http://www.querschlaeger.philosophischersalon.de/texte/nr8a.html Der Querschläger

Der Querschläger
Supplément der Kalaschnikow


Antisemitismus, Zionismus und Israel

Über die Ideologie und materielle Ursachen des Antisemitismus sowie den Charakter des Zionismus

Friedensbewegung kaputt

Schon vor den Luftangriffen Saddam Husseins auf Israel wurde dieser mit Hitler verglichen. Doch erst danach entfesselten die bürgerlichen Medien und Politiker jedweder Couleur die Propagandaschlacht aller Schlachten für Israel. Es gelang der Kriegspropaganda, einen imperialistischen Krieg zur Absicherung der neokolonialen Ordnung in einen israelischen Verteidigungskrieg umzumünzen. Unter Bezug auf die Giftgaswaffen des Iraks wurde davor gewarnt, daß in Israel mit den Scud-Raketen Auschwitz vom Himmel fallen könnte. Hektisch reisten deutsche Politikerscharen nach Tel Aviv, um Scham über deutsche Giftgas- und Waffengeschäfte mit dem Irak zum Ausdruck zu bringen. Wieder einmal wurde die Schuld der herrschenden Klasse kollektiviert und "Wiedergutmachung" angeboten. Diesmal nicht nur in Form von Geld, sondern auch in Form von Waffenlieferungen, u.a. Patriot-Raketen.

Linke trommelt für Israel

Der Kommunistische Bund rief in Frankfurt sogar zu einer Kundgebung gegen den irakischen Raketenterror auf: "Bisher waren wir der Ansicht, daß die Bundesrepublik und vor allem das wiedervereinigte Vierte Reich die Fortsetzung des Dritten Reichs mit anderen Mitteln ist. Jetzt müssen wir erkennen, daß diese Fortsetzung mit ähnlichen Mitteln geschieht. (...) Beim Irakgate, organisiert vom BND und verbürgt von Bonn, handelt es sich nicht um ein alltägliches, sondern möglicherweise kriegsentscheidendes Geschäft. Und es handelt sich darum, daß die deutsche Politik heute - nach Auschwitz, trotz Auschwitz - keine Skrupel hat, an der Massenvernichtung von Juden mitzuwirken. (...) Ohnmächtig protestieren wir gegen diesen Krieg, gegen die imperialistischen USA (...) wie auch gegen den Despoten Hussein. Israel befindet sich nicht im Krieg. An ihm rächt sich Hussein für das Scheitern seiner Ambitionen. Das ist die klassisch faschistische Methode, und Bürger dieses Landes sind daran beteiligt. Mit unserer Kundgebung wollen wir auch zu einer Korrektur der 'linken Nahost-Politik' beitragen. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wenn wir mit verfolgten Palästinensern solidarisch waren (...). Wir haben uns sehr wohl etwas vorzuwerfen, wenn die Sache der Palästinenser zur Sache der PLO (...) erklärt wurde. (...) Wer auch immer in der arabischen Weit das Existenzrecht Israels angreift oder zum Objekt von Tauschgeschäften machen will, hat unsere Solidarität und unser Verständnis verloren." (Der Aufruf macht deutlich, welche Konfusion bei vielen Linken im Umgang mit der Nazi-Diktatur und Auschwitz herrscht. Das fängt mit der evidenten Verharmlosung der Nazi-Verbrechen an, als ob die Raketenangriffe auf Israel auch nur im entferntesten hätten an die Dimensionen von Auschwitz heranreichen können. Dazu wird die (akzeptierte) Kollektivschuldthese so gewendet, daß "gerade Deutsche" das Existenzrecht Israels anzuerkennen hätten.
Wie gefährlich die "Nie wieder Deutschland"-Haltung ist, wenn sie nur Ausdruck eines bornierten, (wider Willen) deutschen Protests gegen die eigene herrschende Klasse und nicht das Resultat einer internationalistischen Grundhaltung ist, wird hier deutlich. Wie leicht aber bereits nur die Verteidigung des Existenzrechts Israels Linke dazu verleiten kann, offen als Kriegsunterstützer auf der Seite des Imperialismus zu landen, zeigen die folgenden Stellungnahmen von Benny Peiser, dem Sprecher des Frankfurter Arbeitskreises gegen Antisemitismus:
"Angesichts dieses martialischen Truppenaufmarsches und der Rechtmäßigkeit der alliierten Verbände, im Notfall den Irak auch mit Gewalt aus Kuwait zu vertreiben, könnte - so hofft man insgeheim - Saddam Hussein doch einlenken. Er kennt jetzt den Terminplan seiner Gegner und muß sich darauf einstellen. (...) Saddam Hussein hat in den vergangenen Wochen mehrfach einen Giftgasangriff gegen Israel angekündigt. Es bleibt trotzdem nur zu hoffen, daß Saddam seine wahnsinnige Drohung nicht wahr macht." (taz, 29.11.90)
"In Israel wird sich wohl erst dann eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Nahost-Friedenskonferenz finden lassen, wenn die daran beteiligten Parteien die Existenz des jüdischen Staates anerkannt und die Vernichtungsdrohungen von Seiten Iraks beseitigt worden ist. Schon allein deshalb wäre ein Entgegenkommen zugunsten Iraks tödlich für jedwede israelisch-palästinensische Annäherung." (taz, 11.12.90)
"Nachdem Saddam Hussein endgültig durchgedreht ist und die Moslems zum "Heiligen Krieg" aufgerufen hat, bleibt uns wohl nichts weiter übrig, als zu hoffen, daß dieser Alptraum möglichst schnell verfliegt und sei es letztendlich mit militärischer Durchsetzung des Völkerrechts." (Hamburger Rundschau, 17.1.91)

Die These vom linken Antisemitismus

Im Zusammenhang mit der Frage des Existenzrechts Israels taucht von Pro-Zionisten der Vorwurf auf, beim Antizionismus, der eben dieses Existenzrecht bestreitet, handele es sich um eine "linke Variante des Antisemitismus". Publizistischer Vorkämpfer dieser These ist in der BRD seit Jahren der Journalist Henryk M. Broder: "Wann immer gewachsene Verhältnisse ins Wanken geraten, in Zeiten politischen und sozialen Umbruchs also, sind Juden dran. Das ist eine Erfahrung, die sich in der Geschichte immer wieder wiederholt. So war es, als es mit dem Feudalismus abwärts ging, so war es in der Schlußphase des Kaiser- und des Zarenreichs. (...) Allerdings, warum das immer so war, warum Christen, Revolutionäre und Reaktionäre sich erst mal an den Juden austobten, bevor sie sich auf den Weg machten, auf diese Frage gibt es keine verläßliche Antwort. Es war so, weil es immer so war." Mit seinem Verzicht auf eine differenzierte Entschlüsselung historischer Phänomene durch eine tiefergehende historische Analyse macht sich Broder die gängige bürgerliche Sicht des Antisemitismus und des Holocausts zu eigen. Er erspart sich die Mühe der Analyse und diffamiert munter drauf los:

„Der Antisemit aus Weltanschauung glaubt an die jüdische Weltverschwörung - oder auch daran, daß Israel liquidiert werden muß, damit der Dritte Weltkrieg verhindert wird. Anfang der Achtziger Jahre war die letzte Spielart des Antisemitismus, der Antizionismus, en vogue. Seine Protagonisten wollten freilich um keinen Preis als Antisemiten gelten, obwohl sie in ihrem politischen Repertoire kein antisemitisches Klischee ausließen." Schließlich stellt Broder fest: "Damit stellt sich die unvermeidliche Frage. Was kann man tun? Im Prinzip nichts. Gegen eine Leidenschaft oder eine Weltanschauung gibt es kein Heilmittel... (Alle Zitate aus- taz, 22.5.90)
Zyniker könnten sagen, daß Broder mit seinen Artikeln, die eingestandenermaßen kein Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus sind und sein wollen, zumindest Geld verdient. Das ist ja schon etwas, wenn man vom Bekenntnis, von einer Sache nichts zu verstehen, wenigstens leben kann. Uns aber drängt sich der Eindruck auf, daß Broder daran gelegen ist, jede kritische Auseinandersetzung mit dem Zionismus und dem Antisemitismus zu hintertreiben.
Entgegen Broders Behauptung hat eine politische Strömung sehr wohl die jüdische Problematik und den Antisemitismus untersucht und eine ganze Reihe von fundierten historisch-materialistischen Analysen und Handlungsperspektiven beigesteuert: die trotzkistische Bewegung - angefangen mit dem hierzulande leider wenig bekannten Grundlagenwerk "Judenfrage und Kapitalismus" von Abraham Leon. Aber auch Autoren wie Nathan Weinstock oder Jacob Taut sollen hier nicht unerwähnt bleiben.

Die materiellen Ursachen des Antisemitismus

Theoretische Defizite der deutschen Linken

Ein erheblicher Teil der marxistisch beeinflußten Linken hatte in der, Vergangenheit den Antisemitismus und die Ausrottung der Juden im Nationalsozialismus eher als Randerscheinung aufgefaßt. Dazu trug nicht zuletzt die ökonomistische Faschismustheorie Dimitroffs und Stalins bei. Nun scheint es, daß im Zuge der in den letzten Jahren neu aufgeflammten Diskussion um Antisernitismus und Holocaust so manche Linke sich im wesentlichen auf das Thema der Judenausrottung konzentrieren, während andere zentrale Aspekte des Nationalsozialismus, der vor allem Faschismus ist, aus dem Blickfeld geraten. Neuerdings sind einige Linke bereit, sich alle möglichen zionistischen Theorien über den Antisemitismus oder den Holocaust zu eigen zu machen. Gleichzeitig geraten materialistische Erklärungen, die allesamt auf die tiefgreifende Zerfallskrise des Kapitalismus zwischen den Weltkriegen hinweisen, ganz aus dem Blickwinkel. Zu Unrecht.

Leons Analyse der jüdischen Frage

In seinem 1942 entstandenen Werk „Judenfrage und Kapitalismus" weist der belgische Marxist Abraham Leon nach, wie der Antisemitismus seine Formen und Inhalte wandelte, daß er letztlich in der historisch sich wandelnden ökonomischen Position der Juden und den daraus entstehenden sozialen Gegensätzen seine Ursachen fand. Leon räumt auch mit der zionistischen Vorstellung auf, daß die Juden in der Römerzeit alle in der Diaspora vertrieben worden wären und seitdem 2000 Jahre auf die Rückkehr nach Palästina gehofft und gewartet hätten. Schon lange vor der Zerstörung Jerusalems durch die Römer bestand eine jüdische Diaspora. Die kargen landwirtschaftlichen Verhältnisse in Palästina gaben den Juden keine ausreichende Existenzgrundlage. Gleichzeitig spielte schon damals Palästina als Durchgangsland für den Handel eine wichtige Rolle, und die Juden beerbten die Phönizier in ihrer Rolle als Handelsvolk. Der Handel wurde die Existenzgrundlage der jüdischen Diaspora.

Schon in der Antike hatte zum Beispiel ein jüdischer Kaufmann aus Marseille nichts mit einem Juden in Palästina oder in Nordafrika zu tun. Am allerwenigsten dachten die Juden der Diaspora an eine Rückkehr nach Palästina, wo sie doch vom Handel lebten.

Leon schreibt, daß auf der ideologischen Ebene die jüdische Religion ganz anders als das Christentum den Interessen eines Handelsvolks entsprach und somit identitätsstiftend wirkte. Anders als im Christentum galt in der jüdischen Religion zum Beispiel die kaufmännische Tätigkeit nicht als etwas fast Gotteslästerliches und als schwindelhaftes Treiben. Der Gedanke an eine "Rückkehr" nach Palästina ist daher eine Idee der neuesten Zeit, der des niedergehenden Kapitalismus. In der Antike und erst recht im feudalen Mittelalter bildeten die Juden nach Leon somit eine Volksklasse des feudalen Kaufmannskapitals (nicht zu verwechseln mit dem modernen Industrie- und Finanzkapital). Der Antisemitismus der Antike war der Widerwille einer wesentlich auf die Produktion von Gebrauchswerten (und nicht Tauschwerten) beruhenden Gesellschaft gegenüber dem als parasitär angesehenen spekulativen Handelskapital. Dennoch ging der Antisemitismus nie über zur Judenausrottung, weil die antike und die feudale Gesellschaft die Juden brauchten. Im Mittelalter hielten oft Könige und Fürsten ihre schützende Hand über die Juden und nahmen gerade diese von der damaligen Christianisierung mit Feuer und Schwert aus, denn die Juden waren damals die einzigen, die in der Lage waren, nach Europa seltene Luxuswaren aus dem Orient einzuführen. Die Juden erfüllten als Brücke zwischen Okzident und Orient ein wichtiges Bedürfnis der feudalen Gesellschaft nach Waren, die sie selbst nicht herstellen konnte.
Gegen Ende des Mittelalters, als sich die Stellung der Juden mit dem Aufkommen eines einheimischen Bürgertums und der Entwicklung eines Manufakturkapitalismus verschlechterte, gab es die ersten großen Pogrome und Ghettos. Die Könige sahen die Juden als ihre Sklaven an, gewissermaßen als Dukatenesel, und benutzten diese in ihrem Kampf gegen den niederen Adel und besonders gegen das aufstrebende einheimische Bürgertum.
Die Wuchergewinne der Juden waren den Königen bei Gelegenheit eine äußerst lukrative Quelle des Reichtums. In Frankreich und England zum Beispiel beteiligten sie sich an Pogromen, wiesen sie außer Landes und konfiszierten ihre Reichtümer. Wenig später holten sie die Juden wieder zurück und "erlaubten" ihnen die Wiederaufnahme ihrer Handels- und Wuchergeschäfte.
Abraham Leon betont, daß es sich beim Kampf zwischen der neuen einheimischen Bourgeoisie und den Juden nicht um den Kampf zweier nationaler religiöser Gruppierungen um die Vormacht im Handelsverkehr handelte, sondern vielmehr um einen Konflikt zwischen zwei Klassen, die zwei verschiedene Wirtschaftssysteme verkörperten. Die sogenannte nationale Konkurrenz reflektiert hier den Übergang von der feudalen Subsistenzwirtschaft zur Tauschwirtschaft. Während der jüdische Kredit im wesentlichen ein Konsumkredit bleibt, haben die Kredite der neuen Bankiers (zum Beispiel Jacob Fugger) und einheimischen Kaufleute vornehmlich investiven, produktiven Charakter. In Westeuropa, wo diese Entwicklung viel früher als in Osteuropa einsetzte (schon ab dem 13. Jahrhundert), sanken die Juden meist zu kleinen Wucherern und Hausierern ab, deren Kunden nicht mehr Könige und Adlige waren, sondern vielmehr Bauern und kleine Handwerker. Diese vor allem waren es auch, die sich in wütenden Pogromen des jüdischen Wuchers zu entledigen suchten.
Mit Beginn der industriellen Phase des Kapitalismus und den Folgen der französischen Revolution war die Lage derart, daß es in Westeuropa kaum noch Juden gab. Der wirtschaftliche Niedergang der Juden führte dazu, daß viele entweder in die vom Kapitalismus noch weitgehend unberührten Länder - vor allem Osteuropa und das Osmanische Reich - flohen oder in die neue Gesellschaft assimiliert wurden. Letzteres wurde durch die nach der Französischen Revolution eingeführten bürgerlichen Freiheiten sehr erleichtert. Bei den verbliebenen Juden setzte eine soziale Differenzierung ein. Die Volksklasse hörte auf, eine solche zu sein.
Sowohl bei den wenigen Juden, denen es gelang, in die neuen Handelsklassen aufgenommen zu werden, als auch bei denen, die zu einem Teil des neuen, anfangs noch eher handwerklichen Proletariats wurden, verschwanden - wenn auch nicht immer einfach und schnell - die religiösen, politischen und schließlich auch juristischen Unterschiede zu den "alten" Christen. Im übrigen hat es auch in früheren Jahrhunderten Assimilationstendenzen gegeben. Juden, die in den arabischen Ländern lebten, konnten oft landwirtschaftliche Tätigkeiten ausüben. Dann aber wurden sie im Laufe einiger Generationen „neue" Moslems. Deshalb ist auch die zionistische Vorstellung, die Juden hätten ihre Identität als religiöse und nationale Gruppe bewahrt, weil sie immer wieder verfolgt worden wären, ein Mythos. In Wirklichkeit ist das Judentum, wie es sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentierte, das Ergebnis eines jahrhundertelangen sozialen Ausleseprozesses. In Osteuropa aber setzte Ende des 19. Jahrhunderts die forcierte und verspätete Entwicklung des Kapitalismus ein und setzte die jüdische Frage, die im Westen gerade völlig an Bedeutung zu verlieren schien, erneut und mit doppelter Schärfe auf die Tagesordnung.
Die alten, auf die Naturalwirtschaft zugeschnittenen Erwerbsmöglichkeiten schwanden. Die zunehmend prekäre wirtschaftliche Situation der Juden erzwang auch hier die Auswanderung oder die soziale Differenzierung und damit einhergehend die "produktive Integration" der Juden in die neue kapitalistische Gesellschaft.
Die Auswanderungswellen osteuropäischer Juden nach Westeuropa und Amerika setzten, gerade weil der Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine progressiven Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft hatte, auch dort die jüdische Frage neu auf die Tagesordnung.
Schon vor dem ersten Weltkrieg entstand so in Mittel- und Westeuropa (mit Ausnahme Englands, wo es kaum jüdische Einwanderer gab) eine starke antisemitische Bewegung innerhalb des Kleinbürgertums. Dieses wurde in der allgemeinen Gesellschaftskrise durch die Entfaltung des Monopolkapitalismus ruiniert und geriet, auf dem Wege der Proletarisierung, beim massiven Einbruch des jüdischen Elements, das seiner Tradition nach ebenfalls kleinbürgerlich und handwerklich war, in äußerste Verbitterung.
Der moderne Antisemitismus ist also Resultat der Fäulnis des niedergehenden Kapitalismus. Er hat mit dem Antisemitismus früherer Jahrhunderte nichts zu tun. Das in der Geschichte noch nie dagewesene Ausmaß der grauenvollen Judenverfolgungen im 20. Jahrhundert verweist auf die Schärfe der Widersprüche des Kapitalismus. Deutlich wird das nicht zuletzt, wenn die ideologischen Inhalte des modernen Antisemitismus eingehender betrachtet werden.

Die Ideologie des Antisemitismus

Das Kleinbürgertum, obwohl selbst eine kapitalistische Klasse, die alle kapitalistischen Tendenzen in Miniatur in sich trägt, hat als Opfer der Krise und der Modernisierungstendenzen das vage Bewußtsein, vom Großkapital ausgeplündert und ruiniert zu werden. Aber das Kleinbürgertum ist unfähig, den wirklichen Charakter der Gesellschaft und des Großkapitals zu verstehen. "Es will antikapitalistisch sein, ohne aufzuhören, selbst kapitalistisch zu sein. Es will den schlechten Charakter des Kapitalismus zerstören, d.h. die Tendenzen, die es selbst ruinieren, und zugleich den 'guten Grundcharakter' des Kapitalismus erhalten, der es ihm erlaubt zu leben und sich zu bereichern." (A. Leon, Judenfrage und Kapitalismus, München 1971, S. 97)

Diese Zwiespältigkeit des Kleinbürgertums drückt sich auch in seiner Ideologie aus. Einerseits werden das Proletariat und seine Organisationen - Gewerkschaften und politische Parteien - als fremd oder gar als Bedrohung empfunden. Der Antisemit vermutet hinter Sozialdemokraten und Kommunisten das "internationale Judentum". Andererseits erscheint der Kapitalismus in der Vorstellung des Antisemiten als verzerrt. Moishe Postone, ein amerikanischer Soziologe, hat diese Ambivalenz auf sehr gelungene Weise ideologiekritisch unter die Lupe genommen. Sein Ausgangspunkt ist der Marxsche Begriff des Fetischs. "Ein Aspekt des Fetischs ist also, daß kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen nicht als solche in Erscheinung treten, und sich zudem antinomisch, als Gegensatz von Abstraktem und Konkretem, darstellen. Und weil beide Seiten der Antinomie vergegenständlicht sind, erscheint jede als quasi-natürlich: Die abstrakte Seite tritt in Gestalt von 'objektiven' Naturgesetzen auf und die konkrete Seite erscheint als rein stoffliche Natur. (...) Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel Geld als 'Wurzel allen Übels'. Dem wird die bestehende konkrete Seite dann als das 'Natürliche' oder ontologisch Menschliche, das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe, positiv entgegengestellt. So wird - wie etwa bei Proudhon - konkrete Arbeit als das nichtkapitalistische Moment verstanden, das der Abstraktheit des Geldes entgegengesetzt ist. Daß konkrete Arbeit selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen verkörpert und von ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen." (Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus, in: Zivilisationsbruch - Denken nach Auschwitz, hrsg. von Dan Diner, S. 248)

Daß die Marx`schen Kategorien wie Ware, Geld, Kapital nicht nur ökonomische Bestimmungen (ein verbreiteter methodischer Fehler auch bei vielen "Marxisten") sind, sondern vor allem gesellschaftliche Bestimmungen, ist hier wichtig zu verstehen. Postone stellt fest, daß die dem fetischistischen Denken innewohnende Naturalisierung zunehmend biologisch aufgefaßt wird. Für Marx ist das Kapital in seiner prozessualen Gestalt als sich selbst verwertender Wert charakterisiert. Es erscheint in der Form von Geld und Waren, es hat keine fertige und endgültige Gestalt. Es erscheint als abstrakter Prozeß. Die biologisierende Sicht des Kapitalverwertungsprozesses durch den Antisemiten verzerrt die Wahrnehmung des Kapitals wie folgt: "Auf der logischen Ebene des Kapitals läßt der 'Doppelcharakter' (Arbeits- und Verwertungsprozeß) industrielle Produktion als ausschließlich materiellen schöpferischen Prozeß, ablösbar vom Kapital, erscheinen. Die manifeste Form des Konkreten ist nun organischer. So kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger 'natürlicher' handwerklicher Arbeit auftreten und im Gegensatz zum 'parasitären' Finanzkapital, als 'organisch verwurzelt'. Seine Organisation scheint der Zunft verwandt zu sein.
(...) Kapital selbst - oder das, was als negativer Aspekt des Kapitalismus verstanden wird - wird lediglich in der Erscheinungsform seiner abstrakten Dimension verstanden: als Finanz- und zinstragendes Kapital. In dieser Hinsicht stellt die biologistische Ideologie, die die konkrete Dimension des Kapitalismus als 'natürlich' und 'gesund' dem Kapitalismus. (wie er erscheint) gegenüberstellt, nicht im Widerspruch zur Verklärung des Industriekapitals und seiner Technologie. Beide stehen auf der 'dinglichen' Seite der Antinomie. (...) Die positive Hervorhebung der 'Natur', des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft, geht ohne weiteres zusammen mit einer Verherrlichung der Technologie und des industriellen Kapitals. Diese Denkweisen sind genausowenig anachronistisch oder Ausdruck einer historischen Ungleichzeitigkeit zu nennen, wie der Aufstieg von Rassentheorien im späten 19. Jahrhundert als Atavismus aufzufassen Ist. Sie sind historisch neue Denkformen, nicht die Wiederauferstehung einer älteren Form. Der 'antikapitalistische' Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude. (Der moderne Antisemitismus besteht in der Biologisierung des Kapitalismus - der selbst nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten verstanden wird - als internationales Judentum. (...) Die Juden wurden nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die antisemitischen Angriffe wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden vielmehr zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals. (...) Die Überwindung ides Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt." (Postone, a.a.0., S- 249ff)

Der moderne Antisemitismus unterscheidet sich von anderen Formen des Rassismus demnach vor allem dadurch, daß die Macht der Juden als tatsächlich vorhanden und als größer angesehen wird, als sie ist. Die Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle, unfaßbare internationale Verschwörung. Diese Wahnvorstellungen wurden vom verzweifelten faschistischen Kleinbürger ernst genommen. Auch, als nach dem "Röhm-Putsch" von 1934 auf den zu konkreten und plebejischen "Antikapitalismus" der SA verzichtet wurde, wurde in der NSDAP die antisemitische Grundhaltung beibehalten, wonach "der Jude" die Quelle allen Übels sei. Diese Überzeugung führte letztlich auch zur Inangriffnahme der sogenannten "Endlösung" während des zweiten Weltkrieges.

A. Leon beantwortete die Frage, warum gerade die Juden als Sündenbock für die Krise des Kapitalismus herhalten mußten, so: "Der 'jüdische Kapitalismus' ist am ehesten geeignet, die Rolle des schlechten Kapitalismus zu übernehmen. Die Vorstellung des jüdischen Reichtums war in der Tat im Bewußtsein der Massen fest verankert. Es ging nur darum, mit einer gut abgestimmten Propaganda das Bild des jüdischen Wucherers, gegen den Bauern, Kleinbürger und Gutsbesitzer lange Zeit gekämpft hatten, wieder wachzurufen und zu aktualisieren. Das Kleinbürgertum und ein Teil der unter seinem Einfluß stehenden Arbeiterklasse lassen sich leicht von einer solchen Propaganda mitreißen und werden Opfer der Ideologie vom jüdischen Kapitalismus." (Leon, a.a.O., S. 97f).
Die "Arisierung" jüdischen Eigentums, die die Nazis versprachen und später durchsetzten, diente ihnen als Beweis für ihren Kampf gegen den "schlechten" Kapitalismus und sollte das Kleinbürgertum bei der Stange halten.

Der Holocaust

Auschwitz - die Zweckerfüllung des Faschismus?

Der Schritt vom Antisemitismus zu Auschwitz ist mit der materialistischen Analyse des Antisemitismus noch nicht hinreichend erfaßt. Erst recht ist mit dem Antisemitismus noch nicht der Nationalsozialismus erklärt, der vor allem und trotz des alle Dimensionen sprengenden moralischen Entsetzens über Auschwitz Faschismus bleibt, der, wie das Beispiel des italienischen Faschismus belegt, seine Funktion für das Kapital auch ohne einen ausgeprägten Antisemitismus erfüllen kann. Demgegenüber sieht Moishe Postone im Holocaust die Zweckerfüllung des Faschismus- "Eine kapitalistische Fabrik ist ein Ort, an dem Wert produziert wird, der 'unglücklicherweise' die Form der Produktion von Gütern annehmen muß. Das Konkrete wird als der notwendige Träger des Abstrakten produziert. Die Ausrottungslager waren demgegenüber keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske arische 'antikapitalistische' Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur 'Vernichtung des Werts';, das heißt zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten. (...) Auschwitz, nicht die 'Machtergreifung' 1933 war die wirkliche 'Deutsche Revolution' - die wirkliche Scheinumwälzung der bestehenden Gesellschaftsformation." (Postone, a.a.O., S. 253f)
Diese Erklärung des Holocausts leidet unter dem großen Mangel, daß die gesellschaftlichen Zwecke des Faschismus allein abgeleitet werden aus einem Aspekt der national-sozialistischen Ideologie. Die "Deutsche Revolution" wird in die Köpfe verlegt. Der faschistisch-antisemitische Kleinbürger mag in der "Verwirklichung" der antisemitischen Ideologie die Zweckerfüllung des deutschen Faschismus gesehen haben. Und die Judenausrottung mag dem Antisemiten tatsächlich als die wirkliche "Deutsche Revolution" erschienen sein - obwohl der fetischistische Charakter des antisemitischen Denkens Zweifel bezüglich der Hypothese berechtigt erscheinen läßt, daß Antisemiten sich der Logik ihrer eigenen Psychologie bewußt sind. Zugleich verharmlost diese Art der Vergeistigung der "Deutschen Revolution" die faschistische Diktatur mitsamt ihrer schrecklichen Repression gegen die Arbeiterklasse.
Aus der Sicht des Großkapitals, das sozialökonomisch die herrschende Klasse blieb, stellte und stellt sich der Holocaust hingegen nur als Exzeß dar. Die Diktatur hat es gewollt, die Konsequenz des Antisemitismus erscheint ihm im Nachhinein als Betriebsunfall. Zahlreiche bürgerliche Historiker werfen heute dem Nationalsozialismus im wesentlichen (und ihn so völlig verharmlosend) bloß noch vor, den Zweiten Weltkrieg verloren und sich in "überflüssige Exzesse" gesteigert zu haben. Die Distanzierung von der faschistischen Diktatur hat oft nur rituellen Charakter. Da die Bourgeoisie eine historisch-gesellschaftliche Erklärung des Faschismus und Antisemitismus nicht akzeptieren kann, weil sie sich der historischen Überlebtheit des Kapitalismus nicht stellen will, die Verfallskrise des Kapitalismus leugnet, wird für sie der Holocaust zu einem unlösbaren Rätsel. Die bürgerliche Geschichtsschreibung konzentriert sich daher auf die Person Hitlers, wenn sie Ursachenforschung betreibt. Tatsächlich aber hat das Großkapital dadurch, daß es Hitler wegen seines allgemeinen Programms und bei relativer Gleichgültigkeit bezüglich des Antisemitismus zur Macht verhalf, historische Schuld auf sich geladen.

Die Funktion des Antisemitismus im NS-Staat

Die Zuspitzung der historischen Krise des Kapitalismus ab 1929 traf besonders schwer den deutschen Imperialismus. Weil dieser gegenüber seinen Hauptkonkurrenten in Europa, England und Frankreich, in seiner Entwicklung "verspätet" war, nur relativ unbedeutende Teile des kolonialen Kuchens erbeutet hatte, die er 1919 auch noch ver- lor, mußte die deutsche Bourgeoisie ihre geostrategischen Beschränkungen zu über- winden suchen. Ihr Ziel mußte die Neuordnung erst Europas und dann der Welt sein. Der Nationalsozialismus bot das für 'die Verwirklichung dieser Zielsetzung seinerzeit optimale Programm'. Eine Neuordnung Europas war nur gewaltsam denkbar und nur auf der Basis eines Machtzuwachses des Kapitals im Innern. Um dieses Programm ernstlich ins Auge zu fassen, mußte zuerst der innere Feind besiegt werden, die deutsche Arbeiterklasse. Das Kleinbürgertum und seine ins Proletariat herabgesunkenen Elemente stellten die Stoßtruppen, die fähig waren, die wirtschaftlichen und politischen Organisationen des Proletariats zu zerschlagen. Zugleich mußte seine Unzufriedenheit kanalisiert werden.

Diese Funktion erfüllte der Nationalsozialismus und die antisemitische Ideologie diente diesem Zweck. Die Massenorganisationen des Proletariats wurden mit dem "internationalen Judentum" in Verbindung gebracht. Abraham Leon schreibt: "Man sieht, daß der Rassismus aus sehr heterogenen Elementen zusammengesetzt ist. (...) Der Rassismus dient gerade dazu, alle Klassen in dem Schmelztiegel einer Rassengemeinschaft aufgehen zu lassen. Der Rassenmythos bemüht sich, als einheitliches Ganzes - mit nur sehr vagen Beziehungen zu seinen sehr verschiedenen Quellen - zu erscheinen. Er versucht, seine verschiedenen Elemente in perfekter Manier zu vereinen. So muß z.B. der nach außen gerichtete Rassismus als ideologischer Deckmantel für den lmperialismus keineswegs schon per se einen antisemitischen Charakter haben. Aber aufgrund der Notwendigkeit einer Verschmelzungsideologie bedient er sich in der Regel dieser Erscheinungsform. Die antikapitalistische Tendenz der Massen, zunächst gegen das Judentum gelenkt, bezieht sich sehr bald auch auf den äußeren Feind, der mit dem Judentum identifiziert wird. Die 'germanische Rasse' muß gegen den Juden, ihren Hauptfeind, in allen seinen Verkleidungen kämpfen: der des Bolschewismus und Liberalismus im Innern, der der angelsächsischen Plutokratie und der des russischen Bolschewismus. Hitler schreibt in 'MEIN KAMPF', daß man die verschiedenen Feinde unter einem gemeinsamen Aspekt zeigen müsse, da sonst die Gefahr bestehe, daß die Massen zuviel über die bestehenden Unterschiede nachdenken würden. Der Rassismus ist also keine Doktrin, sondern ein Mythos. Er fordert Glauben und fürchtet die Überlegung wie das Feuer. Der Antisemitismus ist am besten geeignet, die verschiedenen Elemente des Rassismus zu untermauern." (Leon, a.a.O., S. 98 f)

Die Bedeutung des KZ-Terrors

Wiewohl dem verzweifelten Kleinbürger der "Kampf gegen den Juden" als der Hauptzweck des deutschen Faschismus erschienen sein mag - für das Großkapital war 1933 die Niederwerfung des Proletariats vordringlich. Die Atomisierung der Gesellschaft, die Errichtung einer staatsterroristischen Ordnung, die rücksichtslose Durchsetzung des Führerprinzips in allen Lebensbereichen, die sogenannte "Gleichschaltung" wurde schon vor 1933 von Leo Trotzki immer wieder als der eigentliche Zweck des Faschismus (nicht nur des deutschen Faschismus) hervorgehoben.
In der Broschüre "Zionismus, Faschismus, Kollektivschuld", herausgegeben von der Autonomen Nahostgruppe Hamburg und der Gruppe Arbeiterpolitik, wird betont, daß die Vernichtungslager nicht nur gegen die Juden gerichtet waren: "Den nicht-faschistischen Teilen der deutschen Bevölkerung dagegen, insbesondere der Arbeiterschaft, hielten der Abtransport der Juden und die Gerüchte und Nachrichten über die Vernichtungslager vor Augen, was auch ihnen geschehen würde, wenn sie Widerstand leisteten. (...) im Zusammenhang mit der Vernichtung standen auch der unmittelbaren Kriegsführung abträgliche Einzelentwicklungen. So z.B. wenn etwa für Materialtransporte an die Front dringend gebrauchte Transportkapazitäten für Judentransporte bereitgestellt wurden. Das beweist jedoch nicht etwa die rein ideologische Motivation der Judenvernichtung. Es zeigt mit der Notwendigkeit, den Schein einer ideologischen Motivation aufrechtzuerhalten, daß die Politik des Faschismus nicht allein wirtschaftlichen Zielen dient. Sie muß darüber hinaus das wirtschaftlich aus den Interessen des Kapitals Notwendige politisch durchsetzen, durch die Niederhaltung von Klassenwiderstand und den Erhalt ihrer Massenbasis."
Hier ist zunächst zu erwähnen, daß Konzentrationslager schon sehr bald nach der Machtergreifung eingerichtet wurden, deren erste Insassen innenpolitische Gegner der Nazis wurden, also lange, bevor die "Endlösung" beschlossen wurde (was die oben erwähnte Einschüchterungsthese natürlich nicht falsifiziert).
In der Hamburger Broschüre heißt es denn ähnlich wie im Buch "Die Ökonomie der Endlösung" von Susanne Heim und Götz Aly: "Planer und Wirtschaftsfachleute des Faschismus (...) hatten Begründungen für die Judenvernichtung, die aus ihrer Sicht nüchterner schienen. Bereits in den 30er Jahren hatten wissenschaftliche Untersuchungen hervorgehoben, daß im krisengeschüttelten Osteuropa mehr Menschen lebten, als für eine einträgliche kapitalistische Verwertung angewandt werden konnten. (...) Die 'überflüssigen Esser sollten zu Millionen in Gebiete der UdSSR geschafft werden, in denen sie nur hätten verhungern können. Der Blick auf dieses 'Problem' war durch die negative Wirtschaftsbilanz der Ghettos 'geschärft# worden. Im Verhältnis zum wirtschaftlichen Ertrag war die Versorgung der Menschen zu teuer. Aus einem solchen Blickwinkel erschien die Judenvernichtung dann als Teillösung' des Problems der Überbevölkerung".
Wenden wir uns noch einmal der Einschüchterungsthese zu. Leo Löwenthal, ein jüdischer Emigrant in den USA, beschrieb in einem Artikel "Individuum und Terror" aus dem Jahre 1945 die Wirkung des Lagerterrors: so darf doch nicht vergessen werden, daß die Bevölkerung im allgemeinen von Massenverhaftungen und KZ-Terror wußte. Und somit waren nicht nur die inhaftierten Juden, die 'Kommunisten', die Polen und so fort Opfer des Terrors, sondern der Intention nach tatsächlich alle. (...) Die Faschisten haben als erste die Verbindung zwischen potentiellem materiellem Elend und realer geistiger Verarmung erkannt und diese Erkenntnis als erste rational, systematisch und uneingeschränkt ausgenutzt. Sie hatten erkannt, daß Unterdrückung und Kontrolle der Überschußbevölkerung nur dann möglich war, wenn in ihre Hirne das Bewußtsein ständiger physischer und geistiger Bedrohung eingebrannt wurde und wenn die gesamte Struktur traditioneller moralischer und emotionaler Bezugssysteme, mit denen die Menschen bisher persönliche Katastrophen und Prüfungen zu überstehen ersucht hatten, ausgerottet wurde. Hitler selbst sprach von der Notwendigkeit des Terrors und der Grausamkeit, so lesen wir bei Rauschning. Er finde durchaus keinen Gefallen an all diesen Veranstaltungen wie Konzentrationslager und Geheimpolizei, aber das seien nun einmal Notwendigkeiten, die nicht zu umgehen wären. 'Ohne den Willen zur Grausamkeit geht es nicht ... Herrschaft wird nie durch Humanität begründet, sondern vom bürgerlichen Winkel aus betrachtet, durch Verbrechen. Der Terror ist absolut unentbehrlich bei jeder Begründung einer neuen Macht (...) Wichtiger noch als der Terror ist die systematische Umwandlung der Begriffswelt und der Empfindungsschemata der Masse. Man muß sich auch noch die Gedanken und Gefühle der Menschen unterwerfen' ..." (Löwenthal, Individuum und Terror, in-. Zivillsationsbruch - Denken nach Auschwitz, hrsg. v. D.Diner, S. 17 u. 24)

Ist der Holocaust ökonomisch zu erklären?

Während die Konzentrations- und Vernichtungslager durchaus auch dem eiskalten Kalkül der faschistischen Spitzen entsprangen, die gesamte Gesellschaft systematisch zu terrorisieren, ist die These, die Judenvernichtung sei als Lösung des Problems der osteuropäischen „Überbevölkerung" begonnen worden, wenig überzeugend. Sicher, es gab in den niederen Rängen der Nazi-Hierarchie tatsächlich die sogenannte planende Intelligenz, die derartige ökonomische Überlegungen für die Judenvernichtung ins Feld führten, wie Helm/Aly in ihrem Buch „Die Ökonomie der Endlösung" ausführlich darstellen. Dennoch steht diese These auf wackligen Füßen. Ob es im Kapitalismus überhaupt eine "Überbevölkerung" geben kann, erscheint bereits zweifelhaft. Massenarbeitslosigkeit erfüllt für das Kapital eine positive Funktion, solange es die daraus resultierende politische Unruhe im Griff behält. Noch wichtiger: Die Vernichtung der Juden erforderte unter den Bedingungen des Krieges mehr Aufwand als deren Versorgung. Jakob Taut, ein israelischer Trotzkist, meint: „Der unglaubliche Irrsinn und die extreme Irrationalität dieses grölßten Amoklaufs der Geschichte ist an der Tatsache zu erkennen, daß die Nazis selbst während ihrer späteren militärischen Rückzüge und bei wachsendem Mangel an Arbeitskräften in der Armee und in der Industrie die Massenvernichtung fortsetzten; die Juden wurden nur in sehr bescheidenem Ausmaß als Arbeitskräfte für die deutsche Kriegsmaschinerie verwendet; die Todeszüge, die dem überlasteten Eisenbahnnetz weitere Schäden zufügten und die Linien versperrten, strömten mit den Opfern weiter nach Osten. (...) Als die Sowjetarmee die deutschen Truppen bis nach Berlin jagte, wußten diese irrationalen Amokläufer nichts anderes, als die überlebenden Judenmassen auf ihrer Flucht mit sich zu schleppen, trotz der sehr großen Schwierigkeiten und der sicheren Niederlage. Dieser Todeszug fand unter ungeheuren Qualen und Martern statt, und wenn jemand nicht weiter konnte, wurde er auf der Stelle erschossen und am Wege liegengelassen." (J. Taut, Judenfrage und Zionismus, S. 130)

Die Suche nach einer vordergründigen ökonomischen Zweckrationalität der "Endlösung" geht fehl. Sie kann nur als Resultat eines ökonomistischen Mißverständnisses des Marxismus gewertet werden. Nicht jede politische Entscheidung ist direkt auf ökonomische Zwänge und Interessen zurückzuführen. Die ökonomistischen Ansätze ver- kennen auch den besonderen Charakter des faschistischen Staates. Sie tendieren dazu, die institutionelle Unabhängigkeit des Staates vom Kapital zu unterschätzen, die vom Faschismus auf die Spitze getrieben wird. Der Faschismus entsteht als kleinbürgerllche Massenbewegung. Er ist auch nach seiner Machtergreifung nicht bloße Marionette, nicht der direkte und verlängerte Arm des Großkapitals. Er treibt die bonapartistische Unabhängigkeit des bürgerlichen Staates auf die Spitze und vollendet gleichzeitig den bürgerlichen Charakter des Staates. Der faschistische Staat "verrechtlicht" die Verhältnisse zwischen den Einzelkapitalisten und dem Staat und ist so moderner imperialistischer Staat. Aber zugleich ist der faschistische Staat wegen seiner relativen Unabhängigkeit "ideologischer", d.h. offener für ideologische Einflüsse und scheinbare Irrationalismen, als der kontrolliertere Staat der imperialistischen Demokratie.
Der Entschluß zur "Endlösung" und seine Umsetzung können vor diesem Hintergrund nur aus der Psychopathologie der kleinbürgerlichen Machthaber des Faschismus begriffen werden. Der kleinbürgerliche Antisemit, der in den faschistischen Machthabern steckte, lief Amok, als er sich im Verlauf des Krieges vom "internationalen Judentum" bedrängt sah. Er konnte aber nur zu diesem Amoklauf ansetzen, weil das Großkapital keinen anderen Ausweg aus der Verfallskrise des Kapitalismus sah, als auf die faschistische Karte zu setzen.

Der Charakter des Zionismus

Es ist hier nicht der Platz, alle Aspekte des Zionismus zu untersuchen. Wichtig ist hier dessen Analyse zur Klärung der Frage, ob Antizionismus nur eine neue Form der Judenfeindschaft bzw. des (rassistisch begründeten) Antisemitismus ist und ob die Nichtanerkennung des Rechts auf die staatliche Existenz Israels mit Antisemitismus gleichzusetzen ist. Letzteres wird von den meisten Linken aus dem Spektrum des Kommunistischen Bundes (K9) und der Radikalen Linken behauptet.

Die zionistische Utopie

Wir sahen, daß der Holocaust ein Produkt der Verfallskrise des Kapitalismus ist. Auschwitz ist aus marxistischer Sicht Teil der von Rosa Luxemburg befürchteten kapi- talistischen Barbarei. Auschwitz ist nicht selbst die Zeitenwende, sondern grauenvoller Beleg dafür, daß der Kapitalismus aufgehört hat, für die Menschheit, für unterdrückte - Völker und die internationale Arbeiterklasse eine Perspektive zu sein. Insbesonders kann der Kapitalismus die jüdische Frage nicht lösen. Der Zionismus behauptet im Gegensatz dazu, die jüdische Frage innerhalb des Kapitalismus lösen zu können. Er behauptet, daß die Errichtung des Staates Israel dem Schutz der Juden aus aller Welt dient, stellt Israel hin als Schutz- und Trutzburg gegen die Stürme, die in aller weit über Juden hinwegfegen. Diese zionistische Vorstellung erweist sich bereits bei oberflächlicher Betrachtung als Utopie. Seit Gründung des Staates Israel befindet sich dieser, mit der arabischen Weit im Kriegszustand. Die jüngsten irakischen Raketenangriffe und die ständige Diskussion um die "Sicherheit Israels" dort und hierzulande sind weitere Belege dafür, daß so sicher wie vom Zionismus behauptet die Juden in Israel nicht sind. [Das war schon vor der israeli- schen Staatsgründung absehbar. Bevor Abraham Leon von den Nazis ermordet wurde, schrieb er 1942: "Die jüdische Tragödie des 20. Jahrhunderts ist eine direkte Folge des Niedergangs des Kapitalismus. (...) Der Niedergang des Kapitalismus, Grundlage für das Wachstum des Zionismus, ist auch die Ursache für die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung. Das jüdische Bürgertum ist verpflichtet, mit allen Mitteln einen eigenständigen Nationalstaat zu schaffen und den objektiven Rahmen für die Entfaltung seiner Produktivkräfte zu sichern - und das zu einer Zeit, wo die Bedingungen einer solchen Entwicklung längst vorüber sind. (...) Man kann ein Übel nicht ohne seine Ursachen beseitigen. Der Zionismus aber will die jüdische Frage lösen, ohne den Kapitalismus, die Hauptquelle der jüdischen Leiden, zu zerstören." (Leon, a.a.O., 5.106)
Leon wußte, daß der Zionismus die Juden in Palästina in einen scharfen Konflikt mit den Arabern gebracht hatte und weiter bringen würde: "Man kann natürlich einen relativen Erfolg des Zionismus nicht ausschließen, derart etwa, daß eine jüdische Mehrheit in Palä- stina entsteht. [Denkbar wäre sogar die Bildung eines 'jüdischen Staates', d.h. eines Staates unter der vollständigen Herrschaft des englischen oder amerikanischen Impe- rialismus. (...) Bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 blieb die Immigrationsquote in Palästina gering. Nach diesem Ereignis zogen Zehntausende von Juden nach Palästina. Diese "Hochkonjunktur" erlahmte bald unter dem Druck antijüdischer Manifestationen und Judenmassakern. (Die Araber befürchteten ernsthaft, eine Minderheit im .eigenen Land zu werden." (Leon, a.a.O., S.108)

Die Bedeutung des Holocausts für die Gründung Israels

War der Zionismus vor Hitler eindeutig eine minoritäre politische Strömung innerhalb der jüdischen Diaspora, so schaffte er es nach dem Holocaust, die meisten der Über- lebenden hinter sich zu sammeln und die Gründung Israels durchzusetzen. Die Radi- kale Linke, bzw. das Autorenkollektiv der von ihr herausgegebenen Flugschrift, leitet aus dieser Tatsache die Legitimität und Notwendigkeit der Gründung Israels ab. In der Flugschrift (März 1991) heißt es:"Weder die deutsche Demokratie, noch die (ausgebliebene) proletarische Revolution konnten die Juden vor der Vernichtung schützen. Daher können wir auch keinen anderen Schutz für Juden versprechen und müssen die Ansicht vieler Juden respektieren, daß sie durch ihren eigenen Staat Israel erstmalig, seit zwei Jahrtausenden wieder eine sichere Zuflucht besitzen."

Abgesehen von der Mär, die Juden hätten sich in den vergangenen zwei Jahrtausenden nach einer sicheren Zufluchtstätte in Palästina gesehnt, ist dieser Kommentar auch sonst durch eine kritiklose Übernahme falscher und inhaltsloser Klischees gekennzeichnet. Auch, wenn viele Radikale Linke möglicherweise selbst nicht an die Sicherheit der Juden in Israel glauben, so "respektieren" sie doch den Mythos, daß Israel die (Sicherheits-) Antwort auf den Holocaust sei. Richtig an dieser Stellungnahme ist nur, daß der bürgerliche Liberalismus und das Proletariat die Judenvernichtung tatsächlich nicht verhinderten und daß viele, aber nicht die Mehrheit aller Juden nach dem Holocaust In Israel Sicherheit zu finden hofften.

98000 Überlebende des Holocaust befanden sich 1945 in Deutschland und Österreich in Lagern, hatten ihre Heimat verloren und brauchten einen Platz, an dem sie leben konnten. Ihre Zahl vergrößerte sich ständig durch jüdische Flüchtlinge aus Polen. Diese fanden ihre Dörfer zerstört vor und es gab dort 1945 und 1946 eine ganze Serie von Pogromen. 1947 befanden sich in den Lagern 450.000 jüdische Flüchtlinge, die nirgendwo auf der Welt, auch nicht in Palästina, Aufnahme fanden. Die Briten reagierten damit auf den arabischen Widerstand, die anderen Staaten sahen in den "displaced persons" auch nur eine Belastung. Nathan Weinstock stellt fest: "Wir müssen uns diese dramatische Lage vor Augen halten, wenn wir die Palästina-Frage analysieren. Da ihnen jeder andere Zufluchtsort verschlossen war, haben die 'displaced persons' sich an eine letzte Hoffnung geklammert: In Palästina zu siedeln, dem einzigen Land, wo es einen Bevölkerungsteil gab, der sie willkommen hieß. ( ... ) Die skandalöse Gleichgültigkeit der westlichen Regierungen bezüglich des Schicksals der dem Nazi-Terror entkommenen erklärt, weswegen sie sich dem Zionismus zuwandten." (Nathan Weinstock, Zionism. False Messiah, London 1989, p.220)
Die "displaced persons" hatten auch politisch kaum eine praktische Alternative, wie Taut betont: "1. Es gab damals keine alternative jüdische Bewegung zum Zionismus; 2. das Vertrauen in den Sozialismus war aufgrund der stalinistischen Deformationen und des Hitlerismus stark erschüttert. Beides spielte eine erstrangige Rolle dabei, daß es gelang, die jüdischen Massen in das Netz des Zionismus zu ziehen. Daß eine alternative Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte, erklärt zu einem wesentlichen Teil das "Geheimnis" der zionistischen Erfolge. Die jüdische Arbeiterbewegung samt ihren politischen Parteien, Gewerkschaften und Kulturorganisationen in Osteuropa war zerstört (...); die gesamte physisch-rnenschliche Basis war ausgerottet worden. (...) Und schließlich: In den anderen Teilen Europas und der übrigen Weit war keine soziale Basis vorhanden, um eine jüdische Arbeiterbewegung zu organisieren. Deshalb gab es keine alternative jüdische Bewegung zum Zionismus. Eine Alternative hätte nur eine wiedererwachte internationale sozialistische Bewegung selbst sein können. Man muß jedoch an den Mangel an Vertrauen in die bestehende Alternative und an die mangelnde proletarische Solidarität während der Judenvernichtung erinnern. Nach dem Krieg waren die revolutionär-sozialistischen Kräfte zu schwach, um diese Schwierigkeiten zu überwinden, obwohl sie das Banner der internationalen Solidarität hochhielten." (Taut a.a.O., S. 136)

Zionismus und Antisemitismus

Diese Schwäche der internationalen Arbeiterbewegung legitimiert dennoch nicht den Zionismus. Sie rechtfertigt auch nachträglich nicht, daß deutsche und andere europäische Linke die kolonialistische Besiedlung Palästinas und seine Eroberung durch die zionistische Bewegung rechtfertigen.
Tatsächlich wird bei dieser Art von "Sicherheits"-Argumentation vergessen, daß der Zionismus in keinster Weise dazu beigetragen hatte, den Holocaust zu verhindern und daß er viele Juden in einen neuen Konflikt führte, in den Konflikt mit den Palästinensern. An diesem Konflikt waren Juden als Kolonisatoren und Eroberer beteiligt, nicht als Opfer. Und mit welchem Recht und welcher Legitimation lassen deutsche Linke die Palästinenser für die Verbrechen ihrer "eigenen", deutschen herrschenden Klasse zahlen? Der Kampf gegen den Antisemitismus ist ein Kampf gegen die rassistisch-chauvinistische Unterdrückung von Juden. Der Kampf gegen den Zionismus Ist ein Kampf gegen die kolonialistische Unterdrückung der Palästinenser und Palästinenserinnen. Beide Kämpfe sollten von Linken selbstverständlich unterstützt werden. Daß der Zionismus, der heute behauptet, alle Juden zu repräsentieren nur eine politische Strömung unter Juden darstellt, wurde schon erwähnt. Es bleibt jedoch noch sein besonderes Verhältnis zum Antisemitismus zu bestimmen.
Der Zionismus setzt historisch den Antisemitismus voraus. Seine "Lösung" für dieses Problem, ein rein jüdischer Kolonialsiedlerstaat in Palästina, bedarf aber auch des Antisemitismus als Garanten für einen anhaltenden Siedlerstrom. Sein Projekt war historisch nur im Bündnis mit imperialistischen Mächten durchzusetzen, die alles andere als nicht-rassistisch waren und sind. Führende Zionisten, so der frühere Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, sahen deshalb in der Assimilation von Juden immer die Hauptgefahr für den Zionismus: "Die Gefahr, die die Integrierung der jüdischen Gemeinschaften in die Nationen darstellt, ist größer als die äußerer Bedrohung durch den Antisemitismus und die Verfolgungen." (Le Monde, 13.1.1966)
Führende Zianisten waren aber häufig genug sogar bereit, diese Komplementarität von Zionismus und Antisemitismus zynisch auszunutzen. Typisch in dieser Hinsicht der israelische "Staatsgründer" David Ben Gurion im Jahre 1940: "Ich bin nicht bereit, unsere Situation in Erez-Israel mit dem Maßstab Nazi-Deutschlands oder irgend einem anderen Maß zu messen. Ich habe nur ein Maß und einen Aspekt - das zionistische Maß. (...) die Frage, was diesem oder jenem Juden geschehen wird, interessiert uns nicht. Die Probleme, die ein Jude in der deutschen Diaspora oder selbst in der amerikanischen Diaspora hat, sind nicht unsere Probleme. Für die zionistische Konzeption ist nur eines von Bedeutung: Wird ein Problem die Überführung jüdischer Massen in das Land und ihre dortige Verwurzelung erleichtern und beschleunigen - oder nicht. Nichts anderes ist von Bedeutung." (zit. nach Taut, a.a.O., S. 147)

Aus demselben Grund haben sich die zionistischen Organisationen immer wieder gegen Kampagnen zur Vergrößerung der Einwandererkontingente in die USA gewandt. Sie taten nichts, als auf einer von Roosevelt im Juli 1938 einberufenen Konferenz in Evian Vertreter von 32 Staaten-(mit der einen Ausnahme der Dominikanischen Republik, feststellten, sie könnten nichts für die Opfer des Faschismus tun. Selbst 1943, nach Bekanntwerden des Ausmaßes der Judenvernichtung in Europa, weigerten sich die amerikanischen Zionisten, eine Kampagne für die freie Einwanderung verfolgter Juden zu organisieren. Die zionistische Führung wußte dabei sehr genau, was sie tat. Schon nach der "Reichskristallnacht" hatte Ben Gurion geschrieben: "Das Schicksal der Juden in Deutschland ist kein Ende, sondern ein Anfang. Andere antisemitische Staaten werden von Hitler lernen. Millionen Juden sehen der Vernichtung entgegen. Das Flüchtlingsproblem ist dringlich und hat weltweite Proportionen angenommen. Britannien versucht gerade, die Flüchtlingsfrage und die Palästinas voneinander zu trennen. (...) Wenn Juden zwischen der Hilfe für Flüchtlinge, damit der Rettung von Juden aus Konzentrationslagern und der Unterstützung für ein nationales Museum in Palästina zu wählen haben, wird das Mitleid die Oberhand gewinnen, und die ganze Energie des Volkes wird in die Rettung von Juden aus verschiedenen Ländern kanalisiert (...). Der Zionismus wird nicht allein in der öffentlichen Meinung Britanniens und der Vereinigten Staaten von der Tagesordnung verschwinden, sondern ebenso in der jüdischen öffentlichen Meinung überall." (zit. nach. Socialists and the Fight Against Anti-Semitism, Pathfinder Press/New York, p. 20; vgl. Taut, a.a.O., S. 111)
Diese Haltung der Zionisten selbst in der Stunde der größten Not der europäischen Juden findet heute der Tendenz nach eine Fortsetzung in der Auseinandersetzung um die Einwanderung von Juden aus der UdSSR in andere Länder als Israel. Es bedarf also nicht einmal des Rückgriffs auf Beispiele der Kollaboration zwischen Zionisten und Antisemiten oder sogar der Sympathien kleiner Teile der zionistischen Bewegung mit dem Faschismus in den dreißiger Jahren, um zu belegen, daß der Zionismus nicht die Interessen aller Juden vertritt. Seine Politik stößt auch nach dem Holocaust immer wieder auf die energische Opposition , jüdischer Sozialistinnen und Sozialisten, wie der diesem Artikel beigefügte Gedichtzyklus von Erich Fried ein- drucksvoll belegt.

Zionismus ist kolonialistische Aggression

Die Gründung Israels hat die Palästinenserfrage enorm zugespitzt und zugleich der jüdischen Frage eine völlig veränderte Form gegeben. Jetzt, da der "sichtbarste" Teil aller Juden in Israel lebt, ist die jüdische Frage mit dem israelisch-arabischen Konflikt verbunden.
Der Zionismus, angetrieben durch die ungelöste soziale Frage des Ostjudentums, setzte von Anfang an darauf, einen Kolonialsiedlerstaat zu schaffen, um dem virulenten Antisemitismus zu entgehen. Offiziell ignorierte er die Existenz der palästinensischen Araber, inoffiziell setzte er von Anfang an auf deren Vertreibung. Er betrieb sein Siedlerstaatsprojekt, indem er erst mit den ottomanischen Beherrschern der arabischen Region, dann mit den vom Völkerbund mit dem Treuhandgebiet Palästina betrauten Briten kollaborierte und später vorrangig mit der Hegemonialmacht der Nachkriegsordnung, den USA.

Die "Nationalbewegung eines landlosen Volkes" wie sie von Autoren der Radikalen Linken genannt wird, war also von Anfang an aggressiv gegen die arabische Bevölkerung Palästinas gerichtet. Ihr Erfolg schloß das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser aus. Der Siegeszug des. Zionismus beruhte auf der Vorenthaltung dieses Rechts zuerst durch den Völkerbund, dann durch die Vereinten Nationen und schließlich durch die Staaten, die sich Palästina teilten, allen voran Israel. Weil der zionistische Siedlerstaat von Beginn an die Institutionalisierung einer kolonialistisch-imperialistischen Aggression gegen die arabische Nation war, mußte er sich von Beginn an gegen den arabischen Widerstand "verteidigen" und unbedingt militärische Hegemonialmacht im Nahen und Mittleren Osten sein. Das permanente politische und militärische Bündnis mit dem Imperialismus gegen alle arabischen Staaten und die palästinensische Befreiungsbewegung wurde zur Existenzgrundlage Israels. Nur in diesem Bündnis kann Israel sein "Existenzrecht" verteidigen. Israel war "gezwungen", jeden zu stark gewordenen arabischen Staat der Region auf das neokoloniale Maß zurechtzustutzen. Damit war und ist es strategischer Brückenkopf des Imperialismus, der in ihm einen treuen Wachhund (so die israelische Zeitung Haaretz) findet. Neben dem Bestreben, sich von der NS-Vergangenheit reinzuwaschen, erklärt das Interesse an einem "stabilen", vom Imperialismus kontrollierten Nahen Osten. den penetranten Philosemitismus der deutschen Bourgeoisie.

Währenddessen konnte auch die Zeit den Gegensatz des zionistischen Israel zu den Palästinensern nie einebnen. Die Behandlung von Nichtjuden als Staatsbürger zweiter Klasse, als im "Judenstaat" unerwünschte Elemente mit minderen Rechten, der durch die Förderung der jüdischen Einwanderung bedingte Vertreibungsdruck (nicht dauernd akut, aber immer beabsichtigt) und die aufgrund der neokolonialen Ordnung der arabischen Welt gegebene strukturelle Unfähigkeit zur Eingliederung der vertriebenen Palästinenser in die Gesellschaft der arabischen Anrainerstaaten sind dafür die Hauptgründe.
Wenn sich heute Linke über den Antisemitismus mancher Araber beklagen und diesen mit dem rassistischen Antisemitismus in Europa gleichsetzen, dann übersehen sie zuallererst die von Israel und schon zuvor von der zionistischen Bewegung ausgehende Unterdrückung der Araber. Sie übersehen aber auch, daß die verallgemeinerte Judenfeindschaft politisch wenig bewußter Araber ein Resultat des zionistischen An- spruchs ist, alle Juden zu vertreten und zu repräsentieren. Ein Anspruch, der die ursprünglich nicht-zionistischen Juden im Nahen Osten erst zum Gegenstand des Hasses und damit zu potentiellen israelischen Staatsbürgern gemacht hat. Es ist völlig klar, daß Linke sich auch gegen einen solchen Antisemitismus wenden. Aber an der Berechtigung und Legitimität einer antizionistischen Politik ändert das nichts.

Doppelcharakter Israels?

In der Radikalen Linken und im KB wird vom Doppelcharakter Israels gesprochen. Einerseits wird zugestanden, daß Israel "imperialistischer Vorposten" ist, andererseits sei Israel eben Zufluchtstätte für die jüdischen Opfer Deutschlands. So schreibt ein Berliner Mitglied der KB-Minderheit ("cl.") im Arbeiterkampf 328: "Wenn also immer wieder gesagt wird, der Staat Israel gründe sich auf Unrecht und Vertreibung (der Palästinenser) und dieses Recht perpetuiere sich in der staatlichen Repression gegen dieselben, so stimmt dies zwar, aber eben nicht nur im Falle Israels: kein 'Volk' hat je in der Geschichte von einer übergeordneten Instanz einen Staat nach Gesichtspunkten des Rechts zugesprochen bekommen, wie es in der idealistischen Phraseologie vom 'Recht des Volkes auf Selbstbestimmung' nahegelegt wird, sondern im Gegenteil ausnahmslos jeder Staat gründet sich auf Vertreibung, Krieg, kurz: Gewalt - deshalb ist es nicht einzusehen, daß mit besonderer Vorliebe und besonderer Vehemenz den Israelis etwas vorgeworfen wird, was zur Form Staat nun einmal dazugehört.". Schließlich heißt es naßforsch,"daß die bedingungslose Verteidigung des Existenzrechts Israels die Voraussetzung darstellt, um dessen Politik zu kritisieren." Es wird der Eindruck erweckt, daß die lnfragestellung der These vom sicheren Refugiurn Israel schon Judenfeindschaft sei.
Die Theorie vom Doppelcharakter Israel, übersieht, daß Israel als eine imperialistische Exklave sich notwendig die Feindschaft der arabischen Massen zuziehen muß. Eine Nation, die andere unterdrückt, kann niemals in Sicherheit leben.

Die Dürftigkeit der Argumentation wird mit kategorischer Kraftmeierei verdeckt. Die argumentative Schwäche führt zu einer zynischen Rechtfertigung des Rechts des Stärkeren. Mit dieser Rechtfertigung läßt sich jeder imperialistischen Machtpolitik das Wort reden. Gegenüber den Palästinensern sind diese Thesen, gelinde gesagt, ein starkes Stück. Aber diese Thesen sind auch falsch. Nicht jeder Staat fußt auf der Unterdrückung und Vertreibung anderer Nationen, nicht jeder Klassenstaat ist ein Kolonialsiedlerstaat. Und für Kommunistinnen und Kommunisten ist es durchaus nicht gleichgültig, wer gegen wen, wann und warum Gewalt ausübt.
Auschwitz wird mißbraucht, um die Gründung Israels zu rechtfertigen. Und dann wird so getan, als gebe es künftig die Möglichkeit eines friedlichen Ausgleichs mit den Palästinensern - eine These, die auf der Verdrängung der Geschichte des Zionismus beruht und durch das. Verschließen der Augen vor dessen Struktur einen Schein von Vernunft erhält. Aber die zionistische Realität bleibt so, wie sie Taut beschreibt: "Erez-Israel gehört den Juden und niemand anderem, und deswegen ist kein Platz für- die Araber in diesem Land - das ist das zentrale Axiom des Zionisrnus. (...) die Zwangsläufigkeit der anti-arabischen und pro-imperialistischen Ideologie und Praxis, die sich durch die gesamte Geschichte des Zionismus wie ein 'roter Faden' zieht. Es handelt sich um soziale und politische Grundsätze und nicht um die 'Untaten' einzelner." (Taut, a.a.O. S. 224f)
Nicht die jeweilige Politik Israels ist falsch, brutal usw., sondern der Staat Israel selbst kann nicht anders sein, als er ist, nämlich die Verkörperung kolonialistischer Aggression. Deshalb ist für Marxisten das "Existenzrecht Israels" ein absolutes Hindernis auf dem Wege der emanzipatorischen Lösung der palästinensischen und letztlich auch der jüdischen Frage. Für Marxisten läßt sich im übrigen die Gründung Israels auch nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht rechtfertigen. Es gibt kein Recht auf Kolonialismus und imperialistische Eroberung.

Das schlechte Gewissen der RL

Die Flugschrift-Autoren der Radikalen Linken nehmen die Unterdrückung der Palästinenser in Kauf. Aber das schlechte Gewissen drückt; nun wird anderen die Verantwortung zugewiesen, die Palästina-Problematik zu lösen. Nachdem sie schönfärberisch feststellen, daß Israel "als neuer Nationalstaat auf ein Gebiet ohne jüdische Bewohnertradition angewiesen" war, heißt es: "Es liegt daher maßgeblich in der Verantwortung des Westens, der ehemaligen Kolonialmächte und Israels (...), eine andere als militärische Lösung mit den Arabern und Palästinensern zu suchen, die alle Rechte auf staatliche Existenz berücksichtigt."
Das Vertrauen der Radikalen Linken in Imperialismus und Zionismus, die Palästina-Frage zu lösen, ist offenbar viel größer als das Vertrauen in den Sozialismus. lmperialismus und Zionismus werden aufgerufen,- das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser in Form des Rechts auf staatliche Existenz zu "berücksichtigen"! Dieser Wunsch findet beim lmperialismus wenig Gegenliebe, beim Zionismus gar keine. Die Kolonisierung der Westbank ist in vollem Gange. Aber eine Lösung böte die Zwei-Staaten-Idee selbst im Falle ihrer Verwirklichung nicht: "Die Vorstellung mancher Linker in aller Welt und selbst mancher Palästinenser ist absurd, einen palästinensischen Staat in der Westbank und im Gazastreifen, die etwa 20 % des Gebietes von ganz Palästina ausmachen, als Lösung anzusehen. Warum der palästinensische Staat genau in diesen Grenzen von vor 1967 entstehen sollte, ist nicht zu verstehen. Noch weniger ist zu verstehen, wie die Schaffung eines solchen Staates eine Abschwächung von nationalen Gegensätzen und eine weitgehende- Annäherung schaffen könnte. Viel eher ist das genaue Gegenteil aufgrund einer derartigen 'Lösung' anzunehmen, selbst wenn auch nur als provisorische Lösung. Die Palästinenser sehen in ganz Palästina ihr Heimatland, da sie dort bis 1948 lebten und aus diesem Gebiet vertrieben wurden. Warum sollten die Verhältnisse besser werden, wenn sie, in diesen minimalen Raum eingepfercht, nur von Gnaden anderer vegetieren könnten und im restlichen Palästina Fremde blieben?" (Taut, a.a.O., 5. 207f) Die zionistischen Politiker wissen um die für die Existenz des Judenstaats gefährlichen Konsequenzen der Errichtung eines palästinensischen Staates und verteufeln diesen mit aller Macht, zumal sie nach wie vor der Vision eines exklusiv jüdischen Gesamtpalästina anhängen. Es bleibt daher unklar, weshalb die Autoren der Radikalen Linken ausgerechnet in die zionistische Führung Israels Hoffnungen setzen, die Palästina-Frage zu lösen. Tatsache ist jedenfalls, daß sich die Radikale Linke grundsätzlich in das Lager des Zionismus stellt und der israelischen Führung Ratschläge gibt, wie sie die Lage unter Kontrolle hält. Israel wird geraten, sich zu mäßigen, damit aus den palästinensischen Opfern des israelisch-zionistischen Staatsterrors nicht "Rächer werden, bei denen fanatische Demagogen und Despoten nun ein leichtes Spiel haben." Dazu paßt, daß das Autorenkollektiv der RL, zu dem unter anderem Thomas Ebermann und Winfried Wolf von der VSP gehören, schreibt: "Eine internationalistische, Nationalitäten und den Staat überwindende Perspektive verschwindet, muß aber für uns als. Utopie erhalten bleiben."

Noch bevor die RI aus den Startlöchern heraus ist, ist der emanzipatorische Anspruch faktisch aufgegeben. Die RL steht auf dem Boden der neokolonialen Weltordnung, wenn es um Israel geht. Die "Utopie" bleibt Gegenstand von Sonntagsreden. Demgegenüber bleibt daran festzuhalten, daß eine sozialistische, internationalistische Perspektive nicht nur Fernziel sein kann, sein darf. Sie ist die einzige Lösung. Für Palästinenser und für die jüdischen Israelis. Nur so kann der Kampf für ein friedliches miteinander von Juden und Arabern zu einem Erfolg führen. J. Taut schreibt:

"Das Ziel ist, die Rechte der Palästinenser auf ihr Heimatland zu erkämpfen, den kolonisatorischen und pro-imperialistischen Zionismus in Palästina zu beseitigen und zu einer jüdisch-palästinensischen Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Staat zu gelangen; dies soll durch die Verwirklichung eines Palästinas innerhalb einer vereinigten arabischen Region geschehen. Im Rahmen dieses Programms ist für die Losung des nationalen Selbstbestimmungsrechts für die Israelis kein Platz, denn sie haben ein solches Recht in diesem Territorium nicht verloren, sie haben es vielmehr anderen entzogen. Die nationalen Rechte der jüdisch-israelischen Nation müssen im Rah- men des gemeinsamen Territoriums (oder Staates) oder Vereinigten Arabischen Ostens festgelegt werden." (Taut, a.a.O., S.161)

Dabei ist zu unterstreichen, daß die Unterstützung des Kampfs der Palästinenser durch eine breitere antizionistische Opposition in Israel die besten Vorbedingungen für eine künftige Aussöhnung der jüdisch-israelischen mit der arabischen Nation schaffen würde. Europäische Linke können am besten für diese Perspektive kämpfen, indem sie jeden Schritt, der in Richtung der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens gemacht wird, solidarisch unterstützen. Dazu gehört aber auch, hier jedem Antisemitismus und jeder Araberhetze offensiv zu begegnen. Dazu gehört schließlich der Kampf für das Recht verfolgter sowjetischer Juden auf freie Einwanderung in die BRD.

  • Autor: © Meno Hochschild
    Quelle: Philosophischer Salon e.V.
    www.philosophischersalon.de
    Update: Berlin, 31.01.2004