [Zurück zum Text]
45. Cieza de Leon, »Seg. parte de la crónica del Peru«, p. 75, zit. nach Cunow, Inkareich. Stuttgart 1896. (p. 62 Anm. 1.) [Zurück zum Text]
46. Cunow, l. c., p. 61. [Zurück zum Text]
47. Ratzel, l. c. II, p. 346. [Zurück zum Text]
48. Ratzel, l. c. II, p. 36/7. [Zurück zum Text]
49. Ratzel, l. c. II, p. 221. [Zurück zum Text]

 

II. Der primitive Eroberungsstaat

a) Die Form der Herrschaft

[S. 46] Seine Form ist die Herrschaft. Die Herrschaft einer kleinen, kriegsfrohen, enggeschlossenen und -versippten Minderheit über ein fest begrenztes Landgebiet und seine Bebauer. Diese Herrschaft wird ausgeübt nach den Vorschriften eines durch Gewohnheit gewordenen Rechtes, das die Vorrechte und Ansprüche der Herren und die Gehorsamspflicht und Leistung der Untertanen regelt und zwar so regelt, daß die Prästationsfähigkeit der Bauern - das Wort stammt noch aus der friderizianischen Zeit! - nicht leidet. Durch Gewohnheitsrecht festgelegtes »Imkertum« also! Der Leistungspflicht der Bauern entspricht die Schutzpflicht der Herren, die sich auf Übergriffe der eigenen Klassengenossen ebenso erstreckt, wie auf Angriffe auswärtiger Feinde. Das ist der eine Teil des Staatsinhaltes; der andere, im Anfang ungleich wichtigere und größere, ist die ökonomische Ausbeutung, das politische Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Der Bauer gibt einen Teil seines Arbeitserzeugnisses hin, ohne äquivalente Gegenleistung. »Im Anfang war die Grundrente!«

Die Formen, in denen sich der Grundrentenbezug und -verzehr vollzieht, sind sehr verschieden. Bald sitzt die Herrengenossenschaft als geschlossener Verband in einem festen Lager und verzehrt kommunistisch den Tribut der Bauernschaften: so im Inkastaate. Bald ist schon jedem einzelnen Kriegsedeling ein bestimmtes Landlos zugewiesen; aber er verzehrt dessen Ertrag doch noch vorwiegend in der Syssitie mit seinen Klassengenossen und Waffengefährten: so in Sparta. Bald ist der Grundadel über das ganze Gebiet zerstreut, haust einzeln mit seinen Gefolgen auf seinen festen Burgen und verzehrt individualistisch den Ertrag seiner Herrschaft. Aber noch ist er kein »Wirt«; er empfängt nur den Tribut von der Arbeit seiner Hörigen, die er weder leitet noch auch nur beaufsichtigt. Das ist der Typus der mittelalterlichen Grundherrschaft in den Ländern germanischen Adels. Und schließlich wird der Ritter zum Rittergutsbesitzer, die hörigen Bauern verwandeln sich in Arbeiter seines Großbetriebes, und der Tribut erscheint jetzt als Unternehmergewinn: das ist der Typus des ersten kapitalistischen Betriebs der Neuzeit, des Großgutsbetriebs [S. 47] im ehemals slawischen Kolonisationsgebiete. Zahlreiche Übergänge führen von einer Stufe zur anderen.

Aber im Kerne überall derselbe »Staat«. Sein Zweck überall das politische Mittel der Bedürfnisbefriedigung: Aneignung zunächst der Grundrente, solange noch keine Gewerbsarbeit besteht, die angeeignet werden könnte. Seine Form überall die Herrschaft: die Ausbeutung als »Recht«, als »Verfassung« auferlegt und streng, wenn nötig grausam, aufrecht erhalten und durchgesetzt: aber doch das absolute Eroberer-Recht im Interesse des dauernden Grundrentenbezuges ebenfalls rechtlich eingeengt. Die Leistungspflicht der Untertanen ist begrenzt durch ihr Recht auf Erhaltung bei der Leistungsfähigkeit; das Steuerrecht der Herren ist ergänzt durch ihre Schutzpflicht nach innen und außen - Rechtsschutz und Grenzschutz.

Damit ist der primitive Staat reif, in seinen sämtlichen wesentlichen Elementen voll ausgebildet. Der embryonale Zustand ist überwunden; was noch folgt, sind lediglich Wachstumserscheinungen.

Er stellt gegenüber den Familienverbänden zweifellos eine höhere Art vor; der Staat umschließt eine größere Menschenmenge in strafferer Gliederung, fähiger zur Bewältigung der Natur und Abwehr der Feinde. Er wandelt die halb spielende Beschäftigung in strenge methodische Arbeit und bringt dadurch zwar unendliches Elend über eine unabsehbare Reihe kommender Geschlechter, die nun erst im Schweiße ihres Antlitzes ihr Brot essen müssen, seit auf das goldene Zeitalter der freien Blutsgemeinschaft das eiserne des Staates und der Herrschaft folgte: aber er stellt auch eben durch die Erfindung der Arbeit im eigentlichen Sinne die Kraft in die Welt, die allein das goldene Zeitalter auf viel höherer Stufe der Gesittung und des Glückes Aller wieder herbeiführen kann. Er zerstört, um mit Schiller zu sprechen, das naive Glück der Kinder-Völker, um sie auf schwerem Leidenswege zum »sentimentalischen«, zum bewußten Glück der Reife emporzuführen.

Eine höhere Art! Schon Paul v. Lilienfeld, einer der Hauptverfechter der Anschauung, daß die Gesellschaft ein Organismus höherer Art ist, hat darauf hingewiesen, daß hier eine besonders schlagende Parallele zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Organismus gegeben ist. Alle höheren Wesen pflanzen sich geschlechtlich fort, die niederen ungeschlechtlich, durch Teilung, Knospung, allenfalls Kopulation. Nun, und der einfachen Teilung [S. 48] entspricht genau das Wachstum und die Fortpflanzung der vorstaatlichen Blutsgenossenschaft; sie wächst, bis sie für den Zusammenhalt zu groß wird, schnürt sich ab, teilt sich, und die einzelnen Horden bleiben allenfalls in einem sehr losen Zusammenhang, ohne irgendwie straffere Gliederung. Der Kopulation ist die Verschmelzung exogamischer Gruppen vergleichbar.

Der Staat aber entsteht durch geschlechtliche Fortpflanzung. Alle zwiegeschlechtliche Fortpflanzung vollzieht sich so, daß das männliche Prinzip, eine kleine, sehr aktive, bewegliche Schwärmzelle (das Spermatozoid) eine große, träge, der Eigenbewegung entbehrende Zelle (das Ovulum), das weibliche Prinzip, aufsucht, in sie eindringt und mit ihr verschmilzt, worauf ein Prozeß gewaltigen Wachstums, d.h. wundervoller Differenzierung mit gleichzeitiger Integrierung, sich vollzieht. Die träge, schollengefesselte Bauernschaft ist das Eichen, der bewegliche Hirtenstamm das Spermatozoid dieses soziologischen Befruchtungsaktes, und sein Ergebnis ist die Reifung eines höheren, in seinen Organen viel reicher gegliederten und viel kräftiger zusammengefaßten (integrierten) sozialen Organismus. Wer weitere Parallelen sucht, kann sie leicht finden. Die Art, wie unzählige Spermatozoide das Ovulum umschwärmen, bis endlich eines, das stärkste oder glücklichste, die Mikropyle entdeckt und erobert, ist den Grenzfehden, die der Staatsbildung vorangehen, wohl vergleichbar, und ebenso die fast magische Anziehungskraft, die das Ovulum auf die Schwärmzellen ausübt, dem Zuge der Steppensöhne in die Ebenen.

»Als welches« übrigens für den »Organizismus« immer noch kein Beweis ist! Aber dies Problem kann hier nur angedeutet werden.

b) Die Integration

Wir verfolgten die Entstehung des Staates vom zweiten Stadium an in seinem objektiven Wachstum als politisch-rechtliche Form und ökonomischer Inhalt. Wichtiger aber - denn alle Soziologie ist fast durchaus Sozialpsychologie - ist sein subjektives Wachstum, seine sozialpsychologische »Differenzierung und Integrierung«.

[S. 49] Sprechen wir zuerst von der Integrierung!

Das Netz seelischer Beziehungen, das wir bereits im zweiten Stadium sich knüpfen sahen, wird immer dichter und enger in dem Maße, wie die materielle Verschmelzung, die wir schilderten, vorwärtsschreitet. Die beiden Dialekte werden zu einer Sprache, oder die eine der beiden, oft ganz stammverschiedenen, Sprachen verschwindet, zuweilen die der Sieger (Langobarden), häufiger die der Besiegten. Die beiden Kulte verschmelzen zu einer Religion, in der der Stammgott der Sieger als Hauptgott angebetet wird, während die alten Götter bald zu seinen Dienern, bald zu seinen Gegnern: Dämonen oder Teufeln werden. Der äußerliche Typus gleicht sich aneinander an unter den Einflüssen gleichen Klimas und ähnlicher Lebenshaltung; wo eine starke Verschiedenheit der Typen bestand und sich erhält, [1] füllen wenigstens die Bastarde die Kluft einigermaßen aus, und der Typus der Feinde jenseits der Grenzen wird allmählich von allen stärker als ethnischer Gegensatz, als »fremd« empfunden, als der noch bestehende Gegensatz der nunmehr vereinten Typen. Immer mehr lernen sich Herren und Knechte als »ihresgleichen« ansehen, wenigstens im Verhältnis zu den Fremden draußen. Zuletzt verschwindet die Erinnerung an die verschiedene Abstammung oft gänzlich; die Eroberer gelten als Söhne der alten Götter - sind es ja oft auch buchstäblich, da diese Götter zuweilen nichts anderes sind als die durch Apotheose vergotteten Seelen der Ahnen. Je schärfer sich im Zusammenprall der benachbarten »Staaten«, die ja viel aggressiver sind als vorher die benachbarten Blutsgemeinschaften, das Gefühl der Absonderung aller Insassen des staatlichen Friedenskreises von den auswärtigen Fremden ausprägt, um so stärker wird im Inneren das Gefühl der Zusammengehörigkeit; und um so mehr faßt der Geist der Brüderlichkeit, der Billigkeit hier Wurzel, der früher nur innerhalb der Horden herrschte und jetzt noch immer innerhalb [S. 50] der Adelsgenossenschaft herrscht. Das sind natürlich von oben nach unten ganz schwache Fäden; Billigkeit und Brüderlichkeit erhalten nur so viel Raum, wie das Recht auf das politische Mittel es erlaubt: aber so viel Raum erhalten sie! Und vor allem ist es der Rechtsschutz nach innen, der ein noch stärkeres Band seelischer Gemeinschaft webt als der Waffenschutz nach außen. Justitia fundamentum regnorum! Wenn die Junkerschaft als soziale Gruppe »von Rechts wegen« einen junkerlichen Totschläger oder Räuber hinrichtet, der die Grenze des Rechtes der Ausbeutung überschritt, dann dankt und jubelt der Untertan noch herzlicher als nach einer gewonnenen Schlacht.

Das sind die Hauptlinien in der Entwicklung der psychischen Integration. Die Gemeininteressen an Rechtsordnung und Frieden erzeugen eine starke Gemeinempfindung, ein »Staatsbewußtsein«, wie man es nennen kann.

c) Die Differenzierung (Gruppentheorien und Gruppenpsychologie)

Auf der anderen Seite vollzieht sich pari passu, wie in allem organischen Wachstum, eine ebenso kräftige psychische Differenzierung. Die Gruppeninteressen erzeugen starke Gruppenempfindungen; Ober- und Unterschicht entwickeln ihren Sonderinteressen entsprechend je ein »Gruppenbewußtsein«.

Das Sonderinteresse der Herrengruppe besteht darin, das geltende von ihr auferlegte Recht des politischen Mittels aufrechtzuerhalten; sie ist »konservativ«. Das Interesse der beherrschten Gruppe geht im Gegenteil dahin, dieses Recht aufzuheben und durch ein neues Recht der Gleichheit aller Insassen des Staates zu ersetzen: sie ist »liberal« und revolutionär.

Hier steckt die tiefste Wurzel aller Klassen- und Parteienpsychologie. Und schon hier bilden sich nach strengen Seelengesetzen sofort jene unvergleichlich mächtigen Gedankenreihen aus, die noch Jahrtausende hindurch als »Klassentheorien« im Bewußtsein der Zeitgenossen die Gesellschaftskämpfe leiten und rechtfertigen werden.

[S. 51] »Wo der Wille spricht, hat der Verstand zu schweigen«, sagt Schopenhauer, und Ludwig Gumplowicz meint fast dasselbe, wenn er sagt: »Naturgesetzlich handelt der Mensch, und menschlich denkt er hinterdrein«. Der Einzelmenseh muß, streng determiniert, wie sein Wille ist, so handeln, wie seine Umwelt es gebietet; und das gleiche gilt für jede Menschengemeinschaft, für Gruppen, Klassen und Staat. Sie »strömen vom Orte höheren ökonomischen und sozialen Druckes zum Orte geringeren Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes«. Da aber Einzelmensch und Menschengemeinschaft sich freihandelnd glauben, so zwingt sie ein unentrinnbares psychisches Gesetz, den Weg, den sie zurücklegen, als frei gewähltes Mittel, und den Punkt, auf den sie zutreiben, als frei gewähltes Ziel anzuschauen. Und weil der Mensch ein vernünftiges und sittliches, d.h. soziales Wesen ist, darum steht er unter dem Zwange, Mittel und Ziel seiner Bewegung vor Vernunft und Sittlichkeit, d.h. dem Sozialbewußtsein, zu rechtfertigen.

Solange die Beziehungen der beiden Gruppen lediglich die internationalen zweier Grenzfeinde waren, bedurfte das politische Mittel keiner Rechtfertigung. Denn der Blutsfremde hat keinerlei Recht. Sobald aber die psychische Integration das Gemeingefühl des Staatsbewußtseins einigermaßen ausgebildet hat, sobald der hörige Knecht ein »Recht« erworben hat, und in dem Maße, wie das Bewußtsein des Gleichseins sich vertieft, bedarf das politische Mittel der Rechtfertigung, und in der Herrengruppe entsteht die Gruppentheorie des »Legitimismus«.

Der Legitimismus rechtfertigt Herrschaft und Ausbeutung überall mit den gleichen anthropologischen und theologischen Gründen. Die Herrengruppe, die ja Mut und Kriegstüchtigkeit als die einzigen Tugenden des Mannes anerkennt, erklärt sich selbst, die Sieger - und von ihrem Standpunkte aus ganz mit Recht - als die tüchtigere, bessere »Rasse«, eine Anschauung, die sich verstärkt, je mehr die unterworfene Rasse bei harter Arbeit und schmaler Kost herabkommt. Und da der Stammesgott der Herrengruppe in der neuen, durch Verschmelzung entstandenen Staatsreligion zum Obergott geworden ist, so erklärt sie - wieder von ihrem Standpunkte ganz mit Recht - die Staatsordnung für gottgewollt, für »tabu«. Durch einfache logische Umkehrung erscheint ihr auf der anderen Seite die unterworfene Gruppe als solche schlechterer Rasse, als störrisch, tückisch, träg und [S. 52] feig und ganz und gar unfähig, sich selbst zu regieren und zu verteidigen; und jede Auflehnung gegen die Herrschaft muß ihr notwendig als Empörung gegen Gott selbst und sein Sittengesetz erscheinen. Darum steht die Herrengruppe überall in engster Verbindung mit der Priesterschaft, die sich, wenigstens in allen leitenden Stellungen, fast immer aus ihren Söhnen ergänzt und an ihren politischen Rechten und ökonomischen Privilegien ihren Anteil hat.

Das war und ist noch heute die Klassentheorie der Herrenklasse; kein Zug ist fortgefallen, keiner hinzugekommen. Selbst jene sehr moderne Behauptung, mit der der Grundadel z. B. Frankreichs und Ostelbiens die Ansprüche der Landbevölkerung auf Grundeigentum zurückzuweisen versuchte, daß ihm das Land von Anfang an gehört habe, während die Ackerknechte es nur von ihm zum Lehen erhalten haben, findet sich auch bei den Wahuma [2] und wahrscheinlich noch vielfach anderwärts.

Und wie ihre Klassentheorie, so war und ist auch ihre Klassenpsychologie überall die gleiche. Der wichtigste Zug ist der »Junkerstolz«, die Verachtung der arbeitenden Unterschicht. Sie sitzt so tief im Blute, daß die Hirten sogar dann, wenn sie nach dem Verlust ihrer Herden in wirtschaftliche Abhängigkeit geraten sind, ihren Herrenstolz bewahren: »Selbst die Galla, die nördlich von Tana durch die Somal ihres Herdenreichtums beraubt und dadurch zu Hirten fremder Herden, am Sabaki selbst zu Ackerbauern wurden, sehen mit Verachtung auf die ihnen unterworfenen suaheliähnlichen, ackerbauenden Wapokomo herab, weniger auf die gallaähnlichen und den Galla tributären Jägervölker der Waboni, Wassania und Walangulo (Ariangulo).« [3] Und die folgende Schilderung der Tibbu paßt wie angegossen auf Walter Habenichts und die übrigen armen Ritter, die in den Kreuzzügen Beute und Herrenland suchten; und nicht minder auf manchen adligen Schnapphahn des deutschen Ostens und manchen verlumpten Schlachzizen oder Hidalgo: »Es sind Menschen voll Selbstgefühl. Sie mögen Bettler sein, aber sie sind keine Paria. Viele Völker wären unter diesen Umständen elender und gedrückter; die Tibbu haben Stahl in ihrer Natur. Sie sind zu Räubern, wie zu Kriegern und Herrschern trefflich geeignet. Imponierend ist bei aller schakalhaften Gemeinheit selbst ihr Raubsystem. Diese verlumpten, [S. 53] mit äußerster Armut und beständigem Hunger kämpfenden Tibbu erheben die unverschämtesten Ansprüche in scheinbarem oder wirklichem Glauben an ihr Recht. Das Schakalsrecht, das die Habe des Fremdlings als gemeines Gut betrachtet, ist Schutz gieriger Menschen vor Entbehrung. Die Unsicherheit eines fast beständigen Kriegszustandes kommt hinzu, um dem Leben etwas Forderndes und sogleich auf Erfüllung Dringendes zu geben!« [4] Und es ist ebensowenig eine auf Ostafrika beschränkte Erscheinung, wenn es vom abessinischen Soldaten heißt: »So ausstaffiert kommt er daher. Stolz blickt er auf jeden nieder: ihm gehört das Land, für ihn muß der Bauer arbeiten«. [5]

So tief der Junker überall das ökonomische Mittel und seinen Träger, den Bauern, verachtet, so naiv bekennt er sich zum politischen Mittel. Ehrlicher Krieg und »ehrlicher« Raub sind seine Herrengewerbe, sind sein gutes Recht. Sein Recht reicht - gegenüber den nicht demselben Friedenskreise Angehörigen - genau so weit, wie seine Macht. Nirgend wohl findet sich eine kennzeichnendere Lobpreisung des politischen Mittels als in dem bekannten dorischen Tischliede:

»Ich habe große Schätze; den Speer, dazu das Schwert;
Dazu den Schirm des Leibes, den Stierschild altbewährt.
Mit ihnen kann ich pflügen, die Ernte fahren ein,
Mit ihnen kann ich keltern den süßen Traubenwein,
Durch sie trag ich den Namen »Herr« bei den Knechten mein.

Die aber nimmer wagen, zu führen Speer und Schwert,
Auch nicht den Schirm des Leibes, den Stierschild altbewährt,
Die liegen mir zu Füßen am Boden hingestreckt,
Von ihnen, wie von Hunden, wird mir die Hand geleckt;
Ich bin ihr Perserkönig - der stolze Name schreckt.« [6]

Spricht sich in diesen übermütigen Strophen der Stolz des kriegerischen Herren aus, so mögen die nachstehenden, nach W. Sombart [S. 54] zitierten Verse aus einem ganz anderen Kulturgebiete zeigen, daß noch immer der Räuber im Krieger steckte, trotz Christentum, Gottesfriede und heiligem römischen Reich deutscher Nation. Auch sie preisen das politische Mittel, aber in seiner krassesten Form, dem simplen Raub:

»Wiltu dich erneren
du junger edelman,
folg du miner lere
sitz uf, drab zum ban!
halt dich zu dem grünen wald;
wan der bur ins holz fert
so renn in freislich an!
derwüsch in bi dem kragen
erfreuw das herze din
nimm im was er habe
span uss die pferdelin sin!« [7]

Sombart fährt fort: »Wenn er es nicht vorzog, auf edleres Wild zu pirschen und den Pfeffersäcken ihre Ladungen abzujagen. Der Raub bildete immer mehr die selbstverständliche Erwerbsart des vornehmen Mannes, dessen Renten allein nicht ausreichten, um den wachsenden Anforderungen an täglichem Aufwand und Luxus zu genügen. Das Freibeutertum galt als durchaus ehrenhafte Beschäftigung, weil es dem Geiste des Rittertums entsprach, daß jedermann das an sich bringe, was der Spitze seines Speeres und der Schärfe seines Schwertes erreichbar war. Bekannt ist, daß der Edle Raubritterei lernte, wie der Schuster die Schusterei. Und im Liede heißt es lustig:

»Ruten, roven, det en is gheyn schande
dat doynt di besten van dem lande.«

Zu diesem Hauptzuge aller Junkerpsychologie tritt als zweites kaum weniger charakteristisches Kennzeichen die überzeugte oder wenigstens nach außen stark betonte Frömmigkeit. Vielleicht ist nichts bezeichnender für die Fähigkeit, mit der sich unter gleichen [S. 55] gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder die gleichen Vorstellungen aufzwingen, als die Tatsache, daß Gott noch heute der Herrenklasse als ihr Sonderstammesgott erscheint, und zwar vorwiegend als Kriegsgott. Das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer aller Menschen, auch der Feinde, und, seit dem Christentum, als dem Gott der Liebe, vermag nichts gegen die Kraft, mit der sich die Klasseninteressen ihre zugehörigen Ideologien formen. Nennen wir noch, um das Bild der Herrenpsychologie zu vervollständigen, die Neigung zum Verschwenden, die sich oft edler als Freigebigkeit darstellen kann: leicht verständlich bei dem, der »nicht weiß, wie die Arbeit schmeckt«, und als schönsten Zug die todverachtende Tapferkeit, erzeugt durch den der Minderheit auferlegten Zwang, in jedem Augenblicke ihre Rechte mit der Waffe zu verteidigen, und begünstigt durch die Befreiung von aller Arbeit, die es gestattet, den Körper in Jagd, Sport und Fehde auszubilden; ihr Zerrbild ist die Rauflust und die bis zur Verrücktheit gehende Überspitzung des persönlichen Ehrgefühls.

Eine kleine Nebenbemerkung: Cäsar fand die Kelten Galliens gerade in einem Stadium der Entwicklung, in dem das Junkertum zur Herrschaft gelangt war. Seitdem gilt seine klassische Schilderung dieser Klassenpsychologie als Rassenpsychologie des Keltentums; selbst ein Mommsen ließ sich fangen, und nun geht der handgreifliche Irrtum unzerstörbar durch alle Bücher über Weltgeschichte und Soziologie, obgleich ein einziger Blick genügt, um zu zeigen, daß alle Völker aller Rassen im gleichen Stadium der Entwicklung ganz den gleichen Charakter hatten (in Europa Thessaler, Apulier, Campaner, Germanen, Polen usw.), während die Kelten und speziell die Franzosen auf anderen Entwicklungsstadien ganz andere Charakterzüge aufwiesen. Stufenpsychologie, nicht Rassenpsychologie!

Auf der anderen Seite entsteht als Gruppentheorie der Unterworfenen überall dort, wo die den »Staat« heiligenden religiösen Vorstellungen schwach sind oder werden, heller oder dunkler die Vorstellung des »Naturrechts«. Die Unterklasse hält den Rassen- und Adelsstolz für eine Anmaßung und sich selbst für mindestens so guter Rasse und guten Blutes; [8] und wieder mit vollem Recht, weil für sie Arbeitsamkeit und Ordnung die einzigen Tugenden darstellen. [S. 56] Sie ist häufig skeptisch gegenüber der Religion, die sie mit ihren Gegnern verbunden sieht, und ist ebenso fest, wie der Adel vom Gegenteil, davon überzeugt, daß die Privilegien der Herrengruppe gegen Recht und Vernunft verstoßen. Auch hier hat alle spätere Entwicklung den ursprünglich gegebenen Bestandteilen keinen wesentlichen Zug beifügen können.

Von diesen Gedanken mehr oder weniger bewußt geleitet, kämpfen beide Gruppen fortan den Gruppenkampf der Interessen, und der junge Staat müßte unter der Wirkung dieser zentrifugalen Kräfte auseinanderbersten, wären nicht in der Regel die zentripetalen Kräfte des Gemeininteresses, des Staatsbewußtseins, stärker. Der Druck der Fremden, der gemeinsamen Feinde, von außen überwindet den Druck der widerstreitenden Sonderinteressen von innen. Man denke an die Sage von der secessio plebis und der erfolgreichen Mission des Menenius Agrippa! Und so würde der junge Staat in alle Ewigkeit, einem Planeten gleich, in der durch das Parallelogramm der Kräfte vorgeschriebenen Bahn kreisen, wenn nicht die Entwicklung ihn selbst und seine Umwelt wandelte, neue äußere und innere Kräfte entfaltete.

d) Der primitive Eroberungsstaat höherer Stufe

Wichtige Wandlungen bringt schon sein Wachstum mit sich; und wachsen muß der junge Staat. Dieselben Kräfte, die ihn ins Leben gestellt haben, drängen ihn, sich auszudehnen, seinen Machtbezirk zu erweitern. Und wäre selbst ein solcher junger Staat »satt«, wie es mancher moderne Großstaat zu sein behauptet: er müßte dennoch sich recken und dehnen, bei Strafe seines Unterganges. Denn in diesen primitiven Gesellschaftszuständen heißt es mit härtestem Nachdruck: »Du mußt steigen oder fallen, siegen oder unterliegen, Hammer oder Amboß sein.«

Die Staaten werden erhalten durch das gleiche Prinzip, durch das sie geschaffen wurden. Der primitive Staat ist Schöpfung des kriegerischen Raubes: er kann nur durch den kriegerischen Raub erhalten werden.

[S. 57] Das ökonomische Bedürfnis der Herrengruppe hat keine Grenzen: der Reiche ist sich niemals reich genug. Das politische Mittel wird gegen andere, noch nicht unterworfene Bauernschaften oder auf neue, noch nicht gebrandschatzte Küstenländer angewendet; der primitive Staat wächst - bis er mit einem anderen, ebenso entstandenen primitiven Staate auf dem Grenzgebiete der beiderseitigen »Interessensphären« zusammenstößt. Jetzt haben wir anstatt des kriegerischen Raubzuges zum ersten Male einen wirklichen Krieg engeren Sinnes, da jetzt gleich organisierte und disziplinierte Massen aufeinandertreffen.

Das Endziel des Kampfes ist noch immer dasselbe: das Ergebnis des ökonomischen Mittels der arbeitenden Massen, Beute, Tribut, Steuer, Grundrente: aber der Kampf geht nicht mehr zwischen einer Gruppe, die ausbeuten will, und einer zweiten, die ausgebeutet werden soll, sondern zwischen zwei Herrengruppen um die ganze Beute.

Das Endergebnis des Zusammenstoßes ist fast immer die Verschmelzung der beiden primitiven Staaten zu einem größeren. Dieser greift natürlich aus den gleichen Ursachen wieder über seine Grenzen, frißt die kleineren Nachbarn und wird vielleicht zuletzt von einem größeren selbst gefressen.

Die Knechtsgruppe ist am Ausgange dieser Herrschaftskämpfe wenig interessiert: ob sie der oder der Herrenklasse steuert, ist ihr ziemlich gleichgültig. Um so stärker ist sie am Verlaufe des Kampfes interessiert: denn der wird auf ihrem Rücken ausgefochten, und ihr »Staatsbewußtsein« leitet sie richtig, wenn sie ihrer angestammten Herrengruppe nach Kräften Kriegshilfe leistet - abgesehen von Fällen allzu krasser Mißhandlung und Ausbeutung [9] -. Denn wenn ihre Herrengruppe nicht Sieger bleibt, dann trifft alle Vernichtung des Krieges am schwersten die Untertanen. Sie kämpfen also buchstäblich für Weib und Kind, für Herd und Haus, wenn sie dafür kämpfen, keinen fremden Herrn einzutauschen.

Dagegen ist die Herrengruppe mit ihrer ganzen Existenz mit dem Ausgange der Herrschaftskämpfe verknüpft. Im schlimmsten Falle droht ihr die völlige Ausrottung (Volksadel der meisten germanischen Stämme im Frankenreich). Fast ebenso schlimm, wenn nicht [S. 58] schlimmer, muß ihr die Aussicht erscheinen, in die Knechtsgruppe hinabgestoßen zu werden. Zuweilen sichert ihr ein rechtzeitiger Friedensschluß wenigstens die soziale Stellung als Herrengruppe niederen Ranges (Sachsenadel im normannischen England, Suppane im deutschen Slawengebiet), und zuweilen, bei ungefährer Gleichheit der Kräfte, verschmelzen die beiden Herrengruppen zu einem gleichberechtigten, im Konnubialverbande stehenden Adel (einzelne Wendendynasten im slawischen Okkupationsgebiete, albanische und tuskische Geschlechter in Rom).

Auf diese Weise kann die herrschende Gruppe des neuen »primitiven Eroberungsstaates höherer Stufe«, wie wir ihn nennen wollen, in eine Reihe mehr oder minder mächtiger und berechtigter Schichten zerfallen, eine Gliederung, die noch an Vielfältigkeit gewinnen kann durch die uns bekannte Tatsache, daß häufig bereits im primitiven Eroberungsstaat die Herrengruppe in zwei ökonomisch und sozial subordinierte Schichten zerfiel, die sich schon im Hirtenstadium ausgebildet hatten: die großen Herden- und Sklavenbesitzer und die kleinen Gemeinfreien. Vielleicht kann man die geringere Standesgliederung der von Jägern geschaffenen Staaten der neuen Welt darauf zurückführen, daß sie diese, nur bei Herdenbesitz mögliche, Urscheidung der Klassen nicht in den Staat mitbrachten. Wir werden noch zu betrachten haben, mit welcher Kraft diese Unterschiede im Rang und Vermögen der beiden Herrenschichten auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung des altweltlichen Staates einwirken sollten.

Ein ganz entsprechender Differenzierungsprozeß spaltet nun, wie die Herrengruppen, so auch die beherrschten Gruppen der »primitiven Eroberungsstaaten höherer Stufe« in verschiedene mehr oder minder leistungspflichtige und verachtete Schichten. Es sei hier nur an den sehr starken Unterschied in der sozialen und rechtlichen Stellung der bäuerlichen Bevölkerung in den Dorierstaaten, Lakedämon und Kreta, und bei den Thessalern erinnert, wo die Periöken ein gutes Besitzrecht und leidliche politische Rechte besaßen, während die Heloten, resp. Penesten fast recht- und besitzlos waren. Eine Zwischenklasse zwischen der Gemeinfreiheit und Hörigkeit fand sich auch im alten Sachsenlande: die Liti [10]. Augenscheinlich haben diese und zahlreiche andere geschichtlich überlieferte Fälle gleicher Art [S. 59] ähnliche Ursachen, wie die oben beim Adel dargestellten: wenn zwei primitive Eroberungsstaaten verschmelzen, so lagern sich ihre sozialen Schichten in vielfach verschiedener Weise, etwa vergleichbar den Kombinationen, die zwei Häufchen von Spielkarten ergeben können, wenn man sie zusammenmischt.

Daß diese mechanische Durchmischung durch politische Kräfte auch an der Entstehung der Kasten, d.h. erblicher Berufsstände, die zugleich eine Hierarchie sozialer Klassen bilden, beteiligt ist, ist sicher. »Kasten« sind häufig, wenn nicht immer, die Folgeerscheinung der Eroberung und Unterjochung durch Fremde [11]. Aber, soweit dieses noch nicht völlig aufgehellte Problem sich bisher überschauen läßt, haben ökonomische und religiöse Einflüsse sehr stark mitgewirkt. Man wird sich die Entstehung der Kasten etwa so vorstellen dürfen, daß vorhandene ökonomische Berufsgliederungen von den staatsbildenden Kräften durchdrungen und angepaßt wurden und dann unter der Wirkung religiöser Vorstellungen erstarrten, die übrigens auch an ihrer Entstehung ihren Anteil gehabt haben mögen. Darauf deutet wenigstens die Tatsache, daß schon zwischen Mann und Weib sozusagen tabuierte unüberschreitbare Berufssonderungen vorkommen: während z.B. bei allen Jägern der Ackerbau der Frau zufällt, übernimmt ihn bei vielen afrikanischen Hirten der Mann von dem Augenblick an, wo der Ochsenpflug zur Anwendung kommt: das Weib darf, ohne zu freveln, das Herdentier nicht gebrauchen [12]. Derartige religiöse Vorstellungen werden überall da, wo stamm- oder dorfweise ein bestimmtes Gewerbe betrieben wurde - und das ist bei den Naturvölkern überall häufig, wo ein Handel leicht möglich ist, namentlich bei Inselvölkern - darauf hingewirkt haben, den Beruf erblich, und zwar zwangserblich zu machen. Wurde dann ein Stamm, der solche erbliche Berufsgruppen enthielt, von anderen Stämmen unterworfen, so bildeten sie in dem neuen Staatswesen eine echte »Kaste«, deren soziale Stellung teils von der Achtung abhing, die sie schon vorher unter den Ihren genossen hatten, teils von der Schätzung, die ihr Beruf bei den neuen Herrn fand. Schob sich etwa noch, wie so häufig der Fall, Erobererwelle über Welle, so konnte die Bildung [S. 60] der Kasten sich vervielfältigen, namentlich wenn inzwischen die ökonomische Entwicklung zahlreiche Berufsstände entwickelt hatte.

Am besten wird sich diese Entwicklung voraussichtlich an der Gruppe der Schmiede verfolgen lassen, die fast überall eine eigene, halb gefürchtete, halb verachtete Stellung einnehmen. Schmiedekundige Völker finden sich namentlich in Afrika seit Urzeiten im Gefolge und in Abhängigkeit vor allem von den Hirten. Schon die Hyksos brachten solche Stämme mit ins Nilland und dankten vielleicht den von ihnen gefertigten Waffen ihren entscheidenden Sieg; und bis vor kurzem hielten die Dinka die eisenkundigen Djur in einer Art von Untertänigkeitsverhältnis. Dasselbe gilt u. a. von den Sahara-Nomaden, und auch aus unseren nordischen Sagen klingt noch der alte Stammesgegensatz zu den »Zwergen« und die Furcht vor ihrer Zauberkraft. Hier waren die Elemente zu einer schroffen Kastenbildung im entfalteten Staat sämtlich gegeben [13].

Die Mitwirkung religiöser Vorstellungen bei der Entstehung dieser Bildungen läßt sich an einem Beispiel aus Polynesien gut aufzeigen: Hier »steht der Schiffbau, obgleich viele Eingeborene dazu fähig sind, nur einer privilegierten Klasse zu: so eng war das Interesse der Staaten und Gesellschaften mit dieser Kunst verbunden! Nicht nur früher in Polynesien, auf Fidschi bilden noch heute die fast nur Schiffbau treibenden Zimmerleute eine besondere Kaste, führen den hochklingenden Titel 'des Königs Handwerker', und haben das Vorrecht eigener Häuptlinge (...) Alles geschieht nach altem Herkommen; das Legen des Kieles, die Fertigstellung des Ganzen, der Stapellauf findet unter religiösen Zeremonien und Festen statt« [14].

Wo die Superstition stark entwickelt ist, kann sich auf solchen, teils wirtschaftlichen, teils ethnischen Grundlagen leicht ein echtes Kastensystem ausbilden; so ist z.B. in Polynesien schon die Klassengliederung durch die Anwendung des Tabu einem »schroffest durchgeführten Kastensystem« sehr ähnlich geworden [15]. Ähnlich in Südarabien [16]. Welche Bedeutung die Religion für Entstehung und Erhaltung der Kastensonderung in Ägypten hatte und in Indien noch [S. 61] heute hat, ist zu bekannt, als daß es näherer Ausführungen bedürfte [17].

Das sind die Elemente des primitiven Eroberungsstaates höherer Stufe. Sie sind vielfältiger und zahlreicher als im niederen primitiven Staate, aber Recht, Verfassung und volkswirtschaftliche Verteilung sind grundsätzlich die gleichen wie dort. Das Ergebnis des ökonomischen Mittels ist noch immer das Ziel des Gruppenkampfes, der nach wie vor das Movens der inneren Politik des Staates ist, und das politische Mittel ist ebenfalls nach wie vor das Movens der äußeren Staatspolitik in Angriff und Abwehr. Und immer noch rechtfertigen sich oben und unten Ziele und Mittel der äußeren und inneren Kämpfe durch die gleichen Gruppentheorien.

Aber die Entwicklung kann nicht stillstehen. Wachstum ist mehr als nur Massen-Vergrößerung: Wachstum bedeutet auch immer steigende Differenzierung und Integrierung.

Je weiter der primitive Eroberungsstaat seinen Machtbezirk erstreckt, je zahlreicher die von ihm beherrschten Untertanen werden, und je dichter sie siedeln, um so mehr entfaltet sich die volkswirtschaftliche Arbeitsteilung und ruft immer neue Bedürfnisse und ihre Befriedigungsmittel hervor; und um so mehr verschärfen sich die Unterschiede der ökonomischen (und damit der sozialen) Klassenlage nach dem »Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne«, wie ich es genannt habe. Diese wachsende Differenzierung wird entscheidend für die Weiterentwicklung und namentlich den Ausgang des primitiven Staates.

Nicht von einem Ausgang im mechanischen Sinne soll hier die Rede sein, also weder vom Staatentod, der einen primitiven Eroberungsstaat höherer Stufe im Zusammenstoß mit einem stärkeren Staat gleicher oder höherer Entwicklungsstufe verschwinden läßt, wie z.B. die Mogulenstaaten Indiens, oder Uganda im Kampf mit Großbritannien; auch nicht von der Versumpfung, in die beispielsweise Persien und die Türkei verfallen sind [18], und die ja augenscheinlich nur eine Pause der Entwicklung darstellt, da diese Länder entweder aus [S. 62] eigenen Kräften oder durch erobernde Gewalt bald wieder weitergestoßen werden müssen; auch nicht von der Erstarrung z.B. des riesigen chinesischen Reiches, die gleichfalls nur so lange dauern konnte, als nicht mächtigere Fremdvölker mit dem Schwerte an die geheimnisvollen Pforten klopften [19].

Sondern hier soll von den Ausgängen im Sinne einer Weiterentwicklung des primitiven Eroberungsstaates die Rede sein, die für die Gesamtauffassung der Weltgeschichte als eines Prozesses von Bedeutung sind. Solcher Ausgänge gibt es, wenn wir nur die Hauptlinien der Entwicklung ins Auge fassen, zwei grundsätzlich verschiedene, und zwar ist diese polare Gegensätzlichkeit bedingt durch die polare Gegensätzlichkeit der ökonomischen Machtmittel, an denen sich das »Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne« bestätigt. Hier ist es der mobile, dort der immobile Reichtum, hier das Handelskapital, dort das Grundeigentum, das sich in immer wenigeren Händen anhäuft und dadurch die Klassengliederung und mit ihr das ganze Staatswesen grundstürzend umwälzt. Der Träger der ersten Entwicklung ist der Seestaat, der der zweiten der Landstaat. Der Ausgang der ersten ist die kapitalistische Sklavenwirtschaft, der Ausgang der zweiten zunächst der entfaltete Feudalstaat.

Die kapitalistische Sklavenwirtschaft, der typische Ausgang der sog. »antiken«, der mittelländischen Staaten, endet - nicht in Staatentod, was nichts bedeutet -, sondern in Völkertod durch Völkerschwand. Der Seestaat bildet daher am entwicklungsgeschichtlichen Stammbaum des Staates einen Nebenast, von dem keine weitere unmittelbare Fortbildung ausgehen kann.

Dagegen stellt der entfaltete Feudalstaat den Hauptast, die Fortsetzung des Stammes, und daher den Ursprung der weiteren Entwicklung des Staates dar, die von da zum Ständestaat, zum Absolutismus und zum modernen Verfassungsstaat schon geführt hat und, wenn wir recht sehen, zur »Freibürgerschaft« weiterführen wird.

[S. 63] Solange der Stamm nur in einer Richtung wuchs, d.h. bis einschließlich des primitiven Eroberungsstaates höherer Stufe, konnte auch unsere genetische Darstellung einheitlich vorgehen. Von jetzt an, wo der Stamm sich gabelt, muß auch unsere Darstellung sich gabeln, um jedem der Äste bis in seine letzte Verzweigung zu folgen.

Wir beginnen mit der Entwicklungsgeschichte der Seestaaten. Nicht weil sie die ältere Form wären! Im Gegenteil: soweit wir durch den Nebel der Geschichtsanfänge hindurchschauen können, haben sich die ersten starken Staatsbildungen in Landstaaten vollzogen, die aus eigenen Kräften die Stufe des entfalteten Feudalstaates erstiegen haben. Aber darüber hinaus sind wenigstens die uns Europäer am meisten interessierenden Staaten nicht gelangt, sondern sind stehen geblieben oder den Seestaaten erlegen und, mit dem tödlichen Gift der kapitalistischen Sklavenwirtschaft infiziert, gleich ihnen zugrunde gegangen. Die weitere Emporentwicklung des entfalteten Feudalstaates zu höheren Stufen konnte erst erfolgen, nachdem die Seestaaten ihren Lebensgang vollendet hatten: mächtige Herrschaftsformen und Gedanken, die hier erwachsen waren, haben die Ausgestaltung der auf ihren Trümmern entstandenen Landstaaten gewaltig beeinflußt und gefördert.

Darum gebührt der Darstellung des Schicksals der Seestaaten als der Vorbedingung der höheren Staatsformen der Vorrang. Wir werden erst dem Nebenaste nachgehen, um dann zu seinem Ausgangspunkte, dem primitiven Eroberungsstaate, zurückzukehren und den Hauptstamm bis zur Entwicklung des modernen Verfassungsstaates, und, vorschauend, zur Freibürgerschaft der Zukunft zu verfolgen.


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Fußnoten

1. »Bei den Wahuma haben die Frauen eine höhere Stellung als bei den Negern und werden ängstlich von ihren Männern gehütet. Das trägt zur Erschwerung der Mischungen bei. Die Masse der Waganda wäre nicht noch heute ein echter Negerstamm von »dunkelschokoladefarbiger Haut und kurzem Wollhaar«, wenn [sich] nicht die beiden Völker als Ackerbauern und Hirten, als Beherrschte und Herrscher, als Verachtete und Geehrte trotz der Beziehungen, die in ihren höheren Klassen geknüpft werden, schroff gegenüberständen. In dieser Sonderstellung sind sie eine typische Erscheinung, die man immer leicht wiedererkennt.« (Ratzel, l. c. II, p. 177.) [Zurück zum Text]
2. Ratzel, l. c. II, p. 178. [Zurück zum Text]
3. Ratzel, l. c. II, p. 198. [Zurück zum Text]
4. Ratzel, l. c., p. 476. [Zurück zum Text]
5. Ratzel, l. c., p. 453. [Zurück zum Text]
6. Kopp, Griechische Staatsaltertümer, 2. Aufl. Berlin 1893. p. 23. [Zurück zum Text]
7. Uhland, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, I (1844), p. 339, zit. nach Sombart: Der moderne Kapitalismus, Leipzig 1902, I, p. 384/5. [Zurück zum Text]
8. »Als Adam grub, und Eva spann,
Wo war da der Edelmann«, sangen die englischen Lollharden. [Zurück zum Text]
9. So z.B. strömten in den Griechenstaaten und im Römerreich überall die Sklaven den eindringenden Germanen und Arabern massenhaft zu, und die scheinfreien Kolonen hielten sich höchstens neutral. [Zurück zum Text]
10. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtsch.-Gesch. I, Leipzig 1879, p. 59. [Zurück zum Text]
11. Westermarck, History of human marriage, London 1891, p. 368. [Zurück zum Text]
12. Entsprechend gibt es auch (nordasiatische) Jägerstämme, wo es den Weibern streng verboten ist, das Jagdgerät zu berühren oder eine Spur zu kreuzen (Ratzel I, p. 650). [Zurück zum Text]
13. Vgl. Ratzel, l. c. I, p. 81. [Zurück zum Text]
14. Ratzel, l. c. I, p. 156. [Zurück zum Text]
15. Ratzel, l. c. I, p. 259/60. [Zurück zum Text]
16. Ratzel, l. c. II, p. 434. [Zurück zum Text]
17. Im übrigen scheint es nach Ratzel, II, p. 596, mit der Starrheit des indischen Kastenwesens nicht gar so arg zu sein. Die Zunft scheint ebenso oft die Grenzen der Kaste zu überschreiten wie umgekehrt. [Zurück zum Text]
18. Ich lasse diese 1907 geschriebenen Worte stehen, die sich wenigstens inbezug auf die Türkei bereits als erfüllte Prophezeiung erwiesen haben. (Dez. 1928.) [Zurück zum Text]
19. China wäre übrigens einer genaueren Besprechung wohl wert, da es sich in mancher Beziehung der »Freibürgerschaft« schon viel mehr genähert hat als die westeuropäischen Völker. Es hat den Feudalismus viel mehr überwunden als wir, hat das Großgrundeigentum früh genug eingeengt, so daß sein Bastard, der Kapitalismus, kaum zur Entstehung kam, und hat das Problem der genossenschaftlichen Produktion und Verteilung sehr weit geführt. Hier fehlt mir leider der Raum zur näheren Ausführung dieser uns fremdartigen Entwicklung eines Eroberungsstaates. [Zurück zum Text]

[S. 64] Der Lebens- und Leidensweg des von den Seenomaden begründeten Staates ist, wie oben gesagt, bestimmt durch das Handelskapital, so wie der Weg des Landstaates durch das Bodenkapital, und, fügen wir hinzu, der des modernen Verfassungsstaates durch das Unternehmerkapital.

Aber der Seenomade hat Handel und Kaufmannschaft, Messen, Märkte und Städte nicht erfunden, sondern vorgefunden und nur seinen Interessen gemäß ausgestaltet. All das war im Dienste des ökonomischen Mittels, des äquivalenten Tausches, längst ausgebildet.

Zum ersten Male in unserer Betrachtung stoßen wir hier auf das ökonomische Mittel nicht als Ausbeutungsobjekt des politischen Mittels, sondern als mitschaffendes Subjekt bei der Entstehung des Staates, als die »Kette« sozusagen, die in den vom Feudalstaate geschaffenen »Aufzug« eingeht, um mit ihm ein reicher gewirktes Gebilde zu weben. Die Genesis des Seestaates würde nicht zur vollen Klarheit gelangen, wenn wir ihr nicht die Entwicklung des vorstaatlichen Marktverkehrs vorausschickten. Und mehr: es ist unmöglich, dem modernen Staat die Prognose zu stellen, wenn man nicht die Bildungen kennt, die das ökonomische Mittel im Tauschverkehr selbständig geschaffen hat.

a) Der vorstaatliche Handel

Die psychologische Erklärung des Tausches hat uns die Grenznutzentheorie gegeben: ihr größtes Verdienst. Danach wird die subjektive Wertschätzung eines wirtschaftlichen Gutes um so geringer, je mehr Stücke derselben Art sich im Besitz desselben Wirtschaftssubjektes befinden. Kommt dieses mit einem anderen Wirtschaftssubjekt zusammen, das eine Anzahl ebenfalls gleichartiger, aber von denen des ersten verschiedener, Güter besitzt, so werden sie gern tauschen - wenn die Anwendung des politischen Mittels sich verbietet, d.h. bei augenscheinlich gleicher Kraft und Bewaffnung oder, [S. 65] auf der allerfrühesten Stufe, innerhalb des Blutfriedenskreises. Beim Tausch erhält jeder ein Gut von sehr hohem subjektiven Wert gegen ein Gut von sehr geringem subjektiven Wert; beide gewinnen also.

Der Wunsch des Primitiven, zu tauschen, muß bei seiner kinderhaften Art, die das Besessene wenig achtet, das dem Fremden eigene aber mit heißer Leidenschaft begehrt und von rechnenden wirtschaftlichen Erwägungen kaum erheblich beeinflußt wird, naturgemäß noch viel stärkere Wirkungen auf ihn ausüben, als auf uns.

Im übrigen soll nicht verschwiegen werden, daß es eine Anzahl von Naturvölkern geben soll, die für den Tausch nicht das mindeste Verständnis haben. »Cook erzählt, daß es in Polynesien Völkerschaften gab, mit denen kein Verkehr angebahnt werden konnte, denn Geschenke machten nicht den geringsten Eindruck auf sie und wurden später weggeworfen; alles, was man ihnen vorzeigte, betrachteten sie mit Gleichgültigkeit, sie begehrten nicht das Geringste davon, und von ihren eigenen Sachen wollten sie als Entgelt nichts überlassen - kurz, sie hatten nicht den geringsten Begriff davon, was Handel und Tausch ist.« [1] Auch Westermarck ist der Meinung, daß »Tausch und Handel verhältnismäßig späte Erfindungen sind«. Gegen Peschel, der den Menschen schon auf seiner allerfrühesten uns zugänglichen Stufe tauschen läßt, bemerkt er, wir hätten keinen Beweis dafür, »daß die Höhlenbewohner von Périgord aus der Renntierperiode den Bergkristall, die atlantischen Muscheln und die Hörner der polnischen Saiga-Antilope auf dem Wege des Tausches erhalten haben« [2].

Trotz jener Ausnahmen, die auch andere Erklärungen zulassen mögen (vielleicht fürchteten die Eingeborenen Zauberei), beweist doch die Völkerkunde, daß die Lust zu Tausch und Handel eine allgemein menschliche Eigenschaft ist: natürlich kann sich dieser Trieb erst betätigen, wenn beim Zusammentreffen mit Fremden neue lockende Güter in den Gesichtskreis des Urmenschen treten; denn im Kreise der eigenen Blutsverwandten hat jeder dieselben Arten von Gütern und, bei dem naturwüchsigen Kommunismus, auch im Durchschnitt dieselbe Menge. [3]

[S. 66] Bei dem Zusammentreffen mit Fremden aber kann es zu gelegentlichem Tausch, der der Anfang alles regelmäßigen Handels sein muß, nur dann kommen, wenn dieses Zusammentreffen friedlich ist. Ist denn nun solches friedliche Zusammentreffen mit Fremden möglich? Steht nicht das ganze Leben der Urmenschen - wir sprechen hier von den Anfängen des Tauschverkehrs! - unter dem Zeichen: »homo homini lupus«?

In der Tat ist auch der Handel auf den höheren Stufen in der Regel von dem »politischen Mittel« stark beeinflußt. »Der Handel folgt im allgemeinen dem Raube.« [4] Aber seine ersten Anfänge sind doch vorwiegend dem ökonomischen Mittel zu danken, sind Ergebnis nicht des Kriegs-, sondern des Friedensverkehrs.

Die internationalen Beziehungen der primitiven Jäger untereinander dürfen nicht mit denen der Jäger und Hirten zu den Hackbauern oder der Hirten untereinander auf eine Stufe gestellt werden. Wohl gibt es Fehden aus Blutrache oder wegen Weiberraubes oder wohl auch wegen Grenzverletzung der Jagdgebiete: aber ihnen fehlt jener Stachel, der nur aus der Habgier wächst, aus dem Wunsch, fremde Arbeitserzeugnisse zu rauben. Darum sind die »Kriege« der primitiven Jäger in der Regel weniger wirkliche Kriege als Raufereien und Einzelkämpfe, die häufig genug sogar, unseren deutschen Studenten-Mensuren nicht unähnlich, nach einem bestimmten Zeremonial und nur bis zu einem leichteren Grade der Kampfunfähigkeit, sozusagen »auf einen Blutigen« gehen [5]. Diese an Kopfzahl sehr schwachen Stämme hüten sich mit Recht, mehr Opfer zu bringen als - z. B. im Falle der Blutrache - unerläßlich, und vor allem davor, neue Blutrache herauszufordern.

So sind denn auch unter diesen Stämmen und ebenso unter den primitiven Hackbauern, bei denen gleichfalls der Stachel des politischen Mittels fehlt, die friedlichen Beziehungen zu den Nachbarn gleicher Wirtschaftsstufe ungleich stärker als unter den Hirten. Wir kennen eine ganze Anzahl von Fällen, wo sie zur gemeinsamen Ausbeutung von Naturschätzen friedlich zusammenkommen. »Schon auf primitiven Kulturstufen sammeln sich größere Bevölkerungen [S. 67] zeitweilig an Stellen, wo nützliche Dinge in größeren Mengen vorkommen. Die Indianer eines großen Teiles von Amerika wallfahrten nach den Pfeifensteinlagern, andere versammeln sich alljährlich zur Ernte bei den Zizaniasümpfen der nordwestlichen Seen; die so zerstreut lebenden Australier des Barkugebietes kommen von allen Seiten zu Erntefesten bei den Sumpfbeeten körnertragender Marsiliaceen.« [6] »Wenn der Bunga-Bunga-Baum in Queensland seine mehlige Frucht reichlich trägt, ist der Vorrat größer, als der Stamm verbrauchen kann, und fremden Stämmen wird gestattet, davon mitzuessen.« [7] »Mehrere Stämme einigen sich über den gemeinsamen Besitz bestimmter Striche, auch über den an Phonolithbrüchen für die Beile.« [8] Wir hören auch von gemeinsamen Beratungen und Gerichtssitzungen der Ältesten mehrerer australischer Stämme, bei denen die ganze übrige Bevölkerung die Korona, den »Umstand« der germanischen Thingordnung, bildet [9].

Es ist nur natürlich, daß sich bei solchen Zusammenkünften ein Tauschverkehr einstellt, und vielleicht sind die »Wochenmärkte, die von den Negervölkern Zentralafrikas mitten im Urwald unter besonderem Friedensschutz abgehalten werden« [10], derart entstanden, und ebenso die großen Messen der Polarjäger, der Tschuktschen usw., die uralt sein sollen.

Alle diese Dinge setzen die Ausbildung friedlicher Verkehrsformen zwischen benachbarten Gruppen voraus. Und solche Formen finden wir denn auch fast überall. Sie konnten auf der hier betrachteten Stufe leicht entstehen; denn noch ist die Entdeckung nicht gemacht, daß der Mensch als Arbeitsmotor dienen kann, und darum wird der Blutsfremde nur »in dubio« als Feind betrachtet. Kommt er in augenscheinlich friedlicher Absicht, so wird er auch friedlich empfangen. Und es hat sich ein ganzer Kodex von völkerrechtlichen Zeremonien herausgebildet, die dazu bestimmt sind, die Friedfertigkeit des Ankömmlings zu erweisen [11]. Man stellt die Waffen fort [S. 68] und zeigt die wehrlose Hand; man sendet Parlamentäre voran, die überall unverletzlich sind [12].

Es ist klar, daß diese Formen eine Art von Gastrecht darstellen, und in der Tat wird der friedliche Handel durch das Gastrecht erst ermöglicht, und der Austausch von Gastgeschenken scheint den eigentlichen Tauschhandel einzuleiten. Aus welchen seelischen Wurzeln wächst nun das Gastrecht?

Nach Westermarck in seinem monumentalen Werke: »Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe« [13] beruht die Sitte der Gastfreundschaft außer auf der Neugier, die von dem weither Kommenden Nachrichten zu empfangen hofft, vor allem auch auf der Furcht vor etwaigen Zauberkräften des Fremden, die ihm eben als einem Fremden zugetraut werden [14]. (Noch in der Bibel wird die Gastfreundschaft mit der Begründung empfohlen, daß man nie wissen könne, ob der Fremde nicht ein Engel sei.) Das abergläubische Geschlecht fürchtet seinen Fluch (die Erinnys der Griechen) und beeilt sich, ihn günstig zu stimmen. Ist er als Gast aufgenommen, so ist er unverletzlich und genießt das Friedensrecht der Blutsgruppe mit, als deren Angehöriger er während seines Aufenthaltes gilt; und so ergreift ihn auch der urwüchsige Kommunismus des Besitzes, der hier herrscht. Der Wirt fordert und erhält, was ihm ansteht, und gibt dafür dem Gast, was er begehrt. Wird der friedliche Verkehr häufiger, so kann sich aus dem gegenseitigen Gastgeschenk allmählich ein Handel entwickeln, weil der Kaufmann gern dorthin zurückkehrt, wo er gute Aufnahme und vorteilhaften Tausch fand und das Gastrecht schon besitzt, das er anderwärts erst, vielleicht unter Lebensgefahr, erwerben muß.

[S. 69] Voraussetzung für die Ausbildung eines regelmäßigen Warenhandels ist natürlich die Existenz einer »internationalen« Arbeitsteilung. Und solche besteht auch früher und in größerer Ausdehnung, als man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist. »Es ist ganz falsch, anzunehmen, daß die Arbeitsteilung erst auf einer höheren Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung eintrete. Innerafrika hat seine Dörfer von Eisenschmieden, ja von solchen, die nur Wurfmesser anfertigen; Neuguinea seine Töpferdörfer, Nordamerika seine Pfeilspitzenverfertiger.« [15] Aus solchen Spezialitäten entwickelt sich ein Handel, sei es durch hausierende Kaufleute, sei es durch Gastgeschenke oder Friedensgeschenke von Volk zu Volk. In Nordamerika handeln die Kaddu mit Bögen; »Obsidian ward überall zu Pfeilspitzen und Messern verwandt: am Yellowstone, am Snake River, in Neumexiko, vor allem aber in Mexiko. Dann verbreitete sich der kostbare Stoff über das ganze Land bis nach Ohio und Tennessee: ein Weg von fast 3000 km.« [16]

Entsprechend berichtet Vierkandt: »Aus der geschlossenen Hauswirtschaft der Naturvölker ergibt sich eine von den modernen Verhältnissen völlig abweichende Art des Handels bei ihnen (...) Jeder einzelne Stamm hat gewisse besondere Fertigkeiten entwickelt, die zu einem Austausche Anlaß geben. Selbst bei den verhältnismäßig tiefstehenden Indianerstämmen Südamerikas finden wir bereits derartige Verschiedenheiten. (...) Durch einen derartigen Handel können Produkte außerordentlich weit verbreitet werden, aber nicht auf direktem Wege durch gewerbsmäßige Händler, sondern durch allmähliche Verbreitung von einem Stamm zum anderen. Der Ursprung eines solchen Handels ist, wie Bücher ausgeführt hat, auf den Austausch von Gastgeschenken zurückzuführen.« [17]

Außer aus den Gastgeschenken kann sich ein Handel aus den Friedensgeschenken entwickeln, die sich die Gegner nach einem Zusammenstoß als Zeichen der Versöhnung überreichen [18]. »Waren Völker«, so berichtet Sartorius über Polynesien, »von verschiedenen [S. 70] Inseln aufeinandergestoßen, so konnten die Friedensgaben für jeden etwas Neues sein, und wenn dann Geschenk und Gegengeschenk beiden gefielen, so wiederholte man dieselben und war auch hier bei dem Gütertausch angelangt. Aber im Gegensatz zu den Gastgeschenken war hier die Voraussetzung eines dauernden Verkehrs gegeben. Es hatte nicht die Berührung von Individuen, sondern von Stämmen, von Völkern stattgefunden. Dabei sind die Frauen das erste Objekt des Austausches: sie bilden das Bindeglied zwischen den fremden Stämmen und zwar werden sie - wie viele Quellen beweisen - gegen Vieh ausgetauscht.« [19]

Wir stoßen hier auf ein Objekt des Austausches, das auch ohne »internationale Arbeitsteilung« tauschbar ist. Und es scheint sogar, als wenn vielfach der Frauentausch dem Gütertausch die Wege geebnet habe, als wenn er der erste Schritt zur friedlichen Integration der Völker gewesen sei, die neben der kriegerischen durch die Staatsbildung einhergeht.

Lippert [20] glaubt freilich, noch älter sei der friedliche Feuertausch. Da er aber die gewiß sehr alte Sitte nur aus Kult- und Rechts-Rudimenten erschließen kann, während sie unserer unmittelbaren Beobachtung nicht mehr zugänglich ist, wollen wir hier davon absehen.

Dagegen ist der Frauentausch eine überall beobachtete Erscheinung, und zweifellos muß man ihm eine außerordentlich starke Einwirkung auf die Ausgestaltung des friedlichen Verkehrs zwischen benachbarten Stämmen und die Vorbereitung des Gütertausches beimessen. Die Sage von den Sabinerinnen, die sich zwischen ihre zum Kampf antretenden Brüder und Gatten werfen, muß im Laufe der Entwicklung des Menschengeschlechtes tausendfach Wahrheit gewesen sein. Überall fast gilt die Verwandtenehe als Frevel, als »Blutschande«, aus Gründen, denen wir hier nicht nachgehen können [21]; überall richtet sich der Geschlechtstrieb auf die Frauen der Nachbarn, und ist der Weiberraub ein Teil der ersten zwischenstammlichen Beziehungen; und fast überall, wo nicht starke Rassengefühle entgegenwirken, wird der Raub allmählich durch Tausch und Kauf abgelöst: ist doch die eigene Blutsverwandte dem Mann als Substrat [S. 71] des Geschlechtsverkehrs von ebenso geringem subjektiven Wert wie die Fremde von hohem!

Die so geknüpften Beziehungen werden nun, wenn Arbeitsteilung überhaupt den Gütertausch ermöglichte, diesem nutzbar gemacht; die exogamischen Gruppen treten in ein im regelmäßigen Verlauf friedliches Verhältnis ein. Der Friede, der die Blutsverwandtschaftshorde umhegt, erstreckt sich fortan über einen weiteren Kreis. Ein einziges Beispiel aus unzähligen: »Jeder der beiden Kamerunstämme hat seine eigenen »bush countries«, Ortschaften, mit denen seine Leute Handel treiben, und wo sie durch gegenseitige Verheiratungen Verwandtschaft besitzen. So wird die Exogamie auch hier völkerverbindend.« [22]

Das sind die Hauptlinien der Entfaltung des friedlichen Tauschverkehrs: aus dem Gastrecht und dem Frauentausch, vielleicht auch dem Feuertausch, zum Gütertausch. Fügen wir noch hinzu, daß die Märkte und Messen, vielfach auch die Händler, wie wir schon mehrfach anmerkten, sehr oft, fast regelmäßig, als unter dem Schutze einer den Frieden schützenden und den Friedensbruch rächenden Gottheit stehend betrachtet werden: und wir haben die Grundzüge dieser überaus wichtigen soziologischen Erscheinung bis zu dem Punkte geführt, wo das politische Mittel störend, umformend, weiterführend in die Schöpfungen des ökonomischen Mittels eingreift.

b) Der Handel und der primitive Staat

Der Räuberkrieger hat zwei wichtige Gründe, solche Märkte und Messen, die er in seinem mit dem Schwerte erworbenen Einflußgebiete vorfindet, pfleglich zu behandeln.

Der eine, außerwirtschaftliche, ist der, daß auch er die abergläubische Furcht vor der den Friedensbruch rächenden Gottheit empfindet. Der andere, wirtschaftliche, und wahrscheinlich mächtigere, ist der - ich glaube, hier zum erstenmal auf diesen Zusammenhang hinzuweisen -, daß er selbst des Marktes nicht wohl entraten kann.

Seine Beute enthält auf primitiver Stufe viele Güter, die sich für seinen unmittelbaren Verzehr und Gebrauch nicht eignen. Er hat [S. 72] Güter nur von wenigen Arten, von diesen aber so viele Exemplare, daß der »Grenznutzen« jedes einzelnen für ihn sehr gering ist. Das gilt vor allem für den wichtigsten Erwerb des politischen Mittels, für die Sklaven. Um zunächst vom Hirten zu sprechen, so ist sein Sklavenbedarf durch die Größe seiner Herde begrenzt: er ist durchaus geneigt, den Überschuß gegen andere Güter einzutauschen, die für ihn von Wert sind: Salz, Schmuck, Waffen, Metalle, Webestoffe, Geräte usw. Darum ist der Hirt nicht nur immer auch Räuber, sondern fast immer auch Kaufmann, Händler, und schützt den Handel. [23]

Er schützt den Handel, der zu ihm kommt, um ihm seine Beute gegen Güter eines fremden Kulturkreises abzutauschen: von jeher haben die Nomaden die ihre Steppen oder Wüsten durchziehenden Karawanen gegen Schutzgeld geleitet; und er schützt den Handel auch an den schon vor der Staatsentstehung von ihm eingenommenen Plätzen. Ganz die gleichen Erwägungen, die den Hirten dazu brachten, vom Bären- zum Imkerstadium überzugehen, müssen ihn veranlaßt haben, alte Märkte und Messen zu erhalten und zu schützen. Eine einmalige Plünderung heißt auch hier die Henne schlachten, die die goldenen Eier legt; viel vorteilhafter ist es, den Markt zu erhalten, seinen Frieden eher noch zu befestigen, und außer dem Vorteil des Eintausches fremder Güter gegen Beute auch noch das Schutzgeld, die Herrensteuer, zu empfangen. Daher haben überall die Fürsten des Eroberungsstaates aller Stufen die Märkte, Straßen und Kaufleute unter ihren besonderen Schutz und »Königsfrieden« genommen, oft genug sogar sich das Monopol des Fremdhandels vorbehalten. Wir sehen sie ebenfalls überall eifrig beschäftigt, durch Verleihung von Schutz und Rechten neue Märkte und Städte ins Leben zu rufen.

Dieses Interesse am Marktwesen läßt es auch durchaus glaublich erscheinen, daß Hirtenstämme vorhandene Märkte ihres Einflußgebietes so weit respektierten, daß sie ihnen mit jeder Betätigung des politischen Mittels völlig fernblieben, nicht einmal die »Herrschaft« über sie einrichteten. Was Herodot erstaunt von dem geweihten Markte der Argippäer im gesetzlosen Lande der skythischen Hirten berichtet, daß ihre waffenlosen Einwohner wirksam durch den heiligen Frieden ihrer Marktstätte geschützt waren, ist an sich wohl glaublich und wird durch manche ähnliche Erscheinung noch glaublicher: [S. 73] »Kein Mensch tut diesen ein Leid an, denn sie gelten für heilig; auch haben sie gar keine kriegerischen Waffen; dabei sind sie es, welche die Streitigkeiten der Nachbarn schlichten, und wer zu ihnen als Flüchtling entkommen ist, dem tut niemand etwas zu leide.« [24] Ähnliches findet sich häufig: »Das alles ist immer wieder dieselbe Argippäergeschichte, die Geschichte von dem »heiligen«, »gerechten«, »waffenlosen« handeltreibenden und streitschlichtenden Stämmchen inmitten einer beduinenhaft nomadischen Bevölkerung.« [25] Als ein Beispiel viel höherer Stufe sei Cäre genannt, dessen Einwohner nach Strabon »bei den Hellenen wegen ihrer Tapferkeit und Gerechtigkeit viel galten, und weil sie, so mächtig sie waren, des Raubes sich enthielten«. Mommsen, der die Stelle anführt, fügt hinzu: »Nicht der Seeraub ist gemeint, den der cäritische Kaufmann wie jeder andere sich gestattet haben wird, sondern Cäre war eine Art von Freihafen für die Phönizier wie für die Griechen.« [26]

Cäre ist nicht, wie der Markt der Argippäer, ein Markt des Binnenlandes im Landnomadengebiet, sondern ein befriedeter Hafen im Seenomadengebiet. Wir stoßen hier auf eine der typischen Bildungen, die in ihrer Bedeutung m. E. bisher nicht nach Gebühr eingeschätzt sind. Sie haben, wie mir scheint, auf die Entstehung der Seestaaten einen mächtigen Einfluß ausgeübt.

Die inneren Gründe nämlich, aus denen wir die Landnomaden zum Handel und, wenn nicht zur Marktgründung, so doch zur Marktschonung kommen sahen, mußten mit noch vermehrter Kraft die Seenomaden zu dem gleichen Verhalten zwingen. Denn der Transport der Beute, namentlich Herden und Sklaven, der auf den Wüsten- und Steppenpfaden schwierig und - wegen der Langsamkeit der Fortbewegung, die eine Verfolgung erleichtert - auch gefährlich ist, ist im Kriegskanoe und »Drachen« leicht und gefahrlos. Darum ist der Wiking in noch ganz anderem Grade Kaufmann und Marktbesucher als der Hirt. »Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig sind sie, nicht zu trennen«, heißt es im »Faust«.

c) Die Entstehung des Seestaates

[S. 74] Auf diesen Handel mit der Beute des Seeraubes ist, glaube ich, in vielen Fällen die Entstehung derjenigen Städte zurückzuführen, um die als ihre politischen Vororte sich die Stadtstaaten der »alten Geschichte«, d.h. der mittelländischen Kultur, auswuchsen; in sehr vielen anderen Fällen hat der gleiche Handel mitgewirkt, um sie zum gleichen Ziel der politischen Ausgestaltung zu führen.

Man wird die Entstehung dieser Markthäfen im allgemeinen auf zwei Typen zurückführen können: sie erwuchsen entweder als Seeräuberburgen unmittelbar durch feindliche Festsetzung an einer fremden Küste oder als »Kaufmannskolonien«, die auf Grund friedlichen Vertrages in Häfen fremder primitiver oder entfalteter Feudalstaaten zugelassen waren.

Für den ersten Typus, der dem vierten Stadium unseres Schemas genau entspricht, für die Festsetzung einer bewaffneten Piratenkolonie also an einem kommerziell günstigen und strategisch verteidigungsfähigen Punkt der Küste in fremdem Gebiet, haben wir eine Anzahl wichtiger Beispiele aus der antiken Geschichte. Das bedeutsamste ist Karthago; und eine ganze Kette gleicher Seeburgen legten die hellenischen Seenomaden, Ionier, Dorer, Achäer, am Schwarzen und am Marmarameer, an der adriatischen und tyrrhenischen Küste Süditaliens, auf den Inseln dieser Meere und an den Golfen Südfrankreichs an. Phönizier, Etrusker [27], Hellenen, nach neueren Forschungen angeblich auch die Karer, haben rund um das Mittelmeer nach demselben Typus ihre »Staaten« gegründet, mit ganz derselben Ständegliederung in Herren und fronende Ackerer der Nachbarschaft [28].

[S. 75] Einige dieser Küstenstaaten haben sich zu Feudalstaaten von genau dem Typus der Landstaaten ausgewachsen: die Herrenklasse wurde eine Grundbesitzeraristokratie. Maßgebend dafür waren erstens geographische Verhältnisse: der Mangel an guten Häfen, ein weites, von friedlichen Bauern besiedeltes Hinterland; und dann wohl auch die aus der Heimat mitgebrachte ständische Organisation. Flüchtige Edelinge waren es, Besiegte innerer Fehden, oder jüngere Söhne, zuweilen ein ganzer »heiliger Frühling«, die »auf den Wiking« zogen: waren sie schon daheim als Landjunker erzogen, so suchten sie auch in der Fremde wieder »Land und Leute«. Die Besetzung Englands durch die Angelsachsen und Süditaliens durch die Normannen sind solche Fälle, ebenso die spanisch-portugiesische Kolonisation von Mexiko und Südamerika. Weitere, sehr wichtige Beispiele für diese Bildung von Landfeudalstaaten durch Seenomaden sind die achäischen Kolonien Großgriechenlands: »Dieser achäische Städtebund war eine eigentliche Kolonisation. Die Städte waren ohne Häfen - nur Kroton besaß eine leidliche Reede - und ohne Eigenhandel; der Sybarite rühmte sich, zu ergrauen zwischen den Brücken seiner Lagunenstadt, und Kauf und Verkauf besorgten ihm Milesier und Etrusker. Dagegen besaßen die Griechen hier nicht nur den Küstensaum, sondern herrschten von Meer zu Meer (...); die eingeborene ackerbauende Bevölkerung mußte in Klientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen wirtschaften und zinsen.« [29] Ähnlich werden die meisten dorischen Kolonien in Kreta organisiert gewesen sein.

Doch, mögen diese »Landstaaten« häufiger oder seltener gewesen sein, für den Verlauf der Universalgeschichte erlangten nicht sie Bedeutung, sondern diejenigen Seestädte, die ihr Schwergewicht auf Handel und Kaperwesen verlegten. Mommsen stellt den achäischen Landjunkern die »königlichen Kaufleute« der übrigen hellenischen Kolonien in Süditalien scharf und glücklich gegenüber: »Auch sie verschmähten den Ackerbau und Landgewinn keineswegs; es war nicht die Weise der Hellenen, wenigstens seit sie zu ihrer Kraft gekommen waren, sich im Barbarenland nach phönizischer Art an einer befestigten Faktorei genügen zu lassen. Aber wohl waren diese [S. 76] Städte zunächst und vor allem des Handels wegen gegründet, und darum denn auch, ganz abweichend von den achäischen, durchgängig an den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt.« [30] Wir dürfen wohl annehmen - für die ionischen Kolonien ist es sicher -, daß hier die Städtegründer nicht Landjunker, sondern schon seefahrende Kaufleute gewesen sein werden.

Aber solche Seestaaten oder Seestädte eigentlichen Sinnes entstanden nicht nur durch kriegerische Eroberung, sondern auch aus friedlichen Anfängen durch eine mehr oder weniger gemischte »pénétration pacifique«.

Wo die Wikinge nämlich nicht auf friedliche Bauern, sondern auf wehrhafte Staaten der primitiven Stufe stießen, nahmen und boten sie Frieden und ließen sich als Kaufmannskolonien nieder.

Wir kennen solche Fälle aus aller Welt, in Häfen und Landmärkten. Uns am nächsten stehen die Niederlassungen der norddeutschen Kaufleute in den Nord- und Ostseeländern: der Stahlhof in London, die Hansa in Schweden und Norwegen, auf Schonen und in Rußland: Nowgorod. In Wilna, der Hauptstadt der litauischen Großfürsten, befand sich eine solche Kolonie, und der Fondaco dei Tedeschi in Venedig ist auch ein Beispiel dafür. Fast überall sitzen die Fremden in geschlossener Masse, mit eigenem Recht und unter eigener Gerichtsbarkeit, und sehr oft erlangen sie großen politischen Einfluß, der sich häufig bis zur Herrschaft über den Staat steigert. Man glaubt, eine zeitgenössische Schilderung der phönizischen oder hellenischen Invasion der Mittelmeerländer etwa aus dem Anfang des ersten Jahrtausends vor Christi zu hören, wenn man die folgende Mitteilung Ratzels von den Küstenländern und Inseln des Indischen Ozeans liest: »Ganze Völkerschaften sind durch den Handel gleichsam verflüssigt, so vor allem die sprichwörtlich geschickten, eifrigen, allgegenwärtigen Malaien sumatranischer Abkunft und die ebenso gewandten wie verräterischen Bugi von Celebes, die von Singapur bis Neu-Guinea auf keinem Platz fehlen und neuerdings besonders in Borneo auf Aufforderung einheimischer Fürsten in Massen eingewandert sind. Ihr Einfluß ist so stark, daß man ihnen gestattet, sich nach ihren eigenen Gesetzen zu regieren, und sie fühlen sich so stark, daß es an Versuchen, sich unabhängig zu stellen, bei ihnen nicht gefehlt hat. Die Atchinesen nahmen ehemals eine ähnliche Stellung ein: [S. 77] nach dem Sinken des von sumatranischen Malaien zum Emporium gemachten Malakka war einige Jahrzehnte lang in der weltgeschichtlichen Wendezeit um den Beginn des 17. Jahrhunderts Atchin die lebhafteste Reede dieses fernen Ostens.« [31] Einige andere Beispiele, aus zahllosen herausgegriffen, mögen folgen, um die allgemeine Verbreitung dieser Siedelform zu zeigen: »In Urga, wo sie politisch dominieren, sind die Kaufleute in eine besondere Chinesenstadt zusammengedrängt.« [32] In den israelitischen Staaten befanden sich »kleine Kolonien von fremden Kaufleuten und Handwerkern, denen man bestimmte Viertel der Städte überließ, wo sie, unter dem Schutz des Königs stehend, nach ihren eigenen religiösen Sitten leben konnten«, vgl. l. Kg. 20, 34. [33] »Der ephraimitische König Omri sah sich durch die kriegerischen Erfolge seines Gegners, des damaszenischen Königs, gezwungen, den aramäischen Kaufleuten gewisse Teile der Stadt Samaria zu überlassen, wo sie unter königlichem Schutz Handel treiben konnten. Als später das Kriegsglück seinem Nachfolger Ahab günstig war, verlangte dieser vom aramäischen Könige dasselbe Vorrecht für die ephraimitischen Kaufleute in Damaskus.« [34] »Überall standen die Italiker zusammen als festgeschlossene und organisierte Massen, die Soldaten in ihren Legionen, die Kaufleute jeder größeren Stadt als eigene Gesellschaften, die in dem einzelnen provinzialen Gerichtssprengel domizilierten oder verweilenden römischen Bürger als »Kreise« (conventus civium Romanorum) mit ihrer eigenen Geschwornenliste und gewissermaßen mit Gemeindeverfassung.« [35] Wir wollen noch an die Ghetti der Juden erinnern, die vor den großen Judenverfolgungen des Mittelalters nichts anderes waren als solche geschlossenen Kaufmannskolonien; und wollen darauf aufmerksam machen, daß auch heute noch die europäischen Kaufleute in den Küstenstädten stärkerer exotischer Reiche ganz ähnliche »conventus« mit eigener Verfassung und (Konsular-) Gerichtsbarkeit bilden; China muß das noch heute dulden, ebenso Marokko usw., während Japan und die Türkei erst kürzlich diese diminutio capitis haben abschütteln können.

[S. 78] Für unsere Betrachtung ist an diesen Kolonien das Interessanteste, daß sie überall die Tendenz haben, ihren politischen Einfluß bis zur vollen Herrschaft auszudehnen. Das hat nichts Erstaunliches. Die Kaufleute haben einen Reichtum an beweglichen Gütern, der durchaus geeignet ist, in den politischen Wirren, denen alle Eroberungsstaaten fortwährend ausgesetzt sind, entscheidend einzuwirken, sei es bei internationalen Fehden zwischen zwei Nachbarstaaten, sei es bei innerstaatlichen Kämpfen, z. B. um die Thronfolge. Dazu kommt, daß hinter den Kolonisten häufig die starke Macht ihres Muttervolkes steht, auf die sie sich verlassen können, weil verwandtschaftliche Bande und ungemein starke kommerzielle Interessen sie verbinden, und daß sie selbst in ihrem krieggewöhnten Schiffsvolk und ihren zahlreichen Sklaven häufig eine für die kleinen Verhältnisse bedeutende Eigenmacht ins Feld stellen können. Die folgende Schilderung der Rolle, die arabische Kaufleute in Ostafrika gespielt haben, scheint mir einen bisher viel zu wenig beachteten geschichtlichen Typus darzustellen:

»Als Speke 1857 als erster Europäer diesen Weg machte, waren die Araber Kaufleute, die als Fremde im Lande wohnten; als er 1861 denselben Weg zum zweitenmal betrat, glichen die Araber schon großen Gutsherren mit reichem Landbesitz und führten Krieg mit dem angestammten Herrscher des Landes. Dieser Prozeß, der sich ja auch in manchen anderen Ländern Innerafrikas wiederholt hat, ergibt sich mit Notwendigkeit aus den Verhältnissen. Die fremden Kaufleute, Araber und Suaheli, bitten um die Erlaubnis des Durchzuges, wofür sie zollen, gründen Warenlager, die den Häuptlingen genehm sind, weil sie ihrer Erpressungssucht und Eitelkeit zugute zu kommen scheinen, bereichern sich dann und erwerben Verbindungen, machen sich hierdurch verdächtig, werden gedrückt und verfolgt, weigern sich, die mit dem Wohlstand gestiegenen Zölle und Steuern zu zahlen; endlich ergreifen die Araber bei einem der unvermeidlichen Thronstreite Partei für einen Prätendenten, der ihnen fügsam zu sein verspricht, und werden dadurch in die inneren Streitigkeiten des Landes gezogen und in oft endlose Kriege verwickelt.« [36]

Diese politische Tätigkeit der kaufmännischen Metöken ist ein immer wiederkehrender Typus. »Auf Borneo erwuchsen aus den [S. 79] Ansiedlungen chinesischer Goldgräber eigene Reiche.« [37] Und die ganze europäische Kolonisationsgeschichte ist eigentlich nur eine einzige Reihe von Beispielen für das Gesetz, das bei irgend überlegener Macht der Fremden aus Faktoreien und größeren Niederlassungen Herrschaft entstehen läßt, wenn sie nicht dem ersten Typus der einfachen Piraterie näherstehen, wie die spanisch-portugiesische Konquista und die Eroberungen der ostindischen Kompagnien, der englischen so gut wie der holländischen. »Es liegt ein Raubstaat an der See, zwischen dem Rheine und der Schelde«, klagt Multatuli sein Vaterland an. Alle ostasiatischen, amerikanischen und afrikanischen Kolonien aller europäischen Völker sind nach einem der beiden Typen entstanden.

Nicht immer kommt es zur unbedingten Herrschaft der Fremden. Zuweilen ist der Gaststaat zu stark, und sie bleiben politisch ohnmächtige Schutzgäste: so z. B. die Deutschen in England. Zuweilen erstarkt der schon unterworfene Gaststaat so sehr, daß es ihm gelingt, die Fremdherrschaft abzuschütteln: so z.B. verjagte Schweden die Hansa, die ihm schon die Herrschaft auferlegt hatte. Zuweilen kommt ein stärkerer Eroberer über Kaufmannskolonie und Gaststaat und unterwirft beide: so z.B. machten die Russen den Republiken von Nowgorod und Pskow ein Ende. Häufig aber verschmelzen die fremden Reichen mit den einheimischen Edlen zu einer Herrenklasse, nach dem Typus, den wir auch bei der Landstaatenbildung dort auftreten sahen, wo zwei ungefähr gleich starke Herrengruppen zusammenstießen. Und dieser letztgenannte Fall scheint mir für die Genesis der wichtigsten Stadtstaaten des Altertums, für die griechischen Seestädte und für Rom, die wahrscheinlichste Annahme.

Wir kennen die griechische Geschichte, um mit Kurt Breysig zu reden, nur von ihrem »Mittelalter«, die römische gar nur von ihrer »Neuzeit« an. Auf das, was vorher liegt, dürfen wir nur mit äußerster Vorsicht Analogieschlüsse wagen. Es will mir aber scheinen, als seien Tatsachen genug verbürgt, die den Schluß zulassen, daß Athen, Korinth, Mykene, Rom usw. nach der hier geschilderten Weise zu Staaten geworden sind, selbst wenn die uns bekannten Daten aus aller bekannten Völkerkunde und Geschichte nicht von solcher Allgemeingültigkeit wären, daß sie den Schluß an sich gestatteten.

Wir wissen genau aus Ortsnamen (Salamis: Insel des Friedens = Marktinsel), [S. 80] aus Heroennamen, aus Baudenkmälern und aus unmittelbarer Überlieferung, daß in vielen griechischen Hafenstädten phönikische Faktoreien bestanden, deren Hinterland von kleinen Feudalstaaten der typischen Gliederung in Edelinge, Freie und Sklaven eingenommen war. Mögen einzelne phönikische, vielleicht auch einige der noch ziemlich rätselhaften karischen Kaufleute in das Konnubium der Edlen aufgenommen worden und zu Vollbürgern oder gar zu Fürsten geworden sein oder nicht -, daß die Ausbildung dieser Stadtstaaten durch die fremden Einflüsse mächtig gefördert wurde, kann gar nicht ernsthaft bestritten werden.

Dasselbe gilt von Rom. Hören wir, was ein so vorsichtiger Autor wie Mommsen darüber sagt:

»Daß Rom, wenn nicht seine Entstehung, doch seine Bedeutung diesen kommerziellen und strategischen Verhältnissen verdankt, davon begegnen denn auch weiter zahlreiche Spuren, die von ganz anderem Gewicht sind, als die Angaben historisierter Noveletten. Daher rühren die uralten Beziehungen zu Cäre, das für Etrurien war, was für Latium Rom, und denn auch dessen nächster Nachbar und Handelsfreund wurde; daher die ungemeine Bedeutung der Tiberbrücke und des Brückenbaues überhaupt in dem römischen Gemeinwesen; daher die Galeere als städtisches Wappen. Daher der uralte römische Hafenzoll, dem von Haus aus nur unterlag, was zum Feilbieten (promercale), nicht was zu eigenem Bedarf des Verladers (usuarium) in dem Hafen von Ostia einging, und der also recht eigentlich eine Auflage auf den Handel war. Daher, um vorzugreifen, das verhältnismäßige frühe Vorkommen des gemünzten Geldes, der Handelsverträge mit überseeischen Staaten in Rom. In diesem Sinne mag denn Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt, mehr eine geschaffene als eine gewordene Stadt und unter den latinischen eher die jüngste als die älteste sein.« [38]

Es wäre Gegenstand einer ein Leben erfüllenden historischen Untersuchung, die hier angedeuteten Möglichkeiten, oder besser, Wahrscheinlichkeiten zu prüfen und daraus auf die Verfassungsgeschichte dieser überaus wichtigen Stadtstaaten die - sehr notwendigen - Schlüsse zu ziehen. Mir scheint, als wäre auf diesem Wege über manche noch sehr dunkle Frage Licht zu gewinnen, wie über die [S. 81] etruskische Herrschaft in Rom, über den Ursprung der reichen Plebejerfamilien, über die athenischen Metöken und vieles andere.

Hier können wir nur den einen Faden verfolgen, der uns durch das Labyrinth der historischen Überlieferung zum Tore zu leiten verspricht.

d) Wesen und Ausgang des Seestaates

All diese Staaten, mögen sie nun entstanden sein aus Seeräuberburgen, aus Häfen an der Küste des Gebietes seßhaft gewordener Landnomaden, die dann spontan zu Wikingern wurden, aus Kaufmannskolonien, die zur Herrschaft kamen, oder aus Kaufmannskolonien, die mit der herrschenden Gruppe des Gastvolkes verschmolzen, - sie alle sind echte »Staaten« im soziologischen Sinne. Sie sind nichts anderes als die Organisation des politischen Mittels, ihre Form ist die Herrschaft, ihr Inhalt die ökonomische Ausbeutung der Untertanen durch die Herrengruppe.

Grundsätzlich unterscheiden sie sich also in keinem wichtigen Punkte von den durch Landnomaden gegründeten Staaten. Aber dennoch haben sie aus inneren und äußeren Gründen andere Formen angenommen und zeigen eine andere Psychologie ihrer Klassen.

Nicht als ob etwa die Klassenstimmung grundsätzlich eine andere wäre als in den Landstaaten! Die Herrenklasse sieht mit derselben Verachtung auf den Untertanen herab, auf den »Banausen«, den »Mann mit den blauen Nägeln«, wie der mittelalterliche Patrizier Deutschlands sich ausdrückte, und wehrt ihm die Ehegemeinschaft und den gesellschaftlichen Verkehr, auch dem Freigeborenen. Und ebensowenig unterscheidet sich die Klassentheorie der (der Wohlgeborenen) oder der Patrizier (Ahnenkinder) von der der Junker. Aber die andere Verumständung erzeugt doch auch hier Abwandlungen, natürlich ganz dem Klasseninteresse gemäß. In einem von Kaufleuten beherrschten Gebiet kann Straßenraub unmöglich geduldet werden, und er gilt denn auch, z.B. bei den Seehellenen, als ein gemeines Verbrechen: die Theseussage hätte im Landstaat nicht die Spitze gegen die Wegelagerer erhalten. Dagegen wurde der »Seeraub von ihnen in den ältesten Zeiten als ein keineswegs [S. 82] entehrendes Gewerbe angesehen (...), wovon noch in den homerischen Gedichten zahlreiche Beweise vorhanden sind; noch in viel späterer Zeit hatte Polykrates auf Samos einen wohlorganisierten Räuberstaat gebildet«. (Büchsenschütz, Besitz und Erwerb im griechischen Altertum.) Auch im Corpus juris ist die Rede von einem solonischen Gesetz, nach welchem die Piratenassoziation als eine erlaubte Gesellschaft aufgefaßt wird.« (Goldschmidt, Geschichte des Handelsrechts.) [39]

Aber abgesehen von solchen Geringfügigkeiten, die nur deshalb verzeichnet zu werden verdienen, weil sie ein helles Licht auf die Entstehung des »ideologischen Oberbaus« überhaupt zu werfen geeignet sind [40], haben ihre von denen der Landstaaten sehr verschiedenen Existenzbedingungen in den Seestaaten zwei universalgeschichtlich überaus wichtige Tatsachen geschaffen: die Ausbildung einer demokratischen Verfassung, mit der jener Gigantenkampf in die Welt trat zwischen orientalischem Sultanismus und okzidentaler Bürgerfreiheit, der nach Mommsen den eigentlichen Inhalt der Weltgeschichte ausmacht; - und zweitens die Ausbildung der kapitalistischen Sklavenwirtschaft, an der alle diese Staaten schließlich zugrunde gehen müssen.

Betrachten wir zunächst die inneren, die sozialpsychologischen Ursachen dieses entscheidenden Gegensatzes zwischen Land- und Seestaat.

Die Staaten werden erhalten durch das gleiche Prinzip, aus dem sie entstanden. Eroberung von Land und Leuten ist die ratio essendi des Landstaates, und durch neue Eroberung von Land und Leuten muß er wachsen, bis er seine natürliche Grenze an Gebirge, Wüste oder Meer oder seine soziologische Grenze an anderen Landstaaten findet, die er nicht unterwerfen kann. Der Seestaat aber ist entstanden aus Seeraub und Handel, und durch Seeraub und Handel muß er seine Macht zu mehren suchen. Zu dem Zwecke braucht er aber kein ausgedehntes Landgebiet in aller Form zu beherrschen. Er kann auf die Dauer in den neuen Gebieten seiner »Interessensphäre« mit jedem der ersten Stadien der Staatsentstehung bis zum fünften einschließlich auslangen und schreitet nur selten, sozusagen gezwungen, zum [S. 83] sechsten vor, zur vollen Intranationalität und Verschmelzung. Es genügt ihm im Grunde, wenn er andere Seenomaden und Händler fernhält, sich das Monopol des Raubes und des Handels sichert, die »Untertanen« durch Burgen und Garnisonen in Raison hält, und nur wichtige Produktionsstätten, namentlich Bergwerke, einzelne reiche Kornbreiten, Wälder mit gutem Bauholz, Salinen, wichtige Fischplätze usw. wirklich »beherrscht«, d.h. dauernd verwaltet, oder, was dasselbe sagt, durch die Untertanen bearbeiten läßt. Der Geschmack an »Land und Leuten«, d.h. an Rittergütern für die Herrenklasse außerhalb der Grenzen des engeren originären Staatsgebietes, kommt erst später, wenn der Seestaat durch Eingliederung unterworfener Landstaaten eine Mischung von See- und Landstaat geworden ist. Aber auch dann ist, im Gegensatz zu den Landstaaten, der Großgrundbesitz nur Geldrentenquelle und wird fast durchaus als Absenteebesitz verwaltet. So in Karthago und im späteren Römerreich!

Die Interessen der Herrenklasse, die den Seestaat so gut wie jeden anderen Staat zu ihrem Vorteil lenkt, sind eben andere als in den Landstaaten. Gibt dem feudalen Grundherrn die Macht, d.h. der Besitz an Land und Leuten, den Reichtum: so gibt umgekehrt dem Patrizier der Seestadt sein Reichtum die Macht. Kann der Großgrundbesitzer seinen Staat nur durch die Zahl der von ihm unterhaltenen Krieger beherrschen, und muß er, um diese zum Höchstmaß zu steigern, seinen Landbesitz und die Abgaben der hörigen Bauern soviel wie möglich vermehren: so kann der Patrizier seinen Staat nur durch seinen mobilen Reichtum beherrschen, mit dem er starke Fäuste mietet und schwache Seelen besticht; und diesen Reichtum gewinnt er schneller und leichter im Seeraub und Handel, als im Landkriege und vom Großgrundeigentum im fernen Lande. Auch müßte er seine Stadt verlassen, um solches Eigentum auszunützen, müßte darauf Wohnsitz nehmen und ein echter Feudaljunker werden: denn in einer noch nicht zur vollen Geldwirtschaft und ausgiebigen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land entwickelten Gesellschaft ist die Ausnützung eines Großgrundeigentums nur in der Naturalwirtschaft möglich, und Absenteebesitz als Rentenquelle undenkbar. So weit aber hat uns unsere Betrachtung noch nicht geführt; noch sind wir in primitiven gesellschaftlichen Verhältnissen. Und hier gewiß wird es keinem Stadtadligen einfallen, seine lebhafte, reiche Heimat zu verlassen, um sich in die Wildnis unter den Barbaren zu vergraben und [S. 84] damit ein für allemal auf jede politische Rolle in seinem Staat Verzicht zu leisten. Seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Interessen drängen ihn mit aller Einseitigkeit zum Seehandel. Nicht das Grundkapital, sondern das mobile Kapital ist sein Lebensnerv.

Aus diesen inneren Gründen ihrer Herrenklasse haben selbst die wenigen Seestädte, denen die geographischen Bedingungen ihres Hinterlandes die räumliche Expansion ins Weite erlaubten, den Schwerpunkt ihrer Existenz immer mehr auf und über See gesucht als auf dem Lande. Selbst für Karthago ist sein riesiger Landbesitz nicht entfernt von der Wichtigkeit wie seine Seeinteressen. Es erobert Sizilien und Korsika mehr, um die griechischen und etruskischen Handelskonkurrenten zu schädigen, als um des Landbesitzes willen; es dehnt seine Grenzen gegen die Libyer mehr aus dem Grunde aus, weil es den Landfrieden schützen muß; und wenn es Spanien erobert, so ist der erste Beweggrund der Besitz der Bergwerke. Die Geschichte der Hansa bietet manchen interessanten Vergleichspunkt dazu.

Die meisten dieser Seestädte jedoch waren gar nicht in der Lage, ein großes Gebiet unter ihre Herrschaft zu bringen. Äußere geographische Bedingungen hätten es auch dann verhindert, wenn der Wille bestanden hätte. Überall am Mittelmeer, mit Ausnahme weniger Stellen, ist das Küstenland außerordentlich gering entwickelt, ein schmaler Saum am Abhang hoher Gebirge. Das war eine Ursache, die die meisten dieser um einen Handelshafen gruppierten Staaten hinderte, eine für unsere Begriffe irgendwie bedeutende Größe zu erreichen, während in den breiten Landgebieten, in denen der Hirte herrscht, schon sehr früh große, ja ungeheuere Reiche entstanden. Die zweite Ursache für die anfängliche Winzigkeit dieser Staaten ist der Umstand, daß im Hinterland, in den Bergen, aber auch in den wenigen breiten Ebenen des mittelländischen Gebietes zumeist kriegerische Stämme hausten, die nicht leicht zu unterwerfen waren, entweder Jäger, die, wie gesagt, überhaupt nicht zu unterwerfen sind, oder kriegerische Hirten oder primitive Eroberungsstaaten derselben Herrenrasse. So in Hellas überall im Binnenlande!

Aus allen diesen Gründen bleibt der Seestaat auch bei stärkstem Wachstum immer zentralisiert, man möchte fast sagen: zentriert, um den Handelshafen, während der Landstaat, schon von Anfang an stark dezentralisiert, sich lange Zeit im Maße seiner Ausdehnung zu [S. 85] immer stärkerer Dezentralisation entwickelt. Wir werden unten sehen, daß erst seine Durchdringung mit den im »Stadtstaat« ausgebildeten Verwaltungseinrichtungen und ökonomischen Errungenschaften ihm die Kraft verleihen kann, sich die um einen Schwerpunkt sicher schwingende Organisation zu geben, die unsere modernen Großstaaten auszeichnet. Das ist der erste große Gegensatz zwischen den beiden Formen des Staates.

Der zweite, nicht minder entscheidende Gegensatz besteht darin, daß der Landstaat sehr lange im Zustande der Naturalwirtschaft verharrt, während der Seestaat sehr schnell zur Geldwirtschaft kommt. Auch dieser Gegensatz der beiden Gebilde wächst aus den Grundbedingungen ihrer Existenz:

Im Naturalstaat ist Geld ein überflüssiger Luxus, so überflüssig, daß eine schon entwickelte Geldwirtschaft verfällt, wenn ein Wirtschaftskreis in die Naturalwirtschaft zurücksinkt. Karl der Große hatte gut Münzen schlagen: die Wirtschaft stieß sie aus, denn Neustrien - von Austrasien gar nicht zu reden - war im Sturm der Völkerwanderung zur Naturalwirtschaft zurückgekehrt. Und die braucht kein Geld als Wertmesser, denn sie hat keinen entwickelten Marktverkehr. Die Hintersassen steuern Naturalien, die der Herr mit seinem Gefolge unmittelbar konsumiert; und Schmuck, feines Gewebe, edle Waffen und Rosse, Salz usw. handelt er im Warentausch von Hausierern gegen Sklaven, Rinder, Wachs, Pelze und andere Erzeugnisse der kriegerischen Naturalwirtschaft ein.

Dagegen kann das Stadtleben unmöglich auf irgend höherer Entwicklungsstufe des Wertmessers entraten. Der freie städtische Handwerker kann nicht auf die Dauer sein Erzeugnis unmittelbar gegen das eines anderen Handwerkers tauschen; und schon der unentbehrliche städtische Kleinhandel mit Nahrungsmitteln macht Münze unentbehrlich, wo jeder fast alles einkaufen muß. Noch weniger aber kann der Handel im engeren Sinne, der Handel nicht zwischen Kaufmann und Kunden, sondern zwischen Kaufmann und Kaufmann, eines Wertmessers entraten. Man stelle sich vor, daß ein Schiffsherr, der in einen Hafen Sklaven importiert, um sie gegen Gewebe einzutauschen, die er anderswohin zu führen gedenkt, zwar einen Gewebehändler findet, aber erfährt, daß dieser nicht Sklaven, sondern etwa Eisen oder Rinder oder Pelze eintauschen will. Dann müßten vielleicht ein Dutzend Zwischentäusche stattfinden, ehe das Ziel erreicht [S. 86] ist. Das ist nur vermeidbar, wenn eine Ware existiert, die von allen begehrt ist. In der Naturalwirtschaft der Landstaaten können Pferde oder Rinder, die schließlich jeder brauchen kann, ganz gut diese Stelle einnehmen: aber der Schiffer kann kein Vieh als Zahlungsmittel laden, und so wird das Edelmetall zu »Geld«.

Aus diesen beiden notwendigen Eigenschaften des See-, des Stadtstaates, wie wir ihn fortan nennen werden, aus der Zentralisation und der Geldwirtschaft, folgt sein weiteres Schicksal mit Notwendigkeit.

Schon die Psychologie des Städters und nun gar des Einwohners einer Seehandelsstadt ist eine ganz andere als des Landbewohners. Sein Blick ist freier und weiterspannend, wenn auch oft genug mehr an der Oberfläche haftend. Der Städter ist lebhafter, weil in einem Tage von mehr Reizen getroffen, als der Bauer in einem Jahre, und ist, weil an fortwährende Neuigkeiten und Neuerungen gewöhnt, immer »novarum rerum cupidus«. Von der Natur entfernter und viel weniger abhängig als der Landmann, empfindet er weniger Furcht vor den »Geistern«, und darum folgt der Untertan mit viel weniger Respekt den »tabuierenden« Verordnungen, die der erste und zweite Stand ihm auferlegen. Und weil er schließlich in dichten Massen zusammenhaust und daher seine, in der Mehrheit liegende Kraft deutlich empfindet, ist der Untertan trotziger und aufsässiger als der hörige Bauer, der in solcher Vereinzelung lebt, daß er sich seiner Masse nie bewußt werden kann, und daß der Herr mit seinem Gefolge in jedem Streit fast immer die Übermacht haben wird.

Schon das bedingt eine immer mehr vorschreitende Lockerung des starren Unterordnungsverhältnisses, das der primitive Eroberungsstaat geschaffen hat. Nur die »Landstaaten« von Hellas haben ihre Untertanen lange in der alten Knechtschaft gehalten: Sparta seine Heloten, Thessalien seine Penesten. Überall in den Stadtstaaten aber finden wir schon früh die Plebs im Aufstiege, dem die Herrenklasse keinen ernstlichen Widerstand entgegensetzen kann.

Wie die Siedlungsverhältnisse, so wirken auch die ökonomischen Dinge auf das gleiche Ziel hin. Der mobile Reichtum hat nicht entfernt die starre Stabilität des Grundeigentums: das Meer ist launisch, und das Glück des Seekrieges und Seeraubes nicht minder. Der Reichste kann schnell alles verlieren, der Ärmste durch eine Drehung von Fortunas Rad nach oben geschleudert werden. Armut aber verliert, [S. 87] Reichtum gewinnt in einem ganz auf den Reichtum gestellten Gemeinwesen Rang und »Klasse«. Der reiche Plebejer wird zum Führer der Volksmasse bei ihrem Verfassungskampfe um die Gleichberechtigung und setzt alle seine Mittel dafür ein; und die Stellung der Patrizier wird unhaltbar, wenn sie notgedrungen ein erstes Mal nachgegeben haben: die legitimistische Verteidigung des Geburtsrechtes ist für immer unmöglich, sobald der erste reiche Plebejer Aufnahme gefunden hat. Von da an heißt es: was dem einen recht ist, ist dem anderen billig, und dem aristokratischen folgt erst das plutokratische, dann das demokratische und schließlich das ochlokratische Regiment, bis eine fremde Eroberung oder die Tyrannis eines »Säbelheilands« dem wüsten Treiben ein Ende macht.

Was aber dieses Ende nicht nur des Staates, sondern meist auch des Volkes selbst, diesen buchstäblich zu nehmenden Völkertod herbeiführt, das ist eine gesellschaftliche Einrichtung, die in jedem, auf Seeraub und Seehandel begründeten, geldwirtschaftlich entfalteten Stadtstaat unvermeidbar eintreten muß: die kapitalistische Sklavenwirtschaft. Die Sklaverei, aus dem primitiven Feudalstadium übernommen und anfangs, wie in allen Naturalwirtschaften, harmlos, wird zum fressenden Kanker, der das ganze Staatsleben zerstört, sobald sie »kapitalistisch« ausgebeutet wird, d.h. sobald Sklavenarbeit nicht mehr als Selbstversorgung für eine feudale Naturalwirtschaft, sondern für die Versorgung eines mit Geld zahlenden Marktes angewendet wird.

Seeraub, Kaperei und Handelskriege schaffen zahllose Sklaven ins Land. Die Kaufkraft des reichen Marktes gestattet intensive Landwirtschaft, die Grundbesitzer im Stadtgebiet ziehen immer steigende Renten aus ihrem Besitz und werden immer landgieriger. Der kleine Gemeinfreie auf dem Lande, durch Kriegsdienste im Interesse der Großkaufleute überlastet, verschuldet sich immer mehr, wird Schuldsklave oder wandert als habeloser Bettler in die Stadt. Aber auch hier findet er keine Arbeitsstelle; im Gegenteil: die Verdrängung des Bauern hat schon die vorher in der Stadt ansässigen Handwerker und Kleinhändler schwer geschädigt; denn der Bauer kaufte in der Stadt, aber die durch das Bauernlegen immer mehr anschwellenden »Grossoikenwirtschaften« auf dem Lande decken ihren Bedarf an Gewerbswaren womöglich auch durch eigene Sklavenproduktion. Und weiter frißt das Übel! Auch der Rest der städtischen [S. 88] Gewerbe, diejenigen, die für die Stadt selbst tätig sind, werden mehr und mehr von Unternehmern besetzt, die die billige Sklavenarbeit ausbeuten. So verarmt der Mittelstand, und ein nichtshäbiger, nichtsnutziger Pöbel, ein wahres »Lumpenproletariat«, ist dank der inzwischen erfochtenen demokratischen Verfassung der Souverän des Staatswesens. Daran muß es früher oder später politisch und militärisch zugrunde gehen; aber auch ohne eine fremde Invasion, die nicht ausbleiben kann, würde es sozusagen physisch an der ungeheuren Entvölkerung, an der, wörtlich zu nehmenden Völkerschwindsucht zugrunde gehen, die alle diese Staaten schnell vernichtet. Ich kann an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen.

Nur ein einziger Stadtstaat hielt sich lange Jahrhunderte, und zwar aus dem einen Grunde, weil er, der zuletzt übrig bleibende Sieger, die Bevölkerungsschwindsucht immer wieder durch das einzige Mittel, ausgiebige Neuschaffung städtischer und ländlicher Mittelstände durch gewaltige Bauernkolonisationen, zu bekämpfen vermochte, auf Ländereien, die er den Besiegten abgenommen hatte. Dieser Staat war das römische Reich. Selbst dieser riesenhafte Organismus erlag zuletzt der Völkerschwindsucht der kapitalistischen Sklavenwirtschaft. Aber inzwischen hatte er das erste Imperium, d.h. den ersten straff zentralisierten Großstaat geschaffen, indem er alle Landstaaten des Mittelmeergebietes und seiner Nachbarländer überwand und sich eingliederte, und hatte für alle Zukunft das Muster solcher Herrschaftsorganisation in die Welt gestellt. Und ferner hatte er inzwischen Städtewesen und Geldwirtschaft so weit entwickelt, daß sie niemals ganz wieder verschwinden konnten; und so erhielten unmittelbar oder mittelbar die feudalen Landstaaten, die sich nach Roms Fall auf seinem ehemaligen Herrschaftsgebiet aufgerichtet hatten, die neuen Anstöße, die sie über den Zustand des primitiven Eroberungsstaates weiter emporführen konnten.


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Fußnoten

1. I. Kulischer, l. c., p. 317. Folgen weitere Beispiele. [Zurück zum Text]
2. Westermarck, History of human marriage, p. 400. Auch hier sind eine Anzahl ethnographischer Beispiele gegeben. [Zurück zum Text]
3. Es gibt übrigens (australische) Stammverbände, deren einzelne Gruppen in verschiedenen Örtlichkeiten (z.B. Küste und Wald) leben und daher verschiedene Produkte haben. Hier ist der Tausch selbstverständlich. Aber es handelt sich hier auch um relativ hohe Kulturzustände. Die Australier sind höhere Jäger! [Zurück zum Text]
4. Westermarck, l. c., p. 546. [Zurück zum Text]
5. Vgl. Ratzel, l. c. I, p. 318. 540. [Zurück zum Text]
6. Ratzel, l. c. I, p. 106. [Zurück zum Text]
7. Ratzel, l. c. I, p. 335. [Zurück zum Text]
8. Ratzel, l. c. I, p. 346. [Zurück zum Text]
9. Ratzel, l. c. I, p. 347. [Zurück zum Text]
10. Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft, 2. Aufl. Tübingen 1898. p. 301. [Zurück zum Text]
11. Dahin gehört auch der heute noch hier und da gebräuchliche Gruß: Friede sei mit dir! Es ist bezeichnend für die Verblendung des alt gewordenen Tolstoi, daß er dieses charakteristische Kennzeichen eines grundsätzlichen Kriegszustandes als den Rest eines goldenen Zeitalters des Friedens ansieht. (Die Bedeutung der russ. Revolution, dtsch. v. Ad. Heß, p. 17.) [Zurück zum Text]
12. Vgl. Ratzel, l. c. I, p. 271, von den Ozeaniern: »Der Verkehr von Stamm zu Stamm ist unverletzlichen Herolden übertragen, mit Vorliebe alten Weibern. Diese vermitteln auch den Handel im Tauschverkehr.« Vgl. a. p. 317 für die Australier. [Zurück zum Text]
13. Deutsch von L. Katscher. Leipzig 1907. [Zurück zum Text]
14. Daher vielleicht die beliebte Verwendung alter Weiber zu Heroldsdiensten. Sie haben den doppelten Vorzug, vom Standpunkte des Krieges aus ungefährlich zu sein und im Rufe besonderer Zauberkraft zu stehen (Westermarck, l. c.), noch mehr als alte Männer, die man auch vorsichtig behandelt, weil sie bald »Geister« sein werden. [Zurück zum Text]
15. Ratzel, l. c. I, p. 81. [Zurück zum Text]
16. Ratzel, l. c. I, p. 478/9. [Zurück zum Text]
17. A. Vierkandt, Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Naturvölker. (Zeitschrift für Sozialwissenschaft, II, p. 177/8.) [Zurück zum Text]
18. Dabei fällt sehr oft das Schwert des Brennus in die Wagschale. Der scheinbare Tausch maskiert empfindliche »Reparationen«. [Zurück zum Text]
19. Kulischer, l. c., p. 320/1. [Zurück zum Text]
20. Lippert, l. c. I, p. 266 ff. [Zurück zum Text]
21. Vgl. Westermarck, History of human marriage. [Zurück zum Text]
22. Ratzel, l. c. II, p. 27. [Zurück zum Text]
23. Das soll nach Ed. Hahn für die afrikanischen Hirten in viel geringerem Maße zutreffen, als für die asiatischen. [Zurück zum Text]
24. Herodot IV, 23, zit. nach Lippert, l. c. I, p. 459. [Zurück zum Text]
25. Lippert, l. c. II, p. 170. [Zurück zum Text]
26. Mommsen, l. c. I, p. 139. [Zurück zum Text]
27. Ob die Etrusker ein zu Lande nach Italien eingewandertes und dann zum Seenomadentum übergegangenes Kriegsvolk gewesen oder bereits als Seenomaden in ihre Sitze an dem nach ihnen benannten Meere gelangt sind, ist nicht festgestellt. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß wenigstens eine spätere Einwanderung über See kam; die »Tursa«, von denen die ägyptischen Denkmäler erzählen. Auch die Philister sind zur See nach Palästina gelangt, vielleicht von Kreta aus: »Krethi und Plethi«. [Zurück zum Text]
28. Ganz ähnlich liegen die Dinge in Insulindien. Hier sind die Malaien die Wikinge. »Die Kolonisation spielt als überseeische Eroberung und Ansiedlung (...) eine an Griechenlands Wanderzeit erinnernde große Rolle. (...) Jede Küstenlandschaft weist fremde Elemente auf, die ungerufen und oft den Altansässigen schädlich eindrangen. (...) Das Recht der Eroberung wurde von den Herrschern von Tornate an adlige Häuser verliehen, die dann halbsouveräne Statthalter auf Buru, Ceram usw. wurden.« (Ratzel, l. c. I, p. 409.) [Zurück zum Text]
29. Mommsen, l. c. I, p. 132. [Zurück zum Text]
30. Mommsen, l. c. I, p. 134. [Zurück zum Text]
31. Ratzel, l. c. I, p. 160. [Zurück zum Text]
32. Ratzel, l. c. II, p. 558. [Zurück zum Text]
33. Buhl, l. c., p. 48. [Zurück zum Text]
34. Buhl, l. c., p. 78/9. [Zurück zum Text]
35. Mommsen, l. c. II, p. 406. [Zurück zum Text]
36. Ratzel, l. c. II, p. 191. Vgl. a. p. 207/8. [Zurück zum Text]
37. Ratzel, l. c. I, p. 363. [Zurück zum Text]
38. Mommsen, l. c., p. 46. [Zurück zum Text]
39. Beide zitiert nach Kulischer, l. c., p. 319. [Zurück zum Text]
40. Wie bezeichnend für diese Zusammenhänge ist es, daß Großbritannien, der einzige »Seestaat« Europas, noch heute nicht auf das Kaperrecht verzichten will! [Zurück zum Text]

 

IV. Die Entfaltung des Feudalstaates

a) Die Entstehung des Großgrundeigentums

[S. 89] Wir kehren jetzt verabredetermaßen zu jenem Punkte zurück, wo der primitive Eroberungsstaat den Nebenast des Stadtstaates aussandte, um nunmehr dem Hauptaste, dem nach oben führenden, weiter zu folgen.

Wie des Stadtstaates Geschick bestimmt war durch die Agglomeration desjenigen Reichtums, um den das Staatswesen als seinen Schwerpunkt schwang, des Handelskapitals: so ist des Landstaates Geschick bestimmt durch die Agglomeration desjenigen Reichtums, um den sein Staatswesen als seinen Schwerpunkt schwingt, des Grundeigentums.

Wir haben oben die ökonomische Differenzierung im Hirtenstamm verfolgt und uns überzeugt, daß schon hier das Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne von dem Augenblicke an kräftig genug wirksam wird, wo das politische Mittel in Gestalt des Raubkrieges und vor allem der Sklaverei mit ins Spiel kommt. Schon spaltete sich der Stamm in Edelinge und Gemeinfreie, unter denen als dritter Stand der politisch rechtlose Sklave sich ordnet.

Diese in den primitiven Staat mit eingebrachte Verschiedenheit des Vermögens und damit des sozialen Ranges verschärft sich nun ungemein mit der Seßhaftigkeit, durch die das private Grundeigentum geschaffen wird. Starke Unterschiede des Bodenbesitzes müssen bereits bei der ersten Entstehung des primitiven Eroberungsstaates entstehen, wenn die Gliederung des Hirtenstammes in große Sklaven- und Herdenfürsten und in kleine Gemeinfreie schon stark ausgeprägt war. Die Fürsten okkupieren mehr Land als die Kleinen.

Das geschieht zunächst ganz naiv und ohne die Spur eines Bewußtseins von der Tatsache, daß der große Grundbesitz das Mittel einer bedeutenden sozialen Macht- und Reichtumsmehrung sein wird. Davon kann keine Rede sein; auch hätten die Gemeinfreien in diesem Stadium noch sehr wohl die Macht besessen, die Bildung des Großgrundeigentums zu verhindern, wenn sie gewußt hätten, daß es seine Spitze einst gegen sie kehren könnte. Aber niemand konnte das [S. 90] ahnen: Land hat in dem Zustande, den wir beobachten, keinerlei Wert. Darum war auch nicht das Land an sich Ziel und Preis des Kampfes, sondern das Land samt den an die Scholle gefesselten Bauern, Arbeitssubstrat und Arbeitsmotor, aus deren Verbindung das Ziel des politischen Mittels erwächst, die Grundrente.

Von dem massenhaft vorhandenen unbebauten Lande aber mag sich jeder Freie so viel nehmen, wie er braucht und bebauen will oder kann. Man denkt so wenig daran, jemandem aus dem scheinbar unerschöpflichen Vorrat zuzumessen, wie aus dem Vorrat an atmosphärischer Luft.

Die Fürsten der Stammhäuser erhalten wohl in der Regel nach dem Brauch des Hirtenstammes schon von Anfang an mehr »Land und Leute« als die Gemeinfreien. Das ist ihr Fürstenrecht als Patriarchen, Feldherren und Soldherren ihres kriegsgewöhnten Gefolges aus Halbfreien, Knechten und »Klienten« oder Schutzhörigen (Flüchtlingen usw.); und das bedeutet schon einen vielleicht erheblichen primitiven Größenunterschied des Bodeneigentums. Aber das ist nicht alles. Die Fürsten brauchen auch von dem »Land ohne Leute« eine größere Fläche als die Gemeinfreien. Denn sie bringen Knechte, Sklaven mit, die nicht rechtsfähig sind und daher nach allmenschlichem Volksrecht kein Grundeigentum erwerben können: aber Land müssen sie dennoch haben, um leben zu können, und so nimmt es ihr Herr für sich, um sie darauf anzusetzen. Je reicher der Nomadenfürst war, um so größer wird der Grundherr!

Damit ist nun zunächst der Reichtum und mit ihm der soziale Rang ungleich fester und dauerhafter konsolidiert als im Hirtenstadium. Denn die größte Herde kann verloren gehen, aber Grundeigen ist unzerstörbar; und arbeitspflichtige Menschen, die ihm Rente abgewinnen, wachsen auch nach den furchtbarsten Gemetzeln schnell genug wieder nach, selbst wenn sie nicht durch Sklavenjagden in erwachsenem Zustande beschafft werden können.

Aber um diesen festen Reichtumskern agglomeriert sich nun auch das Vermögen mit ganz anderer Geschwindigkeit. So harmlos die erste Okkupation war, so muß doch alsbald die Erkenntnis sich einstellen, daß man um so mehr Renten zieht, je mehr Sklaven man hat und auf freiem Lande ansetzt. Fortan geht die Außenpolitik des Staates nicht mehr nur auf Land und Leute, sondern auch auf Leute ohne Land, die man als Sklaven heimführt, um sie neu anzusetzen. [S. 91] Führt der ganze Staat den Krieg oder Raubzug, so erhalten die Edelinge den Löwenanteil; sehr häufig aber ziehen sie auf eigene Faust, nur mit ihrem Gefolge, aus, und der daheim gebliebene Gemeinfreie erhält keinen Anteil an der Beute. Und nun geht's im Zirkel immer schneller voran mit dem Größenwachstum des adligen Grundeigentums: je mehr Sklaven der Edeling hat, um so mehr Grundrente zieht er, um so mehr kriegerische Gefolgsleute kann er unterhalten: Knechte, arbeitsscheue Kleinfreie und Flüchtlinge; und um so mehr Sklaven kann er mit ihrer Hilfe erbeuten und zur Vergrößerung seiner Rente ansetzen.

Dieser Prozeß vollzieht sich auch da, wo eine Zentralgewalt besteht, der nach allgemeinem Volksrecht die Verfügung über das unbebaute Land zusteht, und zwar nicht nur unter ihrer Duldung, sondern häufig genug unter ihrer ausdrücklichen Sanktion. Solange nämlich der Feudalherr der ergebene Vasall der Krone ist, liegt es in ihrem Interesse, ihn so stark wie möglich zu machen, um seine Kriegsmacht, die er kraft Lehenspflicht unter die Fahne des Herrschers zu stellen hat, nach Möglichkeit zu vergrößern. Um zu zeigen, daß dieser uns aus den westeuropäischen Feudalstaaten wohlbekannte Zusammenhang auch unter völlig verschiedenen Umständen zur Erscheinung kommen muß, sei eine einzige Stelle angeführt: »Die Hauptleistung auf Fidschi lag im Kriegsdienst, der bei siegreichem Ausgang zu neuer Schenkung von Land samt den darauf Wohnenden als Sklaven und damit zur Übernahme neuer Verpflichtungen führte.« [1]

Diese Anhäufung des Grundeigentums in immer gewaltigeren Massen in den Händen des Grundadels führt nun den primitiven Eroberungsstaat höherer Stufe zum »entfalteten Feudalstaat« mit ausgebildeter feudaler Staffelung.

Ich habe den Kausalzusammenhang an anderer Stelle [2] für das deutsche Stammgebiet ausführlich nach den Quellen geschildert und dort bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß es sich um einen in sämtlichen Hauptzügen typischen Prozeß handelt. Nur so ist z.B. die Tatsache zu erklären, daß in Japan das Feudalsystem sich bis in die Einzelheiten identisch entwickelte, obgleich das Land von einer von der kaukasischen grundverschiedenen Rasse bewohnt ist und zudem [S. 92] (ein starkes Argument gegen die allzusehr zugespitzte materialistische Geschichtsauffassung) eine ganze andere technische Grundlage seiner Wirtschaft besitzt: Hackbau, nicht Pflugkultur.

Hier, wo es sich, wie überhaupt in dieser ganzen Abhandlung, nicht um das Schicksal eines einzelnen Volkes, sondern darum handelt, die überall aus der gleichen Menschennatur folgenden gleichen Grundzüge typischer Entwicklung zu zeichnen, werde ich die beiden großartigsten Beispiele des entfalteten Feudalstaates, Westeuropa und Japan, als bekannt voraussetzen, mich im wesentlichen auf weniger bekannte Fälle beschränken und auch hier das ethnographische Material vor dem historischen im engeren Sinne bevorzugen.

Der Prozeß, den wir jetzt darzustellen haben, ist eine allmähliche sich vollziehende grundstürzende Umgestaltung der politischen und sozialen Gliederung des primitiven Eroberungsstaates: die Zentralgewalt verliert ihre politische Macht an den Grundadel, der Gemeinfreie sinkt, und der »Untertan« steigt.

b) Die Zentralgewalt im primitiven Eroberungsstaat

Der Patriarch des Hirtenstammes hat bei allem Ansehen, das ihm sein Heerführer- und Priesteramt gewährt, doch gemeinhin keinerlei despotische Gewalt, und ebenso hat der »König« der kleinen, seßhaft gewordenen Völkerschaft ganz allgemein nur sehr beschränkte Macht. Dagegen pflegt die erste Zusammenfassung zahlreicher Hirtenstämme zu einer gewaltigen Heeresmasse durch kriegerische Genies zumeist in despotischen Formen zu erfolgen, [3] wie denn überhaupt im Kriege das homerische eine selbst von den unbändigsten Völkern anerkannte und betätigte Wahrheit ist. Der freie primitive Jäger leistet seinem gewählten Häuptling auf dem Kriegspfade unbedingten Gehorsam; die freien Kosaken der Ukraine, die in Friedenszeiten keinerlei Autorität anerkannten, räumten im Kriege ihrem [S. 93] Hetman die volle Gewalt über Tod und Leben ein. Dieser Gehorsam dem Feldherrn gegenüber ist ein gemeinsamer Zug aller echten Krieger-Psychologie.

Wie an der Spitze der großen Nomadenzüge allmächtige Despoten stehen: ein Attila, ein Omar, ein Dschinghis-Khan, ein Tamerlan, ein Mosilikatse, ein Ketschwäyo, so pflegt auch in den, aus kriegerischer Zusammenschweißung einer Anzahl von primitiven Feudalstaaten entstandenen, Großstaaten zu Anfang eine starke Zentralgewalt zu bestehen. Als Beispiele seien Sargon, Cyrus, Chlodwig, Karl der Große, Boleslaw der Rote genannt. Zuweilen, namentlich solange der Großstaat seine - geographische oder soziologische - Grenze noch nicht erreicht hat, bleibt die Zentralgewalt in den Händen einer Anzahl kräftiger Monarchen noch stark, und ihre Macht kann bis zum tollsten Despotismus und Cäsarenwahnsinn ausarten: namentlich das Zweistromland und Afrika bieten dafür charakteristische Beispiele. Wir können auf die, für den allgemeinen Verlauf übrigens wenig bedeutungsvolle Regierungsform dieser Staaten hier nur kurz eingehen; nur so viel sei gesagt, daß die Ausbildung der despotischen Regierungsform vor allem davon abhängt, welche religiöse Stellung der Herrscher neben dem Feldherrenamt einnimmt, und ob er das Handelsmonopol besitzt oder nicht.

Der Cäsaropapismus neigt überall dazu, die krasseren Formen des Despotismus auszubilden, während bei Teilung der geistlichen und weltlichen Gewalt ihre Träger sich gegenseitig hemmen und mäßigen. Charakteristisch dafür sind die Verhältnisse in den Malaienstaaten Insulindiens, echten »Seestaaten«, deren Entstehung ein genaues Gegenstück zu den griechischen Seestaaten bildet. Hier ist im allgemeinen der Fürst gerade so machtlos, wie etwa der König zu Beginn der uns bekannten attischen Geschichte. Die Gauhäupter (in Sulu die Datto, in Atschin die Panglima) haben, wie in Athen, die Gewalt. Wo aber, »wie in Tobah dem Herrscher noch religiöse Motive die Stellung eines kleinen Papstes einräumen, wendet sich das Blatt. Die Panglima hängen dann ganz vom Radscha ab, sind nur Beamte« [4]. Es darf hier an die bekannte Tatsache erinnert werden, daß die aristokratischen Gauhäuptlinge Athens und Roms, als sie das alte Königtum abschafften, doch wenigstens den alten Titel einem sonst machtlosen Mitträger der Gewalt verliehen: die Götter müssen [S. 94] ihre Opfer in gewohnter Weise haben. Aus demselben Grunde bleibt häufig der Nachkomme des alten Stammkönigs als im übrigen ganz ohnmächtiger Würdenträger erhalten, wenn schon längst die eigentliche Regierungsgewalt auf einen Kriegshäuptling übergegangen ist: wie im späteren Merowingerreiche der karolingische Hausmeier neben dem »rex crinitus« aus dem Geschlecht Merowechs, so steht in Japan der Shogun neben dem Mikado, und im Inkareich der Inkaheerführer neben dem mehr und mehr auf die priesterlichen Funktionen beschränkten Huillcauma. [5]

Außer durch das Oberpriesteramt erhält die Macht des Staatsoberhauptes häufig eine gewaltige Vermehrung durch das Handelsmonopol, das dem Häuptling auf primitiver Stufe zumeist zusteht: eine natürliche Folge der oben von uns geschilderten Anfänge des friedlichen Handels aus Gastgeschenken. Solch Handelsmonopol hatte z. B. Salomo [6].

Die Negerhäuptlinge sind in der Regel »Monopolisten des Handels« [7]. So auch der Sulukönig [8]. Bei den Galla ist das Oberhaupt, wo es anerkannt ist, »selbstverständlich auch der Handelsmann seines Stammes; keiner seiner Untertanen darf direkt mit den Fremden handeln«. [9] Bei den Barotse und Mabunda ist der König »streng nach dem Rechte der einzige Kaufmann seines Landes«. [10]

Ratzel würdigt die Bedeutung dieser Tatsache treffend wie folgt: »Mit der Zauberkraft verbindet sich zur Steigerung der Macht des Häuptlings das Monopol des Handels. Indem der Häuptling der Vermittler des Handels ist, bringt er alles in seine Hand, was seinen Untertanen begehrenswert ist und wird der Spender guter Gaben, der Erfüller der heißesten Wünsche. In diesem System liegt sicherlich [S. 95] eine Quelle großer Macht.« [11] Wenn sich in Eroberungsgebieten, wo die Regierungsgewalt an sich schon stärker zu sein pflegt, das Handelsmonopol noch dazu gesellt, kann das Königtum sehr mächtig werden.

Im übrigen scheint die Regel zu sein, daß selbst in den äußerlich krassesten Fällen von Despotismus doch kein monarchischer Absolutismus besteht. Der Herrscher kann ungestraft gegen seine Untertanen wüten, namentlich gegen die unterworfene Klasse: aber er ist doch durch feudale Mitregierung stark beschränkt. Ratzel bemerkt dazu im allgemeinen: »Der sogenannte 'Hofstaat' afrikanischer oder altamerikanischer Fürsten ist wohl immer der Rat (...) Die Willkürherrschaft, deren Spuren wir dennoch überall bei Völkern auf niederer Stufe begegnen, auch wo die Regierungsform republikanisch ist, hat ihren Grund nicht in der Stärke des Staates oder Häuptlings, sondern in der moralischen Schwäche des Einzelnen, der fast widerstandslos der über ihm waltenden Macht anheimfällt.« [12] Das Königtum der Sulu ist ein beschränkter Despotismus: sehr mächtige Minister (Induna), bei anderen Kaffernstämmen ein Rat, der häufig Volk und Fürsten beherrscht, stehen ihm zur Seite [13]. Trotzdem wurde »unter Tschaka jedes Niesen und Räuspern in Gegenwart des Tyrannen und jedes trockene Auge beim Tode eines Anverwandten des Königshauses mit dem Tode bestraft« [14]. Ganz dasselbe gilt von den durch ihre furchtbare Blutwirtschaft berüchtigten westafrikanischen Reichen Dahomey und Ashanti. »Trotz der Verwüstung der Menschenleben in Kriegen, Sklavenhandel und Menschenopfer herrschte nirgends unbeschränkter Despotismus. (...) Bowditch hebt die Ähnlichkeit des (in Aschanti bestehenden ständischen) Systems mit dem persischen hervor, wie Herodot es beschreibt.« [15]

Wir müssen uns, um es nochmals zu betonen, sehr hüten, Despotismus und Absolutismus gleichzusetzen. Auch in den westeuropäischen Feudalstaaten war des Herrschers Gewalt über Leben und Tod häufig ganz unbeschränkt, und dennoch war er ohnmächtig, wenn die »Großen« gegen ihn waren. Solange er die Klassengliederung nicht [S. 96] antastet, mag er seiner Grausamkeit die Zügel schießen lassen und sogar einmal einen der großen Herren opfern: aber wehe ihm, wenn er es wagen sollte, die ökonomischen Vorrechte seiner Großen anzutasten. Sehr charakteristisch ist diese nach der einen Seite (rechtlich) ganz freie, nach der anderen (politisch) engbegrenzte Macht in den großen ostafrikanischen Reichen zu studieren gewesen: »Die Regierung der Waganda und Wanyoro ist so, daß der Theorie nach der König das ganze Land beherrscht, doch ist dies nicht viel mehr als eine Scheinregierung, denn in Wahrheit gehört das Land den obersten Häuptlingen des Reiches. Zu Mtesas Zeit verkörperten sie den Widerstand des Volkes gegen fremde Einflüsse, und Muanga fürchtet sich vor ihnen, wenn er Neues einführen möchte. Wenn nun auch das Königtum in Wirklichkeit beschränkt ist, so kommt ihm doch eine imposante Stellung im Äußerlichen, im Formalen, zu. Der Masse des Volkes steht der Herrscher als unbeschränkter Gebieter gegenüber, denn er verfügt frei über Leben und Tod und fühlt sich nur im engen Kreise der obersten Höflinge gebunden.« [16]

Und wieder ganz dasselbe gilt, um auch den letzten der großen staatsbildenden Kreise zu nennen, von den Ozeaniern: »Nirgends fehlt ganz eine repräsentative Vermittlung zwischen Fürst und Volk. (...) Das aristokratische Prinzip korrigiert (...) das patriarchalische. Daher beruht der hochgesteigerte Despotismus mehr auf Klassen- und Kastendruck als auf dem übermächtigen Willen eines Einzelnen.« [17]

c) Die politische und soziale Zersetzung des primitiven Eroberungsstaates

Wir können an dieser Stelle nicht näher auf die unzähligen Abschattungen eingehen, in denen sich die patriarchalisch-aristokratische (resp. plutokratische) Mischung der Regierungsform des primitiven Eroberungsstaates für die ethnographisch-historische und juristische Betrachtung darstellt. Sie ist auch für den Verlauf der Entwicklung von geringster Bedeutung.

[S. 97] So groß nämlich auch die Machtgewalt des Herrschers im Anfang sein mag, ein unvermeidbares Geschick zersplittert sie dennoch in kurzer Zeit, und zwar um so schneller, je größer jene Macht, d.h. je größer das Gebiet des primitiven Eroberungsstaates höherer Stufe war.

Schon die Machtvermehrung der einzelnen Adligen durch den oben geschilderten Prozeß der immer vermehrten Okkupation und Besiedelung des ungenützten Landes mittels neu erworbener Sklaven kann ihn mächtiger machen, als der Zentralgewalt lieb sein kann. »Wenn in einem Clan«, berichtet Mommsen von den Kelten, [18] »der etwa 80 000 Waffenfähige zählte, ein einziger Adliger mit 10 000 Knechten, ungerechnet die Hörigen und die Schuldner, auf dem Landtage erscheinen konnte, so ist es einleuchtend, daß ein solcher mehr ein unabhängiger Dynast war, als ein Bürger seines Clans.« Und ähnliches mag für den »Heiu« der Somal gelten, den »großen Grundbesitzer, der Hunderte von Familien auf seinem Boden in Abhängigkeit hält, so daß man sich bei den Somal an unsere mittelalterlichen Feudalzustände erinnert finden könnte«. [19]

Wenn solche Übermacht einzelner Grundherren schon im primitiven Eroberungsstaate niederer Stufe entstehen kann, so erreicht sie doch ihren höchsten Grad erst im Eroberungsstaat höherer Stufe: im feudalen Großstaat; und zwar durch die Machtvermehrung, die der Großgrundbesitz durch die Amtsgewalt erhält.

Je mehr sich der Staat dehnt, um so mehr Amtsgewalt muß die Zentrale den Verwaltern der durch Krieg und Aufstände am meisten bedrohten Grenzbezirke der Marken übertragen. Ein solcher Beamter muß die höchste kriegerische Machtbefugnis mit den Funktionen eines obersten Richters und Verwaltungsbeamten vereinen, um seinen Amtsbezirk mit Sicherheit dem Staat erhalten zu können. Kommt er mit ganz wenigen Zivilbeamten aus, so braucht er doch eine ständige Kriegsmacht. Wie soll sie besoldet werden? Steuern, die zur Zentralstelle zusammenfließen, um wieder über das Land verteilt zu werden, kennt (vielleicht mit einer einzigen Ausnahme, von der unten zu sprechen sein wird) nur der geldwirtschaftlich entfaltete Staat. Von Geldwirtschaft und Geldsteuern kann aber hier, im naturalwirtschaftlichen »Landstaate«, noch nicht die Rede sein. Darum bleibt der [S. 98] Zentrale nichts anderes übrig, als den Grafen, oder Kastellan, oder Satrapen auf die Naturaleinkünfte seines Amtsbezirkes anzuweisen. Er zieht die Abgaben der Untertanen an sich, verfügt über ihre Fronden, erhält die Sporteln und Strafleistungen an Vieh usw. und hat dafür die bewaffnete Macht zu unterhalten, bestimmte Truppenmengen zur Verfügung der Zentrale zu stellen, Straßen- und Brückenbauten auszuführen, gelegentlich den Herrscher samt seinem Gefolge oder seine »Königsboten« zu verpflegen, und schließlich eine bestimmte Abgabe in hochwertigen oder sonst leicht transportablen Gütern an den Hof zu liefern: Pferde, Rinder, Sklaven, Edelmetalle, Wein usw.

Mit anderen Worten: er erhält ein ungeheuer großes Dienstlehen und wird schon dadurch, selbst wenn er nicht, was meistens der Fall sein wird, schon ohnehin der Größte im Lande war, der mächtigste Grundherr seines Amtsbezirkes. Daß er als solcher genau das Gleiche tut, wie seine nicht beamteten Standesgenossen, nur in noch viel größerem Maßstabe, nämlich immer neues Land mit immer neuen Hörigen besetzt, um seine Kriegsmacht immer mehr zu verstärken, ist selbstverständlich und muß von der Zentrale sogar gewünscht und gefördert werden. Denn das ist ja das Verhängnis dieser Staaten, daß sie die lokalen Mächte selbst groß füttern müssen, die sie verschlingen werden.

Es kommen Gelegenheiten, wo der Markgraf Bedingungen stellen kann, wenn man seine Kriegshilfe verlangt, namentlich in den hier nie fehlenden Erbfolgefehden. Er erlangt irgendeine wichtige Konzession, vor allen anderen die formelle Erblichkeit seines Amtslehens, das nun dem eigentlichen Feudallehen völlig gleichsteht. So wird er allmählich immer selbständiger, und das trübe Wort des Muschik: »der Himmel ist hoch und der Zar weit«, wird unter jedem Himmel Wahrheit. Ich gebe ein charakteristisches Beispiel aus Afrika: »Das Lundareich ist ein absoluter Lehnsstaat. Die Häuptlinge (Muata, Mona, Muene) können in allen inneren Angelegenheiten selbständig handeln, solange es dem Muata Jamvo gefällt. Gewöhnlich schicken die großen und fernerwohnenden Häuptlinge einmal im Jahre ihre Tributkarawanen nach der Mussumba; aber weitab wohnende unterlassen wohl für längere Zeit jede Tributzahlung, während die kleineren Häuptlinge in der Nähe der Residenz sogar mehrmals im Jahre Tribut senden.« [20]

[S. 99] Nichts kann deutlicher zeigen als diese Mitteilung, wie sehr in diesen lose zusammengehaltenen Naturalstaaten mit ihrem unzureichenden Transportsystem die räumliche Entfernung politisch wirksam ist. Man könnte fast sagen, daß die Selbständigkeit der Feudalherren wächst wie das Quadrat der Entfernung vom Sitze der Zentralgewalt. Die Krone muß ihre Dienste immer teurer erkaufen, muß ihnen eines der gesamtstaatlichen Hoheitsrechte nach dem anderen formell übertragen, oder muß es dulden, wenn sie es nehmen: die Erblichkeit der Lehen, Straßen- und Handelsrecht (auf höherer Stufe auch das Münzrecht), die Gerichtshoheit, die staatlichen Fronrechte und die Verfügung über den Kriegsdienst der Freien im Lande.

So gelangen die Machthaber der Grenzprovinzen allmählich zu immer größerer, zuletzt zu voller tatsächlicher Selbständigkeit, wenn auch das formale Band der Lehnshoheit die neu entstandenen Fürstentümer noch lange scheinbar zusammenhalten kann. Dem Leser drängen sich die Belege für diesen typischen Vorgang auf; die ganze mittelalterliche Geschichte ist eine einzige Kette davon; nicht nur das Merowinger- und das Karolinger-Reich, nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Italien, Spanien, Polen, Böhmen, Ungarn und auch Japan und China [21] haben, nicht ein-, sondern mehrfach, diesen Zerfallsprozeß durchgemacht. Nicht minder die Feudalstaaten im Zweistromlande: die hier einander ablösenden Großstaaten bersten immer wieder auseinander, um sich immer wieder zusammenzuballen. Von Persien heißt es ausdrücklich: »Einzelne Staaten und Provinzen erlangten durch glücklich vollbrachten Abfall auf längere oder kürzere Zeit die Freiheit, und der »Großkönig« in Susa hatte nicht immer die Macht, sie zum Gehorsam zurückzuführen; in anderen herrschten Satrapen oder kriegerische Häuptlinge willkürlich, treulos und gewalttätig entweder auf eigene Hand oder als zinspflichtige Teilfürsten oder Unterkönige des Großherrschers. Eine Anhäufung von Staaten und Landschaften ohne gemeinsames Recht, ohne geregelte Verwaltung, ohne gleichmäßiges Gerichtswesen, ohne Ordnung und Gesetzeskraft, ging das persische Weltreich unrettbar seiner Auflösung entgegen.« [22]

Dem Nachbar im Nillande erging es nicht anders: »Aus den Okkupatorenfamilien, den freien Grundherren, die wohl nur dem Könige [S. 100] zinsten, gehen die Fürsten hervor, welche über gewisse Landstriche, Gaue (...) geboten. Diese Gaufürsten regieren ein von ihrem Familieneigen getrenntes besonderes Amtsland.«

»Spätere kriegerische Ereignisse mit glücklichem Ausgang, die vielleicht die Lücke zwischen dem alten und mittleren Reich füllen, verbunden mit der Einbringung von Kriegsgefangenen, die als Arbeitskräfte verwendet werden konnten, veranlaßten eine strengere Ausnützung der Unterworfenen, eine genaue Festsetzung der Abgaben. Die Macht der Gaufürsten steigt im mittleren Reich zu gewaltiger Höhe empor, und große Hofhaltungen werden von ihnen eingerichtet, der Prunk des Königshofes imitiert.« [23] »Beim Sinken der königlichen Autorität in der Verfallszeit nützen die höheren Beamten ihre Macht für persönliche Zwecke, um ihre Ämter in ihren Familien erblich zu machen.« [24]

Aber natürlich ist auch dieses geschichtliche Gesetz nicht auf die »geschichtlichen« Völker beschränkt. »Auch außerhalb Radschistans«, sagt Ratzel von den indischen Feudalstaaten, »erfreuten sich die Adligen oft eines großen Maßes von Unabhängigkeit, so daß selbst in Haiderabad, nachdem sich der Nizam die Alleinherrschaft angeeignet hatte, die Umara oder Nabobs eigene Truppen, unabhängig von der Armee des Nizam, hielten. Den in neuerer Zeit höher gesteigerten Anforderungen in der Verwaltung indischer Staaten sind seltener noch als die großen Fürsten diese kleineren nachgekommen.« [25]

Und gar in Afrika kommen und vergehen die feudalen Großstaaten wie Blasen, die aus dem Strom des ewig gleichen Geschehens auftauchen und wieder zerplatzen. Das gewaltige Aschantireich ist binnen anderthalb Jahrhunderten auf ein Fünftel seines Gebietes eingeschrumpft [26], und viele der Reiche, mit denen die Portugiesen zusammenstießen, sind seitdem spurlos verschwunden. Und doch waren auch das starke Feudalreiche: »Pomphafte und grausame Negerreiche, wie Benin, Dahomey oder Aschanti, bilden in ihrer Umgebung politisch desorganisierter Stämme manche Vergleichspunkte [S. 101] mit dem alten Peru oder Mexiko. Der streng gesonderte Erbadel der Mfumu, dem hauptsächlich die Distriktsverwaltung oblag, und daneben der vergänglichere Standesadel bildeten in Loango starke Säulen des Herrschertums.« [27]

Ist derart das einstige Großreich in eine Anzahl staatsrechtlich oder nur faktisch voneinander unabhängiger Teilstaaten zerfallen, so beginnt der alte Prozeß von neuem. Der Große frißt den Kleinen, bis ein neues Großreich entstanden ist. »Die größten Grundherren werden später Kaiser«, sagt Meitzen lakonisch von Deutschland. [28] Aber auch diese große Hausmacht verflüchtigt, zersplittert sich an der Notwendigkeit, die Grundherrschaft an kriegerische Vasallen zu verlehnen. »Die Könige selbst hatten sich dabei verschenkt; ihr großer Grundbesitz im Delta war zerronnen«, sagt Schneider (l. c. p. 38) von den Pharaonen der sechsten Dynastie. Und ebenso verarmte im fränkischen Reiche die Hausmacht der Merowinger und Karolinger, in Deutschland die der Sachsen und der Staufer. [29] Wir brauchen weitere Belege dafür nicht anzuführen; sie sind in jedermanns Besitz.

Welche Kräfte den primitiven Eroberungsstaat aus diesem Hexenkreis, in dem die Zusammenballung mit dem Zerfall ohne Ende abwechselt, schließlich befreit haben, werden wir unten betrachten. Zunächst aber haben wir nach der politischen die soziale Seite dieses geschichtlichen Vorganges zu betrachten. Er verändert die Klassengliederung in der einschneidendsten Weise.

Mit furchtbarer Gewalt trifft er überall die Gemeinfreien, die untere Schicht der Herrengruppe. Sie versinken in Hörigkeit. Ihr Verfall muß mit dem der Zentralgewalt parallel gehen; denn beide, gleichmäßig von der um sich greifenden Macht der großen Grundherren bedroht, sind natürliche Verbündete. Die Krone hält den Grundherrn so lange in der Hand, wie das Aufgebot der Gemeinfreien des Bezirkes seiner Garde, seinem »Gefolge«, überlegen ist. Aber die fatale Notwendigkeit, die wir schilderten, zwingt die Krone, die Bauern dem Junker auszuliefern, indem sie seine Hausmacht mehrt; und im Augenblick, wo seine Garde stärker wird, als das Gau-Aufgebot, ist der freie Bauer geliefert. Wo der Grundherr die staatlichen Hoheitsrechte delegiert erhalten hat, d.h. zum mehr oder weniger unabhängigen [S. 102] Landesherrn geworden ist, da geschieht die Niederwerfung des Freien wenigstens zum Teil unter scheingesetzlichen Formen: man ruiniert ihn durch den Kriegsdienst, der um so häufiger gefordert wird, je mehr das dynastische Interesse der Landesherren nach neuem Land und neuen Leuten strebt; man mißbraucht seine Fronpflicht, man mißbraucht die Justiz.

Den Rest aber gibt dem Stande der Gemeinfreien die formelle Delegation oder tatsächliche Usurpation des wichtigsten Kronregals, der Verfügung über das noch nicht okkupierte Land. Das gehört ursprünglich dem »Volke«, d.h. den Freien zur gesamten Hand; aber nach einem wohl überall geltenden Urrecht hat der Patriarch die Verfügung darüber. Auch dieses Verfügungsrecht geht mit den anderen Kronrechten an den »Landesherrn« über - und damit hat er das Mittel in die Hand bekommen, den Rest der Freien zu erdrosseln. Er erklärt das gesamte noch unbebaute Land für sein Eigentum, sperrt es gegen die Okkupation freier Elemente, gewährt nur denen noch den Zugang, die seine Oberherrschaft anerkennen, d.h. sich in irgendeine Art von Abhängigkeit, von Hörigkeit begeben.

Das ist der letzte Nagel zum Sarge der Gemeinfreiheit. Bisher war die Gleichheit in der Vermögenslage einigermaßen gewährleistet. Und wenn der Bauer zwölf Söhne hatte: das Erbgut blieb unzersplittert, denn elf rodeten sich neue Hufen in der Gemeinen Mark oder dem noch nicht an Gemeinden aufgeteilten Volkslande. Das ist fortan unmöglich; die Hufen zersplittern, wo viele Kinder aufgezogen wurden, andere werden zusammengelegt, wo Erbsohn und Erbtochter die Ehe eingingen: jetzt gibt es ja »Arbeiter«, die die größere Fläche bestellen helfen, nämlich jene Halb-, Viertel- und Achtelhufner. So wird die freie Dorfschaft in Reiche und Arme zerklüftet; schon das löst das Band, das bisher das Bündel Pfeile unzerbrechlich machte; und wenn dann gar Unfreie in die Dorfgemeinde eindringen, weil ein allzu arg geplagter Genosse, dem Drucke weichend, sich dem Herrn »kommendierte«, oder weil der Herr einen durch Tod oder Überschuldung des Inhabers erledigten Hof mit einem seiner Hörigen besetzte, dann ist jeder soziale Zusammenhalt gelöst, die durch Klassen- und Vermögensgegensätze zerspellte Bauernschaft dem Machthaber wehrlos preisgegeben.

Im übrigen verläuft der Vorgang auch da nicht anders, wo der Magnat keine staatlichen Hoheitsrechte vorschützen kann; dann tut [S. 103] offenbare Gewalt, frecher Rechtsbruch die gleichen Dienste, und der ferne, ohnmächtige Herrscher, auf den guten Willen der Rechtsbrecher und Gewalttäter angewiesen, hat weder Macht noch Möglichkeit, einzugreifen.

Auch für diese Dinge braucht man kaum Beispiele anzuführen. In Deutschland hat die freie Bauernschaft diesen Vorgang der Enteignung und Deklassierung wenigstens dreimal durchgemacht. Einmal in keltischer Zeit [30]. Das zweitemal traf der Niederbruch die freien Bauern des Stammlandes im neunten und zehnten Jahrhundert, und die dritte Tragödie derselben Art spielte sich vom fünfzehnten Jahrhundert an im Kolonisationsgebiet des ehemals slawischen Landes ab [31]. Am schlimmsten ging es den Bauern dort, wo überhaupt keine monarchische Autorität bestand, deren natürliche Interessensolidarität mit den Untertanen doch fast überall mildernd wenigstens auf die äußere Form der Unterdrückung einwirkte, nämlich in den »Adelsrepubliken«. Das keltische Gallien zu Cäsars Zeit bildet eines der frühesten Beispiele. Hier »vereinigten die großen Familien in ihrer Hand die ökonomische, kriegerische und politische Übermacht. Sie monopolisierten die Pachtungen der nutzbaren Rechte des Staates. Sie nötigten die Gemeinfreien, die die Steuerlast erdrückte, bei ihnen zu borgen und zuerst tatsächlich als Schuldner, dann rechtlich als Hörige sich ihrer Freiheit zu begeben. Sie entwickelten bei sich das Gefolgwesen, d.h. das Vorrecht des Adels, sich mit einer Anzahl gelöhnter reisiger Knechte, sogenannter Ambakten, zu umgeben und damit einen Staat im Staate zu bilden; und gestützt auf diese ihre eigenen Leute trotzten sie den gesetzlichen Behörden und dem Gemeindeaufgebot und sprengten tatsächlich das Gemeinwesen (...) Schutz fand nur noch der hörige Mann bei seinem Herrn, den Pflicht und Interesse nötigten, die seinem Klienten zugefügte Unbill zu ahnden; die Freien zu beschirmen, hatte der Staat die Gewalt nicht mehr, weshalb diese zahlreich sich als Hörige einem Mächtigen zu eigen gaben« [32] Genau die gleichen Verhältnisse finden wir anderthalb Jahrtausende später in Kurland, Livland, Schwedisch-Pommern, Ost-Holstein, Mecklenburg [S. 104] und namentlich in Polen. Wie dort dem Landjunker der freie Bauer, so erliegt ihm hier der freie adlige Schlachziz. »Die Weltgeschichte ist eintönig«, sagt Ratzel. Hat doch derselbe Prozeß schon im alten Ägypten die Bauernschaft niedergeworfen: »Die nach einem kriegerischen Zwischenspiel folgende Periode des mittleren Reiches bringt auch den Bauern des Südens eine Verschlechterung ihrer Lage. Die Zahl der freien Herren sinkt, während ihr Landbesitz und ihre Macht steigt. Die Abgaben der Bauern werden auf dem Wege einer genauen Qualifikation der Güter durch eine Art von Kataster streng festgesetzt. Unter diesem Drucke strömen viele Bauern wohl den Fronhöfen und Städten der Gaufürsten zu, um sich dort als Knechte, Handwerker oder selbst als Beamte dem Wirtschaftsorganismus der Höfe einzuordnen. So tragen sie im Verein mit etwaigen Kriegsgefangenen dazu bei, die fürstliche Domanialverwaltung zu erweitern, und das Verjagen von Bauern aus ihren Besitzungen, wie es damals üblich gewesen sein dürfte, zu fördern« [33]

Nichts kann klarer für die Unvermeidlichkeit dieses Prozesses zeugen, als das Beispiel des Römerreiches. hier ist der Begriff der Hörigkeit bereits verschollen, als es zum erstenmal in voller »Neuzeit« die Bühne betritt: nur die Sklaverei ist bekannt. Und dennoch versinken anderthalb Jahrtausende später die freien Bauern wieder in echte Hörigkeit, nachdem Rom zu einem übermäßig gedehnten Großstaat geworden ist, dessen Grenzbezirke sich mehr und mehr vom Zentrum gelöst haben. Die großen Grundbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit und die Polizeiverwaltung auf ihren Gütern übertragen ist, haben »ihre Hintersassen, auch wenn sie ursprünglich freie Eigentümer von ager privatus vectigalis waren, in eine hofrechtliche Stellung gebracht«, haben »in einer Art von Immunität die faktische glebae adscriptio entwickelt« [34]. Die einwandernden Germanen konnten diese Feudalordnung in Gallien und den anderen Provinzen fertig übernehmen. Schon hier war der ehemals so ungeheure Unterschied zwischen Sklaven und freien Kolonen völlig verwischt, in der wirtschaftlichen Lage zuerst und natürlich bald auch in der Rechtsverfassung.

In gleichem Maße, wie überall der Gemeinfreie in politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von den großen Grundherren der [S. 105] Nachbarschaft, in Hörigkeit verfällt, steigt die ehemals unterworfene Schicht empor Die beiden Schichten kommen sich entgegen, treffen sich auf halbem Wege und verschmelzen zuletzt. Was wir soeben an den freien Kolonen und den Ackersklaven des späten Rom beobachtet haben, vollzieht sich überall. So verschmelzen in Deutschland die Gemeinfreien mit den ehemaligen Hörigen zu der wirtschaftlich und rechtlich einheitlichen Schicht der »Grundholden« [35]

Die Hebung der ehemaligen »Untertanen«, nennen wir sie der Kürze halber die »Plebs«, folgt mit der gleichen Konsequenz, wie der Niedergang der Freien, aus der Grundvoraussetzung, auf der diese ganze Staatsordnung beruht, aus der Agglomeration des Grundvermögens in immer wenigeren Händen.

Die Plebs ist der natürliche Gegner der Zentralgewalt - denn diese ist ihr Besieger und Besteuerer -; und der Gemeinfreien - denn sie wird von ihnen verachtet und politisch unterdrückt, wie wirtschaftlich zurückgedrängt. Der große Magnat ist ebenfalls der natürliche Gegner der Zentralgewalt - denn sie ist das Hindernis auf seinem Wege zur staatlichen Unabhängigkeit; und ist ebenfalls der natürliche Gegner der Gemeinfreien, die nicht nur die Stützen der Zentralgewalt bilden, sondern auch mit ihrem Besitz räumlich die Ausdehnung seiner Herrschaft hindern und mit ihrem Anspruch auf Gleichheit der Rechte seinem Fürstenstolz unbequem sind. Übereinstimmung der politischen und sozialen Interessen muß den Landesfürsten und die Plebs zu Bundesgenossen machen; jener kann nur zur vollen Unabhängigkeit kommen, wenn er bei seinen Machtkämpfen gegen Krone und Gemeinfreie über zuverlässige Krieger und willige Steuerzahler verfügt; die Plebs kann wirtschaftlich und gesellschaftlich nur dann aus ihrer Pariahstellung erlöst werden, wenn die verhaßten, übermütigen Freien niedergerissen werden.

Es ist die Solidarität zwischen dem Fürsten und seinen Untertanen, der wir hier zum andernmal begegnen. Das erstemal fanden wir sie schwach angedeutet schon in unserem zweiten Stadium der Staatsbildung. Diese Solidarität veranlaßt den Halbfürsten, seine hörigen Hintersassen mit ehensoviel Milde zu behandeln, wie die Freien seines Gebietes mit Härte: um so williger werden sie für ihn fechten und steuern, und um so williger werden die geplackten Freien seinem Druck nachgeben, namentlich da ihre Teilsouveränität mit dem Verfall [S. 106] der Zentralgewalt doch nur der Schatten eines Wortes geworden ist. Hier und da - in Deutschland gegen das Ende des zehnten Jahrhunderts geschah es mit vollem Bewußtsein [36] - übt der Landesfürst ein besonders »mildes« Regiment, um die Untertanen benachbarter Machthaber zu sich herüberzuziehen und sich selbst dadurch an militärischer und steuerlicher Kraft um ebensoviel zu stärken, wie jene, seine natürlichen Gegner, zu schwächen. So erhält die Plebs formell oder faktisch mehr und mehr Rechte, besseres Besitzrecht, wohl auch Selbstverwaltung und eigene Gerichtsbarkeit in Gemeindeangelegenheiten, und steigt derart in gleichem Schrittmaß aufwärts, wie die Gemeinfreien abwärts, bis beide sich unterwegs treffen und zu einer rechtlich und wirtschaftlich ungefähr gleichen Schicht verschmelzen. Halb Hörige, halb Staatsuntertanen, bilden sie eine charakteristische Bildung des Feudalstaates, der noch keine klare Scheidung zwischen Staats- und Privatrecht kennt: eine unmittelbare Folge aus seiner historischen Entstehung, die staatliche Herrschaft um ökonomischer Privatrechte halber setzte.

d) Die ethnische Verschmelzung

Die rechtliche und soziale Verschmelzung der gesunkenen Freien und der gehobenen Plebs wird nun selbstverständlich auch zur ethnischen Durchdringung. Wurde zuerst dem Unterworfenen das commercium und connubium streng verwehrt, so findet die Mischung jetzt kein Hindernis mehr; im Dorfe entscheidet nicht mehr das Herrenblut, sondern der Reichtum über die soziale Klasse. Und oft genug mag der reinblütige Abkömmling der Hirtenkrieger bei einem ebenso reinblütigen Nachkommen der Leibeigenen den Ackerknecht spielen müssen. Die soziale Gruppe der Untertanen ist jetzt zusammengesetzt aus einem Teil der alten ethnischen Herrengruppe und einem Teil der alten Untertanengruppe.

Nur aus einem Teil der letztgenannten! Denn ihr anderer Teil ist jetzt mit dem anderen Teil der alten ethnischen Herrengruppe ebenfalls zu einer einheitlichen sozialen Gruppe verschmolzen. Das heißt: ein Teil der Plebs ist nicht nur bis zu dem Punkte aufgestiegen, bis zu [S. 107] dem die Masse der Gemeinfreien absank, sondern ,weit darüber hinaus, bis sie die volle Rezeption in die jetzt ebenso ungeheuer gehobene wie an Zahl verminderte Herrengruppe erlangte.

Auch das ist ein universalgeschichtlich allgemeiner Vorgang, weil er überall mit gleicher zwingender Gewalt aus den Bedingungen der feudalen Herrschaftsordnung folgt. Der primus inter pares, der, sei es als Inhaber der Zentralgewalt, sei es als örtlicher Machthaber, die Fürstenstellung innehat, braucht gefügigere Werkzeuge seiner Herrschaft als seine »Pairs« es sind. Diese vertreten eine Klasse, die er herabdrücken muß, wenn er selbst steigen will, und das will jeder, muß jeder wollen, denn Machtstreben ist hier identisch mit Selbsterhaltungsstreben. In diesem Streben stehen ihm die widerhaarigen, steifnackigen Vettern und Edelinge im Wege - und darum finden wir an jeder Hofhaltung, vom Großkönig des mächtigsten Feudalreiches bis herab zum Herrn einer fast rein privaten ,,Grossoikenwirtschaft«, Männer dunkler Herkunft als vertraute Beamte neben den Vertretern der Herrengruppe, die häufig unter der Maske fürstlicher Beamten eigentlich »Ephoren« sind, Mitinhaber der Fürstenmacht als Bevollmächtigte ihrer Gruppe. Ich erinnere an die Induna am Hofe des Bantukönigs. Kein Wunder, wenn der Fürst sich, lieber als diesen lästigen und anspruchsvollen Ratgebern, Männern anvertraut, die ganz seine Geschöpfe sind, deren ganze Stellung unlösbar mit der seinen verknüpft ist, die sein Sturz mit ins Verderben reißen muß.

Auch hier wieder sind historische Belege fast überflüssig. Jedermann weiß, daß an den Höfen der westeuropäischen Feudalreiche neben Verwandten des Königs und einigen edlen Vasallen auch Elemente der Untergruppe in hohe Stellungen einrückten: Geistliche, [37] schwertgewandte Plebejer. Zu den Antrustiones Karls des Großen stellten alle Rassen und Völker seines Reiches ihr Kontingent. Auch in der Dietrichssage spiegelt sich dieses Emporkommen tapferer Söhne der unterworfenen Völker. Ich bringe auch hier einige, weniger bekannte Belege:

Im Pharaonenland fand sich bereits im alten Reiche neben der Reichsbeamtenschaft aus dem feudalen Adel der Hirten-Eroberer, die die Gaue als Vertreter der Krone mit der ganzen Machtfülle von [S. 108] Statthaltern verwalteten, »eine für die einzelnen Regierungsfunktionen bestimmte Hofbeamtenschaft«. Diese »ist aus der Zahl der an den Höfen der Herrenfürsten eingestellten Dienerschaft - Kriegsgefangenen, Flüchtlingen usw. - hervorgegangen« [38]. Noch die Josefssage zeigt als eine diesem Zeitalter geläufige Erscheinung das Aufsteigen eines Sklaven zum allmächtigen Minister. Ganz ebenso war es im kaiserlichen Rom.

Und auch heute noch ist solche Karriere an allen orientalischen Höfen, in Persien, der Türkei, Marokko usw. durchaus nichts Unerhörtes. Der alte Derfflinger mag aus viel späterer Zeit und aus einem Stadium des Überganges vom entfalteten Feudal- zum Ständestaat ein Beispiel geben, dem unzählige andere tapfere Haudegen an die Seite zu stellen wären.

Und noch einige Belege von den »Geschichtslosen«. Ratzel berichtet vom Bornu-Reich: »Die Freien haben das Bewußtsein ihrer freien Herkunft den Sklaven des Scheichs gegenüber nicht verloren, aber die Herrscher hegen zu den Sklaven mehr Vertrauen als zu ihren eigenen Verwandten und freien Stammesgenossen und rechnen auf ihre Ergebenheit. Nicht nur Hofämter, sondern auch die Verteidigung des Landes wurde von alters her vorzugsweise Sklaven anvertraut. Die Brüder des Fürsten, wie auch die ehrgeizigeren oder tatkräftigeren Söhne werden mit Argwohn betrachtet; während man die wichtigsten Hofämter in den Händen von Sklaven findet, sind die Posten fern vom Regierungssitz in denen der Prinzen. Die Einkünfte der Ämter und Provinzen müssen für die Gehälter aufkommen.« [39]

Bei den Fulbe »teilt sich die Gesellschaft in Fürsten, Häuptlinge, Gemeine und Sklaven. Eine große Rolle spielen die Sklaven der Könige, die Soldaten und Beamte sind und auf die höchsten Stellen im Staate Anspruch machen dürfen« [40]

Dieser Hofadel kann unter Umständen auch zur Reichsbeamtenschaft zugelassen werden, so daß ihm der geschilderte Weg zum Landesfürstentum offen steht; er stellt dann im entfalteten Feudalstaat den hohen Adel dar und pflegt seinen Rang selbst dann zu bewahren, wenn er durch Verschlucken seitens eines mächtigeren [S. 109] Nachbarn mediatisiert worden ist. Der fränkische Hochadel enthält sicher solche Elemente aus der ursprünglichen Untergruppe [41]; und da aus seinem Stamm der Hochadel des ganzen europäischen Kulturkreises zum großen Teil hervorgegangen ist, mindestens in indirekter Linie durch Verschwägerung, so finden wir die ethnische Verschmelzung, wie in der jetzigen Untertanengruppe, so auch in der höchsten Schicht der Herrengruppe. Dasselbe gilt für Ägypten: »Beim Sinken der königlichen Autorität in der Verfallszeit nützen die höheren Beamten ihre Macht für persönliche Zwecke, um ihre Ämter in ihren Familien erblich zu machen und so einen ethnisch nicht von der übrigen Bevölkerung sich abhebenden Beamtenadel zu schaffen.« [42]

Und schließlich ergreift der gleiche Prozeß aus den gleichen Gründen die jetzige Mittelklasse, die Unterschicht der Herrengruppe, die Beamten und Offiziere der großen Lehenträger. Zuerst besteht noch ein gesellschaftlicher Unterschied zwischen den freien Vasallen, die der große Grundherr mit Unterlehen begabt hat: Verwandten, jüngeren Söhnen anderer adliger Familien, verarmten Bezirksgenossen, einzelnen freigeborenen Bauernsöhnen, freien Flüchtlingen und berufsmäßigen Raufbolden freier Abkunft, - und den sozusagen subalternen Offizieren der Garde, die aus der Plebs stammen. Aber die Unfreiheit steigt, und die Freiheit sinkt im sozialen Werte, und auch hier verläßt sich der Fürst sicherer auf seine Geschöpfe als auf seine pares. Und so kommt es auch hier früher oder später zur vollen Verschmelzung. In Deutschland steht der hörige Hofadel noch 1085 im Range zwischen servi et litones, aber hundert Jahre später bereits bei den liberi et nobiles [43]. Im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts verwächst er völlig mit der freien Vasallität zum ritterschaftlichen Adel, dem er inzwischen wirtschaftlich gleichgestellt ist: beide haben Unterlehen, Dienstlehen, gegen Verpflichtung zur Heeresfolge; und die Dienstlehen der Hörigen, der »Ministerialen«, sind inzwischen ebenso erblich geworden, wie die der freien Vasallen, und wie es die Erbgüter der wenigen noch aufrechten, der Umklammerung durch [S. 110] das Landesfürstentum noch nicht verfallenen, kleineren Grundherren des alten Adels von jeher waren.

Ganz analog ist der Prozeß in allen anderen Feudalstaaten Westeuropas verlaufen, und sein genaues Gegenstück findet sich im äußersten Osten der eurasischen Landmasse, in Japan. Die Daimio sind der Hochadel, die Samurai die Ritterschaft, der Schwertadel.

Damit ist der Feudalstaat völlig zur Entfaltung gelangt. Er bildet politisch-sozial eine Hierarchie von zahlreichen Schichten, von denen immer die untere der nächst oberen leistungsverpflichtet, die obere der nächst unteren schutzverpflichtet ist. Die Grundlage unten bildet das arbeitende Volk, immer noch zum Hauptteil aus Bauern bestehend; der Überschuß ihrer Arbeit, die Grundrente, der gesamte »Mehrwert« des ökonomischen Mittels, dient dem Unterhalt der oberen Schichten. Diese Grundrente fließt von der Mehrzahl der Grundstücke, soweit sie nicht mehr unmittelbarer, unverlehnter Besitz des Landesherren oder des Kronenträgers sind, an die kleinen Lehensträger; diese haben dafür ihre vertragsmäßige Heeresfolge zu leisten und auch in gewissen Fällen wirtschaftliche Leistungen zu erfüllen; der größere Lehensträger ist in gleicher Weise dem großen, dieser wenigstens formell-rechtlich dem Träger der Zentralgewalt verpflichtet; und der Kaiser, König, Sultan, Schah, Pharao gilt wieder als Vasall des Stammgottes: so steigt vom Ackerboden, dessen Bebauer alles trägt und nährt, bis zum »Himmelskönig« eine kunstvoll gestaffelte Rangordnung auf, die das ganze Staatsleben so umklammert, daß der Sitte und dem Rechte nach kein Stück Land und kein Mensch sich ihr entziehen kann. Sind doch alle ursprünglich für die Gemeinfreien geschaffenen Rechte verfallen oder durch den Sieg des Landesfürstentums zweckwidrig umgebogen worden; wer nicht im Lehnswesen steht, ist in der Tat vogelfrei, ohne Schutz und ohne »Recht«, d.h. ohne die Macht, die allein Recht schafft. Und so war das Gesetz, das uns so leicht als Ausfluß junkerlichen Übermuts erscheint: »nulle terre sans seigneur« in Wirklichkeit nichts anderes, als die Kodifikation eines fertigen neuen Rechtszustandes und allenfalls die Forträumung einiger veralteter, nicht mehr zu duldender Reste des völlig überwundenen primitiven Eroberungsstaates.

Was haben nicht die Verfechter der Rassenlehre als eines geschichtsphilosophischen Hauptschlüssels für Schlüsse aus der angeblichen [S. 111] Tatsache gezogen, daß nur die Germanen kraft ihrer überlegenen »Staatsbegabung« den kunstvollen Bau des entfalteten Feudalstaates zustande gebracht haben! Dies Argument hat schon viel an Kredit verloren, seit man sich davon überzeugen mußte, daß auch die mongolische Rasse in Japan ganz das gleiche geleistet hat. Vielleicht hätte der Neger es auch dann nicht so weit gebracht, wenn ihm nicht die Invasion stärkerer Kulturen den Weg abgeschnitten hätte, obgleich sich Uganda z. B. nicht gar so sehr von dem Reiche der Karolinger oder des roten Boleslaw unterscheidet, mit Ausnahme der »Traditionswerte« aus der mittelländischen Kultur: und die waren nicht ein Verdienst der germanischen Rasse, sondern ein Geschenk, das sie vom Geschick als Mitgift erhielt.

Aber lassen wir den Neger beiseite! Auch der »Semit«, dem angeblich die Staatsfähigkeit so ganz abgehen soll, hat vor Jahrtausenden ganz dasselbe Feudalsystem aufgebaut, wenigstens wenn die Gründer des ägyptischen Reiches Semiten waren. Klingt es nicht wie eine Schilderung aus der Stauferzeit, wenn Thurnwald berichtet [44]: »Wer sich in die Gefolgschaft eines Machthabers begab, stellte sich dadurch unter dessen Schutz, wie unter den eines Familienhauptes. Dieses Verhältnis (...) bezeichnet ein der Vasallität ähnliches Treue-Verhältnis. Dieses Schutz- gegen Treue-Verhältnis wird zur Basis der gesamten Gesellschaftsorganisation Ägyptens. Es liegt ebenso den Beziehungen des Feudalherren zu seinen Dienstmannen oder Bauern, wie des Pharao zu seinen Beamten zugrunde. Auf dieser Form beruht der Zusammenschluß der Einzelnen zu Gruppen unter gemeinsame Schutzherren bis hinauf zum Gipfel der Gesellschaftspyramide, zum König, der selbst als »Platzhalter seiner Väter«, als Vasall der Götter auf Erden gilt. (...) Wer außerhalb dieser sozialen Klammerung lebt, der »Mann ohne Meister« (= Schutzherr), ist schutzlos und daher rechtlos.«

Wir haben bisher die Hypothese einer besonderen Rassenbegabung nicht gebraucht und werden sie auch in Zukunft nicht brauchen. Sie ist, wie Spencer sagt, der dümmste Versuch einer Geschichtsphilosophie, der denkbar ist.

Die vielfache Staffelung der Stände in einer einzigen Pyramide gegenseitiger Abhängigkeit ist das erste Kennzeichen des entfalteten [S. 112] Feudalstaates. Die Verschmelzung der ursprünglich gesonderten ethnischen Gruppen zu einem Volkstum ist sein zweites Kennzeichen.

Das Bewußtsein der einstigen Rassenverschiedenheit ist völlig verschwunden. Nichts bleibt als die Klassenverschiedenheit.

Fortan haben wir es nicht mehr mit ethnischen Gruppen, sondern mit sozialen Klassen zu tun. Der soziale Gegensatz beherrscht allein das Leben des Staates. Und entsprechend wandelt sich das ethnische Gruppenbewußtsein zum Klassenbewußtsein, die Gruppentheorie zur Klassentheorie. Sie ändert ihr Wesen dabei nicht im mindesten. Die neuen Herrenklassen sind genau so legitimistisch-rassenstolz, wie die alte Herrengruppe es war; auch der neue Schwertadel versteht es, seinen Ursprung aus der besiegten Gruppe schnell und gründlich zu vergessen. Und auf der anderen Seite schwört der deklassierte Freie oder der gesunkene Edeling genau so auf das »Naturrecht«, wie früher nur die Unterworfenen.

Und ebenso ist der entfaltete Feudalstaat noch immer grundsätzlich genau dasselbe Wesen, das er bereits im zweiten Stadium der primitiven Staatsbildung war. Seine Form ist die Herrschaft, sein Wesen die politische Ausbeutung des ökonomischen Mittels, begrenzt durch ein Staatsrecht, das den Berechtigten des politischen Mittels die Schutzpflicht auferlegt und das Recht des Verpflichteten des politischen Mittels auf Erhaltung bei der Prästationsfähigkeit gewährleistet. Am Wesen der Herrschaft hat sich nichts geändert, sie ist nur vielfältiger abgestuft, und das gleiche gilt für die Ausbeutung oder das, was jetzt die ökonomische Theorie als »Verteilung« bezeichnet.

Nach wie vor kreist die Innenpolitik des Staates in derjenigen Bahn, die ihm das Parallelogramm aus der zentrifugalen Kraft des jetzt zum Klassenkampf gewandelten Gruppenkampfes - und aus der zentripetalen Kraft des Gemeininteresses vorschreibt. Und nach wie vor wird seine Außenpolitik bestimmt durch das Streben seiner Herrenklasse nach neuem Land und Leuten: ein Streben auf Erweiterung, das gleichzeitig noch immer Trieb der Selbsterhaltung ist.

Viel feiner differenziert, viel mächtiger integriert, ist der entfaltete Feudalstaat mithin nichts anderes als der zu seiner Reife gelangte primitive Staat.


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Fußnoten

1. Ratzel, l. c. I, p. 263.
2. Großgrundeigentum und soziale Frage. 2. Buch. 1. Kapitel. Berlin 1898.
3. »Gerade der Nomadismus ist ausgezeichnet durch die Leichtigkeit, womit er aus dem patriarchalischen Zusammenhang despotische Gewalten von weitreichendster Macht entwickelt.« (Ratzel, l. c. II, p. 388/9.) [Zurück zum Text]
4. Ratzel, l. c. I, p. 408. [Zurück zum Text]
5. Cunow, l. c., p. 66/7. Vergleichbar bei den Ozeaniern, vielfach so z.B. in Radak. (Ratzel, l. c. I, p. 267.) Ähnlich finden wir in Ägypten neben dem bigotten Amenhotep IV den Hausmeier Haremheb, der »die höchsten kriegerischen und Verwaltungsstellen des Reiches auf seinem Haupt zu vereinigen wußte, bis er die Machtfülle eines Reichsverwesers besaß« (Schneider, Kultur u. Denken der alten Ägypter, Leipzig 1907, p. 22). [Zurück zum Text]
6. Buhl, l. c., p. 17. [Zurück zum Text]
7. Ratzel, l. c. II, p. 66. [Zurück zum Text]
8. Ratzel, l. c. II, p. 118. [Zurück zum Text]
9. Ratzel, l. c. II, p. 167. [Zurück zum Text]
10. Ratzel, l. c. II, p. 218. [Zurück zum Text]
11. Ratzel, l. c. I, p. 125. [Zurück zum Text]
12. Ratzel, l. c. I, p. 124. [Zurück zum Text]
13. Ratzel, l. c. I, p. 118. [Zurück zum Text]
14. Ratzel, l. c. I, p. 125. [Zurück zum Text]
15. Ratzel, l. c. I, p. 346. [Zurück zum Text]
16. Ratzel, l. c. II, p. 245. [Zurück zum Text]
17. Ratzel, l. c. I, p. 267/8. [Zurück zum Text]
18. [Zurück zum Text]
19. [Zurück zum Text]
18. Mommsen, l. c., Bd. III, p. 234/5. [Zurück zum Text]
19. Ratzel, l. c. II, p. 167. [Zurück zum Text]
20. Ratzel, l. c. II, p. 229. [Zurück zum Text]
21. Ratzel, l. c. I, p. 128. [Zurück zum Text]
22. Webers Weltgeschichte, Bd. III, p. 163. [Zurück zum Text]
23. Thurnwald, l. c., p. 702/3. [Zurück zum Text]
24. Thurnwald, l. c., p. 712. Vgl. Schneider, Kultur und Denken der alten Ägypter. Leipzig 1907, p. 38. [Zurück zum Text]
25. Ratzel, l. c. II, p. 599. [Zurück zum Text]
26. Ratzel II, p. 362. [Zurück zum Text]
27. Ratzel, l. c. II, p. 344. [Zurück zum Text]
28. Meitzen, l. c. II, p. 633. [Zurück zum Text]
29. Inama-Sternegg, l. c. I, p. 140/1. [Zurück zum Text]
30. Mommsen, l. c. V, p. 84. [Zurück zum Text]
31. Vgl. die ausführliche Darstellung in meinem »Großgrundeigentum u. soz. Frage«, Buch II, Kap. 3. [Zurück zum Text]
32. Mommsen, l. c. III, p. 234/5. [Zurück zum Text]
33. Thurnwald, l. c., p. 771. [Zurück zum Text]
34. Meitzen, l. c. I, p. 362 f. [Zurück zum Text]
35. Inama-Sternegg, l. c. I, p. 373, 386. [Zurück zum Text]
36. Vgl. mein »Großgrundeigentum«, p. 272. [Zurück zum Text]
37. Es gehört in diesen Zusammenhang, daß sich die Fürsten gern fremde Religionen holen. Die Geistlichen sind wenigstens im Anfang ihre natürlichen, und dank der Geisterfurcht, sehr wirksame Verbündete. [Zurück zum Text]
38. Thurnwald, l. c. I, p. 706. [Zurück zum Text]
39. Ratzel, l. c. II, p. 503. [Zurück zum Text]
40. Ratzel, l. c. II, p. 518. [Zurück zum Text]
41. Meitzen, l. c. I, p. 579: »Bei Erlaß der lex salica ist der alte Geschlechtsadel bereits zu Gemeinfreien herabgedrückt oder vernichtet. Aber die Beamten haben schon dreifaches Wergeld (600 solidi, und wenn er »puer regis« ist, 300).« [Zurück zum Text]
42. Thurnwald, l. c., p. 712. [Zurück zum Text]
43. Inama-Sternegg, l. c. II, p. 61. [Zurück zum Text]
44. Thurnwald, l. c., p. 705. [Zurück zum Text]

 

V. Die Entfaltung des Verfassungsstaates

[S. 113] Wenn wir den Begriff der »Ausgänge« wieder wie oben fassen, als eine organische, aus inneren Kräften bedingte Weiterentwicklung des entfalteten Feudalstaates nach vor- oder rückwärts, nicht als ein von äußeren Kräften bedingtes, mechanisch herbeigeführtes Ende - dann kann man aussprechen, daß seine Ausgänge lediglich durch die selbständige Entwicklung der vom ökonomischen Mittel begründeten gesellschaftlichen Schöpfungen bestimmt werden.

Solche Einflüsse können auch von außen, aus fremden Staaten kommen, die dank einer weiter gediehenen wirtschaftlichen Entwicklung straffere Zentralisation, bessere militärische Gliederung und größere Stoßkraft besitzen. Wir haben solche Fälle schon gestreift: die selbständige Entwicklung der mittelländischen Feudalstaaten wurde durch ihren Zusammenstoß mit den ökonomisch viel reicheren, straff zentralisierten Seestaaten, Karthago und vor allem Rom, abgeschnitten. Auch die Zerstörung des Perserreiches durch Alexander darf hier [her]angezogen werden, da Makedonien damals bereits die ökonomischen Errungenschaften der hellenischen Seestaaten sich angeeignet hatte. Das beste Beispiel für solche Fremdeinflüsse bietet aber wieder die neueste Zeit in Japan, dessen Entwicklung durch die kriegerischen und friedlichen Einwirkungen des westeuropäischen Kulturkreises in fast unglaublicher Weise abgekürzt wurde. In kaum einem Menschenalter hat es den Weg vom entfalteten Feudalstaat zum voll ausgebildeten modernen Verfassungsstaat zurückgelegt.

Mir scheint, als handle es sich hier eben nur um eine Abkürzung des Prozesses. Soweit wir zu sehen vermögen - denn jetzt werden die historischen Belege sehr selten, und die Ethnographie bietet uns überhaupt keine mehr -, müssen innere Kräfte auch ohne starke, fremde Einflüsse den entfalteten Feudalstaat mit strenger Folgerichtigkeit immer denselben Weg zum gleichen Ausgang führen.

Die Schöpfungen des ökonomischen Mittels, die diesen Gang beherrschen, sind das Städtewesen und die in den Städten entwickelte Geldwirtschaft, die die Naturalwirtschaft allmählich verdrängt und damit die Achse, um die das ganze Staatsleben kreist, an eine andere Stelle verlegt: an die Stelle des Grundvermögens rückt allmählich das mobile Kapital.

a) Die Emanzipation der Bauernschaft

[S. 114] All das folgt mit Notwendigkeit aus den Grundvoraussetzungen des feudalen Naturalstaates. Je mehr sich das Großgrundeigentum zum Landesfürstentum auswächst, um so mehr muß im gleichen Schrittmaß die feudale Naturalwirtschaft zerfallen.

So lange das Großgrundeigentum noch verhältnismäßig klein ist, läßt sich der primitive Imkergrundsatz, der dem Bauern gerade die Lebensnotdurft läßt, durchführen: wenn es sich aber räumlich ins Gewaltige dehnt und, wie regelmäßig der Fall, durch Fehdegang, Kommendation kleiner Grundherren, Erbschaft und Ehepolitik einen weit um den eigentlichen Kern umherliegenden Streubesitz einschließt, dann läßt sich die Imkerpolitik nicht mehr durchführen. Will der Grundherr nicht eine Unzahl von Aufsichtsbeamten besolden, was teuer und politisch nicht ungefährlich ist, so muß er den Bauern eine irgendwie begrenzte Abgabe (halb Rente, halb Steuer) auflegen. Die wirtschaftliche Notwendigkeit einer Verwaltungsreform kommt also der politischen Notwendigkeit, die »Plebs« zu heben, die wir oben betrachteten, entgegen.

Je mehr nun der Grundherr aufhört, privatwirtschaftliches Subjekt zu sein, je ausschließlicher er öffentlich-rechtliches Subjekt wird, nämlich Landesfürst: um so mehr setzt sich die oben dargestellte Solidarität zwischen Fürst und Volk durch. Wir sahen, daß die einzelnen Magnaten schon in der Übergangsperiode zwischen Großgrundeigentum und Fürstentum das größte Interesse daran hatten, eine »milde« Regierung zu führen, nicht nur um die eigene Plebs zu kräftigem Staatsbewußtsein zu erzielen, sondern auch, um den noch aufrechten Gemeinfreien den Übertritt in die Hörigkeit zu erleichtern und den Nachbarn und Rivalen das kostbare Menschenmaterial zu entziehen. Dieses Interesse muß dem zur vollen faktischen Selbständigkeit gelangten Landesfürsten das Verharren auf dem einmal eingeschlagenen Wege dringend anempfehlen. Vor allem aber wird er, wenn er nun wieder selbst Land und Leute an seine Beamten und Offiziere verlehnt, das dringendste politische Interesse daran haben, ihnen seine Untertanen nicht mit Haut und Haaren auszuliefern. Um sie in der Hand zu behalten, beschränkt der Fürst das Rentenrecht der »Ritter« auf bestimmte Leistungen in Naturalien und Fronden, während er andere, im Landesinteresse nötige (Wege-, Brückenfronden [S. 115] usw.) für sich vorbehält. Wir werden sofort erkennen, wie sehr der Umstand, daß der Bauer im entfalteten Feudalstaat mindestens an zwei Herren zu leisten hat, für seinen späteren Aufstieg entscheidet.

Aus allen diesen Gründen muß im entfalteten Feudalstaat der Bauer auf irgendwie begrenzte Abgaben gestellt werden. Aller Überschuß gehört von jetzt an ihm zur freien Verfügung. Damit ist der Charakter des Grundeigentums völlig umgeschlagen: gehörte ihm bisher von Rechts wegen der gesamte Ertrag, abzüglich des notdürftigen Unterhaltes des Bebauers, so gehört jetzt der gesamte Ertrag von Rechts wegen dem Bebauer abzüglich einer festen Rente für den Eigentümer: der Großgrundbesitz ist Grundherrschaft geworden. Das ist der zweite große Schritt, den die Menschheit zu ihrem Ziele tut. Der erste war der Übergang vom Bären- zum Imkerstadium, der die Sklaverei erfand; dieser hebt sie auf. Der arbeitende Mensch, bisher nur Objekt des Rechtes, ist jetzt zum ersten Male Rechtssubjekt geworden. Der rechtlose Arbeitsmotor seines Herrn, der nur auf Leib und Leben eine notdürftige Gewähr besaß, ist jetzt steuerpflichtiger Untertan eines Fürsten geworden.

Nun spannt das ökonomische Mittel, seines Erfolges zum ersten Male sicher, ganz anders seine Kräfte an. Der Bauer arbeitet mit unvergleichlich mehr Fleiß und Sorgfalt, erzielt Überschüsse, und damit ist die »Stadt« im strengen ökonomischen Sinne geschaffen, die Gewerbsstadt. Bäuerliche Überschüsse bedeuten Nachfrage nach Gütern, die die bäuerliche Wirtschaft nicht selbst erzeugt; und Intensivierung des bäuerlichen Betriebes bedeutet Verminderung der gewerblichen Güter, die bisher der bäuerliche Hausfleiß nebenbei erzeugte: denn der Bodenbau und die Viehzucht absorbieren mehr und mehr von der Arbeitskraft der bäuerlichen Familie. Arbeitsteilung zwischen Urproduktion und Gewerbe wird möglich und notwendig; das Dorf wird vorwiegend der Sitz der ersteren, die Gewerbsstadt entsteht als Sitz der letztgenannten.

b) Die Entstehung der Gewerbsstadt

Man verstehe nicht falsch: nicht die Stadt entsteht, sondern die Gewerbsstadt. Die reale historische Stadt besteht längst, und keinem [S. 116] entfalteten Feudalstaat fehlt sie. Sie ist entstanden entweder aus dem reinen politischen Mittel als Burg [1], oder aus dem Zusammenwirken des politischen mit dem ökonomischen Mittel als Meßplatz, oder aus dem religiösen Bedürfnis als Tempelbezirk [2]. Wo solche Städte im historischen Sinne in der Nachbarschaft bestehen, gliedert sich die neu erwachsende Gewerbsstadt ihr an; sonst entsteht sie spontan aus der nunmehr entfalteten Arbeitsteilung und wird in der Regel sich nun ihrerseits auch als Burg und Kultstätte ausbauen.

Aber das sind zufällige historische Beimengungen. Im streng ökonomischen Sinne bedeutet »Stadt« den Ort des ökonomischen Mittels, des äquivalenten Tauschverkehrs zwischen Urproduktion und Gewerbe. Dem entspricht auch der Sprachgebrauch: eine reine, wenn auch noch so große Festung, eine noch so große Anhäufung von Tempeln, Klöstern und Wallfahrtsstätten, wenn sie ohne Markt möglich wären, würde man immer nur nach ihren äußeren Merkmalen als »stadtähnlich« oder »stadtartig« bezeichnen.

So wenig sich an dem Äußeren der historischen Stadt geändert haben mag, so gewaltig ist doch die innere Umwälzung, die ihr Entstehen ankündigt. Die Gewerbsstadt ist der Gegenpol und Widerpart des Staates; wie er das entfaltete politische, so ist sie das entfaltete ökonomische Mittel! Der große Kampf, der die Weltgeschichte erfüllt, ja bedeutet, spielt hinfort zwischen städtischem und staatlichem Wesen.

Die Stadt, als ein politisch wirtschaftlicher Körper, unterhöhlt das Feudalsystem mit politischen und wirtschaftlichen Waffen. Mit der ersten entwindet, mit der zweiten entlockt sie der feudalen Herrenklasse die Macht.

Auf dem politischen Felde vollzieht sich dieser Prozeß dadurch, [S. 117] daß die Stadt als Zentrum eigener Macht in das politische Kräftespiel eingreift, das den entfalteten Feudalstaat bewegt, zwischen Zentralgewalt, örtlichen Grundherren und Untertanen. Als Festungen und Wohnstätten kriegerischer Männer, wie als Lagerplätze der für die Kriegsführung erforderlichen Güter (Waffen usw.) und später als Zentren der Geldwirtschaft sind sie in den Kämpfen zwischen der Zentralgewalt und den werdenden Landesfürsten oder zwischen diesen untereinander wichtige Stützpunkte und Bundesgenossen und können bei kluger Politik bedeutende Rechte erwerben.

In der Regel stehen die Städte in diesen Kämpfen auf Seite der Zentralgewalt gegen die feudalen Junker; und zwar aus sozialen Gründen, weil der Landedelmann dem Patrizier die gesellschaftliche Gleichstellung versagt, die der Reichere doch fordert; - aus politischen Gründen, weil die Zentrale, kraft der Solidarität zwischen Fürst und Volk, doch viel mehr das Gemeininteresse im Auge hat, als der nur seinen Privatinteressen dienende Großgrundbesitzer; - und schließlich aus wirtschaftlichen Gründen, weil das Städtewesen nur in Frieden und Sicherheit gedeihen kann. Das Faust- und Fehderecht und der Stegreif sind mit dem ökonomischen Mittel nicht vereinbar: darum stehen die Städte meistens in Treue zu dem Friedens- und Rechtsschützer, zuerst zu dem Kaiser, dann zu dem souveränen Landesherrn; und wenn die bewaffnete Bürgerschaft ein Raubnest bricht und ausräuchert, so spiegelt sich im Tropfen nur der gleiche gewaltige Gegensatz wie im Weltmeer der Geschichte.

Um diese politische Rolle mit Erfolg spielen zu können, muß die Stadt möglichst viele Bürger heranziehen, ein Bestreben, das auch durch rein wirtschaftliche Erwägungen geboten wird. Denn mit der Bürgerzahl wächst Arbeitsteilung und Reichtum. Darum fördert die Stadt die Einwanderung mit allen Kräften und zeigt auch hierdurch wieder die Polarität ihres Wesensgegensatzes gegen den Landedelmann. Denn die neuen Bürger, die sie heranzieht, entzieht sie den Feudalgütern, die sie dadurch an Steuer- und Wehrkraft ebenso schwächt, wie sie selbst sich stärkt. Die Stadt tritt als mächtiger Mitbieter in jene Auktion ein, in der der hörige Bauer an den Meistbietenden (die meisten Rechte Bietenden) versteigert wird. Sie bietet ihm die volle Freiheit, zuweilen auch noch Haus und Hof. Der Grundsatz »Stadtluft macht frei« wird durchgekämpft, und die Zentralgewalt, froh die Städte zu stärken und die aufsässigen Edlen zu [S. 118] schwächen, setzt gemeinhin gern ihr Siegel unter das neu entstandene Recht.

Der dritte große Fortschritt der Weltgeschichte: Die Ehre der freien Arbeit ist entdeckt oder besser wiederentdeckt; sie war verschollen seit jenen fernen Zeiten in denen der freie Jäger und der noch nicht unterworfene Hackbauer den Ertrag ihrer Arbeit genossen. Noch trägt der Bauer das Pariahzeichen des Unfreien, und noch ist sein Recht schwach: aber in der mauerumgürteten, wehrhaften Stadt trägt der Bürger das Haupt hoch, als ein Freier in jedem rechtlichen Sinne.

Zwar gibt es noch Rangstufen der politischen Berechtigung innerhalb der Stadtmauer. Die Alteingesessenen, die Ritterbürtigen, die Altfreien, die reichen Grundbesitzer weigern dem Zugezogenen, dem unfrei Geborenen, dem armen Handwerker und Höker das Mitregiment. Aber wie wir es oben bei der Schilderung der Seestädte sahen: in der Stadtluft können solche Rangstufen nicht erhalten bleiben. Die intelligente, skeptische, straff gegliederte und zusammengefaßte Mehrheit erzwingt die Gleichberechtigung. Nur dauert der Kampf im entfalteten Feudalstaat gemeinhin länger, weil hier die Parteien ihre Sache nicht unter sich allein abzumachen haben; die großen Grundherren der Nachbarschaft und die Fürsten greifen hemmend in das Kräftespiel ein. Dieser tertius gaudens existierte nicht in den antiken Seestaaten, wo außerhalb der Stadt kein mächtiges Feudalherrentum bestand.

Das sind die politischen Waffen der Stadt im Kampfe gegen den Feudalstaat: Bundesgenossenschaft mit der Krone, unmittelbare Offensive, und Fortlocken der Hintersassen in die freie Stadtluft. Nicht minder wirksam aber ist ihre wirtschaftliche Waffe, die vom städtischen Wesen unzertrennliche Geldwirtschaft, die den Natural- und damit den Feudalstaat völlig zerstört.

c) Die Einflüsse der Geldwirtschaft

Der soziologische Prozeß, den die Geldwirtschaft auslöst, ist so bekannt und in seiner Mechanik so allgemein anerkannt, daß wir uns mit kurzen Andeutungen begnügen dürfen.

[S. 119] Stärkung der Zentralgewalt bis zur Allmacht und Schwächung der Lokalgewalten bis zur Ohnmacht, das ist auch hier, wie in den Seestaaten die Folge der eindringenden Geldwirtschaft.

Die Herrschaft ist nicht das Ziel, sondern das Mittel der Herren zu ihrem eigentlichen Ziele, dem »Prestige«, das arbeitsloser Genuß möglichst vieler, möglichst kostbarer Genußgüter verleiht. Im Naturalstaat ist die Herrschaft das einzige Mittel dazu: dem Markgrafen und Landesherrn gibt seine politische Macht den Reichtum. Je mehr Bauern ihm dienen, um so größer seine Streitmacht, um so mehr dehnt er seinen Herrschaftsbezirk und damit seine Einkünfte. Zahlt aber erst ein reicher Markt Produkte der Landwirtschaft mit verlockenden Waren, so ist es für jedes noch vorwiegend privatwirtschaftliche Subjekt, d.h. für jeden, noch nicht zum Landesfürstentum aufgestiegenen Grundherrn - und dazu gehören jetzt die Ritter - viel rationeller, die Zahl der Bauern nach Möglichkeit zu vermindern und nur so viele übrig zu lassen, wie mit äußerster Anstrengung möglichst viel Produkte aus dem Acker ziehen können, und ihnen von diesen Produkten so wenig wie möglich zu lassen. Das gewaltig vermehrte »produit net« des Grundeigentums wird nun aber, wieder ganz rationell, nicht mehr zur Unterhaltung einer streitbaren Garde verwendet, sondern auf den Markt geführt und gegen Waren verkauft. Das Gefolge wird aufgelöst, der Ritter ist zum Rittergutsbesitzer geworden. Damit ist wie mit einem Schlage die Zentralgewalt (Reichskönig oder Landesherr) der Rivalen um die Herrschaft ledig, ist politisch allmächtig geworden. Die trotzigen Vasallen, die den Schattenkönig zittern machten, haben sich bald, nach einem kurzen Intermezzo der Mitregierung im Ständestaat, in geschmeidige Höflinge verwandelt, die den roi soleil umschranzen; jetzt sind sie auf ihn angewiesen: denn nur die militärische Macht, die er jetzt allein (als Soldheer) in Händen hat, kann sie davor schützen, daß ihre bis zum Äußersten getriebenen Hintersassen ihr Joch abwerfen. Stand in der Naturalwirtschaft die Krone fast immer mit Bauern und Städten im Bunde gegen den Adel, so haben wir jetzt das Bündnis des aus dem Feudalstaat geborenen Absolutismus mit dem Adel gegen die Vertreter des ökonomischen Mittels.

Seit Adam Smith pflegt man diese grundstürzende Umwälzung so darzustellen, als habe der dumme Junker sein Erstgeburtsrecht für ein [S. 120] Linsengericht verkauft, indem er die Herrschaft für törichte Luxuswaren verschacherte. Nichts kann falscher sein. Der einzelne irrt häufig in der Wahrung seiner Interessen: eine Klasse irrt niemals auf die Dauer!

Die Wahrheit ist, daß die Geldwirtschaft unmittelbar, ohne das Dazwischentreten der agrarischen Umwälzung, die Zentralgewalt politisch so sehr stärkt, daß ein Widerstand des Grundadels sinnlos wäre. Wie die Geschichte des Altertums beweist, ist das Heer einer finanziell starken Zentralgewalt dem feudalen Aufgebot immer überlegen. Mit Geld kann man Bauernjungen vortrefflich bewaffnen und zu Berufssoldaten drillen, deren geschlossener Masse der lockere Verband des Ritterheeres nicht gewachsen ist. Und dazu kann der Fürst in diesem Stadium noch auf die wehrhaften Bataillone der städtischen Innungen rechnen. Die Feuerwaffe tat in Westeuropa das übrige, auch sie ein Produkt, das nur in der Gewerbswirtschaft der wohlhabenden Stadt entstehen konnte. Aus diesen militärtechnischen Gründen muß selbst derjenige Feudalherr, der den Luxus nicht achtet und den Wunsch hat, seine relative Selbständigkeit zu erhalten oder zu steigern, sein Gebiet der gleichen agrarischen Umwälzung unterwerfen: denn, um stark zu sein, braucht auch er jetzt vor allem Geld, das nunmehr der nervus rerum geworden ist, um Waffen zu kaufen und Berufssoldaten zu dingen. Die geldwirtschaftliche Umwälzung schafft den zweiten kapitalistischen Großbetrieb; neben die Großlandwirtschaft tritt die Großunternehmung des Krieges: die Kondottieri erscheinen auf der Bühne. Söldnermaterial ist ja jetzt genug auf dem Markte, um Heere zusammenzubringen: die entlassenen Feudalgardisten und die expropriierten Bauern.

Auf diese Weise kann wohl einmal ein Junker als Kondottiere noch zum Landesfürstentum aufsteigen, wie es in Italien öfters geschah, und wie es Albrecht Wallenstein schon erreicht hatte. Aber das ist individuelles Schicksal, das am Schlußergebnis nichts ändert. Die lokalen Mächte verschwinden aus dem politischen Kräftespiel als selbständige Machtzentren, behalten nur so lange noch ein Restchen ihres ehemaligen Einflusses, wie sie dem Fürsten als Finanzquelle nötig sind: der Ständestaat.

Die unendliche Machtvermehrung der Krone wird nun noch gesteigert durch eine zweite Schöpfung der Geldwirtschaft, das Beamtentum. Wir haben den »Hexenkreis« ausführlich dargestellt, den der [S. 121] Feudalstaat zwischen Zusammenballung und Zerfall ohne Ausweg durchlaufen mußte, solange er gezwungen war, die Beamten mit »Land und Leuten« zu besolden und dadurch zu selbständigen Machtfaktoren aufzufüttern. Die Geldwirtschaft zerbricht den Hexenkreis. Fortan vollzieht die Zentralgewalt die Funktionen durch besoldete Beamte, die von ihr dauernd abhängig sind [3]. Von jetzt an ist einer straff zentralisierten Regierung die Dauer ermöglicht, und Reiche entstehen, wie sie seit den geldwirtschaftlich entfalteten Seestaaten nicht mehr existiert hatten.

Diese Umwälzung der politischen Kräftekonstellation hat sich, soweit ich sehen kann, überall an die Ausbildung der Geldwirtschaft angeschlossen - vielleicht mit einer einzigen Ausnahme: Ägypten. Hier scheint - von irgendeiner Gewißheit ist nach mir gewordener sachverständiger Auskunft keine Rede - die Geldwirtschaft sich erst in der griechischen Zeit entfaltet zu haben. Bis dahin leistet der Bauer Naturalzinse [4]. Dennoch finden wir schon nach der Austreibung der Hyksos im neuen Reiche den königlichen Absolutismus voll ausgebildet: »Die militärische Macht wird durch ausländische Söldner gestützt, die Verwaltung durch ein in der Hand des Königs zentralisiertes Beamtentum geführt, die Lehensaristokratie ist verschwunden« [5].

Indessen bestätigt gerade diese Ausnahme die Regel. Ägypten ist ein Land von einzigem geographischen Charakter. Schmal zwischen Wüste und Gebirge eingepreßt, wird es in seiner ganzen Länge von einer natürlichen Straße durchzogen, die dem Transport von Massengütern viel weniger Schwierigkeiten entgegenstellt, als selbst die prächtigste Landstraße: die Wasserstraße des Nil. Und diese Straße ermöglichte es dem Pharao, die Steuern sämtlicher Gaue in seinen eigenen Magazinen, den »Häusern des Königs« [6] zu zentralisieren und von da aus Beamte und Garnisonen in naturalibus zu besolden. [7] [S. 122] Darum bleibt Ägypten, nachdem es einmal zu einem Großstaat geeinigt war, auch zentralisiert, bis fremde Mächte seinem staatlichen Dasein ein Ende bereiten. »Der Umstand, daß im Zustande der Naturalwirtschaft der Herrscher unmittelbar und ausschließlich über die Genußgüter verfügt und von den gesamten Einkünften nur eine solche Menge und solche Art von Gütern an seine Beamten abgibt, wie es ihm wünschenswert und nützlich erscheint, und die Verteilung der Luxusgüter ebenfalls fast ausschließlich in seiner Hand ruht, ist die Quelle seiner ungeheuren Machtfülle.« [8]

Mit dieser einen Ausnahme, wo ein gewaltiger Strom die Aufgaben der Zirkulation löst, hat wohl immer die Geldwirtschaft die Auflösung des Feudalstaates bewirkt.

Die Kosten der Umwälzung tragen Bauern und Städte. Im Friedensschluß liefern sich Krone und Junker den Bauern gegenseitig aus, teilen ihn sozusagen in zwei ideelle Hälften; die Krone bewilligt dem Adel den größten Teil des Bauernlandes und den größten Teil der Arbeitskraft der nicht gelegten Bauern; der Adel bewilligt der Krone die Rekrutenaushebung und Steuern auf Bauernschaften und Städte. Der Bauer, der schon in der Freiheit reich geworden war, sinkt in Armut und damit in soziale Deklassierung zurück.

Die Städte werden durch die nunmehr verbündeten ehemaligen Feudalgewalten unter das Knie gebogen, wo sie nicht selbst, wie z.B. in Oberitalien, schon feudale Zentralgewalten geworden waren. (Auch dann noch verfallen sie zumeist der Herrschaft der Kondottieri.) Die Angriffsmacht der Gegner ist stärker, ihre eigene Macht ist schwächer geworden. Denn mit der Kaufkraft der Bauern verfällt ihr Wohlstand, wie er mit ihr entstanden war. Die kleinen Landstädte stagnieren und verarmen und verfallen wehrlos dem fürstlichen Absolutismus; die großen, wo die Luxusnachfrage der Herren ein starkes Gewerbe auferzieht, zerklüften sozial und verlieren dadurch an politischer Kraft. Denn die Masseneinwanderung, die jetzt in ihre Mauern erfolgt: entlassene Gardisten, gelegte Bauern, verarmte Handwerker der Kleinstädte, ist eine proletarische. Zum erstenmal erscheint der »freie Arbeiter« der Marxschen Terminologie massenhaft auf dem städtischen Arbeitsmarkte; und nun tritt wieder das »Gesetz der Agglomeration« vermögens- und klassenbildend in Wirksamkeit und zerklüftet die Stadtbevölkerung in heftigen Klassenkämpfen, [S. 123] durch deren Ausnützung der Landesfürst fast immer die Herrschaft gewinnt. Nur wenige echte »Seestaaten«, »Stadtstaaten«, können sich auf die Dauer dieser Umklammerung durch das Fürstentum entziehen.

Wieder hat sich, wie in den Seestaaten, die Achse des Staatslebens auf eine andere Stelle verlegt. Statt um das Grundvermögen kreist es jetzt um das Kapitalvermögen (denn auch das Grundeigentum ist jetzt »Kapital« geworden). Warum mündet nun die Entwicklung nicht, wie bei den Seestaaten, in die kapitalistische Sklavenwirtschaft ein?

Dafür sind zwei Gründe maßgebend: ein innerer und ein äußerer. Der äußere ist der, daß eine ergiebige Sklavenjagd kaum irgendwo noch möglich ist, wo fast alle Länder in erreichbarem Umkreise ebenfalls als starke Staaten organisiert sind. Wo sie möglich ist, wie z.B. in den amerikanischen Kolonien der Westeuropäer, bildet sie sich sofort aus.

Der innere Grund aber ist der, daß der Bauer hier, im Gegensatz zum Seestaat, nicht einem, sondern mindestens zwei [9] Berechtigten leistungspflichtig ist: dem Grundbesitzer und dem Landesherrn. Beide halten sich die Hände fest, um dem Bauern den Rest von Prästationsfähigkeit zu erhalten, der für ihre Interessen nötig ist. Namentlich haben starke Fürsten, z.B. die brandenburgisch-preußischen, viel für die Bauern getan. Aus diesem Grunde blieb der Bauer, wenngleich jämmerlich ausgebeutet, überall da persönlich frei und Rechtssubjekt, wo das Feudalsystem voll entfaltet gewesen war, als die Geldwirtschaft einsetzte.

Daß diese Erklärung richtig ist, ergibt sich klar aus den Verhältnissen derjenigen Staaten, die von der Geldwirtschaft ergriffen wurden, ehe das Feudalsystem fertig entwickelt war. Das sind die ehemals slawischen Gebiete Deutschlands, namentlich aber Polen. Hier hatte sich der Feudalstaat noch nicht so kunstvoll gestaffelt, als der Getreidebedarf der großen Gewerbszentren des Westens den Ritter, das staatsrechtliche Subjekt, in den Rittergutsbesitzer, das privatwirtschaftliche Subjekt, verwandelte. Daher war der Bauer nur einem einzigen Herrn, dem Grundherrn, leistungspflichtig, und daher entstehen hier die schon gekennzeichneten Adelsrepubliken, die der [S. 124] kapitalistischen Sklavenwirtschaft so nahe kommen, wie der Druck der staatlich vorgeschritteneren Nachbarn es irgend gestattet. [10]

Das, was jetzt noch folgt, ist so allgemein bekannt, daß einige Worte genügen. Die Geldwirtschaft, zum Kapitalismus entfaltet, tritt klassenbildend neben den Grundbesitz; der Kapitalist fordert Gleichberechtigung und erzwingt sie schließlich, indem er die niedere Plebs revolutioniert und zum Sturme gegen die alte Herrschaftsordnung führt, selbstverständlich unter dem Banner des »Naturrechts«. Kaum ist der Sieg errungen, so wendet die Klasse des mobilen Reichtums, die Bourgeoisie, die Waffen rückwärts, schließt mit dem alten Gegner Frieden und bekämpft die Plebs im Namen des Legitimismus oder wenigstens einer üblen Mischung legitimistischer und scheinliberaler Argumente.

So hat sich allmählich der Staat entfaltet: vom primitiven Raubstaat zum entfalteten Feudalstaat, zum Absolutismus, zum modernen Verfassungsstaat.

d) Der moderne Verfassungsstaat

Betrachten wir Statik und Kinetik des modernen Staates etwas näher.

Er ist grundsätzlich noch dasselbe Wesen, wie der primitive Raub- und der entfaltete Feudalstaat. Nur ein neues Element ist hinzugetreten, das wenigstens die Bestimmung hat, im Interessenkampfe der Klassen das Gemeininteresse des Staatsganzen zu vertreten: die Beamtenschaft. In wieweit sie tatsächlich dieser Bestimmung gerecht wird, werden wir an seiner Stelle betrachten. Zunächst studieren wir den Staat in denjenigen Charakterzügen, die er aus seinen Jugendstufen mit herübergebracht hat.

Noch immer ist seine Form die Herrschaft, sein Inhalt die Ausbeutung des ökonomischen Mittels, diese noch immer begrenzt durch das Staatsrecht, das einerseits die hergebrachte »Verteilung« des nationalen Gesamtproduktes schützt, andererseits die Leistungspflichtigen bei der Prästationsfähigkeit zu erhalten sucht. Noch immer kreist die Innenpolitik des Staates in derjenigen Bahn, die ihm durch [S. 125] das Parallelogramm aus der zentrifugalen Kraft des Klassenkampfes und der zentripetalen Kraft des staatlichen Gemeininteresses vorgeschrieben wird; und noch immer wird seine Außenpolitik bestimmt durch das Interesse der Herrenklasse, das jetzt aber außer dem landed auch das moneyed interest umfaßt.

Grundsätzlich sind nach wie vor nur zwei gesellschaftliche Klassen zu unterscheiden: eine herrschende, der vom gesamten Erzeugnis der Volksarbeit (des ökonomischen Mittels) mehr zufällt, als sie beigetragen hat, und eine beherrschte, der weniger zufällt, als sie beigetragen hat. Jede dieser Klassen zerfällt je nach dem Grade der ökonomischen Entwicklung, in mehr oder weniger Unterklassen und -schichten, die sich nach der Gunst und Ungunst des für sie geltenden Verteilungsschlüssels abstufen.

In hochentwickelten Staaten findet sich zwischen den beiden Hauptklassen eine Übergangsklasse eingeschoben, die ebenfalls untergeschichtet sein kann. Ihre Mitglieder sind nach oben leistungspflichtig, nach unten leistungsberechtigt. Um ein Beispiel zu wählen, so sind im modernen Deutschland in der herrschenden Klasse mindestens drei Schichten vertreten: die großen Landmagnaten, die zugleich Industrie- und Bergherren sind, die großen Industriellen und Bankokraten, die oft zugleich schon Großgrundbesitzer sind und daher schnell mit der ersten Schicht verschmelzen (Fürsten Fugger, Grafen Donnersmarck), und drittens die kleinen Landjunker. Die beherrschte Klasse besteht mindestens aus Kleinbauern, Landarbeitern, Industriearbeitern samt kleinen Handwerkern und Unterbeamten. Die Übergangsklassen sind die »Mittelstände«: Groß- und Mittelbauern, die kleinen Industriellen und bessersituierten Handwerker und diejenigen reichen Bourgeois, die noch nicht reich genug geworden sind, um gewisse traditionelle Schwierigkeiten zu überwinden, die ihrer Aufnahme in den Konnubialverband entgegenstehen (Juden). Sie leisten nach oben unentgolten und empfangen von unten unentgolten; es ist individuelles Schicksal, was auf die Dauer überwiegt; danach bestimmt sich der Ausgang, den die Schicht oder das Individuum erlebt: volle Rezeption nach oben oder volles Versinken nach unten. Aszendent sind von den Übergangsklassen Deutschlands jetzt z.B. der Großbauer und Mittelindustrielle, deszendent die Mehrzahl der Handwerker. Damit sind wir schon zur Kinetik der Klassen gelangt.

[S. 126] Das Interesse jeder Klasse setzt eine reale Menge assoziierter Kräfte in Bewegung, die mit einer bestimmten Geschwindigkeit auf die Erreichung eines bestimmten Zieles hindrängen. Dieses Ziel ist für alle Klassen dasselbe: das Gesamterzeugnis der auf die Gütererzeugung gewandten produktiven Arbeit aller Staatsangehörigen. Jede Klasse erstrebt einen möglichst großen Anteil am Nationalprodukt; und da alle dasselbe erstreben, bildet der Klassenkampf den Inhalt aller Staatsgeschichte (immer abgesehen von den durch das Staatsinteresse erzeugten gemeinsamen Handlungen, von denen wir hier absehen dürfen, weil sie von der bisherigen Geschichtsbetrachtung - zumeist mit größter Einseitigkeit - in den Vordergrund gerückt worden sind). Dieser Klassenkampf stellt sich historisch dar als Parteienkampf. Eine Partei ist ursprünglich und auf die Dauer kaum je etwas anderes als die organisierte Vertretung einer Klasse. Wo eine Klasse durch die soziale Differenzierung in mehrere Schichten mit verschiedenen Sonderinteressen zerfällt, da zerfällt alsbald auch die Partei in entsprechend viele junge Parteien, die je nach dem Grade der Divergenz der Klasseninteressen Bundesgenossen oder Todfeinde sein werden. - Wo umgekehrt ein alter Klassengegensatz durch die soziale Differenzierung verschwindet, da verschmelzen auch in Bälde die beiden alten Parteien zu einer neuen. Als Beispiel für den ersten Fall mag die Abspaltung der mittelständischen und antisemitischen Parteien vom deutschen Liberalismus genannt werden, als Folge davon, daß jene deszendente, dieser aszendente Schichten vertreten; den zweiten Fall mag die politische Verschmelzung charakterisieren, die den ostelbischen Kleinjunker mit dem westelbischen Großbauern im Bunde der Landwirte zusammenführt. Da jener sinkt und dieser steigt, treffen sie sich auf halbem Wege. Alle Parteipolitik hat nur einen Inhalt: der vertretenen Klasse einen möglichst großen Anteil am Nationalprodukt zu verschaffen. Mit anderen Worten: die bevorzugten Klassen wollen ihren Anteil mindestens auf der alten Höhe halten, womöglich noch vermehren bis auf ein Maximum, das den ausgebeuteten Klassen gerade noch die Prästationsfähigkeit läßt (ganz wie im primitiven Imkerstadium) und das ganze Mehrprodukt des ökonomischen Mittels beschlagnahmt, ein Mehrprodukt, das mit wachsender Volksdichtigkeit und Arbeitsteilung ungeheuer anwächst; - die Gruppe der ausgebeuteten Klassen will ihren Tribut womöglich auf Null vermindern, das gesamte Nationalprodukt selbst [S. 127] verzehren; - und die Übergangsklassen streben danach, den Tribut nach oben soviel wie möglich zu vermindern, das unentgoltene Einkommen von unten soviel wie möglich zu vermehren.

Das ist Ziel und Inhalt des Parteienkampfes. Die herrschende Klasse führt ihn mit allen Mitteln, die ihr die überkommene Herrschaft in die Hand legt. Sie gibt die Gesetze, die zu ihrem Zwecke dienen (Klassengesetzgebung), und wendet sie so an, daß die scharfe Schneide immer nach unten, der stumpfe Rücken immer nach oben gerichtet ist (Klassenjustiz.) Sie handhabt die Staatsverwaltung zwiefach im Interesse ihrer Klassenangehörigen, indem sie erstens alle hervorragenden Stellungen, die Einfluß und Gewinn bringen, ihnen vorbehält (Heer, obere Verwaltung, Justiz), und zweitens die Staatspolitik durch diese ihre Geschöpfe leitet (Klassenpolitik: Handelskriege, Kolonialpolitik, Schutzzollpolitik, Arbeiterpolitik, Wahlpolitik usw.). Solange der Adel herrscht, beutet er den Staat wie ein Rittergut aus; sobald die Bourgeoisie ans Ruder kommt, exploitiert sie ihn wie eine Fabrik. Und die Klassen-Religion deckt alles mit ihrem Tabu, solange es geht.

Noch bestehen im Staatsrecht eine Anzahl politischer Privilegien und wirtschaftlicher Machtpositionen zugunsten der Herrenklasse: plutokratisches Wahlsystem, Koalitionsbeschränkung, Gesindeordnung, »Liebesgaben« usw. Und darum ist der Verfassungskampf der Jahrtausende hindurch das Staatsleben beherrschte, noch nicht beendet. Er vollzieht sich zumeist friedlich in den Parlamenten, aber auch zuweilen durch Straßendemonstrationen, Massenstreiks und Revolten.

Aber die Plebs hat begriffen, daß nicht, wenigstens nicht mehr, in diesen Resten der feudalen Machtpositionen die Zitadelle der Gegner zu suchen ist. Nicht politische, sondern wirtschaftliche Ursachen müssen es sein, die es bewirken, daß auch im modernen Verfassungsstaate sich die »Verteilung« grundsätzlich nicht geändert hat. Nach wie vor lebt die große Masse in bitterer Armut, bestenfalls in karger Dürftigkeit, in harter, zermalmender, verdumpfender Fron - und nach wie vor zieht eine schmale Minderheit, eine aus Altprivilegierten und Emporkömmlingen gemischte neue Herrenklasse, den ins Ungeheure gewachsenen Tribut unentgolten ein, um verschwenderisch zu genießen. Diesen wirtschaftlichen Ursachen der mangelhaften Verteilung gilt fortan mehr und mehr der Klassenkampf als unmittelbarer [S. 128] Lohnkampf zwischen Proletariat und Exploiteuren mittels Streik, Gewerkschaft, Genossenschaft. Die wirtschaftliche Organisation tritt erst gleichberechtigt, dann führend neben und vor die politische. Die Gewerkschaft beherrscht zuletzt die Partei. So weit ist die Entwicklung des Staates in Großbritannien und den Vereinigten Staaten bisher gediehen.

Viel feiner differenziert, viel mächtiger integriert, wäre auch der Verfassungsstaat also nach Form und Inhalt grundsätzlich nichts anderes, als seine Vorstufen, wenn nicht die Beamtenschaft als neues Element in ihn eingetreten wäre.

Grundsätzlich ist der Beamte, aus Staatsmitteln besoldet, dem ökonomischen Interessenkampf entrückt. Daher gilt in jeder tüchtigen Bureaukratie die Beteiligung des Beamten an Erwerbsunternehmungen mit Recht als nicht dem Amte angemessen. Wäre das Prinzip völlig durchführbar, und brächte nicht auch der beste Beamte als seine »persönliche Gleichung« die Staatsauffassung der Klasse mit, aus der er entstammt, so wäre in dem Beamtentum in der Tat jene schlichtende und ordnende Instanz oberhalb des Interessenkampfes gegeben, die den Staat seinen neuen Zielen zuführen könnte. Sie wäre der Punkt des Archimedes, von dem aus die Welt des Staates bewegt werden könnte.

Aber leider ist weder das Prinzip völlig durchführbar, noch sind die Beamten abstrakte Menschen ohne Klassenbewußtsein. Ganz abgesehen davon, daß die Beteiligung an einer bestimmten Art der Unternehmung, der Großlandwirtschaft, in allen Staaten so lange geradezu als höhere Qualifikation des Beamten gilt, wie der Grundadel überwiegt, wirken auf zahlreiche Beamte, und gerade auf die einflußreichsten, gewaltige ökonomische Interessen ein und ziehen sie unbewußt und gegen ihren Willen in den Kampf mit hinein. Väterliche und schwiegerväterliche Zuschüsse, ererbter Besitz und nahe Verwandtschaft mit Interessenten des landed oder moneyed interest verstärken die aus der »Kinderstube« mitgebrachte Solidarität mit der herrschenden Klasse, aus der diese Beamtenschaft fast ausnahmslos hervorgeht, während diese Solidarität bei Fortfall solcher ökonomischen Beziehungen leichter durch das reine Staatsinteresse zurückgedrängt wird.

Aus diesem Grunde finden wir in der Regel die tüchtigste, objektivste, unparteilichste Beamtenschaft in armen Staaten; Preußen z.B. [S. 129] verdankte früher vor allem seiner Armut jenen unvergleichlichen Beamtenstand, der es sicher durch alle Klippen steuerte. Seine Mitglieder waren wirklich der Regel nach von allen Erwerbsinteressen, unmittelbaren und mittelbaren, völlig gelöst.

In reicheren Staatsgebilden ist dieses ideale Beamtentum seltener zu finden. Die plutokratische Entwicklung zieht den Einzelnen mehr oder weniger mit in den Strudel, nimmt ihm einen Teil seiner Objektivität, seiner Unparteilichkeit. Dennoch erfüllt der Beamtenstand noch immer einigermaßen die Aufgabe, die ihm zugefallen ist, das Staatsinteresse gegen die Klasseninteressen zu wahren; und, wenn auch wider Willen oder wenigstens ohne klares Bewußtsein davon, wahrt er es so, daß das ökonomische Mittel, das den Beamtenstand erschuf, in seinem langsamen Siegesgang gegen das politische Mittel gefördert wird. Gewiß: die Beamten treiben die Klassenpolitik, die die Konstellation der Kräfte im Staate ihnen vorschreibt; gewiß: sie sind im Grunde nur Vertreter der Herrenklasse, der sie entstammen. Aber sie mildern die Schärfe des Kampfes, sie treten Ausschreitungen entgegen, sie bewilligen Änderungen des Rechtes, die durch die soziale Entwicklung reif geworden sind, ehe der offene Kampf darum entbrennt. Wo ein tüchtiges Fürstengeschlecht herrscht, dessen jeweiliges Haupt sich gleich Friedrich nur als »den ersten Beamten des Staates« betrachtet, gilt das Gesagte in verstärktem Maße von ihm, da sein Interesse, als des dauernden Nutznießers des Dauerwesens Staat, ihm vor allem gebietet, die zentripetalen Kräfte zu verstärken und die zentrifugalen zu schwächen. Wir haben im Laufe der Betrachtung öfters die natürliche Solidarität zwischen Fürst und Volk als segensreiche geschichtliche Kraft kennen gelernt: im vollendeten Verfassungsstaat, in dem der Monarch nur noch in relativ unendlich geringem Maße privatwirtschaftliches Subjekt, und fast ganz »Beamter« ist, drückt diese Interessenverknüpfung noch viel stärker durch als im Feudalstaat und absoluten Staat, wo die Herrschaft noch wenigstens zur einen Hälfte Privatwirtschaft ist.

Die äußere Form der Regierung ist auch im Verfassungsstaate nicht von entscheidender Bedeutung: der Klassenkampf wird in der Republik mit den gleichen Mitteln geführt wie in der Monarchie und führt zum gleichen Ziele. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, daß ceteris paribus in der Monarchie die Kurve der Staatsentwicklung gestreckter, mit geringeren sekundären Einbuchtungen [S. 130] verläuft, weil der Fürst, für Tagesströmungen weniger empfindlich als ein auf kurze Jahre gewählter Präsident, eine vorübergehende Einbuße an Volkstümlichkeit weniger zu scheuen braucht und daher seine Politik auf längere Zeiträume spannen kann.

Noch ist einer Abart des Beamtentums zu gedenken, deren Einfluß auf die Höherentwicklung des Staatswesens nicht unterschätzt werden darf, des wissenschaftlichen Beamtentums der Hochschulen. Es ist nicht nur Schöpfung des ökonomischen Mittels, wie das Beamtentum überhaupt, sondern gleichzeitig Vertreter einer geschichtlichen Kraft, die wir bisher nur als Bundesgenossen des Eroberungsstaates kennen gelernt haben, des Kausalbedürfnisses. Dieses Bedürfnis sahen wir auf primitiver Stufe die Superstition erschaffen; und deren Bastard, das Tabu, fanden wir überall als starke Waffe in den Händen der Herrenklasse. Aus demselben Bedürfnis aber ist nunmehr die Wissenschaft entstanden, die jetzt die Superstition angreift und zertrümmert und dadurch der Entwicklung den Weg bereiten hilft. Das ist die unschätzbare geschichtliche Leistung der Wissenschaft und namentlich der Hochschulen.

VI. Die Tendenz der staatlichen Entwicklung

[S. 131] Wir haben die Entwicklung des Staates in ihren Hauptzügen aufzudecken versucht von der fernsten Vergangenheit bis zur Gegenwart, dem Erdforscher ähnlich, der einen Strom von seinen Quellen abwärts verfolgt bis zum Austritt in die Ebene. Breit und gewaltig rollt er seine Wogen an ihm vorbei, bis er im Dunst des Horizontes verschwindet ins Unbekannte, noch nicht Erforschte, für ihn Unerforschliche.

Breit und gewaltig rollt auch der Strom der Geschichte - und alle Geschichte bis heute ist Staatengeschichte - an uns vorbei, und sein Lauf entschwindet uns in den Nebeln der Zukunft. Dürfen wir es wagen, Vermutungen über seinen ferneren Lauf anzustellen, bis er, »dem erwartenden Erzeuger freudebrausend an das Herz« sinkt? Ist eine wissenschaftlich begründete Prognose der künftigen Staatsentwicklung möglich?

Ich glaube, daß sie möglich ist. Die Tendenz [11] der Entwicklung des Staates führt unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören, das »entfaltete politische Mittel« zu sein, und wird »Freibürgerschaft« werden. Das heißt: die äußere Form wird im wesentlichen die vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum: aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein; die wirtschaftliche Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch Klasseninteressen mehr geben wird, wird die Bureaukratie des Staates der Zukunft jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der »Staat« der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete »Gesellschaft« sein.

Man hat Bibliotheken geschrieben über die Abgrenzung der Begriffe Staat und Gesellschaft. Von unserem Standpunkt aus läßt sich das Problem leicht beantworten. Der »Staat« ist der Inbegriff aller durch das politische, die »Gesellschaft« der Inbegriff aller durch das ökonomische Mittel geknüpften Beziehungen von Mensch zu [S. 132] Mensch. Bisher waren Staat und Gesellschaft in eins verschlungen: in der »Freibürgerschaft« wird es keinen »Staat«, nur noch »Gesellschaft« geben.

Diese Prognose der Staatsentwicklung ist eine Ineinsfassung aller der berühmten Formeln, in denen die großen Geschichtsphilosophen das »Wertresultat« der Weltgeschichte zu geben versuchten. Sie enthält den »Fortschritt von kriegerischer Tätigkeit zur friedlichen Arbeit« St. Simons ebenso wie die »Entwicklung von der Unfreiheit zur Freiheit« Hegels; die »Entfaltung der Humanität« Herders ebenso wie das »Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur« Schleiermachers.

Unsere Zeit hat den frohen Optimismus der Klassiker und Humanisten eingebüßt: der soziologische Pessimismus beherrscht die Geister. Die hier gestellte Prognose kann kaum irgendwo auf Anhänger rechnen. Nicht nur, daß sie den Nutznießern der Herrschaft kraft ihrer Klassenstimmung unglaublich erscheinen muß: auch die Angehörigen der beherrschten Klasse stehen ihr mit dem äußersten Skeptizismus gegenüber. Die proletarische Theorie sagt zwar grundsätzlich den gleichen Endzustand, die klassenlose, von aller Ausbeutung erlöste Gesellschaft, voraus, aber sie hält ihn nicht auf dem Wege der Evolution, sondern nur auf dem Wege der Revolution für möglich und stellt ihn sich unter dem Bilde einer, von der historisch gewordenen gänzlich abweichenden Gestalt der »Gesellschaft«, d.h. der Organisation des ökonomischen Mittels, vor: als marktlose Wirtschaftsordnung, als Kollektivismus. - Die anarchistische Theorie hält Form und Inhalt des »Staates« für untrennbar, Schrift und Kopf derselben Münze: keine »Regierung« ohne Ausbeutung! Sie will daher Form und Inhalt des Staates zerschlagen und den Zustand der Anarchie herbeiführen, selbst wenn dabei alle ökonomischen Vorteile der großen arbeitsteiligen Volkswirtschaft geopfert werden müßten. - Sogar der bedeutende Denker, der zuerst den Grund zu der hier vorgetragenen Staatslehre gelegt hat, Ludwig Gumplowicz, ist soziologischer Pessimist, und zwar aus denselben Gründen, wie die von ihm so heftig befehdeten Anarchisten. Auch er hält Form und Inhalt, Regierung und Klassenausbeutung, für ewig untrennbar: da er aber - mit Recht - ein Zusammenleben vieler Menschen ohne eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Regierung nicht für möglich hält, so [S. 133] erklärt er den Klassenstaat für eine »immanente«, nicht bloß für eine historische Kategorie.

Nur das kleine Häuflein der Sozialliberalen oder der liberalen Sozialisten glaubt bisher an die Evolution einer Gesellschaft ohne Klassenherrschaft und Klassenausbeutung, die neben der politischen auch die ökonomische Bewegungsfreiheit des Individuums, natürlich innerhalb der Grenzen des ökonomischen Mittels, gewährleistet. Das war das Kredo des alten, vormanchesterlichen, sozialen Liberalismus, wie ihn Quesnay und namentlich Adam Smith verkündeten, und wie es in der Neuzeit von Henry George, Eugen Dühring und Theodor Hertzka aufgenommen wurde.

Diese Prognose läßt sich zwiefach begründen, geschichtsphilosophisch und volkswirtschaftlich, als Tendenz der Staats- und als Tendenz der Wirtschaftsentwicklung, die beide deutlich einem Punkte zustreben.

Die Tendenz der Staatsentwicklung enthüllte sich uns als ein steter, siegreicher Kampf des ökonomischen Mittels gegen das politische. Das Recht des ökonomischen Mittels, das Recht der Gleichheit und des Friedens, sahen wir im Anfang auf den winzigen Kreis der Blutverwandtschaftshorde beschränkt, eine Mitgift schon aus vormenschlichen Gesellschaftszuständen [12]; rings um dieses Friedenseiland tobte der Ozean des politischen Mittels und seines Rechtes. Aber weiter und weiter sahen wir die Kreise sich spannen, aus denen das Recht des Friedens seinen Widerpart verdrängt hat, und sahen sein Vordringen überall geknüpft an das Vordringen des ökonomischen Mittels, des als äquivalent betrachteten Tauschverkehrs der Gruppen untereinander. Zuerst vielleicht durch den Feuertausch, dann durch den Frauentausch und schließlich durch den Gütertausch dehnte sich das Gebiet des Friedensrechtes immer weiter; es schützte die Marktplätze, dann die zum Markt führenden Straßen, dann die auf den Straßen ziehenden Kaufleute. Wir haben ferner gesehen, wie der »Staat« diese Friedensorganisation in sich aufnimmt, sie fortbildet, und wie sie dann im Staat selbst das Gewaltrecht immer weiter zurückdrängt. Kaufmannsrecht wird Stadtrecht; die Gewerbsstadt, das entfaltete ökonomische Mittel, unterhöhlt durch seine Waren- und Geldwirtschaft den Feudalstaat, das entfaltete politische Mittel; und [S. 134] die städtische Bevölkerung vernichtet zuletzt im offenen Kampf die politischen Reste des Feudalstaates und erstreitet der gesamten Bevölkerung des Staates die Freiheit und das Recht der Gleichheit zurück. Stadtrecht wird Staatsrecht, zuletzt Völkerrecht.

Nun sehen wir nirgend eine Kraft, die dieser bisher dauernd wirksam gewesenen Tendenz jetzt noch hindernd in den Weg treten könnte. Im Gegenteil: die bisherigen Hemmungen des Prozesses werden augenscheinlich immer schwächer. Die Tauschbeziehungen der Nationen gewinnen international eine die kriegerisch-politischen Beziehungen immer mehr überwiegende Bedeutung; und durch den gleichen Prozeß ökonomischer Entwicklung überwiegt intranational das mobile Kapital, die Schöpfung des Friedensrechtes, immer mehr das Grundeigentum, die Schöpfung des Kriegsrechtes! Gleichzeitig verliert die Superstition immer mehr an Einfluß. Und so muß man schließen, daß die Tendenz sich bis zur vollen Ausscheidung des politischen Mittels und seiner Schöpfungen, bis zum vollen Siege des ökonomischen Mittels durchsetzen wird.

Aber, wird man einwerfen: dieser Sieg ist ja bereits errungen. Im modernen Verfassungsstaat sind ja alle erheblicheren Reste des alten Kriegsrechts ausgemerzt!

Nein, es besteht noch ein solcher Rest, aber ökonomisch maskiert, dem Anschein nach kein rechtliches Privileg, sondern ein ökonomisches Eigentum, das Großgrundeigentum, die erste Schöpfung und die letzte Zitadelle des politischen Mittels. Seine Maske hat es davor bewahrt, das Schicksal der übrigen feudalen Schöpfungen zu erleiden; und dieser letzte Rest des Kriegsrechtes ist zweifellos das letzte, einzige Hindernis auf dem Wege der Menschheit; und zweifellos ist die Wirtschaftsentwicklung jetzt im Begriff, ihn zu vernichten.

Ich habe diese Behauptung, deren Beweis an dieser Stelle mir der Raum nicht gestattet, in eigenen Werken als wahr erwiesen, auf die ich hinweisen muß [13]. Hier kann ich nur die Hauptsätze aneinanderreihen:

Die Verteilung des Gesamterzeugnisses des ökonomischen Mittels unter die einzelnen Klassen der Verfassungsstaaten, die [S. 135] »kapitalistische Verteilung«, unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der feudalen Verteilung.

Die Ursache ist nach der übereinstimmenden Auffassung der sämtlichen bedeutenden volkswirtschaftlichen Schulen einzig darin zu suchen, daß das Angebot »freier« (d.h. nach Karl Marx politisch freier und zugleich wirtschaftlich kapitalloser) Arbeiter die Nachfrage dauernd übertrifft, d.h., daß das »Kapitalverhältnis« besteht. Es »laufen stets zwei Arbeiter einem Unternehmer nach, unterbieten sich«, und so bleibt der Kapitalistenklasse der »Mehrwert« übrig, während der Arbeiter nie dazu gelangt, selbst Kapital zu bilden und Unternehmer zu werden.

Woher stammt das Überangebot freier Arbeiter?

Die Erklärung der bürgerlichen Theorie, wonach dieses Überangebot durch Erzeugung zu vieler Proletarierkinder hervorgerufen wird, beruht logisch auf einem Fehlschluß und widerspricht allen bekannten Tatsachen [14].

Die Erklärung der proletarischen Theorie, wonach der kapitalistische Produktionsprozeß selbst die »freien Arbeiter« durch »Freisetzung« immer wieder in genügender Anzahl reproduziert, beruht logisch auf einem Fehlschluß und widerspricht allen bekannten Tatsachen [15].

Alle Tatsachen zeigen vielmehr, und die Deduktion kann es widerspruchsfrei ableiten, daß das Massenangebot »freier Arbeiter« vom Großgrundeigentum stammt: Ab- und Auswanderung sind die Ursachen der kapitalistischen Verteilung. Hier besteht ein echtes soziologisches Gesetz, das Theodor v. d. Goltz 1893, zwanzig Jahre nach dem Tode von John Stuart Mill, zehn Jahre nach dem Tode von Karl Marx, zuerst entdeckte und formulierte: »Mit dem Umfange des Großgrundeigentums parallel und mit dem Umfang des bäuerlichen Besitzes in umgekehrter Richtung geht die Wanderung.«

Nun geht zweifellos die Tendenz der Wirtschaftsentwicklung auf Ausstoßung des Großgrundeigentums. Es verblutet rettungslos an der rechtlichen Befreiung seiner Hintersassen, die ihm die städtische Entwicklung aufzwang. Die Freizügigkeit führte zur Landflucht; die [S. 136] Auswanderung schuf die »überseeische Konkurrenz« und den Sturz der Produktenpreise, die Abwanderung erzwingt dauernd steigende Löhne. So wird die Grundrente von beiden Seiten her verringert und muß allmählich auf Null sinken, da auch hier keine Gegenkraft erkennbar ist, die den Prozeß ablenken könnte [16]. So geht das Großgrundeigentum zugrunde [17]. Ist es aber verschwunden, dann gibt es kein Überangebot freier Arbeiter mehr, »zwei Unternehmer laufen einem Arbeiter nach und überbieten sich«, es bleibt kein »Mehrwert« für die Kapitalistenklasse übrig, der Arbeiter kann selbst Kapital bilden und selbst - im Wege der Genossenschaft - Unternehmer werden. Das politische Mittel ist in seiner letzten noch aufrechten Schöpfung vernichtet, das ökonomische Mittel herrscht allein. Der Inhalt dieser Gesellschaft ist die »reine Wirtschaft« [18] des äquivalenten Tausches von Gütern gegen Güter oder von Arbeitsleistungen gegen Güter - und die politische Form dieser Gesellschaft ist die »Freibürgerschaft«.

Diese theoretische Ableitung wird nun bestätigt durch die historische Erfahrung. Wo immer eine Gesellschaft existierte, in der kein Großgrundeigentum wachsende Rente zog, bestand die »reine Wirtschaft«, näherte sich die Form des Staates der »Freibürgerschaft«.

Solch ein Gemeinwesen war Deutschland fast vierhundert Jahre lang [19], von etwa dem Jahre 1000 nach Christi, wo das primitive Großgrundeigentum sich in die sozial harmlose Großgrundherrschaft umwandelte, bis etwa zum Jahre 1400, wo das durch das politische Mittel, den Raubkrieg, im Slawenlande neu erstandene Großgrundeigentum dem Bauern aus dem Stammlande das Siedelland sperrte [20]. Ein solches Gemeinwesen war - und ist noch fast unverändert -, der [S. 137] Mormonenstaat Utah, wo eine weise Bodengesetzgebung nur Klein- und Mittelbauern duldete [21]. Ein solches Gemeinwesen war Grafschaft und Stadt Vineland [22] in Jowa, U. S., so lange, wie jeder Siedler Land ohne Zuwachsrente erhalten konnte. Ein solches Gemeinwesen ist vor allem Neu-Seeland, dessen Regierung den Klein- und Mittelgrundbesitz mit allen Kräften fördert, während sie den - mangels freier Arbeiter übrigens so gut wie rentelosen - Großgrundbesitz mit allen Mitteln einengt und auflöst [23].

Überall hier ein erstaunlicher, erstaunlich gleichmäßig - nicht mechanisch gleich! - verteilter Wohlstand, aber kein Reichtum. Denn Wohlstand ist die Herrschaft über Genußgüter; Reichtum aber die Herrschaft über Menschen. Nirgend sind hier Produktionsmittel »Kapital«; sie hecken keinen Mehrwert: es gibt eben keine »freien« Arbeiter und kein »Kapitalverhältnis« [24]. Und die politische Form dieser Gemeinwesen steht überall, soweit es der Druck der noch nach dem Kriegsrecht organisierten Umwelt gestattet, der Freibürgerschaft sehr nahe und nähert sich ihr immer mehr. Der »Staat« verfällt oder kommt auf neuem Lande, wie in Utah oder Neu-Seeland, nur keimhaft zur Entwicklung, und die freie Selbstbestimmung freier Menschen, die kaum einen Klassenkampf kennen, setzt sich immer kräftiger durch. Im Deutschen Reiche z.B. ging dem politischen Aufstieg der Städtebünde und dem Verfall des Feudalstaates die Emanzipation der Gewerke, die damals noch die ganze »Plebs« der Städte umfaßten, und der Verfall des Patriziats der Geschlechter in gleichem Schritte parallel. Nur die Errichtung neuer primitiver Staaten an der Ostgrenze konnte diese segensreiche Entwicklung unterbrechen und ihre wirtschaftliche Blüte knicken. Wer an einen bewußten Zweck in der Geschichte glaubt, mag sagen: die Menschheit mußte erst noch durch eine neue Leidensschule gehen, ehe sie freigesprochen werden konnte. Das Mittelalter hatte das System der freien Arbeit entdeckt, [S. 138] aber noch nicht zu seiner vollen Leistungsfähigkeit entwickelt. Die neue Sklaverei des Kapitalismus mußte erst noch das unvergleichlich wirksamere System der kooperierenden Arbeit, die Arbeitsteilung in der Werkstatt, entdecken und ausgestalten, um den Menschen zum Herrn der Naturkräfte, zum König des Planeten, zu krönen. Antike und kapitalistische Sklaverei waren nötig: jetzt sind sie überflüssig geworden. Standen neben jedem freien Bürger Athens angeblich fünf menschliche Sklaven, so haben wir neben jeden Bürger unserer Gesellschaft schon das Vielfache von Sklaven gestellt, von Sklaven aus Stahl, die nicht leiden, wenn sie schaffen. Jetzt erst sind wir reif geworden für eine Kultur, die so hoch über der Kultur des periklëischen Zeitalters stehen wird, wie Volkszahl, Macht und Reichtum unserer Reiche über dem winzigen Kleinstaat Attika.

Athen mußte zugrunde gehen - an der Sklavenwirtschaft, am politischen Mittel. Von hier aus führte kein Weg in die Zukunft als der in den Völkertod. Unser Weg führt zum Leben!

Die geschichtsphilosophische Betrachtung, die die Tendenz der Staatsentwicklung, und die volkswirtschaftliche Betrachtung, die die Tendenz der Wirtschaftsentwicklung beobachtete, kommen demnach zu dem gleichen Ergebnis: das ökonomische Mittel siegt auf der ganzen Linie, das politische Mittel schwindet in seiner ältesten und lebenszähesten Schöpfung aus dem Gesellschaftsleben: mit dem Großgrundeigentum und der Grundrente verfällt der Kapitalismus.

Das ist der Leidens- und Erlösergang der Menschheit, ihr Golgatha und ihre Auferstehung zum ewigen Reich: vom Krieg zum Frieden, von der feindlichen Zersplitterung der Horden zur friedlichen Einheit der Menschheit, von der Tierheit zur Humanität, vom Raubstaat zur Freibürgerschaft.


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Fußnoten

1. »Die größeren Heerlager der Rheinarmee erhielten teils durch die Handelsleute, die dem Heere sich anschlossen, teils und vor allem durch die Veteranen, die in ihren gewohnten Quartieren auch nach Entlassung verblieben, einen städtischen Anhang, eine von den eigentlichen Militärquartieren gesonderte Budenstadt (canabae); überall und namentlich in Germanien sind aus diesen bei den Legionslagern und besonders den Hauptquartieren mit der Zeit eigentliche Städte erwachsen.« (Mommsen, l. c. V, p. 153.) [Zurück zum Text]
2. »Zu den Verehrungsstätten kommen immer Priesterwohnungen, Schulen, Pilgerherbergen« (Ratzel, l. c. II, p. 575). Natürlich wird jeder große Wallfahrtsort Mittelpunkt eines starken Marktverkehrs. Nicht umsonst heißen unsere nordeuropäischen Großhandelsmärkte nach der religiösen Zeremonie »Messen«. [Zurück zum Text]
3. Eisenhart, Gesch. der Nationalökonomie, p. 9: »Mit Hilfe des neuen liquideren Soldmittels konnte nunmehr ein neuer abhängigerer Kriegs- und Beamtenstand aufgestellt werden. Seine terminweise Auszahlung gestattete demselben nicht ferner, sich von dem gemeinsamen Soldherrn unabhängig zu machen und selbst wider ihn zu kehren.« [Zurück zum Text]
4. Thurnwald, l. c., p. 773. [Zurück zum Text]
5. Thurnwald, l. c., p. 699. [Zurück zum Text]
6. Thurnwald, l. c., p. 709. [Zurück zum Text]
7. Die Anweisungen auf die Magazine kursierten als eine Art von Papiergeld. [Zurück zum Text]
8. Thurnwald, l. c., p. 711. [Zurück zum Text]
9. Im mittelalterlichen Deutschland zinst der Bauer oft außer an den Grund- und den Landesherrn noch an Obermärker und Vogt. [Zurück zum Text]
10. Vgl. dazu mein »Großgrundeigentum usw.«, II. Buch, 3. Kap. [Zurück zum Text]
11. »Tendenz, d.h. ein Gesetz, dessen absolute Durchführung durch gegenwirkende Umstände aufgehalten, verlangsamt, abgeschwächt wird.« (Marx, Kapital, III, 1, p. 215.) [Zurück zum Text]
12. Vgl. das treffliche Werk von Peter Kropotkin: »Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung«, deutsch v. Gustav Landauer. Leipzig 1904. [Zurück zum Text]
13. Die Siedlungsgenossenschaft usw. Berlin 1896. Großgrundeigentum und soziale Frage. Berlin 1898. [Zurück zum Text]
14. Vgl. mein »Bevölkerungsgesetz des T. R. Malthus. Darstellung und Kritik«. Berlin-Bern 1901. [Zurück zum Text]
15. Vgl. mein »Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre. Darstellung und Kritik«. Berlin 1903. [Zurück zum Text]
16. Vgl. mein »Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre«. IV. Teil, namentlich im 12. Kapitel »Die Tendenz der kapitalistischen Entwicklung«, p. 128 ff. [Zurück zum Text]
17. Heute, wo ich die Korrektur der neuen Auflage von 1929 lese, ist diese, zuerst 1896 gedruckte Prophezeiung fast vollkommen verwirklicht. Das russische Großgrundeigentum ist völlig verschwunden, in Rumänien, Polen, Südslawien, der Tschechoslowakei ist es gewaltig zurückgeschnitten worden, in Deutschland ist die Krise eingetreten, die das verarmte Preußen dieses Mal nicht mehr beschwören könnte, selbst wenn es wollte. [Zurück zum Text]
18. Vgl. mein »Großgrundeigentum und soziale Frage«, Berlin 1898, I. Buch, 2. Kap., 3. Abschn.: Physiologie des sozialen Körpers, p. 57 ff. [Zurück zum Text]
19. Siehe mein »Großgrundeigentum«, II. Buch, 2. Kap., 3. Abschn., p. 322 ff. [Zurück zum Text]
20. Großgrundeigentum, II. Buch, 3. Kap., 4. Abschn., namentlich p. 423 ff. [Zurück zum Text]
21. Vgl. meinen Aufsatz »Die Utopie als Tatsache«. Zeitschrift f. Soz.-Wissensch. II (1899), p. 19O ff. Neu abgedruckt in der Sammlung meiner Reden und Aufsätze: »Wege zur Gemeinschaft«, Jena 1924. [Zurück zum Text]
22. Meine »Siedlungsgenossenschaft«, p. 477 ff. [Zurück zum Text]
23. Vgl. André Siegfried, »La démocratie en Nouvelle-Zélande«, Paris 1904. [Zurück zum Text]
24. Das sagt niemand anderes als Karl Marx selbst, und zwar im letzten (25.) Kapitel des ersten Bandes seines »Kapital«, dessen sorgfältiges Studium allen Marxisten, namentlich den Führern der russischen Sowjets, nicht dringend genug empfohlen werden kann. [Zurück zum Text]

ENDE