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Frauen-Beilage der Leipziger Volkszeitung vom 29. Juni 1917.
Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd.I, Berlin 1957, S.759-765.
Transkription u. HTML. Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Unsere Frauenbeilage glaubten wir bei unseren Leserinnen nicht besser einführen zu können als mit dem nachstehenden Abschiedswort Clara Zetkins von der Gleichheit, um das wir sie gebeten haben.
Die Genossinnen wissen aus der Tagespresse, was sich ereignet hat. Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hat mir von heute auf morgen den Wirkungskreis als Redakteurin der Gleichheit entzogen, den ich länger als ein Vierteljahrhundert verwaltet habe. Das Warum ist bekannt. Auf dem Grunde der organisatorischen Formfragen, mit denen der Vorstand sein Vorgehen zu rechtfertigen sucht, liegt als Kern meiner Maßregelung der unüberbrückbare Gegensatz in der grundsätzlichen Überzeugung von dem, was seit Kriegsausbruch Pflicht und Ehre den Bekennern des internationalen Sozialismus gebieten. Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei hätte nach berühmten Mustern einfach und ehrlich erklären sollen: „Die ganze Richtung paßt mir nicht.“
Es würde ein müßiges Beginnen sein, wollte ich mich über Recht oder Unrecht der Maßregelung mit Leuten auseinandersetzen, die meine sozialistische Sprache so wenig verstehen, wie ich mir ihr nationalistisches Reden zu eigen zu machen vermag. Da steht Weltanschauung gegen Weltanschauung und die darin wurzelnde Überzeugung von pflichtgemäßer Lebensbetätigung.
Die Umwandlung der Gleichheit aus einer freien Dienerin des internationalen Sozialismus in die gehorsame Magd der Vorstandspolitik stand drohend am Horizont von dem Augenblick an, wo es sich herausgestellt hatte, daß die Massen der Parteigenossenschaft zu unklar, schwach und willenlos, zu wenig in der Tiefe ihres Wesens vom internationalen Sozialismus erfaßt waren, um sich zielsicher, mutig und opferbereit der Politik der Umlerner entgegenzustemmen. Sie wurde Tat in dem anderen Augenblick, wo es sich erwies, daß in dem unaufhaltsamen Prozeß der sozialistischen Selbstbesinnung und Selbstverständigung des Proletariats die Opposition gegen die Vorstands- und Fraktionspolitik an Zielklarheit und Kraft gewann und unter dem Gebot der Notwehr sich organisatorisch zusammenzuschließen begann. Die Austreibung der Redaktion und der von ihr vertretenen Auffassung aus der Gleichheit ist ein Glied der Kette, die das deutsche Proletariat an den Wagen der Scheidemann und Genossen fesseln soll.
Ich erkläre mich schuldig, daß Die Gleichheit sich vom ersten Augenblick an, wo die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Grundsätze des Sozialismus als hinderlichen Ballast über Bord warf, in bewußten Gegensatz zu der entsprechenden „Neuorientierung“ gestellt hat. Ich erkläre mich schuldig, daß Die Gleichheit die Mehrheitspolitik mit steigender Schärfe kritisiert und bekämpft hat – soweit Schärfe des geistigen Kampfes unter den heutigen Zuständen möglich ist – je mehr meiner Überzeugung nach diese Politik von dem granitnen Felsen der sozialistischen Grundsätze abirrte und sich zwischen den wandelnden Dünen bürgerlicher Auffassungen verlor; je offensichtlicher mit der Dauer des Krieges die Mehrheitspolitik die Sozialdemokratie innerlich und äußerlich zerrüttete, ihren kostbaren geistig-sittlichen Inhalt zum Spielball der Wolken und Winde des Kriegsgeschehens machte, ihren festgefügten Bau in Trümmer schlug; je verhängnisvoller die Mehrheitspolitik dem Erkennen, Wollen und Handeln des arbeitenden Volkes wurde. Denn mit all dem wirkte die Mehrheitspolitik kriegverlängernd und verdrängte das gemeinsame Ringen der Proletarier aller Länder für den Triumph des Sozialismus durch den Kampf der Proletarier aller Länder gegeneinander für einzelstaatliche Weltmachtziele des internationalen Kapitalismus. Ich erkläre mich schuldig, daß Die Gleichheit mit Zorn und Verachtung die Gewaltmaßregeln gebrandmarkt hat, die die sozialdemokratischen Mehrheitler an Stelle von überzeugenden, durchschlagenden Gründen gegen die Opposition einsetzten.
Würde ich anders gehandelt haben, so hätte ich meine Grundsätze als internationale Sozialistin verleugnen, meiner Vergangenheit, meinem Lebenswerk, meinem Wesen ins Gesicht schlagen müssen. Ich wäre mir unwürdig des Namens Sozialistin erschienen, unwürdig des Vertrauens breiter proletarischer Massen und der führenden Stellung, die ich in der sozialistischen Arbeiterbewegung, namentlich aber in der internationalen sozialistischen Frauenbewegung innehatte. Sozialismus verpflichtet! Und wenn ich auf die verflossenen qualvollen letzten Jahre meines Wirkens an der Gleichheit zurückblicke, so empfinde ich in bezug auf meine Haltung nur jenes Bedauern, dem Conrad Ferdinand Meyers Hutten leidenschaftlichen Ausdruck verliehen:
Mich reut’s – ich sag es mit zerknirschtem Sinn –, |
Denn ich habe Die Gleichheit nie als das behagliche Traumstübchen meiner Wünsche betrachtet. Sie war mir ein anvertrautes Pfund, mit dem im Dienste meines Herrn zu wuchern mir Pflicht und Glück war. Als meinen Herrn vermochte ich aber beim besten Willen nicht die Beamtenkörperschaft anzusehen, die jeweils mit der Verwaltung der sozialdemokratischen Parteigeschäfte betraut war und der bürgerliche Juristerei die Macht des „Herrseins im Hause“ verleiht. Mein Herr war und ist der gewaltige, zeit- und menschheitumspannende Gedanke des internationalen Sozialismus. Ihm fühle ich mich verantwortlich in jeder Minute meines Wirkens und vor einem strengeren Tribunal als jedem Parteitag: vor meinem Gewissen.
Als Hauptaufgabe der Gleichheit dünkte mir jederzeit die Klärung und Vertiefung des sozialistischen Empfindens und Denkens der proletarischen Frauen, eine Klärung und Vertiefung, die als Vorstufe eines unbeugsamen, tatbereiten Wollens und eines fruchtbaren, opferfreudigen Handelns unerläßlich ist. Die Gleichheit würde dieser ihrer Pflicht untreu geworden sein, wäre sie den Mehrheitlern gleich ins nationalistische Lager abgeschwenkt oder hätte sie sich auch nur bequem, verlogen und feig um die Lassallesche Losung herumgedrückt: „Aussprechen, was ist“. Sie würde sich damit einer doppelt schweren Sünde wider den heiligen Geist schuldig gemacht haben. Der Gleichheit war die Ehre zuteil geworden, als geistig verbindendes und führendes Organ der Sozialistischen Fraueninternationale den Genossinnen aller Länder das Banner des Sozialismus voranzutragen. Sie konnte, sie durfte kein Titelchen der Grundsätze des internationalen Sozialismus in der Zeit preisgeben, wo die imperialistischen, nationalistischen Strömungen das Proletariat gierig überfluteten. Es war die Bedeutung und der Ruhm der Gleichheit, daß ihr Name mehr als ein Vierteljahrhundert hindurch ein Programm war, über das niemand im unklaren sein konnte. Es wird ihre dauernde Ehre bleiben, daß sie, diesem Programm treu, im Kampfe gegen den Imperialismus gefallen ist, wenn auch nicht unter „offenem Hieb in offener Schlacht“, Gefallen, nicht erlegen.
Allerdings: Der Name der Gleichheit wird von dem Organ weitergeführt, das fortan kraft Vorstandsbeschlusses in unversöhnlichem Gegensatz zu dem besten Teil ihres Wesens und Webens den Proletarierinnen die Weisheit der Umlernesozialisten predigen soll. Also ermöglicht es das bürgerliche Eigentumsrecht, das damit die „Enteignung geistiger Arbeit“ durch die brutale Geldgewalt besiegelt. Es wird viele Leserinnen schmerzen und empören, wie es mich schmerzt und empört. Doch sei s drum! Was ist Name? „Schall und Rauch!“ Es gilt an dem Sein festzuhalten, das der Gleichheit Leben und Odem gab. Ich scheide von der „alten“ Gleichheit mit einem Wort herzlichen Dankes für die Genannten und Ungenannten, die in den vergangenen Jahren die Entwicklung der Gleichheit durch ihre Mitarbeit irgendwie unterstützt und gefördert haben. Für die vielen, die ihr Wissen und Können gerade diesem Blatte freudig zur Verfügung stellten, für die Ungezählten, die sich für seine Verbreitung eifrig mühten, für das Geschäftspersonal und insbesondere die Herren der Druckerei, in denen ich nie versagende technische Mitarbeiter fand, zuletzt und nicht am wenigsten für den Mann, der die Seele des Stuttgarter Unternehmens ist: für Heinrich Dietz, der der „alten“ Gleichheit bis zu ihrer letzten Nummer als einsichtsvoller, weitschauender, erfahrener Berater, Freund, Wegbereiter zur Seite gestanden ist. Es war mir nicht gestattet, dem inneren Bedürfnis gehorchend, ihnen allen in der Zeitschrift zu danken, der unser langjähriges Zusammenwirken galt. Nun sei ihnen von dieser Stelle aus gesagt, daß mein Erinnern in Treue festhalten wird, was Die Gleichheit von ihnen empfangen hat.
Manchem von ihnen wird das als Abschiedsgruß wehmütig durch die Seele klingen, als Abschiedsgruß, mit dem ein Stück ihrer eigenen Vergangenheit von ihnen scheidet. Die meisten aber – so hoffe ich zuversichtlich –, zumal von den Genossinnen, werden das Dankeswort als einen frischen Kampfesgruß empfinden, als einen Ruf zu neuem, unverzagtem Rüsten und Wagen. In der Tat! Mögen die Toten ihre Toten begraben. Seien wir ganz Lebende, die wirken wollen, die wirken müssen! Wir haben zusammenzustehen und zusammenzuarbeiten!
Der ungeheuerliche Weltkrieg hat die Auffassung des internationalen Sozialismus nicht erschüttert, vielmehr nur durch den Anschauungsunterricht der Tatsachen bestätigt. Er hat in den fortgeschrittensten kapitalistischen Staaten eine so weitgediehene Reife der wirtschaftlichen Entwicklung gezeigt, daß nur noch die riesenhafteste Vernichtung von Sachgütern und schaffenden Menschenleben Luft für den Fortbestand der kapitalistischen Ordnung schaffen konnte. Mitten unter uns ist die zu Fleisch und Blut verkörperte Geschichtsauffassung getreten, daß die Menschen die Geburtshelfer einer neuen Zeit sein können. Im Osten Europas ist der Tag angebrochen. Dort kündet in schöpferischer Tat jener seine Macht, der, gewaltiger als der waffenklirrende Imperialismus, nicht den Tod bringt, sondern neues, höheres Leben: der Sozialismus. Immer breiter, tiefer, unwiderstehlicher wird der Strom der Interessensolidarität der Proletarier, die sich zur Interessensolidarität der Menschheit weitet. An den Uferndieses Stromes grüßen die Haine der Friedenspalmen, und seine Wogen umrauschen die Insel der Seligen, die das Vaterland einer freien Menschheit sein wird.
Lassen wir uns nicht schrecken durch die Ungunst äußerer Umstände, haben wir für alle Schwierigkeiten nur eine Antwort: „Erst recht!“ Halten wir es mit dem, was Lassalle nach einem schmerzlichen Ereignis dem Dichter Georg Herwegh schrieb: „Nur vorwärts und vorwärts und gearbeitet mit fliegender, zitternder Hast ... Oh, wie das hilft! Die Wunde ist vernarbt während der Fronde, die man sich auferlegt ... Vorwärts, nur vorwärts!“
1. Aus C.F. Meyer, Huttens letzte Tage:
Mich reut – ich beicht es mit zerknirschtem Sinn – |
zuletzt aktualisiert am 14.10.2003