Peter Kropotkin: »Anarchismus«

(aus der Encyclopaedia Britannica von 1910)


Anarchismus (von Griechisch an und archos, Gegenteil von Herrschaft), Bezeichnung eines Prinzips oder einer Theorie des Lebens und Verhaltens, dem zufolge die Gesellschaft ohne Regierung gedacht wird. Harmonie wird in solch einer Gesellschaft nicht durch Unterwerfung unter das Gesetz oder durch Gehorsam vor irgendeiner Autorität erreicht, sondern durch freie Vereinbarungen, die zwischen verschiedenen Gruppen getroffen werden. Diese Gruppen würden nach territorialen und beruflichen Unterteilungen frei eingesetzt, zum einen um Produktion und Verbrauch zu regeln, zum anderen um die Befriedigung der unendlichen Vielfalt von Bedürfnissen und Wünschen des zivilisierten Menschen zu sichern. In einer Gesellschaft, die nach diesen Prinzipien entwickelt wurde, würden die freiwilligen Vereinigungen, die schon jetzt anfangen, alle menschlichen Tätigkeitsgebiete abzudecken, eine noch größere Ausdehnung annehmen, um so den Staat in allen seinen Funktionen zu ersetzen. Sie würden ein eng verknüpftes Netzwerk bilden, zusammengesetzt aus einer endlosen Vielzahl von Gruppen und Vereinigungen aller Größen und Grade; lokal, regional, national und international; kurzzeitig oder mehr oder weniger dauerhaft. Mit allen möglichen Zwecken: Produktion, Verbrauch und Austausch, Kommunikation, gesundheitliche Einrichtungen, Ausbildung, gegenseitiger Schutz, Verteidigung des Gebiets usw.; andererseits zur Befriedigung einer ständig steigenden Anzahl von wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Zudem würde solch eine Gesellschaft nichts Unabänderliches darstellen. Im Gegenteil würde sich Harmonie entwickeln aus einer sich ständig wandelnden Anpassung und Neuanpassung des Gleichgewichts zwischen der Vielzahl der Kräfte und Einflüsse - wie auch im organischen Leben immer wieder zu sehen ist. Diese Anpassungen würden um so einfacher zu erreichen sein, weil keine der Kräfte einen besonderen Schutz durch den Staat genießen würde.

Vorausgesetzt, dass die Gesellschaft nach diesen Prinzipien organisiert würde, wäre der Mensch in der freien Ausübung seiner Kräfte in produktiver Arbeit nicht begrenzt durch ein kapitalistisches Monopol, das vom Staat aufrecht erhalten wird. Auch wäre er in der Ausübung seines Willens nicht durch die Furcht vor Bestrafung oder durch Gehorsam gegenüber Personen oder metaphysischen Wesen beschränkt, die beide zur Senkung der Eigeninitiative und zur Unterwürfigkeit des Verstandes führen. Er würde in seinen Tätigkeiten durch sein eigenes Verständnis geführt, das notwendigerweise den Eindrücken einer freien Aktion und Reaktion zwischen seinem eigenen Selbst und den ethischen Auffassungen seiner Umgebung entsprechen würde. Damit wäre der Mensch in der Lage, die volle Entwicklung aller seiner geistigen, künstlerischen und moralischen Fähigkeiten zu erreichen, ohne durch Überarbeitung für die Monopolisten behindert zu werden oder durch die Unterwürfigkeit und Trägheit der Meinungen der Masse. Er würde daher eine vollständige Individualisierung erlangen können, die weder unter dem heutigen System des Individualismus möglich noch unter irgendeinem System von Staatssozialismus im so genannten Volkstaat zu erreichen ist.

Die anarchistischen Autoren berücksichtigen außerdem, dass ihre Konzeption keine Utopie ist, die a priori konstruiert wurde, nachdem einige Desiderata als Postulate genommen wurden. Stattdessen wird sie, wie sie betonen, aus einer Analyse der Tendenzen, die bereits am Werk sind, abgeleitet; auch wenn der Staatssozialismus bei den Reformern eine zeitweilige Bevorzugung finden mag. Der Fortschritt der modernen Techniken, der die Produktion aller Notwendigkeiten des Lebens wunderbar vereinfacht; der wachsende Geist der Unabhängigkeit und die schnelle Verbreitung der freien Initiative und des freien Verständnisses in allen Arten von Aktivitäten - einschließlich deren, die früher als angemessene Zuständigkeit der Kirche und des Staates betrachtet wurden; sie alle verstärken ständig die Tendenz zur Negierung der Regierung.

Hinsichtlich ihrer ökonomischen Auffassungen betonen die Anarchisten, gemeinsam mit allen Sozialisten, von denen sie den linken Flügel bilden, dass das jetzt vorherschende System des privaten Landbesitzes und der auf Profite ausgerichteten kapitalistischen Produktion ein Monopol darstellt, das den Prinzipien der Gerechtigkeit und den Geboten der Nützlichkeit widerspricht. Sie sind das Haupthindernis dagegen, dass die Erfolge der modernen Technik in den Dienst aller gestellt werden, um allgemeines Wohlergeben zu bringen. Die Anarchisten halten das Lohnsystem und die kapitalistische Produktion überhaupt für ein Hindernis für den Fortschritt. Aber sie unterstreichen auch, dass der Staat immer schon und nach wie vor das Hauptinstrument ist, das es wenigen ermöglicht, das Land zu monopolisieren, und den Kapitalisten, sich selbst einen völlig unverhältnismäßigen Anteil des jährlichen akkumulierten Überschusses der Produktion anzueignen. In Folge dessen bekämpfen die Anarchisten nicht nur die derzeitige Monopolisierung des Landes und den Kapitalismus überhaupt, sondern mit der gleichen Entschlossenheit auch den Staat, die wichtigste Stütze dieses Systems. Nicht nur diese oder jene besondere Regierungsform, sondern den Staat überhaupt, ganz gleich ob er eine Monarchie ist oder aber eine Republik, die mittels Volksentscheid regiert wird.

Die Staatorganisation ist immer schon, im Altertum wie auch in der modernen Geschichte (Makedonisches Reich, Römisches Reich, die modernen europäischen Staaten, entstanden aus den Ruinen der selbstständigen Städte) ein Werkzeug zur Erzeugung von Monopolen zu Gunsten der herrschenden Minderheiten gewesen. Sie kann deshalb nicht zur Zerstörung dieser Monopole genutzt werden. Daher sind die Anarchisten der Ansicht, dass ein neues Instrument der Tyrannei entstehen würde, wenn alle Hauptquellen des Wirtschaftslebens - das Land, die Bergwerke, die Eisenbahnen, das Bankwesen, das Versicherungswesen usw. - dem Staat übergeben würden. Ebenso, wenn ihm die Leitung der wichtigsten Industriezweige übergeben würde, zusätzlich zu all den Funktionen, die bereits in seinen Händen versammelt sind (Ausbildung, staatlich unterstützte Religionen, Verteidigung des Gebiets etc.). Der Staatskapitalismus würde nur die Stärke der Bürokratie und des Kapitalismus erhöhen. Wirklicher Fortschritt liegt in der Richtung der Dezentralisierung, sowohl in territorialer wie auch in funktionaler Hinsicht; in der Entwicklung eines Geists der lokalen und persönlichen Initiative und des freien Zusammenschlusses vom Einfachen zum Verbundenen; in der Peripherie an Stelle der derzeitigen zentralisieren Hierarchien.

Wie die meisten Sozialisten erkennen die Anarchisten, dass - wie alle Entwicklung in der Natur - die langsame Entwicklung der Gesellschaft von Zeit zu Zeit von Perioden stark beschleunigter Entwicklung abgelöst wird, die Revolutionen genannt werden; und sie denken, dass die Ära der Revolutionen nicht noch vorbei ist. Zeiten der schnellen Veränderungen werden den Zeiten der langsamen Entwicklung folgen, und diese Zeiten müssen genutzt werden - nicht um die Macht des Staates zu erhöhen und auszuweiten, sondern um sie zu verringern; durch die Bildung lokaler Gruppen von Erzeugern und Verbrauchern in jeder Stadt oder Gemeinde wie auch durch regionale und schließlich internationale Vereinigungen dieser Gruppen.

Auf Grund der oben genannten Prinzipien lehnen es die Anarchisten ab, sich an der gegenwärtigen Organisation des Staates zu beteiligen und sie durch frisches Blut zu unterstützen. Sie wollen keine politischen Partei in den Parlamenten bilden, und raten den Arbeitern davon ab. Dementsprechend sind sie seit der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation in den Jahren 1864-1866 darum bemüht, ihre Ideen unmittelbar unter den Arbeiterorganisationen voran zu bringen und diese Gewerkschaften zu einem direkten Kampf gegen das Kapital zu bewegen, ohne auf die parlamentarische Gesetzgebung zu hoffen.

 

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Das ungekürzte Original gibt es unter
http://flag.blackened.net/daver/anarchism/kropotkin/defanarchy.html