Neoliberalismus und Globale Weltordnung

Es geht mir im folgenden um die beiden im Titel erwähnten Themen - Neoliberalismus und Globale Weltordnung. Diese Probleme sind von großer menschheitlicher Bedeutung, und sie werden oftmals mißverstanden. Um sinnvoll mit ihnen umgehen zu können, müssen wir zunächst die Theorie von der Wirklichkeit unterscheiden. Dabei entdecken wir oft eine eine beträchtliche Lücke.

Der Ausdruck "Neoliberalismus" unterstellt ein System von Grundsätzen, das neu ist und sich zugleich auf klassische liberale Ideen gründet: als Schutzheiliger wird Adam Srnith verehrt. Das Theoriegebäude des Neoliberalismus ist auch unter dem Namen "Konsens von Washington" bekannt. Bereits daran läßt sich einiges im Hinblick auf die Globale Weltordnung ablesen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß der Verweis auf die Weltordnung ziemlich genau ins Schwarze trifft. Für alles Übrige gilt das jedoch nicht: die Theorien sind keineswegs neu und die Grundannahmen weit von jenen Prinzipien entfernt, die seit der Aufklärung das Lebenselement der liberalen Tradition gebildet haben.

Das Schlagwort "Konsens von Washington" bezieht sich auf die strukturellen Angleichungsprogramme, die von der US-Regierung und den von ihr im großen und ganzen beherrschten internationalen Finanzinstitutionen entworfen wurden. Naturgemäß haben ihre Entscheidungen erstrangigen Einfluß auf die Globale Weltordnung. Einige Fachleute vertreten sogar eine noch stärkere Position. Die internationale Wirtschaftspresse sieht diese Institutionen als Kernstück einer "faktischen Weltregierung", die in einem "neuen Zeitalter des Imperialismus" die Interessen der Transnationalen Unternehmen (TNCs), Banken und Investmentfirmen vertritt.

Ob diese Beschreibung nun zutreffend ist oder nicht, erinnert sie uns auf jeden Fall daran, daß Regierungsinstitutionen keine unabhängigen Handlungsträger sind, sondern die Machtverteilung in der Gesamtgesellschaft widerspiegeln. Das ist spätestens seit Adam Smith ein Gemeinplatz, wies doch bereits er darauf hin, daß die "hauptsächlichen Architekten" der Politik in England "Kaufleute und Manufakturbesitzer" waren, die die Macht des Staates in den Dienst ihrer eigenen Interessen stellten, mochten die Folgen für andere, zu denen auch das englische Volk gehörte, auch noch so "betrüblich" sein. Es ging Smith um den "Wohlstand der Nationen", aber er begriff, daß die Redeweise vom "nationalen Interesse" strenggenornrnen Augenwischerei ist, denn innerhalb der "Nation" existieren äußerst gegensätzliche Interessen, und wenn wir die Politik und ihre Auswirkungen verstehen wollen, müssen wir fragen, wo die Macht liegt und wie sie ausgeübt wird, Das wurde später "Klassenana- lyse" genannt.

Die "hauptsächlichen Architekten" des neoliberalen "Konsenses von Washington" sind die Herren und Meister der Privatwirtschaft, in der Hauptsache riesige Konzerne, die weite Bereiche der internationalen Wirtschaft kontrollieren und über Mittel zur Beherrschung der politischen Willensbildung wie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung verfügen. Aus ersichtlichen Gründen spielen die Vereinigten Staaten in diesem System eine Sonderrolle. Mit den Worten des Diplomatiehistorikers Gerald Haines (der auch ein herausragender Historiker der CIA ist): "Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die USA aus eigenem Interesse die Verantwortung für das Wohlergehen des kapitalistischen Weltsystems." Haines heschäftigt sich mit der von ihm so genannten "Amerikanisierung Brasiliens", doch das ist nur ein Sonderfall. Und seine Worte treffen ins Schwarze.

Schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Vereinigten Staaten Weltwirtschaftsmacht Nummer Eins. Das wurde mit dem Krieg nicht anders: die USA blühten ökonomisch auf, während ihre Konkurrenten stark geschwächt wurden. Die staatlich koordinierte Kriegswirtschaft war schließlich in der Lage, die Große Wirtschaftskrise zu überwinden. Mit Kriegsende besaßen die Vereinigten Staaten den Reichtum der halben Welt und eine in der Geschichte beispiellose Machtposition. Natürlich ging es den hauptsächlichen Architekten der Politik darum, diese Macht auszunutzen, um ein ihren Interessen angemessenes globales System zu entwerfen.

Hochrangige Dokumente sehen die hauptsächliche Bedrohung dieser Interessen, vor allem im Hinblick auf Lateinamerika, in "radikalen und nationalistischen Regierungen", die bereit sind, dem Druck der Straße nachzugeben, der die "schnelle Anhebung des niedrigen Lebensstandards der Massen" und Entwicklungshilfe für die eigenen Bedürfnisse anstrebt. Solche Forderungen stehen im Konflikt mit dem Verlangen nach "einem politischen und wirtschaftlichen Klima, das privaten Investitionen förderlich ist" sowie den angemessenen Rückfluß der Profite und die "Sicherung unserer Rohstoffe" garantiert - die natürlich auch dann "uns" gehören, wenn sie sich in anderen Ländern befinden. Aus diesen Gründen hat George Kennan, der einflußreiche Chef des außenpolitischen Planungsstabes bereits 1948 dazu geraten, daß wir "aufhören sollten, über verschwommene und unrealistische Ziele wie Menschenrechte, Anhebung des Lebensstandards und Demokratisierung zu reden", sondern "frei von idealistischen Phrasen" über "Altruismus und Weltbeglückung" mit "eindeutigen Machtkonzeptionen arbeiten" müssen - wobei die idealistischen Phrasen für den öffentlichen Diskurs natürlich schön, ja faktisch sogar unerläßlich sind.

"Radikaler Nationalismus" kann schon als solcher nicht geduldet werden, ist aber zugleich auch eine umfassendere "Bedrohung der Stabilität". Dies ist ebenfalls ein Ausdruck mit einer besonderen Bedeutung. Als Washington 1954 daranging, Guatemalas erste demokratische Regierung zu stürzen, wies ein Regierungsbeamter des Außenministeriums darauf hin, daß Guatemala "zu einer zunehmenden Bedrohung für die Stabilität von Honduras und El Salvador geworden ist. Seine Agrarreform ist eine wirksame Propagandawaffe; sein um- umfangreiches Sozialprogramm, das die Arbeiter und Bauern in einem siegreichen Kampf gegen die oberen Klassen und ausländischen Unternehmen unterstützt, besitzt starke Anziehungskraft auf die Bevölkerungen der mittelamerikanischen Nachbarländer, wo ähnliche Bedingungen herrschen". "Stabilität" bedeutet Sicherheit für die "oberen Klassen und ausländischen Unternehmen", deren Wohlstand erhalten werden muß.

Angesichts solcher Gefahren für "den Wohlstand des kapitalistischen Weltsystems" sind Terror und Subversion zur Wiederherstellung der "Stabilität" gerechtfertigt. Eine der ersten Aufgaben der CIA bestand in der Teilnahme am großangelegten Versuch, 1948 die Demokratie in Italien zu unterminieren, als befürchtet werden mußte, daß die Wahlen ein unerwünschtes Ergebnis zeitigen würden. Sollte die Subversion fehlschlagen, war eine direkte militärische Intervention geplant. Diese Pläne wurden als Bemühungen beschrieben, "Italien zu stabilisieren". Ja es ist sogar möglich, zu "destabilisieren", um "Stabilität" zu erreichen. So erklärte der Herausgeber der quasi-amtlichen Zeitschrift Foreign Affairs, daß Washington "eine frei gewählte marxistische Regierung in Chile destabilisieren mußte", weil "wir entschlossen waren, Stabilität anzustreben". Mit der richtigen Bildung kann man den offensichtlichen Widerspruch überwinden.

Nationalistische Regierungen, die die "Stabilität" bedrohen, werden "Viren" genannt, die andere Länder "infizieren" können. Das Italien von 1948 ist ein Beispiel. 25 Jahre später beschrieb Henry Kissinger Chile als einen "Virus", der in bezug auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung falsche Botschaften aussenden und andere Länder infizieren könnte. Selbst Italien, nach Jahren umfangreicher CIA-Programme für die Unterminierung seiner Demokratie immer noch nicht "stabil", war in Gefahr, infiziert zu werden. Viren müssen vernichtet und andere Länder vor der Ansteckung bewahrt werden: für beide Aufgaben ist oftmals die Gewalt das geeignetste Mittel; sie zieht eine grauenhafte Spur von Massakern, Terror, Folter und Verwüstung.

Die außenpolitischen Geheimpläne, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entworfen wurden, wiesen jedem Teil der Welt seine besondere Rolle zu. So bestand die "Hauptaufgabe" Südostasiens darin, Rohstoffe für die Industriemächte zu liefern. Europa sollte Afrika "ausbeuten", um die Kriegsfolgen zu überwinden. Und so weiter, Erdteil für Erdteil.

Im Hinblick auf Lateinamerika verfolgte Washington das Ziel, die Monroe-Doktrin durchzusetzen, aber auch hier wieder in einem besonderen Sinn. Präsident Wilson, berühmt wegen seines Idealismus und seiner hohen moralischen Prinzipien, gab insgeheim zu, daß "die Vereinigten Staaten mit dem Eintreten für die Monroe-Doktrin ihre eigenen Interessen im Auge haben". Die Interessen der lateinamerikanischen Länder sind lediglich "Nebensache", berühren uns nicht weiter. Wilson gab zu, daß dies "einzig auf Eigennutz zu beruhen scheint", bestand aber darauf, daß die Doktrin "keinen höheren oder edleren Beweggrund" besitze. Die Vereinigten Staaten vertrieben ihre traditionellen Konkurrenten, England und Frankreich, und errichteten ein unter ihrer Kontrolle stehendes regionales Bündnis, das aus dem Weltsystem, in dem solche Übereinkünfte verboten waren, ausgegliedert wurde. Diese Ziele wurden für so wichtig erachtet, daß die Vereinigten Staaten bisweilen sogar von ihrer Gegnerschaft zu Nationalsierungsbestrebungen abrückten. So unterstützte Washington z.B. Perons Verstaatlichung der argentinischen Eisenbahnen, um, so der Historiker George Rock, "Großbritanniens Vorherrschaft auf dem argentinischen Markt zu erschüttern".

Die Lateinamerika zugewiesenen "Funktionen" wurden auf einer im Februar 1945 abgehaltenen gesamtamerikanischen Konferenz klargestellt. Washington schlug damals eine "Wirtschaftscharta aller Amerikas" vor, die den ökonomischen Nationalismus "in jeglicher Form" beseitigen sollte. Die US-amerikanischen Planungsstrategen wußten, daß es nicht einfach sein würde, dieses Prinzip durchzusetzen. Unterlagen des Außenministeriums weisen darauf hin, daß lateinamerikanische Länder "politische Maßnahmen [bevorzugen], die auf eine breitere Streuung des Reichtums und die Anhebung des Lebensstandards der Massen" ausgerichtet sind. Zudem sind diese Länder der Überzeugung, "daß die hauptsächlichen Nutznießer der Ressourcenentwicklung eines Landes die jeweilige Bevölkerung sein sollte". Solche Vorstellungen sind natürlich unannehmbar: Die "hauptsächlichen Nutznießer" der Ressourcen sind US-Investoren, während Lateinamerika seiner dienenden Funktion ohne eine die Interessen der USA verletztende unvernünftige Rücksichtnahme auf allgemeinen Wohlstand oder "übertriebene industrielle Entwicklung" nachzukommen hat.

Die Position der Vereinigten Staaten setzte sich durch; allerdings gab es in der Folgezeit Probleme, über deren spezifische Behandlungsweise ich hier nichts weiter sagen muß.

Als Europa und Japan sich von den kriegsbedingten Verwüstungen zu erholen begannen, verschob sich die Weltordnung in Richtung auf eine dreipolige Struktur. Immer noch spielen die USA die Hauptrolle, auch wenn neue Herausforderungen am Horizont auftauchen, wie etwa konkurrierende Wirtschaftsbestrebungen ostasiatischer Länder in Südamerika. Die einschneidendsten Veränderungen fanden vor 25 Jahren statt, als die Regierung Nixon das Weltwirtschaftssystem der Nachkriegszeit demontierte. Die USA spielten darin de facto die Rolle des Weltbankiers, was sich nun nicht länger aufrechterhalten ließ. Diese einseitige Maßnahme führte zu einer gigantischen Explosion unregulierter Kapitalströme. Noch augenfälliger ist die Verschiebung in der Zusammensetzung des Kapitals. 1971 bezogen sich 90% der internationalen Finanzgeschäfte auf reales Kapital - Handel oder langfristige Investitionen - und 10% auf spekulatives Kapital. 1990 hatte sich das Verhältnis ins Gegenteil verkehrt, und 1995 sind etwa 95% der sehr viel größeren Summen spekulativ, wobei an jedem Tag die Summe des hin- und zurückfließenden Kapitals sich auf mehr als eine Billion $ beläuft und damit die gesamten Fremdwährungsreserven der sieben führenden Industriemächte übersteigt. Prominente Wirtschaftswissenschaftler wiesen schon vor 20 Jahren daraufhin, daß dieser Prozeß zu einem verlangsamten Wirtschaftswachstum mit Niedriglöhnen führen würde und schlugen sehr einfache Maßnahmen vor, um diesen Folgen vorzubeugen. Aber die hauptsächlichen Architekten der Politik setzten auf die vorhersehbaren Folgen, zu denen auch sehr hohe Profite gehörten. Die Folgen wurden noch verstärkt durch den enormen Anstieg der Ölpreise und die Revolution auf dem Telekommunikationssektor. Beides ist mit dem riesigen staatlichen Sektor der US-Wirtschaft verbunden; ich werde noch darauf zurückkommen.

Die sogenannten "kommunistischen" Staaten standen außerhalb dieses Weltsystems. Im Verlauf der siebziger Jahre wurde China reintegriert. Die Stagnation der sowjetischen Wirtschaft setzte in den sechziger Jahren ein, und das ganze verrottete Gebäude brach 20 Jahre später zusammen. Im großen und ganzen kehrt diese Region zu ihrem ehemaligen Status zurück. Sektoren, die einmal zum Westen gehörten, schließen sich ihm wieder an, während der größte Teil der Region, vorwiegend unter der Herrschaft ehemaliger kommunistischer Bürokraten und anderer lokaler Kräfte, die sich rnit ausländischen Unternehmen verbündet haben, unter Mitwirkung krimineller Vereinigungen, zu seiner traditionellen Dienstleistungsrolle zurückkehrt. Das Muster wie auch seine Resultate sind aus der Dritten Welt geläufig. Eine Untersuchung der UN schätzte als Ergebnis der von ihr selbst geförderten neoliberalen "Reformen" allein für 1993 eine halbe Million zusätzlicher Todesfälle. Vor kurzem erst hat Rußlands Sozialminister geschätzt, daß 25% der Bevölkerung unter dem Existenzminimum leben, während die neuen Herrscher enorme Reichtümer angehäuft haben. Auch dieses Muster kennen wir aus den vom Westen abhängigen Regionen.

Vertraut sind auch die Auswirkungen der umfassenden Gewaltanwendung, mit deren Hilfe "der Wohlstand des kapitalistischen Weltsystems" gesichert werden soll. Eine Konferenz der Jesuiten in San Salvador wies darauf hin, daß "die Kultur des Terrors" mit der Zeit "die Erwartungen der Mehrheit in die Schranken weist". Die Menschen denken dann nicht einmal mehr an "Alternativen zu den Vorstellungen der Mächtigen", die das Ergebnis als großen Sieg für Freiheit und Demokratie bezeichnen.

Dies sind einige Umrisse der Globalen Weltordnung, innerhalb derer der "Konsens von Washington" geschmiedet wurde.

Schauen wir nun, wie neu der Neoliberalismus eigentlich ist. Eine gute Gelegenheit für den Einstieg bietet das kürzlich erschienene Jahrbuch des Lon- Londoner Royal Institute of International Affairs, das Übersichtsartikel zu den wichtigsten Themen enthält. Einer davon beschäftigt sich mit dem Problem der Ökonomie von Entwicklungsprozessen. Der Autor, Paul Krugman, ist eine Kapazität auf diesem Gebiet. Er bezeichnet fünf wesentliche Punkte, die in direkter Beziehung zu unserer Frage stehen.

Erstens ist das Wissen über wirtschaftliche Entwicklung äußerst begrenzt. So bleiben etwa für die Vereinigten Staaten die Ursachen für zwei Drittel der Erhöhung des Prokopfeinkommens unerklärt. Ebensowenig steht der Erfolg der asiatischen Länder in Übereinstimmung mit dem, "was die geläufige Lehrmeinung als den Schlüssel zum Wachstum ansieht", meint Krugman. Er empfiehlt "Bescheidenheit" bei politischen Entscheidungsprozessen und warnt vor "undifferenzierten Verallgemeinerungen".

Zweitens vertritt er die Auffassung, daß fortwährend aus nicht ausreichenden Prämissen Schlußfolgerungen gezogen werden, die dann der Politik doktrinäre Rückendeckung gewähren. Hierzu gehört auch der "Konsens von Washington".

Drittens hält er die "konventionellen Weisheiten" für instabil. Fortwährend verlagern sie ihr Schwergewicht, wechseln manchmal zum Gegenteil der letzten Phase hinüber, während ihre Lobredner jedesmal voller Selbstvertrauen die neue Lehrmeinung verkünden.

Viertens weist er darauf hin, daß im Nachhinein sich alle darüber einig sind, daß die jeweilige Politik "dem angestrebten Ziel nicht dienlich war" und auf "schlechten Ideen" beruhte.

Fünftens und letztens wird "gewöhnlich behauptet, daß schlechte Ideen soviel Erfolg haben, weil sie im Interesse mächtiger Gruppierungen liegen. So etwas geschieht ohne Zweifel", bemerkt Krugman.

Daß so etwas geschieht, ist spätestens seit Adam Smith zum Gemeinplatz geworden. Und es geschieht selbst in den reichen Ländern mit beeindruckender Regelmäßigkeit, wenngleich die Dritte Welt in dieser Hinsicht am schlimmsten betroffen ist.

Genau das ist der zentrale Punkt. Die "schlechten Ideen" dienen vielleicht nicht den "angestrebten Zielen", aber sie erweisen sich für gewöhnlich als sehr gute Ideen für ihre hauptsächlichen Architekten. Die neuere Zeit hat viele Experimente in der Wirtschaftsentwicklung erlebt, und die dabei auftretenden Gesetzmäßigkeiten sind schwer zu übersehen. Eine besteht darin, daß es den Planern dabei recht gut geht, während die dem Experiment unterworfenen Subjekte oftmals Prügel beziehen.

Das erste Großexperiment wurde vor 200 Jahren durchgeführt, als die britischen Regierenden in Indien die "dauerhafte Besiedlung" (Permanent Settlement) einführten, die wundersame Dinge zustandebrachte. Die Resultate wurden 40 Jahre später von einer offiziellen Kommission begutachtet. Sie kam zu dem Schluß, daß "die mit großer Sorgfalt und Entschiedenheit durchgeführte Besiedlung [unglücklicherweise] ... fast die gesamten niederen Klassen in schmerzhafteste Bedrängnis gebracht" und eine "Armut" hinterlassen hat, für die es "in der Geschichte des Handels kaum eine Parallele gibt" angesichts "der Knochen der Baumwollspinner, die die Ebenen Indiens weiß färben", wie der Direktor der Ostindischen Handelskompagnie hinzufügte.

Doch kann das Experiment kaum als Fehlschlag verbucht werden. Der britische Generalgouverneur bemerkte, daß die Besiedlung, "obwohl sie in vielfacher Hinsicht und in den wesentlichsten Umständen gescheitert ist, zumindest den großen Vorteil besaß, eine starke Gruppe von reichen Grundbesitzern hervorzubringen, die am weiteren Bestehen des britischen Dominions äußerst interessiert sind und die die Masse der Bevölkerung fest im Griff haben". Ein weiterer Vorteil bestand darin, daß britische Investoren enorme Reichtümer anhäuften. Überdies finanzierte Indien 40% des britischen Handelsdefizits, während es zugleich einen geschützten Markt für britische Manufakturexporte darstellte und die britischen Besitzungen mit Lohnarbeitern versorgte, die die Verwendung von Sklaven überflüssig machten, sowie schließlich das Opium produzierte, das den Hauptgegenstand der britischen Exporte nach China bildete. Das Opium wurde China durch Gewalt aufgezwungen, sowie die geheiligten Prinzipien des Marktes übersehen wurden, als die Opiumeinfuhr nach England verboten wurde.

Kurz gesagt, erwies sich das erste große Experiment als "schlechte Idee" für die Unterworfenen, nicht aber für die Planer und die mit ihnen ver verbündeten lokalen Eliten. Dies Muster läßt sich bis in die Gegenwart verfolgen, wobei die Beharrlichkeit, mit der es auftritt, nicht weniger eindrucksvoll ist als die Rhetorik, mit der der jeweils jüngste "Ausbund an Demokratie und Kapitalismus" als "Wirtschaftswunder" gefeiert wird - und was die Rhetorik gewöhnlicherweise verschweigt. Nehmen wir Brasilien. In seiner (von mir bereits erwähnten) hochgelobten Geschichte der "Amerikanisierung Brasiliens" schreibt Gerald Haines, daß die Vereinigten Staaten Brasilien seit 1945 als "Testareal für moderne wissenschaftliche Methoden industrieller Entwicklung" benutzten. Die Experimente wurden "in bester Absicht" durchgeführt. US-amerikanische Investoren profitierten davon, aber die Planungsstrategen "glaubten ernsthaft", auch das brasilianische Volk werde seinen Nutzen daraus ziehen. Ich muß nicht beschreiben, welcher Nutzen hier gemeint ist, als Brasilien, mit den Worten der Wirtschaftspresse, "zum lateinamerikanischen Liebling der internationalen Geschäftswelt" wurde, während die Weltbank berichtete, zwei Drittel der Bevölkerung hätten nicht genug zu essen, um normale körperliche Tätigkeiten verrichten zu können. In seinem 1989 geschriebenen Buch beschreibt Haines "Amerikas Brasilienpolitik" als "überaus erfolgreich", es sei "eine wirkliche amerikanische Erfolgsgeschichte". In den Augen der Geschäftswelt war 1989 das "goldene Jahr", mit einer Verdreifachung der Profite gegenüber dem Vorjahr, während die Industrielöhne, die bereits zu den niedrigsten der Welt gehörten, noch einmal um 20% fielen, Der UN-Bericht zur Entwicklung der Menschheit rückte Brasilien in die Nähe von Albanien. Als die Katastrophe auch auf die Reichen überzugreifen begann, wurden die "fest auf den Kapitalismus gegründeten modernen wissenschaftlichen Entwicklungsmethoden" urplötzlich zu Beweisen für die Übel des Etatismus und Sozialismus - ein anderer schneller Übergang, der stattfindet, wenn es sich als notwendig erweist.

Um die Errungenschaften würdigen zu können, muß man sich daran erinnern, daß Brasilien lange als eines der reichsten Länder der Erde galt und enorme Vorteile besaß, zu denen auch ein halbes Jahrhundert US-amerikanischer Vorherrschaft und Bevormundung gehörten, die in bester Absicht geschahen und dabei wieder einmal dem Eigeninteresse dienlich sind, während die Bevölkerungsmehrheit im Elend verharrt.

Das jüngste Beispiel ist Mexiko. Es wurde als Musterschüler gepriesen, der die Regeln des "Konsenses von Washington" beherzige und ein Modellfall für andere Länder sei - als die Löhne in den Keller fielen, die Armut fast so schnell wuchs wie die Zahl der Milliardäre, Auslandskapital ins Land strömte (das zumeist spekulativer Natur war oder zur Ausbeutung billiger Arbeitskraft unter Kontrolle der brutalen "Demokratie" diente") und all die anderen vertrauten Begleiterscheinungen auftraten, die man von solchen "Wirtschaftswundern" her kennt. Vertraut ist auch der Ausgang des Experiments: der Zusammensturz des Kartenhauses im Dezember 1994. Zu den Folgen gehört, daß heute 50% der Bevölkerung nicht in der Lage sind, sich mit dem notwendigen Minimum an Lebensmitteln zu versorgen, während der Mann, der den Getreidemarkt beherrscht, weiterhin auf der Liste von Mexikos Milliardären steht, immerhin eine Kategorie, in der das Land einen der vorderen Plätze einnimmt.

Veränderungen in der Globalen Weltordnung haben es auch möglich gemacht, eine Version des "Konsenses von Washington" in der Innenpolitik anzuwenden. Für den größten Teil der US-Bevölkerung sind die Einkommen seit 15 Jahren ständig gefallen, sind Arbeitsbedingungen schlechter, gesicherte Arbeitsplätze seltener geworden. Neu ist jedoch, daß sich diese Tendenz in der wirtschaftlichen Erholungsphase fortsetzt. Die Ungleichheit ist so stark wie seit 70 Jahren nicht mehr und einschneidender als in anderen lndustrienationen. Keine Industriegesellschaft hat so viele in Armut lebende Kinder wie die USA, gefolgt von der übrigen englischsprechenden Welt. So ließe sich der ganze Katalog mit den Gebrechen der Dritten Welt anführen. Unterdessen kann die Wirtschaftspresse nicht genug schmückende Beiwörter finden, um das "erstaunliche", ja "schier unbegreifliche" Wachstum der Profite zu beschreiben. Zugegebenermaßen haben jedoch auch die Reichen ihre Probleme: Eine Schlagzeile in der Business Week verkündet: "Das akute Problem: Wohin mit dem ganzen Kleingeld?". Denn die "steigenden Profite" lassen "die Tresore der amerikanischen Konzerne überfließen" und die Dividenden explodieren.

Noch weit bis ins Jahr 1996 hinein bleiben die Profite "spektakulär", wobei insbesondere die weltgrößten Konzerne ein "bemerkenswertes" Profitwachstum erfahren. Allerdings gibt es "einen Bereich, in dem die global operierenden Unternehmen nicht viel zulegen: nämlich auf den Lohnstreifen", fügt das Magazin Fortune heimlich, still und leise hinzu. Diese Ausnahme umfaßt auch Unternehmen, die ein "großartiges Jahr" mit einer "Gewinnexplosion sondergleichen" hinter sich haben, während sie Arbeitsplätze wegrationalisierten, zur Beschäftigung von Teilzeitkräften ohne Sozialleistungen und Arbeitsplatzgarantie übergingen und sich auch sonst so benahmen, wie man es von einer "fünfzehnjahrigen" eindeutigen Vorhenschaft des Kapitals über die Arbeit" erwarten würde, um noch einmal die Wirtschafts- presse zu zitieren.

Das Problem der "Verschlankung" hat beträchtliche Aufmerksamkeit erfahren und ist zweifellos für die arbeitenden Menschen von großer Wichtigkeit. Unterdessen weisen offizielle Zahlen seit 1983 einen Zuwachs von 30% der Stellen "in den oberen Chefetagen, beim Management und beim Verwaltungspersonal" aus, der mit Gehaltssteigerungen einherging, die im Vergleich zu den Löhnen sehr viel höher ausfielen als anderswo. Auch sind die Managerbürokratien in der US-amerikanischen Industrie dreimal so umfangreich wie in Deutschland oder Japan, eine Tatsache, die vielleicht mit dem Angriff auf die Löhne zusammenhängt. Der Ökonom David Gordon geht davon aus, daß die riesigen Konzernbürokratien nötig sind, um die ungewöhnlich harte Arbeitspolitik durchzusetzen, die strenge Kontrollen und sehr viel Druck erfordert. Eine ähnlich gelagerte Sozialpolitik trägt dazu bei, daß die Zahl der Gefängnisinsassen ständig wächst. Sie hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdreifacht und steigt noch immer rasch an. Auch hier stellen die USA andere Industrienationen schon lange in den Schatten.

Mittlerweile werden neue "Experimente" auf den Weg gebracht, um die in der Dritten Welt verbreitete Zwei-Schichten-Gesellschaft auch in den Vereinigten Staaten durchzusetzen. Es wäre lohnenswert, diesen Prozeß einer näheren Betrachtung zu unterziehen, aber dafür ist hier nicht der Ort. Man braucht nicht viel Phantasie, um die Artikel, die in ein paar Jahren erscheinen und das "Fehlschlagen" der mit so vielen guten Absichten unternommenen "Experimente" bejammern werden, jetzt schon zu verfassen. Der "Fehlschlag" betrifft natürlich die Opfer des Experiments, nicht die Konstrukteure, denen es, ganz nach altbewährtem Muster, wohlergeht.

Der Geschichtsverlauf liefert weiteres Lehrmaterial. Im 18. Jahrhundert waren die Unterschiede zwischen Erster und Dritter Welt sehr viel weniger ausgeprägt als heute. Daraus ergeben sich zwei auf der Hand liegende Fragen:

Welche Länder entwickelten sich und welche nicht?
Können wir ursächliche Faktoren bestimmen?

Die erste Frage ist nicht besonders schwierig zu beantworten. Außerhalb von Westeuropa haben sich jene beiden Regionen entwickelt, die der Kolonisierung entgangen waren: die Vereinigten Staaten und Japan. Die japanischen Kolonien sind eine andere Sache; zwar war Japan eine brutale Kolonialmacht, aber es raubte seine Kolonien nicht aus, sondern entwickelte sie in etwa in dem Maßstab wie das Mutterland selbst.

Wie verhält es sich mit Osteuropa? Im 15. Jahrhundert setzten in Europa Teilungsprozesse ein, die zur Entwicklung des Westens führten, während der Osten zur Dienstleistungsregion absank. Er war die ursprüngliche Dritte Welt. Die Trennungsgräben vertieften sich zu Beginn dieses Jahrhunderts, als Rußland sich aus dem System verabschiedete. Trotz der Grausamkeiten des Stalinismus und der fürchtbaren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg gelang dem Sowjetsystem die tiefgreifende Industrialisierung der Region. Osteuropa bildete nun die "Zweite Welt", gehörte - zumindest bis 1989 - nicht zur "Dritten Welt". Aus internen Dokumenten wissen wir von den Befürchtungen westlicher Planungsstrategen, Rußlands Wirtschaftswachstum könnte in anderen Ländern den "radikalen Nationalismus" anheizen und zu jener Krankheit führen, von der Rußland 1917 befallen worden war, als es sich weigerte, weiterhin "der westlichen Industriewirtschaft als Zulieferer zu dienen". So beschrieb eine renommierte Arbeitsgruppe 1995 das Problem des Kommunismus. Insofern war die von den westeuropäischen Mächten 1918 betriebene Intervention eine Abwehrhandlung, um den von gesellschaftlichen Veränderungen in der Dienstleistungsregion bedrohten "Wohlstand des kapitalistischen Weltsystems" zu schützen. So jedenfalls wird es in der angesehenen Forschung beschrieben.

Die Logik des Kalten Krieges ähnelt dem Fall von Guatemala oder Grenada. Seine Dimension jedoch war so gewaltig, daß der Konflikt ein Eigenleben gewann. Es überrascht nicht, daß mit dem Sieg des mächtigeren Antagonisten traditionelle Muster erneut zum Leben erweckt werden. Ebenso wenig sollte erstaunen, daß das Budget des Pentagon genau so hoch bleibt wie zu Zeiten des Kalten Krieges, ja sogar noch aufgestockt wird, während die Grundlinien der Außenpolitik Washingtons sich kaum verändern. Das sind weitere Tatsachen, die uns helfen, Einsicht in die Realitäten der Globalen Weltordnung zu erlangen.

Kehren wir zur Frage zurück, welche Länder sich entwickelt haben und warum. Zumindest eine Schlußfolgerung drängt sich auf:

Gelingende Entwicklung hing davon ab, daß das betreffende Land keine "Experimente" mitmachen mußte, die auf jenen "schlechten Ideen" beruhten, welche sich für die Planer und ihre Kollaborateure als "gute Ideen" erwiesen. Das ist keine Garantie für den Erfolg, aber offensichtlich eine notwendige Vorbedingung.

Nun zur zweiten Frage: Wie haben Europa und diejenigen Länder, die sich seiner Kontrolle entziehen konnten, die erfolgreiche Entwicklung bewerkstelligt? Ein Teil der Antwort scheint wiederum auf der Hand zu liegen: Durch die radikale Verletzung der anerkannten Doktrin des freien Marktes. Diese Schlußfolgerung gilt von England bis hin zur heutigen ostasiatischen Wachstumsregion und schließt zweifellos die Vereinigten Staaten, den historischen Vorreiter des Protektionismus, ein.

Maßgebliche Werke der Wirtschaftsgeschichte erkennen an, daß staatliche Intervention eine entscheidende Rolle für das Wirtschaftswachstum gespielt hat. Doch wird ihr Einfluß unterschätzt, wenn man einen zu engen Betrachtungsmaßstab wählt. So wird gern unterschlagen, daß die für die industrielle Revolution absolut notwendige billige Baumwolle, die zumeist aus den USA stammte, nicht durch die Kräfte des Marktes billig und verfügbar blieb, sondern durch die Vernichtung der eingeborenen Bevölkerung und durch Sklavenarbeit. Natürlich gab es auch noch andere Baumwollproduzenten, an erster Stelle Indien. Seine Ressourcen flossen nach England, während seine eigene weit entwickelte Textilindustrie durch britische Gewalt und britischen Protektionismus zerstört wurde. Ein weiteres Beispiel ist Ägypten, wo die industrielle Entwicklung ungefähr zur gleichen Zeit begann wie in den Vereinigten Staaten. Doch wurde sie durch britische Gewalt ganz offenkundig deshalb blockiert, weil Großbritannien in jener Region keine unabhängige Entwicklung duldete. Neuengland dagegen konnte den Spuren des Mutterlandes folgen und die Einfuhr von aus Großbritannien kommenden billigeren Textilien durch extrem hohe Zölle blockieren. Genauso hatte Großbritannien es einst selbst gehandhabt. Ohne derartige Maßnähmen wäre, so schätzen Wirtschaftshistoriker, die halbe neuenglische Textilindustrie in ihrer Wachstumsphase zerstört worden, was weitreichende Folgen für die Industrieentwicklung insgesamt gehabt hätte.

Ein zeitgenössisches Analogon bildet die Energie, von der die entwickelten Industriegesellschaften abhängen. Das "Goldene Zeitalter" der Nachkriegsentwicklung beruhte auf billigem und im Überfluß vorhandenen Öl; mit Gewalt sorgten die USA dafür, daß es so blieb. Und auf diese Weise geht es weiter. Ein großer Teil des Pentagon-Budgets dient dazu, die Ölpreise im Mittleren Osten auf einem Niveau zu halten, das die USA und ihre Energiegesellschaften für angemessen befinden. Eine technische Untersuchung kommt zu dem Schluß, daß die Ausgaben des Pentagon auf eine dreißigprozentige Subventionierung des Marktpreises für Rohöl hinauslaufen. Daran zeigt sich, daß "die geläufige Ansicht, fossile Brennstoffe seien billig, auf einer völligen Fiktion beruht", schließt der Autor. Schätzungen betreffend die angebliche Effizienz des Handels sowie Schlußfolgerungen im Hinblick auf Wirtschaftswachstum und ökonomische Gesundheit sind von sehr beschränkter Gültigkeit, wenn wir solche versteckten Kosten ignorieren.

Eine Gruppe prominenter japanischer Ökonomen hat vor kurzem eine mehrbändige Übersicht über Japans Wirtschaftsentwicklungsprogramme seit dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt. Sie weisen darauf hin, daß Japan die "neoliberalen" Lehren seiner US-amerikanischen Ratgeber verworfen und sich statt dessen für eine Form der Industriepolitik entschieden hatte, die dem Staat eine beherrschende Rolle zuwies. Erst als die Aussicht auf Handelserfolge zunähm, gingen Staatsbürokratie und Industrie-Finanz~Konglomerate allmählich dazu über, Marktmechanismen einzuführen. Die Ökonomen kommen zu dem Schluß, daß gerade die Zurückweisung orthodoxer Wirtschaftsrezepturen eine Vorbedingung für das japanische Wirtschaftswunder darstellte. Der Erfolg ist beeindruckend. Fast ohne Ressourcengrundlage ist Japan in den neunziger Jahren zum weltgrößten Fertigungsproduzenten und zur weltweit führenden Quelle von Auslandsinvestitionen geworden. Zudem repräsentiert Japan die Nettorücklagen der halben Welt und finanziert die US-amerikanischen Defizite.

Wenden wir uns nun den ehemaligen japanischen Kolonien zu. Die grundlegende Untersuchung der US-Militärmission in Taiwan fand heraus, daß US-Berater und chinesische Planungsstrategen die Prinzipien der " angloamerikanischen Ökonomie" außer Acht ließen und statt dessen eine " staatszentrierte Strategie" entwickelten, die "auf der aktiven Regierungsbeteiligung an den Wirtschaftsaktivitäten der Insel mittels bewußter Planung und der Kontrolle ihrer Durchführung" beruhte. Unterdessen priesen US-Regierungsbeamte "Taiwan als Erfolgsgeschichte des privaten Unternehmertums". In Südkorea funktioniert der "Unternehmer-Staat" wiederum anders, aber ebenfalls nicht ohne lenkende Hand. Gerade jetzt wird Südkoreas Eintritt in die OECD, den Klub der Reichen, vertagt, weil das Land wenig Neigung zeigt, "einer marktorientierten Politik zu folgen", also etwa "Übernahmen durch ausländische Gesellschaften" und die freie Kapitalbewegung zu gestatten. Südkorea folgt damit seinem japanischen Lehrmeister, der Kapitalexporte erst 1972 erlaubte, als die japanische Wirtschaft gefestigt war.

Die jüngste Ausgabe der von der Weltbank herausgegebenen Zeitschrift Research Observer enthält einen Artikel, den der Vorsitzende von Clintons Wirtschaftsrat verfaßt hat. Er zieht dort "Lehren aus dem Wunder von Ostasien", darunter die Einsicht, daß "die Regierungen die Hauptverantwortung für die Förderung des Wirtschaftswachstums" übernommen haben. Damit wurde die "Religion" der freien Marktwirtschaft verlassen zugunsten interventionistischer Maßnahmen, die den Technologietransfer anheizen sowie im Zusammenhang mit der Planung und Koordination industrieller Entwicklung für relative Gleichheit, und ein allgemeines Bildungs- und Gesundheitssystem sorgen sollten. Der UNO-Bericht zur Menschheitsentwicklung von 1996 betont die "Lebenswichtigkeit" der Regierungspolitik für die "Verbreitung von Fähigkeiten und Fertigkeiten und die Befriedigung elementarer sozialer Bedürfnisse" als "Sprungbrett für stabiles Wirtschaftswachstum". Was immer man von neoliberalen Ansätzen halten mag, so besteht zumindest kein Zweifel daran, daß sie ein sinnvolles Erziehungs- und Gesundheitssystem unterminieren, die Ungleichheit befördern und den Arbeitnehmeranteil am Gesamteinkommen schrumpfen lassen. Infolgedessen - darin besteht breite Übereinstirnmung - untergraben sie gerade diejenigen Faktoren, die die Grundlage für ein stabiles Wirtschaftswachstum bilden.

Der Vergleich zwischen Ostasien und Lateinamerika führt zu erstaunlichen Einsichten. Lateinamerika weist im Hinblick auf soziale Ungleichheit weltweit die schlechtesten Werte auf, Ostasien dagegen die besten. Das gleiche gilt für Gesundheit, Erziehung und die gesellschaftliche Wohlfahrt im allgemeinen. Die Importe nach Lateinamerika haben sich stark zugunsten von Konsumtionsgütern für die Reichen verschoben, in Ostasien stehen produktive Investitionen an erster Stelle. In Lateinamerika hat die Kapitalflucht die Höhe der zermürbenden Auslandsschulden erreicht, während in Ostasien der Kapitalexport strikt kontrolliert wurde. In Lateinamerika sind die Reichen im allgemeinen von sozialer Verantwortung inklusive Steuerzahlungen befreit. Das lateinamerikanische Problem, so der brasilianische Ökonomom Bresser Pereira, ist nicht der "Populismus", sondern "die Unterwerfung des Staates unter die Reichen". Das ist in Ostasien völlig anders.

Ähnliches gilt für Auslandsinvestitionen. Auch hier fand das Fremdkapital sehr viel leichter Zugang zu den Volkswirtschaften Lateinamerikas, so daß seit den fünfziger Jahren ausländische Multis in Lateinamerika "einen sehr viel größeren Anteil der Industrieproduktion kontrollieren" als in den erfolgreichen Ländern Ostasiens (UNCTAD). Selbst die Weltbank gibt zu, daß die von ihr befürworteten Auslandsinvestitionen und Privatisierungen in Lateinamerika "dahin tendierten, andere Kapitalströme zu ersetzen". Anders als in Ostasien wanderten damit die Profite ebenso wie die Kontrolle über die Kapitalströme ins Ausland ab. Die Bank sieht auch, daß in Japan, Korea und Taiwan die Preise stärker von den Marktpreisen abwichen als in Indien, Brasilien, Mexiko, Venezuela und anderen angeblich staatsinterventionistischen Ländern (1976- 85), während die Regierung Chinas, die am stärksten interventionistisch orientiert und am weitesten von den Marktpreisen entfernt ist, der erklärte Liebling der Weltbank und ihr am schnellsten wachsender Kreditnehmer ist. Atilio Boron hat - um nur ein Beispiel zu nennen - darauf hingewiesen, daß die offiziellen Untersuchungen der Weltbank über die Lehren, die aus Chile gezogen werden können, die Tatsache, daß die nationalisierten kupferproduzierenden Unternehmen die Hälfte der chilienischen Exportgewinne einfahren, tunlichst unerwähnt lassen.

Offensichtlich hat die Offenheit gegenüber der internationalen Wirtschaft zusammen mit der Unfähigkeit, das Kapital und die Reichen ebenso zu kontrollieren wie die Armen und die Arbeiter, Lateinamerika erhebliche Kosten beschert. Natürlich gibt es, wie zur Kolonialzeit, Bevölkerungsschichten, die von der Entwicklung profitieren. Wenig überraschend sind sie den Lehren der neoliberalen "Religion" genau so ergeben wie die ausländischen Investoren.

Ein Blick auf die vor kurzem vom US-Handelsministerium veröffentlichten Zahlen verschafft uns weitere Einsicht in die Wunder der "im Entstehen begriffenen Märkte": mit Ausnahme von Kanada sind die Bermudas in der lateinamerikanischen Hemisphäre der führende Empfänger von US-amerikanischen Direktinvestitionen. Sie erhalten fast ein Viertel der Gesamtsumme, während weitere 20% in andere Steuerparadiese fließen, und fast der ganze Rest an jene "Wirtschaftswunderländer" geht, die dem Diktat des "Konsenses von Washington" gefolgt sind, was für die Bevölkerungsmehrheit keine rühmlichen Folgen gehabt hat.

Die Rolle, die Management und Initiative des Staates in den erfolgreichen Volkswirtschaften gespielt haben, sollte eine ähnlich vertraute Geschichte ergeben. Damit hängt die Frage zusammen, wie die Dritte Welt zu dem wurde, was sie heute ist. Der herausragende Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch kommt in einer wichtigen Untersuchung über die Entwicklungspolitik und ihre "Mythen" zu dem Schluß, "daß der im neunzehnten Jahrhundert in der Dritten Welt zwangsweise durchgesetzte Wirtschaftsliberalismus zweifellos zu den Hauptursachen der verzögerten Industrialisierung gerechnet werden muß". Das sehr erhellende Beispiel Indiens zeigt sogar, wie dort der "Prozeß der De-Industrialisierung" das Industrie- und Handeiszentrum der Welt in eine verarmte Agrargesellschaft verwandelte, die einen erheblichen Rückgang der Reallöhne, des Lebensmittelverbrauchs und der Verfügbarkeit anderer Grundwaren zu verzeichnen hatte.

"Indien war nur der erste große Katastrophenfall auf einer sehr langen Liste", bemerkt Bairoch. Auf dieser Liste stehen "sogar politisch unabhängige Länder der Dritten Welt, die gezwungen wurden, ihren Märkte für westliche Produkte zu öffnen". Zur gleichen Zeit schützten die westlichen Gesellschaften sich vor der Marktdisziplin und verzeichneten eine ansteigende Entwicklung.

Das bringt uns zu einem anderen wichtigen Charakterzug der modernen Geschichte. Die Doktrin der freien Marktwirtschaft gibt es in zwei Variationen. Die erste ist die den Schutzlosen aufgezwungene offizielle Doktrin. Die zweite könnten wir "real existierende Doktrin der freien Marktwirtschaft" nennen: Marktorientierung ist gut für dich, nicht aber für mich. Und genau diese "real existierende Doktrin" herrscht seit dem 17. Jahrhundert, als Großbritannien zum fortgeschrittensten Wirtschaftsstaat in Europa wurde, der die Besteuerung radikal vorantrieb und eine wirksame öffentliche Verwaltung auf die Beine stellte, um die fiskalischen und militärischen Unternehmungen des Staates zu finanzieren. So wurde der britische Staat "zum größten Einzelakteur in der Wirtschaft" und ihrer globalen Ausweitung (John Brewer).

Großbritannien wandte sich schließlich dem liberalen Internationalismus zu - allerdings erst 1846. Zuvor hatten Protektionismus, Gewalt und staatliche Machtausübung 150 Jahre lang dafür gesorgt, daß andere Konkurrenten auf der Strecke blieben. Aber auch danach wurde der Handelsliberalismus nur mit bedeutsamen Einschränkungen praktiziert. 40% der britischen Textilwaren gingen weiterhin ins kolonisierte Indien und das gilt auch für die Gesamtexporte. Britischer Stahl wurde durch hohe Einfuhrzölle vom US-amerikanischen Markt ferngehalten, so daß die USA ihre eigene Stahlindustrie entwickeln konnten. Aber als England auf dem internationalen Markt nicht mehr landen konnte, standen Indien und andere Kolonien noch als Exportländer zur Verfügung. Wiederum ist Indien ein erhellendes Beispiel: Ende des 18. Jahrhunderts produzierte es ebensoviel Eisen wie ganz Europa, und britische Ingenieure studierten Jahre später vor Ort die fortgeschritteneren Techniken der Stahlproduktion um die "technologische Lücke" zu schließen. Als der Eisenbahnboom begann, war Bombay in bezug auf die Produkrion von Lokomotiven ein ernstzunehmender Konkurrent. Aber die "real existierende Doktrin der freien Marktwirtschaft" zerstörte diese Sektoren der indischen Industrie, wie sie es schon mit der Textilindustrie, dem weit fortgeschrittenen Schiffbau und anderen Wirtschaftszweigen getan hatte. Im Gegensatz dazu konnten die USA und Japan Großbritanniens Modell der Marktbeeinflussung übernehmen. Und als der japanische Wettbewerb kaum noch in den Griff zu bekommen war, machte England mit dem Spiel kurzerhand Schluß: das Empire wurde für japanische Exporte geschlossen. Das gehört mit zum Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Zur gleichen Zeit baten indische Produzenten um Protektion - aber gegen England, nicht gegen Japan. Sie hatten angesichts der real existierenden Doktrin der freien Marktwirtschaft weniger Glück.

In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gab die britische Regierung ihre Version des Laissez-faire-Liberalismus auf und wandte sich auch innenpolitisch einer stärkeren staatlichen Interventionspolitik zu. Nach wenigen Jahren stieg die Produktion von Werkzeugmaschinen um das Fünffache, zudem erlebten Chemie-, Stahl- und Luftfahrttechnik sowie viele neue Industriezweige einen ungeahnten Aufschwung. Die staatlich kontrollierte Industrie ermöglichte es England sogar, Deutschland im Krieg zu überrunden und selbst den Abstand zu den Vereinigten Staaten zu verringern, die damals ihre eigene dramatische Wirtschaftsexpansion erlebten, als Konzernmanager die staatlich koordinierte Kriegswirtschaft übernahmen.

Ein Jahrhundert später als England beschritten die Vereinigten Staaten den Weg eines liberalen Internationalismus. Nach 150 Jahren, in denen sie Protektionismus und Gewalt ausgeübt hatten, waren die USA zum reichsten und mächtigsten Land der Erde geworden. Wie zuvor schon England bemerkten nun auch die Vereinigten Staaten die Vorzüge eines "gemeinsamen Wettbewerbs" bei dem sie voraussichtlich alle Konkurrenten aus dem Felde schlagen gen konnten. Aber wie im Falle Englands gab es auch hier wichtige Vorbehalte bezüglich der Gemeinsamkeit.

Einer dieser Vorbehalte bestand darin, daß Washington seine Machtstellung ausnutzte, um anderswo unabhängige Entwicklungen zu blockieren. In Lateinamerika, aber auch in anderen Ländern sollte die Entwicklung "komplementär" und nicht etwa "konkurrierend" sein. Zudem gab es umfangreiche Eingriffe in den Handel. So war zum Beispiel die Marshall-Plan-Hilfe an den Kauf US- amerikanischer Landwirtschaftserzeugnisse gebunden. Das ist einer der Gründe, aus denen der US-Anteil am Weltgetreidehandel von weniger als 10% vor dem Krieg bis 1950 auf mehr als die Hälfte anstieg, während Argentiniens Exportquoten im gleichen Maße sanken. Die US-amerikanische Hilfsaktion "Lebensmittel für den Frieden" diente auch der Förderung der eigenen Agrarwirtschaft und Frachtschiffahrt; 1954 führte ein Handelsvertrag mit Brasilien zur Unterminierung der argentinischen Exportgeschäfte. Einige Jahre später wurde der kolumbianische Weizenanbau durch ähnliche Maßnahmen fast völlig ruiniert. Darin liegt einer der Faktoren für das Wachstum der Drogenindustrie, der durch die Ausbreitung neoliberaler Politik in der Andenregion noch beschleunigt wurde. Vor wenigen Wochen blockierte Washington, in flagranter Verletzung der von der NAFTA und der Welthandelsorganisation festgelegten Regeln, den Export mexikanischer Tomaten, was den mexikanischen Produzenten einen jährlichen Verlust von nahezu einer Milliarde $ bescherte. Die offizielle Begründung lautete, die Preise würden "durch die mexikanische Konkurrenz künstlich niedrig gehalten" und mexikanische Tomaten von den US-amerikanischen Konsumenten bevorzugt. Mit anderen Worten: Der freie Markt funktionierte, aber mit den falschen Folgen. - Das sind nur einige verstreute Beispiele.

Die wirklich wichtigen Abweichungen von der Doktrin der freien Marktwirtschaft liegen jedoch woanders. Ein Grundpfeiler der Freihandelstheorie besteht in dem Verbot öffentlicher Subventionen. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg gingen US-amerikanische Wirtschaftsführer davon aus, daß es ohne staatliche Intervention erneut zu einer Wirtschaftskrise kommen werde. Beharrlich vertraten sie die Auffassung, eine entwickelte Industrie "finde in einer auf ,freiem Unternehmertum' beruhenden, d.h. rein konkurrenzmäßig orientierten und staatlich nicht subventionierten Wirtschaft keine hinreichende Existenzgrundlage", mithin sei "die Regierung der einzige Rettungsanker". Ich zitiere die führenden Blätter der Wirtschaftspresse, die auch erkannten, daß das Pentagon-System die beste Möglichkeit sei, die Kosten zu sozialisieren. Sie begriffen, daß öffentliche Subventionen einen vergleichbaren Anschiebeeffekt haben können, jedoch keine direkte Subvention des Wirtschaftssektors darstellen. Sie haben demokratisierende Auswirkungen und zielen auf Umverteilung. Militärsubventionen sind gänzlich anders gelagert.

Außerdem läßt sich eine solche Unterstützung leichter verkaufen. Präsident Trumans Luftwaffenminister formulierte die Sache ganz einfach: Wir sollten, sagte er, nicht das Word "Subvention" verwenden, sondern lieber von "Sicherheit" reden. Er sorgte dafür, daß der Militärhaushalt "den Erfordernissen der Luftfahrtindustrie entsprechen" werde; so jedenfalls lautete seine Formulierung. Infolgedessen ist die zivile Luftfahrt jetzt der Exportschlager der USA, und die darauf beruhende umfangreiche Reise- und Touristikbranche sorgt für riesige Gewinne. Das gleiche Verfahrensmuster findet sich in der Computer- und Elektronikindustrie, der Metallurgie, der Biotechnologie, der Telekommunikation - faktisch in allen expandierenden Wirtschaftsbereichen. Sie alle sind in großem Maße abhängig von öffentlichen Subventionen.

Der von mir bereits zitierte aktuelle Bericht über "spektakuläre" Profite führt die Sektoren Raumfahrt und Verteidigung als die eindeutigen Sieger des Jahres 1996 auf. Ihre Gewinne sind mehr als doppelt so hoch wie die des nächstbesten Konkurrenten. Aber auch die anderen profitierten von der Umwandlung öffentlicher Gelder in private Profite, einem zentralen Charakterzug der "real existierenden freien Marktwirtschaft".

Der Reagan-Administration mußte diese Doktrin nicht erst erläutert werden. Sie war ein Meister in der Kunst, den Armen die Segnungen des Marktes anzupreisen, während sie der Geschäftswelt stolz verkündete, Reagan habe "der US-Industrie mehr Importerleichterungen verschafft als jeder seiner Vorgänger seit 50 Jahren" -, was viel zu bescheiden ist, denn Reagans Maßnahmen übertrafen die seiner sämtlichen Vorgänger, und unter seiner Herrschaft "schlug das Pendel so stark zum Protektionismus aus wie seit den dreißiger Jahren nicht mehr". So der Kommentar von Foreign Affairs in einem Rückblick auf die achtziger Jahre. Ohne diese und andere bis zum Äußersten gehende Maßnahmen der Marktbeeinflussung hätten Stahl-, Kfz-, Werkzeugmaschinen- oder Halbleiterindustrien die japanische Konkurrenz wohl kaum überlebt und wären auch nicht fähig gewesen, neue Technologien zu entwickeln, um dadurch der Gesamtwirtschaft frische Impulse zu verleihen.

Diese Erfahrung zeigt erneut, daß die "tradierte Weisheit" "auf ziemlich wackligen Füßen steht", wie ein anderer Rückblick auf die Ära Reagan in Foreign Affairs formuliert. Aber die tradierte Weisheit bewahrt ihre Tugenden als ideologische Waffe im Kampf gegen die Schutzlosen.

Ebensowenig muß man diese Doktrin dem Führer der neuen "kon- servativen Revolution", Newt Gingrich, erklären, der siebenjährige Kinder streng über die mit der Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat vermachten Übel belehrt, während er zugleich den Nationalpreis für die Vermittlung staatlicher Subventionen an seine reichen Wähler erhält. Gleiches gilt für die Heritage Foundation, die die Budgetvorschläge für die Kongreßabgeordneten der "Konservativen" entwirft und infolgedessen eine Clintons Haushaltserhöhung noch übersteigende Aufstockung der Gelder für das Pentagon beantragte (und durchsetzte). Damit sollte die "Grundlage der Verteidigungsindustrie" intakt gehalten, d.h. durch die Staatsmacht geschützt werden und konnte so ihren Nutznießern eine militärisch wie zivil nutzbare Technologie anbieten, die ihnen eine marktbeherrschende Stellung ermöglichte. Gleiches gilt für die Industrie- und Finanzunternehmen, die die "Grundlage der Verteidigungsindustrie" bilden und nun eifrig darum bemüht sind, in neue, staatlich subventionierte Märkte zu expandieren. Dazu gehört der schnell wachsende Industriezweig, der Produkte für die Verbrechensbekämpfung herstellt und damit große Potentiale für die Entwicklung von High-Tech-Konrtroll- und Überwachungssystemen enthält, die sogar bei der Betreuung der privatisierten Wohlfahrtssysteme eingesetzt werden können - ein Sektor, den der führende Hersteller Lockheed Martin im Visier hat.

Alle begreifen sehr gut die Bedeutung freien Unternehmertums: Wenn die Sache schief läuft, zahlt die Öffentlichkeit die Kosten und trägt die Risiken. So hat der Steuerzahler z.B. in Südamerika in den letzten Jahren Hunderte Milliarden von Dollar durch geplatzte Bank- und Konzernbürgschaften verloren, Profite werden privatisiert, Kosten und Risiken sozialisiert.

Natürlich stehen die Vereinigten Staaten mit ihren "Freihandels"-Konzeptionen nicht allein da, auch wenn ihre Ideologen den Chor der Zyniker dirigieren. Die seit 1960 entstandene Kluft zwischen reichen und armen Ländern ist, so folgerte der UNO-Entwicklungsbericht von 1992, im wesentlichen auf protektionistische Maßnahmen seitens der reichen Länder zurückzuführen. Der Bericht von 1994 schätzt, daß "die den Entwicklungsländern durch die Verletzung von Freihandelsprinzipien seitens der Industrieländer entstehenden Kosten sich auf annähernd 50 Milliarden D~lar pro Jahr belaufen - was der Gesamtsumme ausländischer Entwicklungsgelder und Hilfsleistungen entspricht". Und davon sind viele Projekte weiter nichts als öffentlich subventionierte Exportförderung.

Schauen wir uns die Theorie der "real existierenden freien Marktwirtschaft" mit Hilfe eines anderen Maßstabes näher an. Die umfassendste Untersuchung, die es über die einhundert größten Transnationalen Unternehmen (TNCs) gibt, fand heraus, daß zumindest 20 von ihnen "als unabhängige Unternehmen gar nicht überlebt hätten, wenn sie nicht von ihren jeweiligen Regierungen gerettet worden wären". Das geschah durch die Sozialisierung der Verluste oder - bei ernsthaften Schwierigkeiten - durch direkte staatliche Übernahme. Zu diesen TNCs gehört auch der führende Arbeitgeber in Newt Gingrichs erzkonservativem Wahldistrikt, nämlich Lockheed. Der Konzern wurde vor dem Zusammenbruch nur dadurch gerettet, daß die Regierung die Garantie für zwei Milliarden Dollar an Lohn- und Gehaltszahlungen übernahm. Die Untersuchung weist auch daraufhin, daß es "im internationalen Wettbewerb niemals gleiche Regeln für alle Teilnehmer gegeben habe und auch in Zukunft nicht geben werde". "In den letzten zwei Jahrhunderten", fährt die Untersuchung fort, waren staatliche Eingriffe "eher die Regel als die Ausnahme [...], und sie haben bei der Entwicklung und Verbreitung vieler produkt- und fertigungs- bezogener Innovationen eine entscheidende Rolle gespielt - vor allem in den Bereichen Luftfahrt, Elektronik, moderne Agrarwirtschaft, Werkstofftechnologie, Energie- und Transporttechnologie" sowie Telekommunikarions- und Informationstechnologie und, in früheren Tagen, bei der Textil- und Stahlherstellung. Ganz allgemein "hat die Regierungspolitik, insbesondere durch Rüstungsprogramme, bei den weltgrößten Firmen einen überwältigenden Einfluß auf die Formierung ihrer Strategien und ihrer Wettbewerbsfähigkeit". Andere Untersuchungen bestätigen diese Schlußfolgerungen.

Man könnte auch auf den Grundsatz von Adam Smith verweisen, daß die Einschränkung der menschlichen Bewegungsfreiheit eine grobe Verletzung der Doktrin des freien Marktes darstellt, gerade jetzt aber von enthusiastischen Anhängern des Neoliberalismus mit äußerster Unmenschlichkeit gefordert wird. Und Alfred Chandlers Standardwerk zur Unternehmensgeschichte vertritt die These, daß "das moderne Unternehmen bei der Koordinierung der Wirtschaftsaktivitäten und der Ressourcenallokation den Platz der Marktmechanismen übernommen hat". Bei diesen Vorgängen wirkt eine in höchstem Maße "sichtbare Hand" in Institutionen die nun die ganzen Transaktionen intern bearbeiten. Das ist eine weitere erhebliche Abweichung von den Marktprinzipien.

Es ließe sich noch viel über diese Dinge sagen, aber eine Schlußfolgerung scheint sicher: die gepriesenen Doktrinen dienen in ihrem Entwurf und ihrer Verwendung den Zwecken von Macht und Profit. Die gegenwärtig durchge- führten "Experimente" folgen einem vertrauten Muster, indem sie die Form eines "Sozialismus für die Reichen" annehmen, der im System eines globalen Merkantilisinus der Konzerne angesiedelt ist, wo der "Handel" zum größten Teil in zentral geleiteten, innerbetrieblichen Transaktionen zwischen riesigen Institutionen besteht, die ihrem Wesen nach totalitär sind und nur dem Zweck dienen, demokratische Entscheidungsprozesse zu unterminieren und die Herren und Meister vor der Disziplin des Marktes zu bewahren. In ihren strengen Lehrsätzen werden nur die Armen und Hilflosen unterwiesen.

Ebenso könnten wir fragen, wie "global" die Wirtschaft denn wirklich ist und inwieweit sie allgemeiner demokratischer Kontrolle unterworfen werden könnte. Im Hinblick auf Handelsbeziehungen, finanzielle Transaktionen und andere Maßstäbe ist die Wirtschaft nicht globaler als zu Beginn dieses Jahrhunderts. Darüber hinaus sind die TNCs stark von öffentlichen Subventionen und heimischen Märkten abhängig, und ihre internationalen Transaktionen, inklusive derer, die unter dem falschen Etikett "Handel" laufen, finden großenteils innerhalb Europas, der USA und Japans statt, wo man keine Angst vor einem Militärputsch oder dergleichen haben muß, weil die Politik der Wirtschaft gegebenenfalls unter die Arme greift. Es gibt viel Neues und Wichtiges, aber die Annahme, die Dinge seien "außer Kontrolle" geraten, ist selbst dann nicht sehr glaubhaft, wenn wir an den augenblicklich existierenden Mechanismen festhalten.

Aber ist es ein Naturgesetz, daß wir daran festhalten müssen? Nicht, wenn wir die Theorien des klassischen Liberalismus ernstnehmen. Adam Smiths Loblied auf die Arbeitsteilung ist wohlbekannt, nicht aber seine Verurteilung ihrer inhumanen Auswirkungen, die die Menschen "so stumpfsinnig und einfältig" macht, "wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann". Das aber muß "in jeder entwickelten und zivilisierten Gesellschaft" durch Regierungsmaßnahmen verhindert werden, die die zerstörerische Macht der "unsichtbaren Hand" überwinden sollen. Auch seine Annahme, von der Regierung getroffene Regelungen "zugunsten der Arbeiter" seien "immer gerecht und billig", nicht aber jene "zugunsten der Herren", wird kaum zur Kenntnis genommen. Das gilt ebenso für seine Forderung nach gleicher Bewertung der Produkte, dem Herzstück seiner Argumentation für einen freien Markt.

Andere führende Vertreter des klassischen liberalen Kanons gehen noch viel weiter. Wilhelm von Humboldt verurteilte die Lohnarbeit als solche: Wenn der Arbeiter, so schrieb er, unter äußerer Anleitung tätig ist, "können wir bewundern, was er tut, aber wir verachten, was er ist". "Das Handwerk macht Fortschritte, der Handwerker Rückschritte", bemerkte Alexis de Toqueville, ebenfalls eine große Gestalt im liberalen Pantheon. Er stimmte mit Smith und Jefferson darin überein, daß gleiche Bewertung der Produkte ein wichtiger Charakterzug für eine freie und gerechte Gesellschaft ist. Er wies auf die Gefahren hin, die von einer "dauernden Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen" ausgehen und warnte davor, daß die Demokratie am Ende wäre, wenn "die industrielle Aristokratie", die sich in den Vereinigten Staaten "vor unseren Augen erhebt" - "eine der dauerhaftesten der Erde" - die Schranken jemals überwinden sollte. Was sie später tat und Toquevilles schlimmste Albträume noch übertraf. Ich verweise hier nur im Vorübergehen auf sehr komplizierte und faszinierende Themen, die meiner Meinung nach den Schluß nahelegen, daß die Leitsätze des klassischen Liberalismus ihren natürlichen modernen Ausdruck nicht in der neoliberalen "Religion" finden, sondern in den unabhängigen Bewegungen der arbeitenden Menschen und den Ideen und Praktiken der libertar-sozialistischen Bewegungen, die zu gegebener Zeit von so großartigen Denkern des 20. Jahrhunderts wie Bertrand Russell und John Dewey formuliert wurden.

Man muß die Doktrinen, die den Diskurs der Intellektuellen beherrschen, mit Vorsicht bewerten und den Argumenten, den Tatsachen sowie den Lehren, die aus Vergangenheit und Gegenwart gezogen werden können, sorgfältige Aufmerksamkeit schenken. Es ist nicht sehr sinnvoll zu fragen, was denn für dieses oder jenes Land "richtig" wäre, als handelte es sich bei Ländern um Individuen mit einheitlichen Interessen und Werten. Und was für die Menschen in den Vereinigten Staaten mit ihren unvergleichlichen Vorteilen richtig sein mag, kann durchaus falsch sein für andere, die sehr viel weniger Wahlmöglichkeiten besitzen. Wir können jedoch rein von der Vernunft her voraussehen, daß das, was für die Menschen und Völker der Erde richtig ist, sich nur durch den äußersten Zufall mit den Plänen der "hauptsächlichen Architekten" der Politik deckt. Und es gibt heute ebensowenig Gründe wie in der Vergangenheit, ihnen zu gestatten, die Zukunft nach ihren Interessen zu gestalten.

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Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt

Anmerkung des Übersetzers:

Bei vorliegendem Essay handelt es sich um den Text eines Vortrags von Noam Chomsky. Daraus erklärt sich, daß Zitate nicht weiter ausgewiesen sind. Hier einige Hinweise: Die Zitate von Adam Smith stammen aus seinem Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, und zwar hauptsächlich aus dem 7. und 8. Kapitel des vierten Buches, sowie dem ersten Kapitel (Teil 3, Abschnitt 2) des fünften Buches. Die Zitate von Tocqueville findet man in De la Democratie en Amerique; bzw. in der deutschen Auswahlausgabe "Über die Demokratie in Amerika"; hgg. von J.P. Mayer, Stuttgart 1985: Reclam, S.258ff. Das Humboldt-Zitat stammt aus seiner Schrift von 1792 Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (Werke Bd. 1, Stuttgart 1960, 5. 56ff.). Weitere Literaturangaben in: Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur neuen Weltordnung. München 1995: dtv, S.409ff.