Neoliberalismus und Globale Weltordnung
Es geht mir im folgenden um die
beiden im Titel erwähnten Themen - Neoliberalismus und Globale Weltordnung.
Diese Probleme sind von großer menschheitlicher Bedeutung, und sie werden
oftmals mißverstanden. Um sinnvoll mit ihnen umgehen zu können, müssen wir
zunächst die Theorie von der Wirklichkeit unterscheiden. Dabei entdecken wir oft
eine eine beträchtliche Lücke.
Der Ausdruck "Neoliberalismus" unterstellt
ein System von Grundsätzen, das neu ist und sich zugleich auf klassische
liberale Ideen gründet: als Schutzheiliger wird Adam Srnith verehrt. Das
Theoriegebäude des Neoliberalismus ist auch unter dem Namen "Konsens von
Washington" bekannt. Bereits daran läßt sich einiges im Hinblick auf die Globale
Weltordnung ablesen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß der Verweis auf die
Weltordnung ziemlich genau ins Schwarze trifft. Für alles Übrige gilt das jedoch
nicht: die Theorien sind keineswegs neu und die Grundannahmen weit von jenen
Prinzipien entfernt, die seit der Aufklärung das Lebenselement der liberalen
Tradition gebildet haben.
Das Schlagwort "Konsens von Washington" bezieht
sich auf die strukturellen Angleichungsprogramme, die von der US-Regierung und
den von ihr im großen und ganzen beherrschten internationalen
Finanzinstitutionen entworfen wurden. Naturgemäß haben ihre Entscheidungen
erstrangigen Einfluß auf die Globale Weltordnung. Einige Fachleute vertreten
sogar eine noch stärkere Position. Die internationale Wirtschaftspresse sieht
diese Institutionen als Kernstück einer "faktischen Weltregierung", die in einem
"neuen Zeitalter des Imperialismus" die Interessen der Transnationalen
Unternehmen (TNCs), Banken und Investmentfirmen vertritt.
Ob diese
Beschreibung nun zutreffend ist oder nicht, erinnert sie uns auf jeden Fall
daran, daß Regierungsinstitutionen keine unabhängigen Handlungsträger sind,
sondern die Machtverteilung in der Gesamtgesellschaft widerspiegeln. Das ist
spätestens seit Adam Smith ein Gemeinplatz, wies doch bereits er darauf hin, daß
die "hauptsächlichen Architekten" der Politik in England "Kaufleute und
Manufakturbesitzer" waren, die die Macht des Staates in den Dienst ihrer eigenen
Interessen stellten, mochten die Folgen für andere, zu denen auch das englische
Volk gehörte, auch noch so "betrüblich" sein. Es ging Smith um den "Wohlstand
der Nationen", aber er begriff, daß die Redeweise vom "nationalen Interesse"
strenggenornrnen Augenwischerei ist, denn innerhalb der "Nation" existieren
äußerst gegensätzliche Interessen, und wenn wir die Politik und ihre
Auswirkungen verstehen wollen, müssen wir fragen, wo die Macht liegt und wie sie
ausgeübt wird, Das wurde später "Klassenana- lyse" genannt.
Die
"hauptsächlichen Architekten" des neoliberalen "Konsenses von Washington" sind
die Herren und Meister der Privatwirtschaft, in der Hauptsache riesige Konzerne,
die weite Bereiche der internationalen Wirtschaft kontrollieren und über Mittel
zur Beherrschung der politischen Willensbildung wie zur Beeinflussung der
öffentlichen Meinung verfügen. Aus ersichtlichen Gründen spielen die Vereinigten
Staaten in diesem System eine Sonderrolle. Mit den Worten des
Diplomatiehistorikers Gerald Haines (der auch ein herausragender Historiker der
CIA ist): "Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die USA aus eigenem Interesse
die Verantwortung für das Wohlergehen des kapitalistischen Weltsystems." Haines
heschäftigt sich mit der von ihm so genannten "Amerikanisierung Brasiliens",
doch das ist nur ein Sonderfall. Und seine Worte treffen ins
Schwarze.
Schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Vereinigten
Staaten Weltwirtschaftsmacht Nummer Eins. Das wurde mit dem Krieg nicht anders:
die USA blühten ökonomisch auf, während ihre Konkurrenten stark geschwächt
wurden. Die staatlich koordinierte Kriegswirtschaft war schließlich in der Lage,
die Große Wirtschaftskrise zu überwinden. Mit Kriegsende besaßen die Vereinigten
Staaten den Reichtum der halben Welt und eine in der Geschichte beispiellose
Machtposition. Natürlich ging es den hauptsächlichen Architekten der Politik
darum, diese Macht auszunutzen, um ein ihren Interessen angemessenes globales
System zu entwerfen.
Hochrangige Dokumente sehen die hauptsächliche
Bedrohung dieser Interessen, vor allem im Hinblick auf Lateinamerika, in
"radikalen und nationalistischen Regierungen", die bereit sind, dem Druck der
Straße nachzugeben, der die "schnelle Anhebung des niedrigen Lebensstandards der
Massen" und Entwicklungshilfe für die eigenen Bedürfnisse anstrebt. Solche
Forderungen stehen im Konflikt mit dem Verlangen nach "einem politischen und
wirtschaftlichen Klima, das privaten Investitionen förderlich ist" sowie den
angemessenen Rückfluß der Profite und die "Sicherung unserer Rohstoffe"
garantiert - die natürlich auch dann "uns" gehören, wenn sie sich in anderen
Ländern befinden. Aus diesen Gründen hat George Kennan, der einflußreiche Chef
des außenpolitischen Planungsstabes bereits 1948 dazu geraten, daß wir "aufhören
sollten, über verschwommene und unrealistische Ziele wie Menschenrechte,
Anhebung des Lebensstandards und Demokratisierung zu reden", sondern "frei von
idealistischen Phrasen" über "Altruismus und Weltbeglückung" mit "eindeutigen
Machtkonzeptionen arbeiten" müssen - wobei die idealistischen Phrasen für den
öffentlichen Diskurs natürlich schön, ja faktisch sogar unerläßlich
sind.
"Radikaler Nationalismus" kann schon als solcher nicht geduldet
werden, ist aber zugleich auch eine umfassendere "Bedrohung der Stabilität".
Dies ist ebenfalls ein Ausdruck mit einer besonderen Bedeutung. Als Washington
1954 daranging, Guatemalas erste demokratische Regierung zu stürzen, wies ein
Regierungsbeamter des Außenministeriums darauf hin, daß Guatemala "zu einer
zunehmenden Bedrohung für die Stabilität von Honduras und El Salvador geworden
ist. Seine Agrarreform ist eine wirksame Propagandawaffe; sein um- umfangreiches
Sozialprogramm, das die Arbeiter und Bauern in einem siegreichen Kampf gegen die
oberen Klassen und ausländischen Unternehmen unterstützt, besitzt starke
Anziehungskraft auf die Bevölkerungen der mittelamerikanischen Nachbarländer, wo
ähnliche Bedingungen herrschen". "Stabilität" bedeutet Sicherheit für die
"oberen Klassen und ausländischen Unternehmen", deren Wohlstand erhalten werden
muß.
Angesichts solcher Gefahren für "den Wohlstand des kapitalistischen
Weltsystems" sind Terror und Subversion zur Wiederherstellung der "Stabilität"
gerechtfertigt. Eine der ersten Aufgaben der CIA bestand in der Teilnahme am
großangelegten Versuch, 1948 die Demokratie in Italien zu unterminieren, als
befürchtet werden mußte, daß die Wahlen ein unerwünschtes Ergebnis zeitigen
würden. Sollte die Subversion fehlschlagen, war eine direkte militärische
Intervention geplant. Diese Pläne wurden als Bemühungen beschrieben, "Italien zu
stabilisieren". Ja es ist sogar möglich, zu "destabilisieren", um "Stabilität"
zu erreichen. So erklärte der Herausgeber der quasi-amtlichen Zeitschrift
Foreign Affairs, daß Washington "eine frei gewählte marxistische Regierung in
Chile destabilisieren mußte", weil "wir entschlossen waren, Stabilität
anzustreben". Mit der richtigen Bildung kann man den offensichtlichen
Widerspruch überwinden.
Nationalistische Regierungen, die die
"Stabilität" bedrohen, werden "Viren" genannt, die andere Länder "infizieren"
können. Das Italien von 1948 ist ein Beispiel. 25 Jahre später beschrieb Henry
Kissinger Chile als einen "Virus", der in bezug auf die Möglichkeit
gesellschaftlicher Veränderung falsche Botschaften aussenden und andere Länder
infizieren könnte. Selbst Italien, nach Jahren umfangreicher CIA-Programme für
die Unterminierung seiner Demokratie immer noch nicht "stabil", war in Gefahr,
infiziert zu werden. Viren müssen vernichtet und andere Länder vor der
Ansteckung bewahrt werden: für beide Aufgaben ist oftmals die Gewalt das
geeignetste Mittel; sie zieht eine grauenhafte Spur von Massakern, Terror,
Folter und Verwüstung.
Die außenpolitischen Geheimpläne, die nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs entworfen wurden, wiesen jedem Teil der Welt seine
besondere Rolle zu. So bestand die "Hauptaufgabe" Südostasiens darin, Rohstoffe
für die Industriemächte zu liefern. Europa sollte Afrika "ausbeuten", um die
Kriegsfolgen zu überwinden. Und so weiter, Erdteil für Erdteil.
Im
Hinblick auf Lateinamerika verfolgte Washington das Ziel, die Monroe-Doktrin
durchzusetzen, aber auch hier wieder in einem besonderen Sinn. Präsident Wilson,
berühmt wegen seines Idealismus und seiner hohen moralischen Prinzipien, gab
insgeheim zu, daß "die Vereinigten Staaten mit dem Eintreten für die
Monroe-Doktrin ihre eigenen Interessen im Auge haben". Die Interessen der
lateinamerikanischen Länder sind lediglich "Nebensache", berühren uns nicht
weiter. Wilson gab zu, daß dies "einzig auf Eigennutz zu beruhen scheint",
bestand aber darauf, daß die Doktrin "keinen höheren oder edleren Beweggrund"
besitze. Die Vereinigten Staaten vertrieben ihre traditionellen Konkurrenten,
England und Frankreich, und errichteten ein unter ihrer Kontrolle stehendes
regionales Bündnis, das aus dem Weltsystem, in dem solche Übereinkünfte verboten
waren, ausgegliedert wurde. Diese Ziele wurden für so wichtig erachtet, daß die
Vereinigten Staaten bisweilen sogar von ihrer Gegnerschaft zu
Nationalsierungsbestrebungen abrückten. So unterstützte Washington z.B. Perons
Verstaatlichung der argentinischen Eisenbahnen, um, so der Historiker George
Rock, "Großbritanniens Vorherrschaft auf dem argentinischen Markt zu
erschüttern".
Die Lateinamerika zugewiesenen "Funktionen" wurden auf
einer im Februar 1945 abgehaltenen gesamtamerikanischen Konferenz klargestellt.
Washington schlug damals eine "Wirtschaftscharta aller Amerikas" vor, die den
ökonomischen Nationalismus "in jeglicher Form" beseitigen sollte. Die
US-amerikanischen Planungsstrategen wußten, daß es nicht einfach sein würde,
dieses Prinzip durchzusetzen. Unterlagen des Außenministeriums weisen darauf
hin, daß lateinamerikanische Länder "politische Maßnahmen [bevorzugen], die auf
eine breitere Streuung des Reichtums und die Anhebung des Lebensstandards der
Massen" ausgerichtet sind. Zudem sind diese Länder der Überzeugung, "daß die
hauptsächlichen Nutznießer der Ressourcenentwicklung eines Landes die jeweilige
Bevölkerung sein sollte". Solche Vorstellungen sind natürlich unannehmbar: Die
"hauptsächlichen Nutznießer" der Ressourcen sind US-Investoren, während
Lateinamerika seiner dienenden Funktion ohne eine die Interessen der USA
verletztende unvernünftige Rücksichtnahme auf allgemeinen Wohlstand oder
"übertriebene industrielle Entwicklung" nachzukommen hat.
Die Position
der Vereinigten Staaten setzte sich durch; allerdings gab es in der Folgezeit
Probleme, über deren spezifische Behandlungsweise ich hier nichts weiter sagen
muß.
Als Europa und Japan sich von den kriegsbedingten Verwüstungen zu
erholen begannen, verschob sich die Weltordnung in Richtung auf eine dreipolige
Struktur. Immer noch spielen die USA die Hauptrolle, auch wenn neue
Herausforderungen am Horizont auftauchen, wie etwa konkurrierende
Wirtschaftsbestrebungen ostasiatischer Länder in Südamerika. Die
einschneidendsten Veränderungen fanden vor 25 Jahren statt, als die Regierung
Nixon das Weltwirtschaftssystem der Nachkriegszeit demontierte. Die USA spielten
darin de facto die Rolle des Weltbankiers, was sich nun nicht länger
aufrechterhalten ließ. Diese einseitige Maßnahme führte zu einer gigantischen
Explosion unregulierter Kapitalströme. Noch augenfälliger ist die Verschiebung
in der Zusammensetzung des Kapitals. 1971 bezogen sich 90% der internationalen
Finanzgeschäfte auf reales Kapital - Handel oder langfristige Investitionen -
und 10% auf spekulatives Kapital. 1990 hatte sich das Verhältnis ins Gegenteil
verkehrt, und 1995 sind etwa 95% der sehr viel größeren Summen spekulativ, wobei
an jedem Tag die Summe des hin- und zurückfließenden Kapitals sich auf mehr als
eine Billion $ beläuft und damit die gesamten Fremdwährungsreserven der sieben
führenden Industriemächte übersteigt. Prominente Wirtschaftswissenschaftler
wiesen schon vor 20 Jahren daraufhin, daß dieser Prozeß zu einem verlangsamten
Wirtschaftswachstum mit Niedriglöhnen führen würde und schlugen sehr einfache
Maßnahmen vor, um diesen Folgen vorzubeugen. Aber die hauptsächlichen
Architekten der Politik setzten auf die vorhersehbaren Folgen, zu denen auch
sehr hohe Profite gehörten. Die Folgen wurden noch verstärkt durch den enormen
Anstieg der Ölpreise und die Revolution auf dem Telekommunikationssektor. Beides
ist mit dem riesigen staatlichen Sektor der US-Wirtschaft verbunden; ich werde
noch darauf zurückkommen.
Die sogenannten "kommunistischen" Staaten
standen außerhalb dieses Weltsystems. Im Verlauf der siebziger Jahre wurde China
reintegriert. Die Stagnation der sowjetischen Wirtschaft setzte in den sechziger
Jahren ein, und das ganze verrottete Gebäude brach 20 Jahre später zusammen. Im
großen und ganzen kehrt diese Region zu ihrem ehemaligen Status zurück.
Sektoren, die einmal zum Westen gehörten, schließen sich ihm wieder an, während
der größte Teil der Region, vorwiegend unter der Herrschaft ehemaliger
kommunistischer Bürokraten und anderer lokaler Kräfte, die sich rnit
ausländischen Unternehmen verbündet haben, unter Mitwirkung krimineller
Vereinigungen, zu seiner traditionellen Dienstleistungsrolle zurückkehrt. Das
Muster wie auch seine Resultate sind aus der Dritten Welt geläufig. Eine
Untersuchung der UN schätzte als Ergebnis der von ihr selbst geförderten
neoliberalen "Reformen" allein für 1993 eine halbe Million zusätzlicher
Todesfälle. Vor kurzem erst hat Rußlands Sozialminister geschätzt, daß 25% der
Bevölkerung unter dem Existenzminimum leben, während die neuen Herrscher enorme
Reichtümer angehäuft haben. Auch dieses Muster kennen wir aus den vom Westen
abhängigen Regionen.
Vertraut sind auch die Auswirkungen der umfassenden
Gewaltanwendung, mit deren Hilfe "der Wohlstand des kapitalistischen
Weltsystems" gesichert werden soll. Eine Konferenz der Jesuiten in San Salvador
wies darauf hin, daß "die Kultur des Terrors" mit der Zeit "die Erwartungen der
Mehrheit in die Schranken weist". Die Menschen denken dann nicht einmal mehr an
"Alternativen zu den Vorstellungen der Mächtigen", die das Ergebnis als großen
Sieg für Freiheit und Demokratie bezeichnen.
Dies sind einige Umrisse der
Globalen Weltordnung, innerhalb derer der "Konsens von Washington" geschmiedet
wurde.
Schauen wir nun, wie neu der Neoliberalismus eigentlich ist. Eine
gute Gelegenheit für den Einstieg bietet das kürzlich erschienene Jahrbuch des
Lon- Londoner Royal Institute of International Affairs, das Übersichtsartikel zu
den wichtigsten Themen enthält. Einer davon beschäftigt sich mit dem Problem der
Ökonomie von Entwicklungsprozessen. Der Autor, Paul Krugman, ist eine Kapazität
auf diesem Gebiet. Er bezeichnet fünf wesentliche Punkte, die in direkter
Beziehung zu unserer Frage stehen.
Erstens ist das Wissen über
wirtschaftliche Entwicklung äußerst begrenzt. So bleiben etwa für die
Vereinigten Staaten die Ursachen für zwei Drittel der Erhöhung des
Prokopfeinkommens unerklärt. Ebensowenig steht der Erfolg der asiatischen Länder
in Übereinstimmung mit dem, "was die geläufige Lehrmeinung als den Schlüssel zum
Wachstum ansieht", meint Krugman. Er empfiehlt "Bescheidenheit" bei politischen
Entscheidungsprozessen und warnt vor "undifferenzierten
Verallgemeinerungen".
Zweitens vertritt er die Auffassung, daß
fortwährend aus nicht ausreichenden Prämissen Schlußfolgerungen gezogen werden,
die dann der Politik doktrinäre Rückendeckung gewähren. Hierzu gehört auch der
"Konsens von Washington".
Drittens hält er die "konventionellen
Weisheiten" für instabil. Fortwährend verlagern sie ihr Schwergewicht, wechseln
manchmal zum Gegenteil der letzten Phase hinüber, während ihre Lobredner
jedesmal voller Selbstvertrauen die neue Lehrmeinung verkünden.
Viertens
weist er darauf hin, daß im Nachhinein sich alle darüber einig sind, daß die
jeweilige Politik "dem angestrebten Ziel nicht dienlich war" und auf "schlechten
Ideen" beruhte.
Fünftens und letztens wird "gewöhnlich behauptet, daß
schlechte Ideen soviel Erfolg haben, weil sie im Interesse mächtiger
Gruppierungen liegen. So etwas geschieht ohne Zweifel", bemerkt
Krugman.
Daß so etwas geschieht, ist spätestens seit Adam Smith zum
Gemeinplatz geworden. Und es geschieht selbst in den reichen Ländern mit
beeindruckender Regelmäßigkeit, wenngleich die Dritte Welt in dieser Hinsicht am
schlimmsten betroffen ist.
Genau das ist der zentrale Punkt. Die
"schlechten Ideen" dienen vielleicht nicht den "angestrebten Zielen", aber sie
erweisen sich für gewöhnlich als sehr gute Ideen für ihre hauptsächlichen
Architekten. Die neuere Zeit hat viele Experimente in der Wirtschaftsentwicklung
erlebt, und die dabei auftretenden Gesetzmäßigkeiten sind schwer zu übersehen.
Eine besteht darin, daß es den Planern dabei recht gut geht, während die dem
Experiment unterworfenen Subjekte oftmals Prügel beziehen.
Das erste
Großexperiment wurde vor 200 Jahren durchgeführt, als die britischen Regierenden
in Indien die "dauerhafte Besiedlung" (Permanent Settlement) einführten, die
wundersame Dinge zustandebrachte. Die Resultate wurden 40 Jahre später von einer
offiziellen Kommission begutachtet. Sie kam zu dem Schluß, daß "die mit großer
Sorgfalt und Entschiedenheit durchgeführte Besiedlung [unglücklicherweise] ...
fast die gesamten niederen Klassen in schmerzhafteste Bedrängnis gebracht" und
eine "Armut" hinterlassen hat, für die es "in der Geschichte des Handels kaum
eine Parallele gibt" angesichts "der Knochen der Baumwollspinner, die die Ebenen
Indiens weiß färben", wie der Direktor der Ostindischen Handelskompagnie
hinzufügte.
Doch kann das Experiment kaum als Fehlschlag verbucht werden.
Der britische Generalgouverneur bemerkte, daß die Besiedlung, "obwohl sie in
vielfacher Hinsicht und in den wesentlichsten Umständen gescheitert ist,
zumindest den großen Vorteil besaß, eine starke Gruppe von reichen
Grundbesitzern hervorzubringen, die am weiteren Bestehen des britischen
Dominions äußerst interessiert sind und die die Masse der Bevölkerung fest im
Griff haben". Ein weiterer Vorteil bestand darin, daß britische Investoren
enorme Reichtümer anhäuften. Überdies finanzierte Indien 40% des britischen
Handelsdefizits, während es zugleich einen geschützten Markt für britische
Manufakturexporte darstellte und die britischen Besitzungen mit Lohnarbeitern
versorgte, die die Verwendung von Sklaven überflüssig machten, sowie schließlich
das Opium produzierte, das den Hauptgegenstand der britischen Exporte nach China
bildete. Das Opium wurde China durch Gewalt aufgezwungen, sowie die geheiligten
Prinzipien des Marktes übersehen wurden, als die Opiumeinfuhr nach England
verboten wurde.
Kurz gesagt, erwies sich das erste große Experiment als
"schlechte Idee" für die Unterworfenen, nicht aber für die Planer und die mit
ihnen ver verbündeten lokalen Eliten. Dies Muster läßt sich bis in die Gegenwart
verfolgen, wobei die Beharrlichkeit, mit der es auftritt, nicht weniger
eindrucksvoll ist als die Rhetorik, mit der der jeweils jüngste "Ausbund an
Demokratie und Kapitalismus" als "Wirtschaftswunder" gefeiert wird - und was die
Rhetorik gewöhnlicherweise verschweigt. Nehmen wir Brasilien. In seiner (von mir
bereits erwähnten) hochgelobten Geschichte der "Amerikanisierung Brasiliens"
schreibt Gerald Haines, daß die Vereinigten Staaten Brasilien seit 1945 als
"Testareal für moderne wissenschaftliche Methoden industrieller Entwicklung"
benutzten. Die Experimente wurden "in bester Absicht" durchgeführt.
US-amerikanische Investoren profitierten davon, aber die Planungsstrategen
"glaubten ernsthaft", auch das brasilianische Volk werde seinen Nutzen daraus
ziehen. Ich muß nicht beschreiben, welcher Nutzen hier gemeint ist, als
Brasilien, mit den Worten der Wirtschaftspresse, "zum lateinamerikanischen
Liebling der internationalen Geschäftswelt" wurde, während die Weltbank
berichtete, zwei Drittel der Bevölkerung hätten nicht genug zu essen, um normale
körperliche Tätigkeiten verrichten zu können. In seinem 1989 geschriebenen Buch
beschreibt Haines "Amerikas Brasilienpolitik" als "überaus erfolgreich", es sei
"eine wirkliche amerikanische Erfolgsgeschichte". In den Augen der Geschäftswelt
war 1989 das "goldene Jahr", mit einer Verdreifachung der Profite gegenüber dem
Vorjahr, während die Industrielöhne, die bereits zu den niedrigsten der Welt
gehörten, noch einmal um 20% fielen, Der UN-Bericht zur Entwicklung der
Menschheit rückte Brasilien in die Nähe von Albanien. Als die Katastrophe auch
auf die Reichen überzugreifen begann, wurden die "fest auf den Kapitalismus
gegründeten modernen wissenschaftlichen Entwicklungsmethoden" urplötzlich zu
Beweisen für die Übel des Etatismus und Sozialismus - ein anderer schneller
Übergang, der stattfindet, wenn es sich als notwendig erweist.
Um die
Errungenschaften würdigen zu können, muß man sich daran erinnern, daß Brasilien
lange als eines der reichsten Länder der Erde galt und enorme Vorteile besaß, zu
denen auch ein halbes Jahrhundert US-amerikanischer Vorherrschaft und
Bevormundung gehörten, die in bester Absicht geschahen und dabei wieder einmal
dem Eigeninteresse dienlich sind, während die Bevölkerungsmehrheit im Elend
verharrt.
Das jüngste Beispiel ist Mexiko. Es wurde als Musterschüler
gepriesen, der die Regeln des "Konsenses von Washington" beherzige und ein
Modellfall für andere Länder sei - als die Löhne in den Keller fielen, die Armut
fast so schnell wuchs wie die Zahl der Milliardäre, Auslandskapital ins Land
strömte (das zumeist spekulativer Natur war oder zur Ausbeutung billiger
Arbeitskraft unter Kontrolle der brutalen "Demokratie" diente") und all die
anderen vertrauten Begleiterscheinungen auftraten, die man von solchen
"Wirtschaftswundern" her kennt. Vertraut ist auch der Ausgang des Experiments:
der Zusammensturz des Kartenhauses im Dezember 1994. Zu den Folgen gehört, daß
heute 50% der Bevölkerung nicht in der Lage sind, sich mit dem notwendigen
Minimum an Lebensmitteln zu versorgen, während der Mann, der den Getreidemarkt
beherrscht, weiterhin auf der Liste von Mexikos Milliardären steht, immerhin
eine Kategorie, in der das Land einen der vorderen Plätze
einnimmt.
Veränderungen in der Globalen Weltordnung haben es auch möglich
gemacht, eine Version des "Konsenses von Washington" in der Innenpolitik
anzuwenden. Für den größten Teil der US-Bevölkerung sind die Einkommen seit 15
Jahren ständig gefallen, sind Arbeitsbedingungen schlechter, gesicherte
Arbeitsplätze seltener geworden. Neu ist jedoch, daß sich diese Tendenz in der
wirtschaftlichen Erholungsphase fortsetzt. Die Ungleichheit ist so stark wie
seit 70 Jahren nicht mehr und einschneidender als in anderen lndustrienationen.
Keine Industriegesellschaft hat so viele in Armut lebende Kinder wie die USA,
gefolgt von der übrigen englischsprechenden Welt. So ließe sich der ganze
Katalog mit den Gebrechen der Dritten Welt anführen. Unterdessen kann die
Wirtschaftspresse nicht genug schmückende Beiwörter finden, um das
"erstaunliche", ja "schier unbegreifliche" Wachstum der Profite zu beschreiben.
Zugegebenermaßen haben jedoch auch die Reichen ihre Probleme: Eine Schlagzeile
in der Business Week verkündet: "Das akute Problem: Wohin mit dem ganzen
Kleingeld?". Denn die "steigenden Profite" lassen "die Tresore der
amerikanischen Konzerne überfließen" und die Dividenden explodieren.
Noch
weit bis ins Jahr 1996 hinein bleiben die Profite "spektakulär", wobei
insbesondere die weltgrößten Konzerne ein "bemerkenswertes" Profitwachstum
erfahren. Allerdings gibt es "einen Bereich, in dem die global operierenden
Unternehmen nicht viel zulegen: nämlich auf den Lohnstreifen", fügt das Magazin
Fortune heimlich, still und leise hinzu. Diese Ausnahme umfaßt auch Unternehmen,
die ein "großartiges Jahr" mit einer "Gewinnexplosion sondergleichen" hinter
sich haben, während sie Arbeitsplätze wegrationalisierten, zur Beschäftigung von
Teilzeitkräften ohne Sozialleistungen und Arbeitsplatzgarantie übergingen und
sich auch sonst so benahmen, wie man es von einer "fünfzehnjahrigen" eindeutigen
Vorhenschaft des Kapitals über die Arbeit" erwarten würde, um noch einmal die
Wirtschafts- presse zu zitieren.
Das Problem der "Verschlankung" hat
beträchtliche Aufmerksamkeit erfahren und ist zweifellos für die arbeitenden
Menschen von großer Wichtigkeit. Unterdessen weisen offizielle Zahlen seit 1983
einen Zuwachs von 30% der Stellen "in den oberen Chefetagen, beim Management und
beim Verwaltungspersonal" aus, der mit Gehaltssteigerungen einherging, die im
Vergleich zu den Löhnen sehr viel höher ausfielen als anderswo. Auch sind die
Managerbürokratien in der US-amerikanischen Industrie dreimal so umfangreich wie
in Deutschland oder Japan, eine Tatsache, die vielleicht mit dem Angriff auf die
Löhne zusammenhängt. Der Ökonom David Gordon geht davon aus, daß die riesigen
Konzernbürokratien nötig sind, um die ungewöhnlich harte Arbeitspolitik
durchzusetzen, die strenge Kontrollen und sehr viel Druck erfordert. Eine
ähnlich gelagerte Sozialpolitik trägt dazu bei, daß die Zahl der
Gefängnisinsassen ständig wächst. Sie hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als
verdreifacht und steigt noch immer rasch an. Auch hier stellen die USA andere
Industrienationen schon lange in den Schatten.
Mittlerweile werden neue
"Experimente" auf den Weg gebracht, um die in der Dritten Welt verbreitete
Zwei-Schichten-Gesellschaft auch in den Vereinigten Staaten durchzusetzen. Es
wäre lohnenswert, diesen Prozeß einer näheren Betrachtung zu unterziehen, aber
dafür ist hier nicht der Ort. Man braucht nicht viel Phantasie, um die Artikel,
die in ein paar Jahren erscheinen und das "Fehlschlagen" der mit so vielen guten
Absichten unternommenen "Experimente" bejammern werden, jetzt schon zu
verfassen. Der "Fehlschlag" betrifft natürlich die Opfer des Experiments, nicht
die Konstrukteure, denen es, ganz nach altbewährtem Muster,
wohlergeht.
Der Geschichtsverlauf liefert weiteres Lehrmaterial. Im 18.
Jahrhundert waren die Unterschiede zwischen Erster und Dritter Welt sehr viel
weniger ausgeprägt als heute. Daraus ergeben sich zwei auf der Hand liegende
Fragen:
Welche Länder entwickelten sich und welche nicht?
Können wir
ursächliche Faktoren bestimmen?
Die erste Frage ist nicht besonders
schwierig zu beantworten. Außerhalb von Westeuropa haben sich jene beiden
Regionen entwickelt, die der Kolonisierung entgangen waren: die Vereinigten
Staaten und Japan. Die japanischen Kolonien sind eine andere Sache; zwar war
Japan eine brutale Kolonialmacht, aber es raubte seine Kolonien nicht aus,
sondern entwickelte sie in etwa in dem Maßstab wie das Mutterland
selbst.
Wie verhält es sich mit Osteuropa? Im 15. Jahrhundert setzten in
Europa Teilungsprozesse ein, die zur Entwicklung des Westens führten, während
der Osten zur Dienstleistungsregion absank. Er war die ursprüngliche Dritte
Welt. Die Trennungsgräben vertieften sich zu Beginn dieses Jahrhunderts, als
Rußland sich aus dem System verabschiedete. Trotz der Grausamkeiten des
Stalinismus und der fürchtbaren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg gelang dem
Sowjetsystem die tiefgreifende Industrialisierung der Region. Osteuropa bildete
nun die "Zweite Welt", gehörte - zumindest bis 1989 - nicht zur "Dritten Welt".
Aus internen Dokumenten wissen wir von den Befürchtungen westlicher
Planungsstrategen, Rußlands Wirtschaftswachstum könnte in anderen Ländern den
"radikalen Nationalismus" anheizen und zu jener Krankheit führen, von der
Rußland 1917 befallen worden war, als es sich weigerte, weiterhin "der
westlichen Industriewirtschaft als Zulieferer zu dienen". So beschrieb eine
renommierte Arbeitsgruppe 1995 das Problem des Kommunismus. Insofern war die von
den westeuropäischen Mächten 1918 betriebene Intervention eine Abwehrhandlung,
um den von gesellschaftlichen Veränderungen in der Dienstleistungsregion
bedrohten "Wohlstand des kapitalistischen Weltsystems" zu schützen. So
jedenfalls wird es in der angesehenen Forschung beschrieben.
Die Logik
des Kalten Krieges ähnelt dem Fall von Guatemala oder Grenada. Seine Dimension
jedoch war so gewaltig, daß der Konflikt ein Eigenleben gewann. Es überrascht
nicht, daß mit dem Sieg des mächtigeren Antagonisten traditionelle Muster erneut
zum Leben erweckt werden. Ebenso wenig sollte erstaunen, daß das Budget des
Pentagon genau so hoch bleibt wie zu Zeiten des Kalten Krieges, ja sogar noch
aufgestockt wird, während die Grundlinien der Außenpolitik Washingtons sich kaum
verändern. Das sind weitere Tatsachen, die uns helfen, Einsicht in die
Realitäten der Globalen Weltordnung zu erlangen.
Kehren wir zur Frage
zurück, welche Länder sich entwickelt haben und warum. Zumindest eine
Schlußfolgerung drängt sich auf:
Gelingende Entwicklung hing davon ab,
daß das betreffende Land keine "Experimente" mitmachen mußte, die auf jenen
"schlechten Ideen" beruhten, welche sich für die Planer und ihre Kollaborateure
als "gute Ideen" erwiesen. Das ist keine Garantie für den Erfolg, aber
offensichtlich eine notwendige Vorbedingung.
Nun zur zweiten Frage: Wie
haben Europa und diejenigen Länder, die sich seiner Kontrolle entziehen konnten,
die erfolgreiche Entwicklung bewerkstelligt? Ein Teil der Antwort scheint
wiederum auf der Hand zu liegen: Durch die radikale Verletzung der anerkannten
Doktrin des freien Marktes. Diese Schlußfolgerung gilt von England bis hin zur
heutigen ostasiatischen Wachstumsregion und schließt zweifellos die Vereinigten
Staaten, den historischen Vorreiter des Protektionismus, ein.
Maßgebliche
Werke der Wirtschaftsgeschichte erkennen an, daß staatliche Intervention eine
entscheidende Rolle für das Wirtschaftswachstum gespielt hat. Doch wird ihr
Einfluß unterschätzt, wenn man einen zu engen Betrachtungsmaßstab wählt. So wird
gern unterschlagen, daß die für die industrielle Revolution absolut notwendige
billige Baumwolle, die zumeist aus den USA stammte, nicht durch die Kräfte des
Marktes billig und verfügbar blieb, sondern durch die Vernichtung der
eingeborenen Bevölkerung und durch Sklavenarbeit. Natürlich gab es auch noch
andere Baumwollproduzenten, an erster Stelle Indien. Seine Ressourcen flossen
nach England, während seine eigene weit entwickelte Textilindustrie durch
britische Gewalt und britischen Protektionismus zerstört wurde. Ein weiteres
Beispiel ist Ägypten, wo die industrielle Entwicklung ungefähr zur gleichen Zeit
begann wie in den Vereinigten Staaten. Doch wurde sie durch britische Gewalt
ganz offenkundig deshalb blockiert, weil Großbritannien in jener Region keine
unabhängige Entwicklung duldete. Neuengland dagegen konnte den Spuren des
Mutterlandes folgen und die Einfuhr von aus Großbritannien kommenden billigeren
Textilien durch extrem hohe Zölle blockieren. Genauso hatte Großbritannien es
einst selbst gehandhabt. Ohne derartige Maßnähmen wäre, so schätzen
Wirtschaftshistoriker, die halbe neuenglische Textilindustrie in ihrer
Wachstumsphase zerstört worden, was weitreichende Folgen für die
Industrieentwicklung insgesamt gehabt hätte.
Ein zeitgenössisches
Analogon bildet die Energie, von der die entwickelten Industriegesellschaften
abhängen. Das "Goldene Zeitalter" der Nachkriegsentwicklung beruhte auf billigem
und im Überfluß vorhandenen Öl; mit Gewalt sorgten die USA dafür, daß es so
blieb. Und auf diese Weise geht es weiter. Ein großer Teil des Pentagon-Budgets
dient dazu, die Ölpreise im Mittleren Osten auf einem Niveau zu halten, das die
USA und ihre Energiegesellschaften für angemessen befinden. Eine technische
Untersuchung kommt zu dem Schluß, daß die Ausgaben des Pentagon auf eine
dreißigprozentige Subventionierung des Marktpreises für Rohöl hinauslaufen.
Daran zeigt sich, daß "die geläufige Ansicht, fossile Brennstoffe seien billig,
auf einer völligen Fiktion beruht", schließt der Autor. Schätzungen betreffend
die angebliche Effizienz des Handels sowie Schlußfolgerungen im Hinblick auf
Wirtschaftswachstum und ökonomische Gesundheit sind von sehr beschränkter
Gültigkeit, wenn wir solche versteckten Kosten ignorieren.
Eine Gruppe
prominenter japanischer Ökonomen hat vor kurzem eine mehrbändige Übersicht über
Japans Wirtschaftsentwicklungsprogramme seit dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt.
Sie weisen darauf hin, daß Japan die "neoliberalen" Lehren seiner
US-amerikanischen Ratgeber verworfen und sich statt dessen für eine Form der
Industriepolitik entschieden hatte, die dem Staat eine beherrschende Rolle
zuwies. Erst als die Aussicht auf Handelserfolge zunähm, gingen Staatsbürokratie
und Industrie-Finanz~Konglomerate allmählich dazu über, Marktmechanismen
einzuführen. Die Ökonomen kommen zu dem Schluß, daß gerade die Zurückweisung
orthodoxer Wirtschaftsrezepturen eine Vorbedingung für das japanische
Wirtschaftswunder darstellte. Der Erfolg ist beeindruckend. Fast ohne
Ressourcengrundlage ist Japan in den neunziger Jahren zum weltgrößten
Fertigungsproduzenten und zur weltweit führenden Quelle von
Auslandsinvestitionen geworden. Zudem repräsentiert Japan die Nettorücklagen der
halben Welt und finanziert die US-amerikanischen Defizite.
Wenden wir uns
nun den ehemaligen japanischen Kolonien zu. Die grundlegende Untersuchung der
US-Militärmission in Taiwan fand heraus, daß US-Berater und chinesische
Planungsstrategen die Prinzipien der " angloamerikanischen Ökonomie" außer Acht
ließen und statt dessen eine " staatszentrierte Strategie" entwickelten, die
"auf der aktiven Regierungsbeteiligung an den Wirtschaftsaktivitäten der Insel
mittels bewußter Planung und der Kontrolle ihrer Durchführung" beruhte.
Unterdessen priesen US-Regierungsbeamte "Taiwan als Erfolgsgeschichte des
privaten Unternehmertums". In Südkorea funktioniert der "Unternehmer-Staat"
wiederum anders, aber ebenfalls nicht ohne lenkende Hand. Gerade jetzt wird
Südkoreas Eintritt in die OECD, den Klub der Reichen, vertagt, weil das Land
wenig Neigung zeigt, "einer marktorientierten Politik zu folgen", also etwa
"Übernahmen durch ausländische Gesellschaften" und die freie Kapitalbewegung zu
gestatten. Südkorea folgt damit seinem japanischen Lehrmeister, der
Kapitalexporte erst 1972 erlaubte, als die japanische Wirtschaft gefestigt
war.
Die jüngste Ausgabe der von der Weltbank herausgegebenen Zeitschrift
Research Observer enthält einen Artikel, den der Vorsitzende von Clintons
Wirtschaftsrat verfaßt hat. Er zieht dort "Lehren aus dem Wunder von Ostasien",
darunter die Einsicht, daß "die Regierungen die Hauptverantwortung für die
Förderung des Wirtschaftswachstums" übernommen haben. Damit wurde die "Religion"
der freien Marktwirtschaft verlassen zugunsten interventionistischer Maßnahmen,
die den Technologietransfer anheizen sowie im Zusammenhang mit der Planung und
Koordination industrieller Entwicklung für relative Gleichheit, und ein
allgemeines Bildungs- und Gesundheitssystem sorgen sollten. Der UNO-Bericht zur
Menschheitsentwicklung von 1996 betont die "Lebenswichtigkeit" der
Regierungspolitik für die "Verbreitung von Fähigkeiten und Fertigkeiten und die
Befriedigung elementarer sozialer Bedürfnisse" als "Sprungbrett für stabiles
Wirtschaftswachstum". Was immer man von neoliberalen Ansätzen halten mag, so
besteht zumindest kein Zweifel daran, daß sie ein sinnvolles Erziehungs- und
Gesundheitssystem unterminieren, die Ungleichheit befördern und den
Arbeitnehmeranteil am Gesamteinkommen schrumpfen lassen. Infolgedessen - darin
besteht breite Übereinstirnmung - untergraben sie gerade diejenigen Faktoren,
die die Grundlage für ein stabiles Wirtschaftswachstum bilden.
Der
Vergleich zwischen Ostasien und Lateinamerika führt zu erstaunlichen Einsichten.
Lateinamerika weist im Hinblick auf soziale Ungleichheit weltweit die
schlechtesten Werte auf, Ostasien dagegen die besten. Das gleiche gilt für
Gesundheit, Erziehung und die gesellschaftliche Wohlfahrt im allgemeinen. Die
Importe nach Lateinamerika haben sich stark zugunsten von Konsumtionsgütern für
die Reichen verschoben, in Ostasien stehen produktive Investitionen an erster
Stelle. In Lateinamerika hat die Kapitalflucht die Höhe der zermürbenden
Auslandsschulden erreicht, während in Ostasien der Kapitalexport strikt
kontrolliert wurde. In Lateinamerika sind die Reichen im allgemeinen von
sozialer Verantwortung inklusive Steuerzahlungen befreit. Das
lateinamerikanische Problem, so der brasilianische Ökonomom Bresser Pereira, ist
nicht der "Populismus", sondern "die Unterwerfung des Staates unter die
Reichen". Das ist in Ostasien völlig anders.
Ähnliches gilt für
Auslandsinvestitionen. Auch hier fand das Fremdkapital sehr viel leichter Zugang
zu den Volkswirtschaften Lateinamerikas, so daß seit den fünfziger Jahren
ausländische Multis in Lateinamerika "einen sehr viel größeren Anteil der
Industrieproduktion kontrollieren" als in den erfolgreichen Ländern Ostasiens
(UNCTAD). Selbst die Weltbank gibt zu, daß die von ihr befürworteten
Auslandsinvestitionen und Privatisierungen in Lateinamerika "dahin tendierten,
andere Kapitalströme zu ersetzen". Anders als in Ostasien wanderten damit die
Profite ebenso wie die Kontrolle über die Kapitalströme ins Ausland ab. Die Bank
sieht auch, daß in Japan, Korea und Taiwan die Preise stärker von den
Marktpreisen abwichen als in Indien, Brasilien, Mexiko, Venezuela und anderen
angeblich staatsinterventionistischen Ländern (1976- 85), während die Regierung
Chinas, die am stärksten interventionistisch orientiert und am weitesten von den
Marktpreisen entfernt ist, der erklärte Liebling der Weltbank und ihr am
schnellsten wachsender Kreditnehmer ist. Atilio Boron hat - um nur ein Beispiel
zu nennen - darauf hingewiesen, daß die offiziellen Untersuchungen der Weltbank
über die Lehren, die aus Chile gezogen werden können, die Tatsache, daß die
nationalisierten kupferproduzierenden Unternehmen die Hälfte der chilienischen
Exportgewinne einfahren, tunlichst unerwähnt lassen.
Offensichtlich hat
die Offenheit gegenüber der internationalen Wirtschaft zusammen mit der
Unfähigkeit, das Kapital und die Reichen ebenso zu kontrollieren wie die Armen
und die Arbeiter, Lateinamerika erhebliche Kosten beschert. Natürlich gibt es,
wie zur Kolonialzeit, Bevölkerungsschichten, die von der Entwicklung
profitieren. Wenig überraschend sind sie den Lehren der neoliberalen "Religion"
genau so ergeben wie die ausländischen Investoren.
Ein Blick auf die vor
kurzem vom US-Handelsministerium veröffentlichten Zahlen verschafft uns weitere
Einsicht in die Wunder der "im Entstehen begriffenen Märkte": mit Ausnahme von
Kanada sind die Bermudas in der lateinamerikanischen Hemisphäre der führende
Empfänger von US-amerikanischen Direktinvestitionen. Sie erhalten fast ein
Viertel der Gesamtsumme, während weitere 20% in andere Steuerparadiese fließen,
und fast der ganze Rest an jene "Wirtschaftswunderländer" geht, die dem Diktat
des "Konsenses von Washington" gefolgt sind, was für die Bevölkerungsmehrheit
keine rühmlichen Folgen gehabt hat.
Die Rolle, die Management und
Initiative des Staates in den erfolgreichen Volkswirtschaften gespielt haben,
sollte eine ähnlich vertraute Geschichte ergeben. Damit hängt die Frage
zusammen, wie die Dritte Welt zu dem wurde, was sie heute ist. Der herausragende
Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch kommt in einer wichtigen Untersuchung über
die Entwicklungspolitik und ihre "Mythen" zu dem Schluß, "daß der im neunzehnten
Jahrhundert in der Dritten Welt zwangsweise durchgesetzte
Wirtschaftsliberalismus zweifellos zu den Hauptursachen der verzögerten
Industrialisierung gerechnet werden muß". Das sehr erhellende Beispiel Indiens
zeigt sogar, wie dort der "Prozeß der De-Industrialisierung" das Industrie- und
Handeiszentrum der Welt in eine verarmte Agrargesellschaft verwandelte, die
einen erheblichen Rückgang der Reallöhne, des Lebensmittelverbrauchs und der
Verfügbarkeit anderer Grundwaren zu verzeichnen hatte.
"Indien war nur
der erste große Katastrophenfall auf einer sehr langen Liste", bemerkt Bairoch.
Auf dieser Liste stehen "sogar politisch unabhängige Länder der Dritten Welt,
die gezwungen wurden, ihren Märkte für westliche Produkte zu öffnen". Zur
gleichen Zeit schützten die westlichen Gesellschaften sich vor der
Marktdisziplin und verzeichneten eine ansteigende Entwicklung.
Das bringt
uns zu einem anderen wichtigen Charakterzug der modernen Geschichte. Die Doktrin
der freien Marktwirtschaft gibt es in zwei Variationen. Die erste ist die den
Schutzlosen aufgezwungene offizielle Doktrin. Die zweite könnten wir "real
existierende Doktrin der freien Marktwirtschaft" nennen: Marktorientierung ist
gut für dich, nicht aber für mich. Und genau diese "real existierende Doktrin"
herrscht seit dem 17. Jahrhundert, als Großbritannien zum fortgeschrittensten
Wirtschaftsstaat in Europa wurde, der die Besteuerung radikal vorantrieb und
eine wirksame öffentliche Verwaltung auf die Beine stellte, um die fiskalischen
und militärischen Unternehmungen des Staates zu finanzieren. So wurde der
britische Staat "zum größten Einzelakteur in der Wirtschaft" und ihrer globalen
Ausweitung (John Brewer).
Großbritannien wandte sich schließlich dem
liberalen Internationalismus zu - allerdings erst 1846. Zuvor hatten
Protektionismus, Gewalt und staatliche Machtausübung 150 Jahre lang dafür
gesorgt, daß andere Konkurrenten auf der Strecke blieben. Aber auch danach wurde
der Handelsliberalismus nur mit bedeutsamen Einschränkungen praktiziert. 40% der
britischen Textilwaren gingen weiterhin ins kolonisierte Indien und das gilt
auch für die Gesamtexporte. Britischer Stahl wurde durch hohe Einfuhrzölle vom
US-amerikanischen Markt ferngehalten, so daß die USA ihre eigene Stahlindustrie
entwickeln konnten. Aber als England auf dem internationalen Markt nicht mehr
landen konnte, standen Indien und andere Kolonien noch als Exportländer zur
Verfügung. Wiederum ist Indien ein erhellendes Beispiel: Ende des 18.
Jahrhunderts produzierte es ebensoviel Eisen wie ganz Europa, und britische
Ingenieure studierten Jahre später vor Ort die fortgeschritteneren Techniken der
Stahlproduktion um die "technologische Lücke" zu schließen. Als der
Eisenbahnboom begann, war Bombay in bezug auf die Produkrion von Lokomotiven ein
ernstzunehmender Konkurrent. Aber die "real existierende Doktrin der freien
Marktwirtschaft" zerstörte diese Sektoren der indischen Industrie, wie sie es
schon mit der Textilindustrie, dem weit fortgeschrittenen Schiffbau und anderen
Wirtschaftszweigen getan hatte. Im Gegensatz dazu konnten die USA und Japan
Großbritanniens Modell der Marktbeeinflussung übernehmen. Und als der japanische
Wettbewerb kaum noch in den Griff zu bekommen war, machte England mit dem Spiel
kurzerhand Schluß: das Empire wurde für japanische Exporte geschlossen. Das
gehört mit zum Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Zur gleichen Zeit baten
indische Produzenten um Protektion - aber gegen England, nicht gegen Japan. Sie
hatten angesichts der real existierenden Doktrin der freien Marktwirtschaft
weniger Glück.
In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gab die
britische Regierung ihre Version des Laissez-faire-Liberalismus auf und wandte
sich auch innenpolitisch einer stärkeren staatlichen Interventionspolitik zu.
Nach wenigen Jahren stieg die Produktion von Werkzeugmaschinen um das Fünffache,
zudem erlebten Chemie-, Stahl- und Luftfahrttechnik sowie viele neue
Industriezweige einen ungeahnten Aufschwung. Die staatlich kontrollierte
Industrie ermöglichte es England sogar, Deutschland im Krieg zu überrunden und
selbst den Abstand zu den Vereinigten Staaten zu verringern, die damals ihre
eigene dramatische Wirtschaftsexpansion erlebten, als Konzernmanager die
staatlich koordinierte Kriegswirtschaft übernahmen.
Ein Jahrhundert
später als England beschritten die Vereinigten Staaten den Weg eines liberalen
Internationalismus. Nach 150 Jahren, in denen sie Protektionismus und Gewalt
ausgeübt hatten, waren die USA zum reichsten und mächtigsten Land der Erde
geworden. Wie zuvor schon England bemerkten nun auch die Vereinigten Staaten die
Vorzüge eines "gemeinsamen Wettbewerbs" bei dem sie voraussichtlich alle
Konkurrenten aus dem Felde schlagen gen konnten. Aber wie im Falle Englands gab
es auch hier wichtige Vorbehalte bezüglich der Gemeinsamkeit.
Einer
dieser Vorbehalte bestand darin, daß Washington seine Machtstellung ausnutzte,
um anderswo unabhängige Entwicklungen zu blockieren. In Lateinamerika, aber auch
in anderen Ländern sollte die Entwicklung "komplementär" und nicht etwa
"konkurrierend" sein. Zudem gab es umfangreiche Eingriffe in den Handel. So war
zum Beispiel die Marshall-Plan-Hilfe an den Kauf US- amerikanischer
Landwirtschaftserzeugnisse gebunden. Das ist einer der Gründe, aus denen der
US-Anteil am Weltgetreidehandel von weniger als 10% vor dem Krieg bis 1950 auf
mehr als die Hälfte anstieg, während Argentiniens Exportquoten im gleichen Maße
sanken. Die US-amerikanische Hilfsaktion "Lebensmittel für den Frieden" diente
auch der Förderung der eigenen Agrarwirtschaft und Frachtschiffahrt; 1954 führte
ein Handelsvertrag mit Brasilien zur Unterminierung der argentinischen
Exportgeschäfte. Einige Jahre später wurde der kolumbianische Weizenanbau durch
ähnliche Maßnahmen fast völlig ruiniert. Darin liegt einer der Faktoren für das
Wachstum der Drogenindustrie, der durch die Ausbreitung neoliberaler Politik in
der Andenregion noch beschleunigt wurde. Vor wenigen Wochen blockierte
Washington, in flagranter Verletzung der von der NAFTA und der
Welthandelsorganisation festgelegten Regeln, den Export mexikanischer Tomaten,
was den mexikanischen Produzenten einen jährlichen Verlust von nahezu einer
Milliarde $ bescherte. Die offizielle Begründung lautete, die Preise würden
"durch die mexikanische Konkurrenz künstlich niedrig gehalten" und mexikanische
Tomaten von den US-amerikanischen Konsumenten bevorzugt. Mit anderen Worten: Der
freie Markt funktionierte, aber mit den falschen Folgen. - Das sind nur einige
verstreute Beispiele.
Die wirklich wichtigen Abweichungen von der Doktrin
der freien Marktwirtschaft liegen jedoch woanders. Ein Grundpfeiler der
Freihandelstheorie besteht in dem Verbot öffentlicher Subventionen. Doch nach
dem Zweiten Weltkrieg gingen US-amerikanische Wirtschaftsführer davon aus, daß
es ohne staatliche Intervention erneut zu einer Wirtschaftskrise kommen werde.
Beharrlich vertraten sie die Auffassung, eine entwickelte Industrie "finde in
einer auf ,freiem Unternehmertum' beruhenden, d.h. rein konkurrenzmäßig
orientierten und staatlich nicht subventionierten Wirtschaft keine hinreichende
Existenzgrundlage", mithin sei "die Regierung der einzige Rettungsanker". Ich
zitiere die führenden Blätter der Wirtschaftspresse, die auch erkannten, daß das
Pentagon-System die beste Möglichkeit sei, die Kosten zu sozialisieren. Sie
begriffen, daß öffentliche Subventionen einen vergleichbaren Anschiebeeffekt
haben können, jedoch keine direkte Subvention des Wirtschaftssektors darstellen.
Sie haben demokratisierende Auswirkungen und zielen auf Umverteilung.
Militärsubventionen sind gänzlich anders gelagert.
Außerdem läßt sich
eine solche Unterstützung leichter verkaufen. Präsident Trumans
Luftwaffenminister formulierte die Sache ganz einfach: Wir sollten, sagte er,
nicht das Word "Subvention" verwenden, sondern lieber von "Sicherheit" reden. Er
sorgte dafür, daß der Militärhaushalt "den Erfordernissen der Luftfahrtindustrie
entsprechen" werde; so jedenfalls lautete seine Formulierung. Infolgedessen ist
die zivile Luftfahrt jetzt der Exportschlager der USA, und die darauf beruhende
umfangreiche Reise- und Touristikbranche sorgt für riesige Gewinne. Das gleiche
Verfahrensmuster findet sich in der Computer- und Elektronikindustrie, der
Metallurgie, der Biotechnologie, der Telekommunikation - faktisch in allen
expandierenden Wirtschaftsbereichen. Sie alle sind in großem Maße abhängig von
öffentlichen Subventionen.
Der von mir bereits zitierte aktuelle Bericht
über "spektakuläre" Profite führt die Sektoren Raumfahrt und Verteidigung als
die eindeutigen Sieger des Jahres 1996 auf. Ihre Gewinne sind mehr als doppelt
so hoch wie die des nächstbesten Konkurrenten. Aber auch die anderen
profitierten von der Umwandlung öffentlicher Gelder in private Profite, einem
zentralen Charakterzug der "real existierenden freien
Marktwirtschaft".
Der Reagan-Administration mußte diese Doktrin nicht
erst erläutert werden. Sie war ein Meister in der Kunst, den Armen die Segnungen
des Marktes anzupreisen, während sie der Geschäftswelt stolz verkündete, Reagan
habe "der US-Industrie mehr Importerleichterungen verschafft als jeder seiner
Vorgänger seit 50 Jahren" -, was viel zu bescheiden ist, denn Reagans Maßnahmen
übertrafen die seiner sämtlichen Vorgänger, und unter seiner Herrschaft "schlug
das Pendel so stark zum Protektionismus aus wie seit den dreißiger Jahren nicht
mehr". So der Kommentar von Foreign Affairs in einem Rückblick auf die achtziger
Jahre. Ohne diese und andere bis zum Äußersten gehende Maßnahmen der
Marktbeeinflussung hätten Stahl-, Kfz-, Werkzeugmaschinen- oder
Halbleiterindustrien die japanische Konkurrenz wohl kaum überlebt und wären auch
nicht fähig gewesen, neue Technologien zu entwickeln, um dadurch der
Gesamtwirtschaft frische Impulse zu verleihen.
Diese Erfahrung zeigt
erneut, daß die "tradierte Weisheit" "auf ziemlich wackligen Füßen steht", wie
ein anderer Rückblick auf die Ära Reagan in Foreign Affairs formuliert. Aber die
tradierte Weisheit bewahrt ihre Tugenden als ideologische Waffe im Kampf gegen
die Schutzlosen.
Ebensowenig muß man diese Doktrin dem Führer der neuen
"kon- servativen Revolution", Newt Gingrich, erklären, der siebenjährige Kinder
streng über die mit der Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat vermachten Übel
belehrt, während er zugleich den Nationalpreis für die Vermittlung staatlicher
Subventionen an seine reichen Wähler erhält. Gleiches gilt für die Heritage
Foundation, die die Budgetvorschläge für die Kongreßabgeordneten der
"Konservativen" entwirft und infolgedessen eine Clintons Haushaltserhöhung noch
übersteigende Aufstockung der Gelder für das Pentagon beantragte (und
durchsetzte). Damit sollte die "Grundlage der Verteidigungsindustrie" intakt
gehalten, d.h. durch die Staatsmacht geschützt werden und konnte so ihren
Nutznießern eine militärisch wie zivil nutzbare Technologie anbieten, die ihnen
eine marktbeherrschende Stellung ermöglichte. Gleiches gilt für die Industrie-
und Finanzunternehmen, die die "Grundlage der Verteidigungsindustrie" bilden und
nun eifrig darum bemüht sind, in neue, staatlich subventionierte Märkte zu
expandieren. Dazu gehört der schnell wachsende Industriezweig, der Produkte für
die Verbrechensbekämpfung herstellt und damit große Potentiale für die
Entwicklung von High-Tech-Konrtroll- und Überwachungssystemen enthält, die sogar
bei der Betreuung der privatisierten Wohlfahrtssysteme eingesetzt werden können
- ein Sektor, den der führende Hersteller Lockheed Martin im Visier
hat.
Alle begreifen sehr gut die Bedeutung freien Unternehmertums: Wenn
die Sache schief läuft, zahlt die Öffentlichkeit die Kosten und trägt die
Risiken. So hat der Steuerzahler z.B. in Südamerika in den letzten Jahren
Hunderte Milliarden von Dollar durch geplatzte Bank- und Konzernbürgschaften
verloren, Profite werden privatisiert, Kosten und Risiken
sozialisiert.
Natürlich stehen die Vereinigten Staaten mit ihren
"Freihandels"-Konzeptionen nicht allein da, auch wenn ihre Ideologen den Chor
der Zyniker dirigieren. Die seit 1960 entstandene Kluft zwischen reichen und
armen Ländern ist, so folgerte der UNO-Entwicklungsbericht von 1992, im
wesentlichen auf protektionistische Maßnahmen seitens der reichen Länder
zurückzuführen. Der Bericht von 1994 schätzt, daß "die den Entwicklungsländern
durch die Verletzung von Freihandelsprinzipien seitens der Industrieländer
entstehenden Kosten sich auf annähernd 50 Milliarden D~lar pro Jahr belaufen -
was der Gesamtsumme ausländischer Entwicklungsgelder und Hilfsleistungen
entspricht". Und davon sind viele Projekte weiter nichts als öffentlich
subventionierte Exportförderung.
Schauen wir uns die Theorie der "real
existierenden freien Marktwirtschaft" mit Hilfe eines anderen Maßstabes näher
an. Die umfassendste Untersuchung, die es über die einhundert größten
Transnationalen Unternehmen (TNCs) gibt, fand heraus, daß zumindest 20 von ihnen
"als unabhängige Unternehmen gar nicht überlebt hätten, wenn sie nicht von ihren
jeweiligen Regierungen gerettet worden wären". Das geschah durch die
Sozialisierung der Verluste oder - bei ernsthaften Schwierigkeiten - durch
direkte staatliche Übernahme. Zu diesen TNCs gehört auch der führende
Arbeitgeber in Newt Gingrichs erzkonservativem Wahldistrikt, nämlich Lockheed.
Der Konzern wurde vor dem Zusammenbruch nur dadurch gerettet, daß die Regierung
die Garantie für zwei Milliarden Dollar an Lohn- und Gehaltszahlungen übernahm.
Die Untersuchung weist auch daraufhin, daß es "im internationalen Wettbewerb
niemals gleiche Regeln für alle Teilnehmer gegeben habe und auch in Zukunft
nicht geben werde". "In den letzten zwei Jahrhunderten", fährt die Untersuchung
fort, waren staatliche Eingriffe "eher die Regel als die Ausnahme [...], und sie
haben bei der Entwicklung und Verbreitung vieler produkt- und fertigungs-
bezogener Innovationen eine entscheidende Rolle gespielt - vor allem in den
Bereichen Luftfahrt, Elektronik, moderne Agrarwirtschaft, Werkstofftechnologie,
Energie- und Transporttechnologie" sowie Telekommunikarions- und
Informationstechnologie und, in früheren Tagen, bei der Textil- und
Stahlherstellung. Ganz allgemein "hat die Regierungspolitik, insbesondere durch
Rüstungsprogramme, bei den weltgrößten Firmen einen überwältigenden Einfluß auf
die Formierung ihrer Strategien und ihrer Wettbewerbsfähigkeit". Andere
Untersuchungen bestätigen diese Schlußfolgerungen.
Man könnte auch auf
den Grundsatz von Adam Smith verweisen, daß die Einschränkung der menschlichen
Bewegungsfreiheit eine grobe Verletzung der Doktrin des freien Marktes
darstellt, gerade jetzt aber von enthusiastischen Anhängern des Neoliberalismus
mit äußerster Unmenschlichkeit gefordert wird. Und Alfred Chandlers Standardwerk
zur Unternehmensgeschichte vertritt die These, daß "das moderne Unternehmen bei
der Koordinierung der Wirtschaftsaktivitäten und der Ressourcenallokation den
Platz der Marktmechanismen übernommen hat". Bei diesen Vorgängen wirkt eine in
höchstem Maße "sichtbare Hand" in Institutionen die nun die ganzen Transaktionen
intern bearbeiten. Das ist eine weitere erhebliche Abweichung von den
Marktprinzipien.
Es ließe sich noch viel über diese Dinge sagen, aber
eine Schlußfolgerung scheint sicher: die gepriesenen Doktrinen dienen in ihrem
Entwurf und ihrer Verwendung den Zwecken von Macht und Profit. Die gegenwärtig
durchge- führten "Experimente" folgen einem vertrauten Muster, indem sie die
Form eines "Sozialismus für die Reichen" annehmen, der im System eines globalen
Merkantilisinus der Konzerne angesiedelt ist, wo der "Handel" zum größten Teil
in zentral geleiteten, innerbetrieblichen Transaktionen zwischen riesigen
Institutionen besteht, die ihrem Wesen nach totalitär sind und nur dem Zweck
dienen, demokratische Entscheidungsprozesse zu unterminieren und die Herren und
Meister vor der Disziplin des Marktes zu bewahren. In ihren strengen Lehrsätzen
werden nur die Armen und Hilflosen unterwiesen.
Ebenso könnten wir
fragen, wie "global" die Wirtschaft denn wirklich ist und inwieweit sie
allgemeiner demokratischer Kontrolle unterworfen werden könnte. Im Hinblick auf
Handelsbeziehungen, finanzielle Transaktionen und andere Maßstäbe ist die
Wirtschaft nicht globaler als zu Beginn dieses Jahrhunderts. Darüber hinaus sind
die TNCs stark von öffentlichen Subventionen und heimischen Märkten abhängig,
und ihre internationalen Transaktionen, inklusive derer, die unter dem falschen
Etikett "Handel" laufen, finden großenteils innerhalb Europas, der USA und
Japans statt, wo man keine Angst vor einem Militärputsch oder dergleichen haben
muß, weil die Politik der Wirtschaft gegebenenfalls unter die Arme greift. Es
gibt viel Neues und Wichtiges, aber die Annahme, die Dinge seien "außer
Kontrolle" geraten, ist selbst dann nicht sehr glaubhaft, wenn wir an den
augenblicklich existierenden Mechanismen festhalten.
Aber ist es ein
Naturgesetz, daß wir daran festhalten müssen? Nicht, wenn wir die Theorien des
klassischen Liberalismus ernstnehmen. Adam Smiths Loblied auf die Arbeitsteilung
ist wohlbekannt, nicht aber seine Verurteilung ihrer inhumanen Auswirkungen, die
die Menschen "so stumpfsinnig und einfältig" macht, "wie ein menschliches Wesen
nur eben werden kann". Das aber muß "in jeder entwickelten und zivilisierten
Gesellschaft" durch Regierungsmaßnahmen verhindert werden, die die
zerstörerische Macht der "unsichtbaren Hand" überwinden sollen. Auch seine
Annahme, von der Regierung getroffene Regelungen "zugunsten der Arbeiter" seien
"immer gerecht und billig", nicht aber jene "zugunsten der Herren", wird kaum
zur Kenntnis genommen. Das gilt ebenso für seine Forderung nach gleicher
Bewertung der Produkte, dem Herzstück seiner Argumentation für einen freien
Markt.
Andere führende Vertreter des klassischen liberalen Kanons gehen
noch viel weiter. Wilhelm von Humboldt verurteilte die Lohnarbeit als solche:
Wenn der Arbeiter, so schrieb er, unter äußerer Anleitung tätig ist, "können wir
bewundern, was er tut, aber wir verachten, was er ist". "Das Handwerk macht
Fortschritte, der Handwerker Rückschritte", bemerkte Alexis de Toqueville,
ebenfalls eine große Gestalt im liberalen Pantheon. Er stimmte mit Smith und
Jefferson darin überein, daß gleiche Bewertung der Produkte ein wichtiger
Charakterzug für eine freie und gerechte Gesellschaft ist. Er wies auf die
Gefahren hin, die von einer "dauernden Ungleichheit der gesellschaftlichen
Bedingungen" ausgehen und warnte davor, daß die Demokratie am Ende wäre, wenn
"die industrielle Aristokratie", die sich in den Vereinigten Staaten "vor
unseren Augen erhebt" - "eine der dauerhaftesten der Erde" - die Schranken
jemals überwinden sollte. Was sie später tat und Toquevilles schlimmste
Albträume noch übertraf. Ich verweise hier nur im Vorübergehen auf sehr
komplizierte und faszinierende Themen, die meiner Meinung nach den Schluß
nahelegen, daß die Leitsätze des klassischen Liberalismus ihren natürlichen
modernen Ausdruck nicht in der neoliberalen "Religion" finden, sondern in den
unabhängigen Bewegungen der arbeitenden Menschen und den Ideen und Praktiken der
libertar-sozialistischen Bewegungen, die zu gegebener Zeit von so großartigen
Denkern des 20. Jahrhunderts wie Bertrand Russell und John Dewey formuliert
wurden.
Man muß die Doktrinen, die den Diskurs der Intellektuellen
beherrschen, mit Vorsicht bewerten und den Argumenten, den Tatsachen sowie den
Lehren, die aus Vergangenheit und Gegenwart gezogen werden können, sorgfältige
Aufmerksamkeit schenken. Es ist nicht sehr sinnvoll zu fragen, was denn für
dieses oder jenes Land "richtig" wäre, als handelte es sich bei Ländern um
Individuen mit einheitlichen Interessen und Werten. Und was für die Menschen in
den Vereinigten Staaten mit ihren unvergleichlichen Vorteilen richtig sein mag,
kann durchaus falsch sein für andere, die sehr viel weniger Wahlmöglichkeiten
besitzen. Wir können jedoch rein von der Vernunft her voraussehen, daß das, was
für die Menschen und Völker der Erde richtig ist, sich nur durch den äußersten
Zufall mit den Plänen der "hauptsächlichen Architekten" der Politik deckt. Und
es gibt heute ebensowenig Gründe wie in der Vergangenheit, ihnen zu gestatten,
die Zukunft nach ihren Interessen zu gestalten.
--
Aus dem
Amerikanischen von Michael Haupt
Anmerkung des Übersetzers:
Bei
vorliegendem Essay handelt es sich um den Text eines Vortrags von Noam Chomsky.
Daraus erklärt sich, daß Zitate nicht weiter ausgewiesen sind. Hier einige
Hinweise: Die Zitate von Adam Smith stammen aus seinem Inquiry into the Nature
and Causes of the Wealth of Nations, und zwar hauptsächlich aus dem 7. und 8.
Kapitel des vierten Buches, sowie dem ersten Kapitel (Teil 3, Abschnitt 2) des
fünften Buches. Die Zitate von Tocqueville findet man in De la Democratie en
Amerique; bzw. in der deutschen Auswahlausgabe "Über die Demokratie in Amerika";
hgg. von J.P. Mayer, Stuttgart 1985: Reclam, S.258ff. Das Humboldt-Zitat stammt
aus seiner Schrift von 1792 Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit
des Staates zu bestimmen (Werke Bd. 1, Stuttgart 1960, 5. 56ff.). Weitere
Literaturangaben in: Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur
neuen Weltordnung. München 1995: dtv, S.409ff.