In Rußland hatte die bolschewistische Partei nach dem Sturz der Kerenski-Regierung im November 1917 die Macht ergriffen und übte diese im Namen der Arbeiterklasse aus. Die Partei schaltete selbstherrlich ehemalige Weggefährten wie die Anarchisten und linke Kommunisten aus, die Gewerkschaften wurden verstaatlicht und die Initiative aus den Betrieben wurde ausgeschaltet. Die Räte wurden entweder abgeschafft (wie z.B. die So-wjets im Volkskommissariat des Post- und Telegrafendienstes - per Dekret bereits am 9. November 1917 auf-gelöst - und der ebenfalls per Dekret am 28.November 1917 aufgelöste Sowjet der Seeschiffahrt) oder so weit entmachtet, daß sie keinen realen Einfluß mehr hatten und eher Scheinparlamenten glichen. Über die Entmachtung der Sowjets und die Haltung die Politik der Bolschewiki 1917-1921 ist M. Brintons "Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle. Der Staat und die Konterrevolution" ein gutes Buch. Aber schon einige Monate nach der Oktoberrevolution gab es selbst in den Reihen der Kommunistischen Partei Kritik an der allgemeinen Politik, die allerdings unterdrückt wurde (erinnert sei an die Linkskommunisten um die Zeitung "Kommunist"; schon 1918, also drei Jahre vor dem Fraktionsverbot von 1921 wurden diese aufgefordert ihre "separatistischen organisatorischen Tendenzen" aufzugeben). In Deutschland hatte sich 1920 z.B. von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) abgespalten, die immerhin mit rund 38.000 Mitgliedern fast die Hälfte der alten KPD ausmachte. Kritik an der Politik der Kommunistischen Internationale und der Bolschewiki in Rußland gab es in mehreren Ländern (u.a. Bulgarien, Großbritannien, Holland oder Ungarn), was die internationale Dimension verdeutlicht. In Rußland existierte Anfang 1921 die Gruppe "Arbeiteropposition" und es gab Streiks und Unruhen im ganzen Land (z.B. Bauernaufstände in Sibirien, im Gouvernement Tambov, in den zentralen Gouvernements, in der Ukraine und anderen Provinzen im Winter 1920/21 und Gerüchte über Arbeiterunruhen in Moskau). Eine russische Gewerkschaftszeitung namens Voprocy Truda berichtet in ihrer Ausgabe Nr. 7/8 (1924), daß es 1921 477 Streiks gegeben habe, an denen rund 184.000 Streikende teilnahmen.
Kronstadt selbst war eine befestigte Insel, die - vor Petrograd gelegen -
zum Schutz der Hauptstadt gedacht war und deren Befestigungsanlagen
dementsprechend zur Land abgewandten Seite ausgerichtet waren. Die
Bevölke-rung Kronstadts umfaßte ungefähr 50.000 Menschen,
darunter befanden sich die Mannschaften der baltischen Flotte, Soldaten der
Garnisonen, einige Tausend Werftarbeiter, Offiziere, Beamte, Handwerker,
Angestellte und deren Angehörige. Die Kronstädter waren stets an
der Spitze der revolutionären Bewegung. Das beweisen Meu-tereien und
Revolten der Kronstädter gegen den Zaren (z.B. im Juli 1906) und
später dann gegen die Regierung unter Kerenski als sie die Kommune von
Kronstadt ausriefen. Es war der Kronstädter Panzerkreuzer "Aurora",
der das Signal zum Anfang der Oktoberrevolution gab und es waren ebenfalls
die Kronstädter Matrosen, die das Telegrafenamt, die Staatsbank und
weitere strategische Punkte der Hauptstadt besetzten. All dies hatte Trotzki
dazu veranlaßt zu schreiben: "Die Matrosen von Kronstadt sind der Stolz
und Ruhm der russischen Revolution." Und Matrosen galten schlechthin als
die fortgeschrittensten Elemente der Gesellschaft, da sie sich zumeist aus
der Arbeiterklasse rekrutierten und meist auch schon vor 1917 Kontakt zu
revolutionären Gruppen unterhielten.
In ganz Rußland brodelte es und der Unmut über die soziale Lage
und Willkürherrschaft der Bolschewiki wuchs. Viele hatten erwartet,
daß nach der Beendigung des Bürgerkrieges (dieser war am 14. November
1920 geendet) die Einschränkungen (z.B. die politischen Rechte betreffend)
aus der Kriegszeit abgeschafft und die wirtschaftli-che Versorgung verbessert
würden. Aber die alte Politik wurde fortgesetzt. Jeder Arbeiter konnte
beim Versuch, seine Rechte zu verteidigen von jedem beliebigen Parteimitglied
als "konterrevolutionär" diskriminiert werden. Und die Macht geriet
immer mehr in die Hände von Karrieristen, so daß ein Proletarier
ohne Parteibuch bald schon geringer geschätzt wurde als ein
Angehöriger des alten Adels mit Parteibuch. Die kommunistische Partei
schien ein größeres Interesse an der politischen Macht als an
der Rettung der Revolution und der Umsetzung ihrer Forderungen zu haben.
Auslöser der Kronstädter Rebellion waren Streiks in Petrograd.
Da sehr viele Angehörige der Kronstädter in Petrograd wohnten und
aufgrund der Nähe hatten die Kronstädter enge Beziehungen zu Petrograd.
Für die Pe-trograder Arbeiter wurde die Versorgungslage immer schlechter,
so daß ihre Rationen um die Hälfte gekürzt wurden. Viele
Fabriken und Werke waren geschlossen worden und viele Familien hungerten.
Versammlungen (die ersten gab es am 22. Februar 1921) in den Betrieben wurden
von der Regierung unterdrückt. Zur gleichen Zeit wurde allerdings bekannt,
daß Parteimitglieder in den Betrieben mit frischem Nachschub an Kleidern
und Schuhen versorgt worden waren. Ebenso wurden ausländischen Kapitalisten
Zugeständnisse gemacht, dem Pro-letariat gegenüber wurden allerdings
keine Zugeständnisse gemacht.
So wuchs der Unmut und es gab am 24. Februar 1921 erste Streiks in den
Patronny-Munitionswerken, den Tru-botschny- und Baltiyskiwerken und der Fabrik
Laferne. Die "Arbeiter- und Bauernregierung" setzte ein Vertei-digungskomitee
ein und beantworte die Demonstrationen der Arbeiter mit einem großen
Militäraufgebot, das die Arbeiter zerstreute, ähnlich wie der Zar
die Forderungen der Arbeiter oft genug beantwortet hatte. Allerdings weigerte
sich ein beträchtlicher Teil der Petrograder Garnison auf ihre
Klassenbrüder zu schießen und wurde deswegen entwaffnet. Aus
Empörung über ihre Behandlung nahmen die Arbeiter am nächsten
Tag Kontakt zu den Arbeitern anderer Betriebe auf. Die erneuten Versuche
Demonstrationen durch die Straßen Petrograds durchzuführen, wurden
erneut durch bewaffnete Soldaten unterdrückt. Am 26. Februar wurde die
Streikbewe-gung während der Sitzung des Petrograder Sowjet von Rednern
angegriffen und die Arbeiter der Trubotschny-Werke "selbstsüchtige
Arbeitsschinder" und "Gegenrevolutionäre" genannt, die andere zur
Unzufriedenheit aufhetzen würden. Die Arbeiter der Trubotschny-Werke
wurden ausgesperrt, die Fabrik geschlossen und somit war die Belegschaft
ihrer Lebensmittelrationen beraubt, was dem Hungertod gleichkam. Und das
von einer Regierung, die im Namen der Arbeiterklasse herrschte.
Dies führte zu noch mehr Verbitterung und Feindschaft der Arbeiter gegen
die Partei der Bolschewiki und es tauchten erste Proklamationen in den
Straßen Petrograds auf. Dort hieß es u.a. in einer am 27. Februar
verkleb-ten: " Eine vollständige Änderung der Regierungspolitik
ist notwendig. Zu allererst brauchen die Arbeiter und Bauern Freiheit. Sie
wollen nicht nach den Dekreten der Bolschewiki leben, sie wollen selbst
über sich verfügen. Genossen, bewahrt revolutionäre Ordnung!
Verlangt entschieden und auf organisierte Weise: Freilassung aller verhafteten
Sozialisten und parteilosen Arbeiter. Abschaffung des Kriegsrechts; Rede-,
Presse- und Versamm-lungsfreiheit für alle Arbeitenden. Freie Wahl von
Werkstatt- und Fabrikkomitees und von Arbeitergesellschafts- und
Sowjetvertretern."
Die Regierung antwortete auf diese Forderungen der Petrograder Arbeiter mit
Verhaftungen und Repression gegen mehrere Arbeiterorganisationen. Petrograd
wurde am 28. Februar unter "außerordentliches Kriegsrecht" gestellt
und der "Ausnahmezustand" verhängt. Große Mengen an Militär,
vor allem regierungstreue und zuver-lässige Truppen, wurden nach Petrograd
von der Front abkommandiert und wurden zur Einschüchterung der Arbeiter
eingesetzt.
Nach Bekanntwerden der Streiks in Kronstadt hatten die Matrosen von Kronstadt
eine Delegation nach Petro-grad geschickt, um sich aus erster Hand über
die dortige Lage zu informieren. Aufgrund der Schilderung der Delegation
verfaßten und verabschiedeten die Besatzungen der Panzerschiffe
"Petropawlowsk" und "Sebasto-pol" eine Protrestresolution, in der sie sich
mit den Forderungen der streikenden Petrograder Arbeiter solidari-sierten.
Von der bolschewistischen Parteipresse wurde behauptet, die Resolution atme
den Geist der reaktionären Schwarzhunderter (wie reaktionär bitte
sind Forderungen nach Freiheit aller politischen Gefangenen der soziali-stischen
Parteien und Arbeiter, Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter, Bauern,
Anarchisten und andere Linke, Abschaffung der Bevormundung durch die Partei,
Neuwahlen zu freien Sowjets ohne Vorherrschaft irgendwel-cher Parteien, etc.).
Am 1. März wurde eine öffentliche Versammlung einberufen, um über
den Bericht der De-legation zu beraten. An dieser Versammlung nahmen über
16.000 Kronstädter teil. Zu dieser Versammlung waren auch der
Präsident der Russischen Sozialistischen Föderativrepublik, Kalinin,
und der Kommissar der Ostseeflotte, Kusmin, teil und sprachen zur Versammlung.
Die Delegation erstattete Bericht über die Ereignisse und Lage in Kronstadt.
Die Reden der Parteioffiziellen machte keinen Eindruck auf die Versammelten
und die Petropawlowsk-Resolution wurde einstimmig angenom-men. Es wurde auch
beschlossen, erneut Delegierte nach Petrograd zu schicken und die Petrograder
aufzufor-dern, parteilose Delegierte nach Kronstadt zu entsenden. Die Delegation,
die nach Petrograd abreiste, wurde verhaftet und über ihr weiteres Schicksal
ist bis heute nichts bekannt.
Was in der Resolution gefordert worden war, war nicht mehr und nicht weniger
als die Rückkehr bzw. die Ver-wirklichung der ursprünglichen Ziele
der Revolution.
Wie es sich für einen "Arbeiterstaat" halt so gehört, wurden die
Forderungen der Arbeiter mit Repressionen beantwortet und statt in einen
gemeinsamen Dialog einzutreten, bot die Regierung die Armee auf und ließ
die protestierenden Arbeiter auseinanderschießen. Es zeigte sich ganz
deutlich, daß die Partei keine anderen Argu-mente außer die der
Waffen hatte. Die Resolution der Kronstädter fand u.a. Anklang in der
Marinefliegerdivision in Oranienbaum. Daraufhin wurde diese Division von
der Tscheka verhaftet und 45 von ihnen wurden am 3. März in einem Wald
hinter Martyschkino gebracht und erschossen. Und das obwohl in Kronstadt
kein einziger Tropfen Blut geflossen war und das dort am 2. März aufgrund
der Brisanz der Lage gegründete "Provisorische Revolutionskomitee" sehr
darum bekümmert war, daß "kein Blut vergossen wird".
Die bolschewistische Regierung zog weitere Truppen zusammen und zeigte, wie
sie vorhatte das Kronstädter "Problem" zu lösen, nämlich mit
militärischer Gewalt (also in guter alter konterrevolutionärer
Tradition). Fami-lienangehörige der Kronstädter (Sippenhaft!) wurden
in Petrograd als Geiseln für den inhaftierten Kusmin und einige andere
inhaftierte Bolschewiki genommen. Über ihr Schicksal ist bis heute nichts
bekannt. Die in Kron-stadt inhaftierten Bolschewiki dagegen hatten sogar
im Gefängnis die Möglichkeit eigene Wandzeitungen zu erstellen.
Auch das Fort Krasnaja Gorka wurde von Tscheka-Einheiten blutig niedergemacht.
Abends gab es eine Sitzung des von den Bolschewiki dominierten Petrograder
Sowjets. "Die Vertreter der Ge-werkschaften und die Betriebsräte saßen
meist auf der Galerie; die Kommunisten hatten das ganze Parkett be-setzt",
weiß Alexander Berkman zu berichten. Von normalen Arbeitern ganz zu
schweigen! Dennoch gelang es einem Delegierten der streikenden Textilarbeiter
das Wort zu ergreifen und er richtete seine Rede an Sinowjew, den Parteioberen
von Petrograd: "Deine grausame Gleichgültigkeit und die deiner Partei
haben uns zum Streik getrieben und die Sympathie unserer Matrosenbrüder
geweckt, die Seite an Seite in der Revolution mit uns ge-kämpft haben.
Sie haben sich keines Verbrechens schuldig gemacht und das wißt ihr
sehr gut. Ihr verleumdet sie absichtlich und fordert ihre Vernichtung!"
Am 3. März erließ das Petrograder "Verteidigungskomitee" eine
Order, die mit folgenden bezeichnenden Wor-ten schloß: "Bei Ansammlungen
auf den Straßen sollen die Truppen von der Waffe Gebrauch machen. Bei
Wi-derstand erfolgt standrechtliche Erschießung."
Die Parteiführung ging am 5. März auf einige der Forderungen der
Streikenden ein und so gelang es ihr den Streik größtenteils zu
beenden. Die sofortige Ausgabe von Lebensmitteln, repressive Maßnahmen
und die orga-nisierte Desorientierung sorgen für die Ruhigstellung des
Großteils der Massen, wenn auch die Arbeiter der Arsenal-Betriebe am
7. März noch eine Versammlung hatten, welche die Resolution der
Kronstädter annahm und den Generalstreik forderte.
Trotzki hatte sich nach Petrograd begeben und ein Ultimatum an die
Kronstädter gerichtet: "Die Regierung der Arbeiter und Bauern ist
entschlossen, Kronstadt und die Schiffe unverzüglich wieder unter die
Verfügungsge-walt der Räterepublik zu stellen ... Nur wer sich
bedingungslos ergibt, kann auf die Gnade der Sowjetrepublik hoffen ...".
Falls sie diesem nicht nachkommen sollten, so hatte Trotzki gedroht, würde
er sie wie Rebhühner abknallen lassen.
Kronstadt setzte seine ganze Hoffnung nicht auf seine militärischen
Fähigkeiten, sondern auf die Solidarität der Arbeiterklasse.
Militärisch konnten sie nicht gewinnen, politisch waren sie allerdings
isoliert und diskreditiert durch die Bolschewiki und ihre Rote Armee. Als
Vertreter der Dritten Revolution, die nach der Februar- und der Oktoberrevolution
nun endlich den Sozialismus verwirklichen wollten, waren sie stolz von sich
sagen zu kön-nen: "Wir wollten kein Bruderblut vergießen und gaben
keinen einzigen Schuß ab, bis man uns dazu zwang."
Die Bolschewiki hingegen begannen ihren Sturm auf Kronstadt am 7. März.
Es folgten tagelange Beschüsse und Bombardierungen. Die Bolschewiki
zogen immer neue Einheiten zusammen, die entweder aus entlegenen Ge-genden
stammten oder sehr zuverlässig (Kadetten, Tschekisten) waren. Im
Rücken der Regierungstruppen stan-den die Einheiten der Tscheka, die
Fahnenflüchtige erschossen. Viele Bataillone weigerten sich auf die
Kron-städter zu schießen und von etlichen Kompanien und Regimentern
kehrten nur die Offiziere zurück, während die restliche Kompanie
zu den Rebellen überliefen. Einige Augenzeugen berichteten, daß
einige Verbände beim Vorrücken schon die Hälfte ihrer Männer
verloren hatten, ehe sie überhaupt in das feindliche Schußfeld
ge-langten. Über eine Woche dauerte die Angriffswelle, bis es am 16.
März 1921 der Roten Armee gelang in die Stadt Kronstadt einzudringen.
Dort leistete die Bevölkerung allerdings noch 2 Tage lang Widerstand,
so daß der Großteil der Aufständischen nach Finnland fliehen
konnte. 8.000 Personen, Matrosen und die aktivsten Zivili-sten flohen.
Nach dem Aufstand von Kronstadt wurde die Flotte radikal neu organisiert.
Viele Mitglieder der Baltischen Flotte wurden an das Kaspische Meer oder
auf Marinestützpunkte in Sibirien verlegt. Rund 15.000 Matrosen wurden
entlassen, die entweder "leicht ersetzbar" oder "politisch völlig untragbar"
waren. Nach der materiellen Vernichtung Kronstadts wurde somit auch noch
sein Geist in der Flotte vernichtet. In Kronstadt wurde kein neuer Sowjet
eingesetzt, stattdessen wurden dessen Aufgaben an die Abteilung für
Politik und Zivilwesen beim Sekretariat des Festungsadjudanten übertragen.
Den Geist der Unabhängigkeit der Kronstädter und ihre Aktivität
konnte die Partei nicht dulden, da sie ihrer nicht bedurfte und im Gegenteil
diese sogar noch wagte abzulehnen und zu hinterfragen.
Um gegen den ehemaligen "Stolz und Ruhm der russischen Revolution" angreifen
zu können, bedurfte es der Verleumdung und Diskreditierung der allgemein
anerkannten und geschätzten ehemaligen Vorkämpfer der Re-volution.
Da die Kronstädter legitime Forderungen aufstellten und die Bolschewiki
schlichtweg ihre Macht si-chern mußten, wurde so manche Legende vor
und nach der Niederringung Kronstadts erfunden, um das Handeln der Bolschewiki
zu rechtfertigen und die Tatsachen zu verschleiern. Auch heute ranken sich
noch jede Menge Legenden um diese russische Festungsstadt.
Die Forderungen der Kronstädter seien "konterrevolutionär", sie
selbst hätten sich von der Revolution abge-wandt ist eines der
Hauptargumente und ebenso eine der Hauptlegenden. Im Gegenteil hielten gerade
sie an den Zielen der Oktoberrevolution fest - im Gegensatz zu der neuen
staatstragenden Partei der Bolschewiki. "Das Kronstadt von 1921 stand in
der ungebrochenen Tradition von 1917", schrieb Ida Mett ganz richtig.
Argumentie-ren tun einige Stalinisten und Trotzkisten gemäß Trotzkis
Theorie, nach der Kronstadt damals seine besten Ele-mente schon verloren
haben soll. Die Zusammensetzung der Flotte sei durch die Rekrutierung von
Bauern, die leicht durch konterrevolutionäre Ideen beeinflußbar
gewesen seien, verändert worden. (Wer allerdings hat auf die Rekrutierung
der Flotte Einfluß gehabt?) Doch diese Theorie ist anhand von Fakten
nicht aufrechtzuerhalten. So belegt eine Forschung von Evan Mawdsley und
Israel Getzler, daß ¾ der Kronstädter Matrosen von 1921 auch
bereits seit Beginn des 1. Weltkrieges in der Flotte befindlich waren und
daß 90 % der Matrosen der beiden Hauptschiffe bereits vor 1918 rekrutiert
worden sind. Überdies war Kronstadt nicht weniger oder mehr erschöpft
als das ganze Land, das sich mühsam vom Bürgerkrieg erholen
mußte. Wie die Kronstädter Matrosen so hatte auch die Partei der
Bolschewiki wertvolle Kräfte eingebüßt, was sie allerdings
nicht an der Ausübung ihrer ab-soluten Herrschaft über das Land
und das Proletariat hinderte. Die Zusammensetzung sagt natürlich nichts
über die Entwicklung des Bewußtseins aus. Das tun hingegen die
Radiosendungen und das Verhalten der Kronstädter sowie die Artikel in
der Kronstädter Iswestija. Komisch auch, daß die Kronstädter
erst zu "Konterrevolutionä-ren" wurden als die konterrevolutionäre
Gefahr von außen in Form des Bürgerkrieges zu Ende war. Eine
Konter-revolution hätte doch viel mehr Aussicht auf Erfolg beim Kampf
an allen Fronten gehabt, oder etwa nicht?
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Kronstädter
konsequent jede Unterstützung der Reakti-on, der jedes Mittel gegen
die Ansätze von Sozialismus, die noch vorhanden waren, Recht war, mit
Verachtung zurückwies und entschieden ablehnte.
Bezeichnend ist ebenso, daß die Kronstädter von Kerenski am 7.
Juli 1917 nach der Niederlage des Juli-Aufstandes in ähnlicher Weise
verleumdet wurden wie später von den Bolschewiki. So schickte Kerenski
1917 eine Depesche an den Sowjet von Kronstadt, in der es wie folgt hieß:
"Seit dem Beginn der Revolution sind in Kronstadt und auf einigen Kriegsschiffen
unter dem Einfluß deutscher Agenten stehende Personen aufgetreten,
die zu Handlungen auffordern, welche die Revolution und die Sicherheit des
Vaterlandes gefährden. (...) Falls die Bevölkerung von Kronstadt
und die Mannschaften der genannten Schiffe meinem Befehl nicht nachkommen,
werden sie als Hochverräter an Revolution und Vaterland betrachtet und
behandelt werden, und die Regierung wird mit härtesten Mitteln gegen
sie einschreiten." In einem von "Radio Moskau" verbreiteten "Aufruf zum Kampf
gegen das Komplott der "Weißen Garde" hieß es 1921: "Die Meuterei
General Koslowskijs und des Kriegsschiffs Petropawlowsk ist ebenso wie andere
Aufstände der Weißen Garde das Werk von Agenten der Entente ...
Es liegt auf der Hand, daß der Aufstand in Kronstadt von Paris aus
gesteuert wird ... , daß die franzö-sische Gegenspionage ihre
Hände im Spiel hat." Wie sich doch die Worte und Vorwürfe gleichen.
Es ist beide Male die Sprache der Unterdrücker und die Sorge um die
Macht, die aus diesen Worten der Verleumdung spre-chen. Dazu kommt noch ein
gewisser Appell an nationalistische Gefühle.
Eine andere Lüge ist die, daß die Kronstädter alles nur
Anarchisten gewesen seien. Die anarchistischen Organi-sationen, die es trotz
der Repression noch gab, reagierten nur und waren zu diesem Zeitpunkt meist
schon zer-schlagen und viele Anarchisten saßen in den Gefängnissen.
Bereits im April 1918 war es zu Übergriffen bewaff-neter Einheiten der
Tscheka gekommen, die anarchistische Versammlungslokale in Moskau stürmte
und dabei 40 Anarchisten tötete bzw. verletzte. 500 Anarchisten wurden
gefangengenommen. Auch bereits im Mai 1918 waren führende anarchistische
Zeitungen wie Burewestnik, Anarchia, Golos Truda u.a. aufgelöst worden.
Das heißt nicht, daß es unter den Kronstädtern nicht auch
Revolutionäre gab, die vom Anarchismus beeinflußt waren.
Als eines der Hauptargumente wird angeführt, daß angeblich die
ganze weißgardistische Presse mit Kronstadt sympathisierte. Als wenn
dies ein Beweis für die konterrevolutionären Charakter der
Kronstädter Forderungen und Handlungen wäre. Rocker schrieb hierzu
einmal richtig in seinem Buch "Der Bankrott des russischen Staats-Kommunismus":
"In Wahrheit beweist dieses Argument gar nichts. Es ist eine alte Erfahrung,
daß die Reaktio-näre aller Schattierungen bisher stets versucht
haben, an jedem Feuer ihre Suppe zu kochen."
Es heißt u.a. auch, daß schon 2 Wochen vor Beginn der
Kronstädter Rebellion in der französischen Zeitung "Le Matin" Berichte
über angebliche Meutereien gewesen seien. Daraus zimmerten dann die
Bolschewiki die Ver-strickung und Organisierung der Rebellion durch "Agenten
der Entente". Daß aber bereits am 15. Februar 1921 auf der "2. Konferenz
kommunistischer Matrosen der Baltischen Flotte" Kritik an der Abgehobenheit
und Will-kürherrschaft der Bolschewiki geäußert worden war,
erfährt man nicht von eben diesen Verschwörungstheoreti-kern. In
einer Resolution dieser Konferenz wird u.a. angemerkt, daß in der Zeit
von Juni bis November 1920 "20 % der kommunistischen Matrosen die
Parteimitgliedschaft aufgegeben" hätten. Nach Aufzeichnungen des Kommissars
von Petrograd verließen allein im Januar 1921 5.000 Matrosen die Partei.
Alles organisiert von Paris oder doch ein Anzeichen für tief sitzende
Verbitterung und Enttäuschung? Eben dort heißt es auch: "Das
politische Department der Flotte hat jeden Kontakt mit den Massen und sogar
mit den politischen Arbeitern verloren ... Es hat alle lokalen Initiativen
erstickt und die gesamte politische Arbeit auf die Ebene von
Bürokor-respondenz reduziert."
1937 hat Trotzki eine weitere Lüge in die Welt gesetzt. Damals schrieb
er: "... das Land litt Hunger, aber die Matrosen Kronstadts forderten
Privilegien. Ihr Aufstand erwuchs aus der Forderung nach Vorzugs-Rationen."
Ganz im Gegensatz waren es gerade die Kronstädter, die den Abbau jeglicher
Privilegien forderten. Gerade in Kronstadt galt der Grundsatz "Gleiche Rechte
für alle und eines Vorrechts für niemand". Die Lebensmittelratio-nen
wurden gleichgemacht. Es stimmten sogar die Matrosen hierfür, obwohl
sie unter der Herrschaft der Bol-schewiki stets größere Rationen
als die Arbeiter erhalten hatten. Besondere Rationen kamen Spitälern
und Kin-derheimen zugute. Im Gegensatz dazu stand die Vetternwirtschaft der
Bolschewiki. Es heißt sogar, daß es da-mals bereits spezielle
- geheime - Geschäfte für bolschewistische Funktionäre gab.
Lenin, Trotzki und Konsorten redeten stets von der Meuterei der weißen
Generäle. Dieses Gerede, das jeder Tatsache widerspricht, soll aber
auch davon ablenken, daß 1. der einzige ehemalige weiße General
in Kronstadt, General Koslowskij, von Trotzki eingesetzt wurde und daß
2. auf beiden Seiten Militärspezialisten des alten Regime vorhanden
waren (so hatte Trotzki als Kriegskommissar im Verlauf des Bürgerkrieges
an die 50.000 Offiziere der zaristischen Armee zum Dienst in der Roten Armee
herangezogen!). Dazu verlieren die Herren Bolschewiki natürlich kein
Wort. Und auch in den Betrieben stützten sich die Bolschewiki auf die
alten Eliten statt auf Arbeiterkontrolle, geschweigedenn Arbeiterselbstverwaltung
(so standen 1920 von 2051 erfaßbaren Betrieben 1783 unter
Ein-Mann-Management; in den mächtigen Volkswirtschaftsräten lag
der Anteil der Arbei-ter und Vertreter von Arbeiterorganisationen bei gerade
mal 43 %). Zufälligerweise wurde Koslowskij zum "Weißgardisten",
als er nicht mehr auf der Seite der Bolschewiki stand.
Es heißt, die Kronstädter wären ein Sicherheitsrisiko für
Petrograd gewesen. Sie hätten Petrograd beschießen können
bzw. wollen. Dem muß widersprochen werden, weil die Geschütze
fast alle zur Meeresseite ausgerichtet waren und ihre Reichweite bei etwa
10 km lag. Petrograd ist allerdings weiter entfernt. Im Gegenteil bombar-dierten
die Bolschewiki Kronstadt und beschossen es von den Festungen aus.
Die Kronstädter hätten die Konstituante gefordert ist auch oft
zu hören. Dies war allerdings nie der Fall. "Kron-stadt verlangt nicht
den freien Handel, sondern die wahre Macht der Räte!" So stand es in
der Kronstädter "Ist-westija" vom 14. März. Lenin war es, der
Rußland wieder dem ausländischen Kapital durch die NÖP
öffnete. Im Gegenteil waren es Lenin und Trotzki , die 1917 darüber
nachgedacht hatten, die Wahlen zur Konstituante auf-zuschieben. Eine weitere
Lüge ist es, daß die Kronstädter "Sowjets ohne Kommunisten!"
gefordert hätten. Ihre Forderung war stets die nach Sowjets ohne Parteien
bzw. ohne Vorherrschaft einer Partei.
Der Anarchosyndikalist Volin traf im April 1917 in Paris mit Trotzki zusammen.
"Im April 1917 traf ich mit Trotzki in Paris in einer Druckerei zusammen,
die vor allem für verschiedene russische Organe der Linke arbei-tete.
(...) Natürlich sprachen wir über die Revolution. Alle beide bereiteten
wir uns vor, in Kürze Frankreich zu verlassen, um uns dorthin'
zu begeben.
Einmal sagte ich zu Trotzki: "Alles erwogen, bin ich völlig sicher,
daß ihr, die Links-Marxisten, schließlich die Macht an euch
reißen werdet. (...) Und dann: Wehe uns Anarchisten! (...) Sobald eure
Herrschaft gefestigt sein wird, werdet ihr uns zu verfolgen beginnen, und
schließlich werdet ihr uns wie Rebhühner abknallen." - "Na, na,
na, Genosse!" erwiderte Trotzki: "Starsinnige und unverbesserliche Phantasten
seid ihr: Was trennt uns denn im Augenblick eigentlich? Eine kleine Frage
der Methode, die völlig nebensächlich ist. Ihr seid genauso wie
wir revolutionär; wir sind genau wie ihr schließlich und endlich
Anarchisten. Nur wollt ihr eure Anarchie sofort ohne Vorbereitung und
Übergang errichten, während wir Marxisten glauben, daß es
nicht möglich ist, mit einem Satz ins libertäre Reich
hinüberzuspringen. (...) Im Grunde sind wir einander sehr nahe; wir
sind Waffenbrüder. (...) Und selbst, wenn wir nicht übereinstimmen,
so übertreibt ihr wirklich, wenn ihr annehmt, wir Sozialisten würden
rohe Gewalt gegen Anarchisten anwenden! (...) Nein, wie könnt ihr nur
einen einzigen Augenblick eine solche Absurdität annehmen!" Aber die
Geschichte sollte Volin Recht geben und das taktische Verhältnis des
Marxi-sten Trotzki zu den Anarchisten nur unterstreichen.
Daß der Charakter der Rebellion von Kronstadt ein ganz anderer war
und ist als uns die Partei der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki weismachen
wollte, liegt nach einem eingehenden Studium der damaligen Ereignisse auf
der Hand.
Sogar eine bolschewistische Zeitung, die Nowij Put aus Riga, mußte
den wirklichen Charakter Kronstadts in ihrer Ausgabe vom 19. März 1921
eingestehen: "Die Matrosen von Kronstadt sind in ihrer Allgemeinheit
Anar-chisten. Sie marschieren nicht rechts, sondern links von den Kommunisten.
In den letzten Radioprogrammen verkünden sie: Es lebe die
Sowjetmacht!' Nicht ein einziges Mal erklärten sie: Es lebe die
Nationalversamm-lung!' Warum empörten sie sich gegen die Sowjetregierung?
Weil diese ihnen nicht genug sowjetisch ist. Sie schrieben dieselbe halb
anarchistische, halb kommunistische Losung auf ihre Fahne, welche die Bolschewiki
selbst vor drei und einem halben Jahre, am Tage nach der Oktober-Revolution
verkündet hatten. In ihrem Kamp-fe gegen die Sowjetregierung gaben die
Insurgenten von Kronstadt verschiedentlich ihren tiefen Haß gegen die
Bourgeois' und alles, was bourgeois ist, kund. Sie erklärten,
daß die Sowjetregierung sich verbürgerlicht hätte, daß
Sinowjew angemästet sei. Wir haben es hier mit einem Aufstand von links
und nicht mit einer Erhebung von rechts zu tun."
Lenin hat zu einem Zeitpunkt, an dem der Aufbau der bolschewistischen
Kronstadtlegende noch kaum begonnen hatte, offen zugegeben, daß er
und seine Partei genau wußten, was die Kronstädter wollten, d.h.
also genau über die wirkliche Stoßrichtung der Kronstädter
Bescheid wußten. So sagte Lenin: " In Kronstadt will man die
Weiß-gardisten nicht, will man unsere Macht nicht - eine andere gibt
es aber nicht." Somit läßt dieses Zitat das ge-samte Handeln der
führenden Bolschewiki in einem ganz anderen Licht erscheinen. Es ging
ihnen also nicht um die Niederschlagung der "Konterrevolution", sondern um
die Sicherung ihrer Macht und die Unterdrückung jeder proletarischen
Kritik an ihr.
Die Kronstädter wurden verurteilt, ohne daß man sich mit ihren
Argumenten auseinandersetzte und sie wider-legte. Man kannte ihre Sache und
ihr Anliegen sehr wohl, was auch ein Ausspruch Lenins und ein Artikel einer
bolschewistischen Zeitung belegen. Nur stellten halt die Kronstädter
und ihre Forderungen die russische Ord-nung und die Rolle der Partei in Frage,
was die Bolschewiki natürlich nicht dulden konnten und folgerichtig
- um ihre Macht und nicht die der Arbeiterklasse besorgt - bekämpften.
Zudem mußte Lenin ohne Zweifel über die Forderungen, Ziele der
Kronstädter und darüber Bescheid wissen, daß es sich nicht
um eine Revolte der Generäle handelte. Denn: Am 2. März hatten
die Kronstädter eine Delegation zu ihm geschickt.
Die historischen Fakten, die vorhandenen Dokumente und die Forderungen der
Kronstädter sprechen für Kron-stadt und das ist, was zählt.
Aufgrund der Fakten kann man Kronstadt als "proletarischen Ausläufer
der russi-schen Revolution" bezeichnen, wie der Rätekommunist Cajo Brendel
es getan hat. So ist die Zahl der an Streiks beteiligten Arbeitern nach 1921
rückläufig, was das Jahr 1921 und Kronstadt in Zusammenhang mit
den Streiks in Petrograd und im ganzen Land als das letzte große
Aufbäumen des Proletariats gegen die bolschewistische
Willkürherrschaft erscheinen läßt. Kronstadt verkörpert
den Grundwiderspruch der russischen Gesellschaft zwi-schen Proletariat und
bürokratischem Apparat, der zur neuen herrschenden Klasse geworden ist
bzw. zu werden strebt.
"Es ist jetzt klar geworden, daß die Russische Kommunistische Partei
nicht der Verteidiger der Arbeitermassen ist, der sie zu sein sich ausgibt.
Die Interessen des arbeitenden Volkes sind ihr fremd. Sie hat die Macht gewon-nen
und fürchtet jetzt nur, sie zu verlieren und hält daher alle Mittel
für erlaubt ..." (aus der Nr. 6 der Kronstäd-ter Istwestija) treffender
kann man die Lage der KP nicht charakterisieren Kronstadt war nicht
militärisch ge-fährlich, wenn auch die Bolschewiki große
Mühe bei der Einnahme des nach dem Landinneren nicht befestigten Kronstadt,
was aber wohl eher an der schlechten Motivation der Truppe lag - aufgefahren
Truppen aus fremden Regionen - Methode der Konterrevolution!!!
Trotzkis Vorwurf gegenüber den Kronstädtern, daß diese "von
ihrer revolutionären Vergangenheit" leben wür-den ist leicht gegen
ihn selbst und seine Partei zu richten, da diese sich - nun in der Position
der Macht - gegen die legitimen Forderungen der Kronstädter wendeten.
Forderungen, unter denen sie 1917 viele Arbeiter und Bauern mobilisiert hatten.
In Wirklichkeit stellten die Forderungen der Kronstädter die Rückkehr
bzw. die Einforderung der Verwirkli-chung der ursprünglichen Ziele der
Revolution dar. Kronstadt war und ist allerdings exemplarisch für die
Politik der Bolschewiki, die jegliche Initiative abtöte und fürchtete
und die Arbeiterklasse durch die Tscheka unterdrük-ken ließ (erinnert
sei z.B. nur an die 60 Arbeiter, die aus dem einfachen Grunde erschossen
wurden, weil sie es gewagt hatten den 8-Stunden-Tag zu fordern - und das
ist keine bürgerliche Greuelpropaganda a la Spiegel, sondern geschichtliche
Realität!). Und es war gerade die lang angestaute Ungeduld der Massen,
die im Kron-städter Aufstand spontan zum Ausdruck kam und nur durch
diese Aktivität der Massen hätte der Sozialismus erreicht werden
können und nicht durch die Errichtung neuer Unterdrückungsapparate
im Namen des "Sozialis-mus". Der Umgang der Bolschewiki mit den
Kronstädtern und die nicht stattfindende Auseinandersetzung mit den
Argumenten und Forderungen der Kronstädter zeigt die Abgehobenheit der
Funktionäre und die Angst vor der Kraft der Argumente. Ein ähnliches
Verhalten läßt sich in Lenins Verhalten gegenüber Kritikern
z.B. im Linken Radikalismus feststellen. Dort verleumdet er, geht aber nicht
wirklich auf Argumente ein, ganz davon zu schweigen, daß er sie durch
Fakten widerlegt.
"Hier in Kronstadt wurde der Grundstein zur dritten Revolution gelegt, die
die letzten Ketten des Arbeiters zer-brechen und ihm den neuen und breiten
Weg des sozialistischen Aufbaus eröffnen wird. Diese neue Revolution
wird die arbeitenden Massen in Ost und West aufrütteln. Sie wird das
Beispiel eines neuen sozialistischen Auf-baues im Gegensatz zum mechanischen
und regierungsmäßigen bolschewistischen "Aufbau" geben. (...)
Die Arbeiter und Bauern gehen unaufhaltsam voran. Sie lassen hinter sich
die Konstituante mit ihrem bürgerlichen Regime und die kommunistische
Parteidiktatur mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus, der die Schlinge
um den Hals der Arbeiter warf und sie zu erwürgen drohte. Die nunmehr
vollzogene Änderung gibt den arbei-tenden Massen endlich die
Möglichkeit, frei gewählte Räte zu verwirklichen, die ohne
gewaltsamen Druck einer Partei funktionieren. Diese Änderung wird ihnen
auch die Möglichkeit geben, die verstaatlichten Gewerkschaf-ten in freie
Organisationen der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen zu verwandeln ..."
(Leitartikel der Kron-städter "Istwestija" vom 8. März 1921)
In Kronstadt kollidierte der Führungs- und Machtanspruch der selbsternannten
"Avantgarde des Proletariats" mit eben diesem. In Kronstadt war dies nicht
das erste Mal, aber die Bedeutung Kronstadts liegt darin, daß die
Kron-städter Rebellen am bewußtesten, deutlichsten und klarsten
ihre Interessen und Kritik am staatsbürokratischen System formulierten.
Und mit den Kronstädtern tat dies der von Trotzki ehemals so
geschätzte "Stolz und Ruhm" der Revolution, den er 1921 wie Fasane abknallen
ließ. Und Kronstadt war das letzte große Aufbäumen des
Proletariats gegen die selbstherrliche Herrschaft der Kommissare und
Bürokarten über das Proletariat und die Bauern. Mit Kronstadt starb
die Russische Revolution endgültig und die Hoffnung auf Sozialismus
wurde im Blut der Kronstädter Freiheitskämpfer ertränkt.
Ähnlich wie mit Kronstadt verhält es sich mit der Machno-Bewegung,
die ein Gebiet befreit hatte, in dem etwa 2 Millionen Menschen ohne die
Herrschaft der Weißgardisten und der Bolschewiki lebten und der nach
eigenen Angaben etwa 200.000 Menschen angehörten. Diesen eigenen Weg
konnten die Bolschewiki ihnen allerdings nicht zugestehen.
Den größten Widerspruch lieferte erneut Trotzki, als er nach dem
Sieg über Kronstadt behauptete: "dasjenige, das die Sowjetregierung
widerwillig in Kronstadt tat, war eine tragische Notwendigkeit". Danach folgt
bei ihm ein Satz, der einen verwundern läßt, da in ihm von "einer
Handvoll reaktionärer Bauern und aufständischer Sol-daten" die
Rede ist. Was denn nun? Seit wann trauert ein Revolutionär um
Reaktionäre? Da war sich der liebe (?) Trotzki wohl selbst nicht so
sicher.
Kronstadt hat auch heute noch Bedeutung. Kronstadt verkörpert die Tradition
des Sozialismus, der weder auf Dekrete noch auf die Macht der Bajonette setzt,
sondern auf die Initiative, Kraft und Kreativität der Arbeiter-klasse
in ihrem Kampf um Befreiung von jeglicher Ausbeutung, Entfremdung und
Unterdrückung. Der Kampf der Kronstädter ist uns Beispiel, aber
auch Mahnung und Warnung. Und der Umgang mit dem historischen Faktum "Kronstadt"
wirft ein bezeichnendes Licht auf die politischen Kräfte heutiger Tage,
läßt uns verstehen, was sie unter Sozialismus verstehen (staatliche
Reglementierung oder Rätedemokratie; Stellvertreterpolitik oder
Selbstorganisation), was sie aus der Geschichte gelernt haben und
läßt dementsprechendes Verhalten auch für die Zukunft erahnen.
RED DEVIL
"Die Partei ist bürokratisch geworden, sie hat nichts gelernt und will
nichts lernen." (aus einem Brief eines Offiziers der Roten Armee)
"Die Arbeiter und Bauern marschieren vorwärts: sie lassen hinter sich
die Konstituie-rende Versammlung mit ihrem Bourgeoisregime und die Diktatur
der Kommunisti-schen Partei mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus,
die um den Hals der Ar-beiter die Schlinge gelegt haben und sie zu Tode zu
würgen drohen." (aus der Nr. 6 der Kronstädter "Istwestija")
"Wie Rebhühner werden wir euch abknallen!" - Die Konterrevolution
marschiert!
"Unsere Sache ist eine gerechte: Wir treten ein für die Macht der Sowjets,
nicht die der Parteien. Wir treten ein für freigewählte Vertreter
der arbeitenden Massen. Die Ersatz-sowjets, die von der Kommunistischen Partei
betrieben werden, blieben immer unseren Bedürfnissen und Forderungen
gegenüber taub; die einzige Antwort, die wir je erhiel-ten, war
schießen ...."
Die Legenden und Lügen der Bolschewiki und die historischen Fakten
Eine Episode am Rande - Trotzki zu Volin: "Wir sind Waffenbrüder"
Der Charakter von Kronstadt
"In Kronstadt will man die Weißgardisten nicht, will man unsere Macht
nicht - eine andere gibt es aber nicht."
"Sie lassen hinter sich die Konstituante mit ihrem bürgerlichen Regime
und die kom-munistische Parteidiktatur mit ihrer Tscheka und ihrem
Staatskapitalismus, der die Schlinge um den Hals der Arbeiter warf und sie
zu erwürgen drohte."
Kronstadts Bedeutung heute
Erschienen in der 1. Ausgabe des rätekommunistischgen Fanzines SOZIALE BEFREIUNG im Januar 2000. Bestelladresse ist: SOZIALE BEFREIUNG, POSTLAGERND, 36433 BAD SALZUNGEN