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Der Staat - das unerkannte (Un)wesen
Negative Dialektik und Staatskritik
von Red. Spezial03/05
trend
onlinezeitung"In Sachen Staat ebenso wie in Sachen Kapital kann es ein Verh�tnis von Theorie und Praxis nicht geben, sondern nur eines von Kritik und Krise, von Denunziation der ideellen Formen der Vergesellschaftung in der Hoffnung, deren reale Formen in die Krise zu treiben." Auf der Grundlage dieser These versucht die Initiative Sozialistisches Forum (ISF) in ihrem 1990 erschienenen Buch "Das Ende des Sozialismus und die Zukunft der Revolution" in einem Kapitel mit dem Thema "Staatskritik" ("Abschaffung des Staates: Thesen zum Verh�tnis von Anarchistischer und Marxistischer Staatskritik", und "Staatskapitalismus - Das Trauma der Revolution"), zu einer "Staatskritik in revolution�er Absicht" beizutragen. Dieses Unterfangen wird jedoch wohl ewig eine Hoffnung bleiben mssen, wenn in Sachen Staat und Kapital eben die realen Formen der Vergesellschaftung aus der Analyse ausgeklammert werden, wie es in diesen staatskritischen Aufs�zen der Fall ist - z.B. spielt auch der reale Niedergang des Realsozialismus in den Thesen der ISF nicht die geringste Rolle. Die Grundkategorie der "ideellen Formen" geht ber jegliche historische Entwicklung und die realen Ver�derungen von (staatlichen) Herrschaftsformen hinweg, um immer nur zum Ausgangspunkt der Analyse zurckzukehren. Und der Staat bleibt das unerkannte (Un)wesen.
Die ISF rechnet in diesem Buchkapitel nicht nur mit dem Staatskapitalismus ab, sondern will ebenso den theoretischen Positionen des historischen Anarchismus und Marxismus nachweisen, da�diese jeweils nur die eine oder andere "H�fte" einer (falschen) Staatskritik darstellen. Auch als "Addition" seien diese Positionen nicht mehr zu retten, wie es Bloch noch versucht h�te (S.94), sondern sie blieben grunds�zlich "unter dem Niveau ihrer Verh�tnisse" und h�ten "das brgerliche Spiegelspiel der Politik in den Reihen der Opposition nur wiederholt und damit die Hegemonie der brgerlichen Denkformen noch ber ihre Opposition bewiesen" (S.87/88). Es w�e allerdings heute nachzuweisen, da�man als Linker und auch ISFler diesem Dilemma nicht unterliegt oder unterliegen wird. In diesem Artikel soll es nicht darum gehen, den "authentischen Gehalt" des Marxismus gegen die ISF-Position zu halten oder den Marxismus, geschweige denn den Anarchismus zu 'retten'. Vielmehr geht es um die Kritik des ISF-Ansatzes und seiner Konsequenzen: Wenn von der Marxschen Kritik der Politischen �onomie einzig die "Kritik des Geldes" - da das Geld die "sinnliche Vergegenst�dlichung der abstrakten Synthesis der Gesellschaft durch den Wert" (S.101) ausmache, als fundamentale Grundkategorie brigbleiben soll, "verstanden als negative Dialektik des Unwesens" und als "strikter Anti-Utopismus (...), der gerade deshalb der Utopie im Schweigen die Treue h�t", dann kann "der objektive Zustand der Gesellschaft (...) die Gleich-Gltigkeit aller Werte als objektives Resultat brgerlicher Vergesellschaftung" (S.102) auch zum subjektiven Zustand der Linken werden, wie er bei der ISF anscheinend schon eingetreten ist:
"Anders als der reine auf nichts als den Willen begrndete Akt ist Revolution nicht mehr denkbar - damit ist sie berhaupt als vernnftige nicht denkbar. Es ist ebenso vernnftig, im Hhnerstall Motorad zu fahren wie einen revolution�en Verein aufzumachen - die Grnde subjektiver Pathologie, das eine zu tun oder das andere zu lassen, sind nicht wahrheitsf�ig." (S.103)
Und es schlie� sich der Kreis in negativer Dialektik:
"Die Wahrheit ber den Staat als eines falschen Verh�tnisses ist die Abschaffung des Staates ebenso, wie die theoretische Wahrheit ber das Kapital nur die praktische Aufhebung des Kapitals sein kann." (S.101/102)
So gibt es zwar eine Wahrheit, aber keinen begrndbaren, wahrheitsf�igen Weg dahin?
Das ist eben der Unterschied zwischen Bakunin, Marx, Lenin u.v.a., die sich theoretisch und politisch mit dem Problem des Staates (als Herrschaftsform) und der Revolution befa� und Geschichte gemacht haben und von deren Erfahrungen die Linke einschlie�ich der ISF bis heute zehrt.
Gesellschaft ohne Staat
Das Credo des historischen Anarchismus, die Gesellschaft ohne Staat, wird von der ISF zurecht bewertet als der "ins ��rste getriebene Liberalismus", der in seiner einseitigen Ablehnung des Staates als "das reine Kommando und die blo�anordnende Autorit�" in den Gesellschaften ohne kapitalistische Vergesellschaftung und ohne allgemeines Wahlrecht, nichts weiter war "als der ins Politische gewendete Traum des nicht kapitalistischen Privateigentums", also "der Radikal-Liberalismus der Brger, Kleinbauern und Handwerker, die ihre Produktion ohne Lohnarbeit organisieren und den Staat nur als Kommando, Befehl und allgemeine Steuererhebung ohne Nutzen erfahren" haben (S.88/89). In seiner anthropologischen Ausrichtung, die den Menschen seiner Natur nach als das "freie, denkende, aufrhrerische Wesen" ausmacht und ohne Klassenanalyse der brgerlichen Gesellschaft sei der Anarchismus unf�ig, "einen Begriff des Staates zu entwickeln":
"Ein Zusammenhang, aus dem die Mitglieder einer Gesellschaft im vernnftigen Verfolg ihrer �onomischen Interessen die staatliche Autorit� als die Erg�zung und Bedingung ihres Interesses wollen mssen, ist dem Anarchismus bis heute undenkbar geblieben. Auch neuere Versuche, Anarchismus als Praxis zur Abschaffung des Staates zu denken, verbleiben im traditionellen Schema." (S.90) Am Beispiel des "Jahrbuch fr gewaltfreie und libert�e Aktion, Politik und Kultur. Wege des Ungehorsams" zeigt die ISF, da�der "moderne Anarchismus" z.B. in Bezug auf die "Neuen Sozialen Bewegungen" nur rckw�tsgewandt argumentiert, wenn erkl�t wird.da� ..."der gemeinsame Bezugspunkt zwischen Staat und Brger brchig wird. Auf einem neuen historischen Niveau wiederholt sich so etwas, was dem historischen Anarchismus die Kraft gegeben hat: Der Staat war ��rlich, Zwang, er hatte in der b�erlichen, handwerklichen Produktion keine Funktion, er kam von au�n und nahm mit Gewalt Rekruten und Steuern, er schtzte die, die einen Eigentumstitel hatten, w�rend die Arbeit ohne sie gemacht wurde. (S.35)" (S.90/91). Nun ist diesem modernen Anarchismus jedoch nicht nur vorzuwerfen, da�er einen Gegensatz zwischen Staat als grundlose Autorit� und Gesellschaft als "kolonialisierte Lebenswelt" konstruiert ("Leben gegen Gewalt") und dabei vergi�, da�der "Selbstwiderspruch von Staat und Gesellschaft, von Bourgeois und Citoyen konstitutiv ist" fr diese Gesellschaft und somit "Widerstand gegen den Staat (...) letztlich Widerstand fr den Staat" bedeuten kann. Nicht bersehen werden darf, da�die erfahrene "Kolonialisierung der Lebenswelt heute durch den Staat hindurch als Durchkapitalisierung der Gesellschaft geschieht, also auch auf eine ver�derte Funktion des Staates verweist. Entsprechend greift die Forderung 'Gesellschaft ohne Staat', als "der Traum, brgerliche Hegemonie ohne Zwang, Konsens des Marktes ohne Despotie der Fabrik herzustellen" ins Leere. Und da�nicht, wie die ISF meint, weil der Anarchismus "die Notwendigkeit der Despotie fr das Funktionieren der Demokratie" nicht begreift, sondern weil die politische Form der brgerlichen Gesellschaft nicht mehr diejenige ist, die man zu kritisieren meint.
Staatskapitalismus
Da die "negative Dialektik" der ISF sich der konkreten Analyse der aktuellen kapitalistischen Gesellschaftsformation verweigert, obwohl diese ihr Denken bestimmt, kann auch der Staatskapitalismus der realsozialistischen Staaten nur als das 'Trauma der Revolution" begriffen werden. Aus der vordergrndigen, schematischen 'Erkenntnis' da�"die Revolution (...) liquidiert (war), als die Revolution�e an die Macht kamen", wird gefolgert, da�sich "in der auf die modernen 'Gro�n Revolutionen' folgenden terroristischen Gleichschaltung (...) die gesellschaftliche Wahrheit jeder Utopie von allgemeiner Gleichheit (egal, ob nun die auf dem Markt, die vor dem Gesetz, oder eine vor der Natur gemeint sein soll)" offenbart (S.71):
"Allgemeine Gleichheit kann immer nur gelten 'ohne Ansehen der Person'. Und wie das Ideal allgemeiner Gleichheit sich nur in Form von Gleich-Schaltung politisch verwirklichen (und staatlich garantieren) l�t, so kann aus der praktischen Realisierung der Forderung nach allgemeinen Freiheitsrechten nicht die Freiheit des einzelnen Menschen resultieren." (S.71) und weiter: "...jedes abstrakte Ideal ist die W�rung fr das, was in der Mnze konkreter Repression in Umlauf gebracht wird. Und so haben weder die franz�ische, noch die russische Revolution das Individuum befreit: Sie haben die Menschen vielmehr in Staatsbrger umgeformt." (S.71) In diesem Pl�oyer der ISF gegen die Utopie als abstraktes Ideal von Freiheit und Gleichheit, tritt die 'Befreiung des Individuums' gleichfalls als utopische Gr�e in Erscheinung, wobei nicht im geringsten bercksichtigt wird, da�es z.B. erst durch die brgerliche Revolution berhaupt m�lich geworden ist, einen Begriff des 'Individuums' zu entwickeln. Und erst im heutigen modernen Kapitalismus , der die subjektive Individualisierung innerhalb der Gesellschaft derart entfaltet hat, da�das Marxsche Proletariat nicht mehr in der Masse der Industriearbeiter als gesellschaftliche Mehrheit und damit Klasse, zu suchen ist, wie es im gesamten 19. und bis ins 20-Jahrhundert erscheinen mu�e, erh�t die Forderung nach individueller Befreiung eine neue Dimension. Diese historische und gesellschaftliche Bedingtheit aber wird von der ISF nicht hinterfragt. Da zudem behauptet wird, keine Utopie hielte der "praktisch-politischen Probe" stand, wrde sie in gesellschaftliche Realit� umgesetzt, mu�unweigerlich jeder (historische) Versuch, sich auf der Grundlage einer (konkreten) Utopie gegen die Verh�tnisse zu stellen, als Bankrott erscheinen und daher unterbleiben. Die Tatsache aber, da�die realsozialistischcn Staaten allein durch ihre Behauptung, ein 'Gegenmodell' zum Kapitalismus darzustellen, nachhaltigen Einflu�auf die kapitalistische Entwicklung im Westen hatten - die sogenannte 'soziale Marktwirtschaft' und sozialstaatliche Modelle in Europa, besonders in der BRD, w�en ohne die Existenz des realen Sozialismus kaum denkbar - ist durch einen "strikten Anti- Utopismus" als Negation politischer Praxis nicht mehr zu erfassen.
So wird der von der ISF geforderte Bruch mit dem Marxismus- Leninismus nicht damit begrndet, da�er fr eine revolution�e Entwicklung der heutigen Gesellschaft nichts mehr zu sagen hat. Die Ablehnung geschieht einzig aus der Entt�schung heraus, da�er sich als kapitalistisches Modell gezeigt und nach der Macht gegriffen hat:
"Die praktisch-politische Probe auf die These, die Macht lie� sich zu ihrer eigenen Abschaffung gebrauchen, fhrte zu nichts anderem als zu ihrer Potenzierung". (S.74)
Staat und Kapital
Nicht nur der Gesellschaftstheorie des Marxismus-Leninismus, sondern der ihm zugrundeliegende historische Marxismus wird der Kritik unterzogen, denn er sei "seiner historischen Gestalt nach zum Ausdruck der Verewigung des Kapitals mit proletarischen Mitteln geworden". Und weitergehend zur Marxistischen Staatstheorie:
"Der Staat, in der berhmten Formel von Engels als 'ideeller Gesamtkapitalist' gedacht, geht restlos auf in der rationalen Garantie der Eigentumstitel, ist blo�r Exponent der Garantie der Absch�fung des Mehrproduktes - ohne das geringste Eigenleben."
Diese einseitige und reduzierte Interpretation der ISF vom Begriff des 'Ideellen Gesamtkapitalisten" in der Marxistischen Theorie, der den Staat und deren jeweilige Form im Kapitalverh�tnis begrndet, hebt aber die Ntzlichkeit des Begriffes fr die Beurteilung der historischen Entwicklung des Kapitalismus und der jeweiligen Herrschaftsform keineswegs auf. Es ist wohl kaum zu leugnen, da�mit der Herausbildung des brgerlichen Staates. sich der aus dem Feudalismus erwachsene Kapitalismus erst entfalten konnte. In Deutschland z.B. f�derte schon der absolutistische Staat die Umwandlung der feudalen Elemente in die brgerlich-kapitalistischen, was einerseits eine Reaktion auf die franz�ische Revolution war, andererseits auch ein Versuch, mit dem �onomisch entwickelterem England gleichzuziehen. Mit dem vom preu�schen Staat vorangetriebenen Stra�n-, Kanal- und Eisenbahnbau wurde der �onomische Erfolg der Gro�ourgeoisie derart vorangetrieben, da�diese gegen die feudalen Sonderinteressen die Nationalversammlung fordern und sich fr eine parlamentarische Vertretung stark machen konnte. Der brgerliche Staat ist aus der Notwendigkeit erwachsen, die beschleunigte Enwicklung der Produktivkr�te mit Beginn der industriellen Revolution mittels immer neuer Strukturen und Rechtsverh�tnisse abzusichern: sei es die Abschaffung der Gewerbeunfreiheit, die Herstellung formaler Gleichheit, der Ausgleich der kapitalistischen Sonderinteressen in der Phase der Monopol- und Kartellbildungen, der aufkommenden Aktiengesellschaften oder die keynesianistischen und sozialstaatlichen Regulationstrategien im Zeitalter des Taylorismus. Hierbei handelt es sich nicht um einen widerspruchsfreien Proze� der einem Geschichtsdeterminismus folgt. Begleitet von sozialen und politischen K�pfen ver�dern sich die brgerlichen Herrschaftsformen, zielen aber auf die Absicherung der jeweiligen historischen kapitalistischen Vergesellschaftungsformen. Und wenn im heutigen High-Tech-Kapitalismus, der international agiert, sich die historisch entwickelten Formen und Funktionen des Nationalstaates aufzul�en beginnen, mu�sich auch die Analyse und Kritik staatlicher Herrschaft �dern und kann sich nicht mehr allein auf die Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts berufen, auch nicht, indem diese einfach in "negative Dialektik" umgemnzt werden. Das Problem der Staatskritik, wie sie die ISF betreibt, liegt nicht in der Kritik der Staatlichkeit als Herrschaftsform begrndet, sondern in ihrer unhistorischen Herangehensweise. Es wird nicht begriffen, da�auch staatlich geronnene brgerliche Herrschaft im Kapitalismus der entstaatlichenden Transformation unterworfen ist. Die Projekte der "Privatisierung" von Bahn und Post oder der Verkehrswege (Autobahn). deren staatliche Installation einst die Voraussetzung fr die konkurrierende Kapitalakkumulation war, signalisiert eine neue 'entstaatlichte' Form brgerlicher Herrschaft. Das kapitalistische Verwertungsprinzip durchdringt auch die ehemaligen herrschaftsstrukturierenden Bereiche des "ideellen Gesamtkapitalisten" Staat. Das "ideelle Ganze" oder, um mit Marx zu sprechen, der 'Ideale Durchschnitt" hat sich als Ausgleichsfunktion kapitalistischer Konkurrenzaufhebung ebenso berlebt wie als strukturierende Bedingung der privaten Produktivkraftentwicklung.
'Staatlichkeit besteht heute in 'selbstverwalteten Lenkungsstrukturen" supranationalen Zuschnitts (Warennormierung etc.), die die Marktmechanismen regeln und direkten Zugriff auf die Produktion nehmen. Werden diese "realen Formen" ver�derter staatlicher Herrschaft aber nicht in den Blick genommen, spiegeln die eigenen Theorien nicht die "Wahrheit ber den Staat" wider, sondern blo�die Unf�igkeit. die historischen gewandelten Erscheinungsformen des Kapitalismus zur Kenntnis zu nehmen.
Editorische Anmerkungen
Der Artikel erschien in der Zeitschrift SPEZIAL Nr. 89, M�z/April 1993, S. 16ff.
Das Titelbild dieser Ausgabe "Marxismus zum Abgew�nen - Teil I) wurde in die Titelseite dieser Ausgabe bernommen.OCR-Scan by red. trend