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incipito

affirmating reality


Vergleicherei und interessiertes Denken

In dem Artikel fighting reality in der Incipito #17 führte laatsch eine Denkfigur aus, wie sie typisch für die antideutsche Szene ist. Fast schon trotzig wird festgehalten, dass man entgegen aller Kritik am Rechtsstaat (oder auch an der Demokratie, am Kapitalismus etc.) diesen gut zu finden hat. Immerhin wäre er doch, im Vergleich zum Nationalsozialismus, zum Islamismus oder bei laatsch auch zur Herrschaft von linken "Rackets" das geringere Übel. Womit da der Vergleich aufgemacht wird, ist aber letztlich auch egal, geht es bei ihm doch ohnehin gar nicht um die Bestimmung der Gegenstände und wie man darin vorkommt, sondern um die Legitimation der eigenen affirmativen Stellung zum Rechtsstaat. Das merkt man schon daran, dass sich eben nicht mit der Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen z.B. Rechtsstaat und "Racket"[1] - bei laatsch werden sogar nur die Unterschiede gesucht und die Gemeinsamkeiten völlig vernachlässigt - begnügt wird, sondern sich aus den Unterschieden eine Parteinahme ergeben soll. Diese kann aber weder aus den Unterschieden selbst folgen, noch aus einer Analyse, wie man im Rechtsstaat und im Racket materiell wegkommt. Denn wenn man feststellt - und wenn ich ihn richtig verstanden habe, bestreitet laatsch das auch nicht - dass man in beiden notwendig Schädigungen erfährt, dann folgt daraus logisch doch eine Ablehnung beider und nicht die Verteidigung des einen gegen das andere.

Um zu einer solchen Parteinahme zu gelangen, bedarf es daher auch einer Schummelei, nämlich schon vorab das als gut oder mindestens besser zu setzen, was man legitimieren möchte. Dann kommen eben auch genau die vorher als positiv gesetzten Dinge als das bessere heraus, was verteidigt werden müsse. Deutlich wird dies u.a. an folgendem Zitat von laatsch: "Dass sie mit dieser Propagierung der direkten Aktion und der allgemein akzeptierten Ablehnung der Staatsgewalt als Durchsetzungsinstrument bürgerlicher Versprechungen mal eben die Vermittlung des Individuums über das Recht und somit überhaupt die Möglichkeit Individuum zu sein, welches auch im begrenzten Rahmen kapitalistischer Vergesellschaftung immer noch heißt, vor dem willkürlichen Zugriff durch den ‚Stärkeren' geschützt zu sein, über Bord wirft, fällt zwar auf, wird aber schon aufgrund der Ablehnung bürgerlicher Verfahrenswege positiv besetzt." (S. 9) Also: das was den bürgerlichen Staat vom Faustrecht unterscheidet, soll gleichzeitig schon das verteidigenswerte an ihm sein. Vermittlung über das Recht und "überhaupt die Möglichkeit Individuum zu sein" sind für laatsch a priori die zu verteidigende Qualität des Rechtsstaats gegenüber dem unvermittelten Zugriff des Stärkeren im Faustrecht. Was diesen vermittelte Zugriff überhaupt ausmacht, wird dabei gar nicht erst ausgeführt, geschweige denn, was daran positiv sein soll - der Verweis auf das Faustrecht soll schon genügen.

Rechtsstaat und Individuum

Dass der Rechtsstaat das Individuum ermöglicht und diesem eine Privatsphäre einrichtet (S. 13), wird ihm von laatsch hoch angerechnet. Was er davon hat, außer ein Glücksversprechen, von dem er selbst weiß, dass dieses strukturell nicht eingelöst werden kann (S. 8), bleibt dabei offen - aber so etwas interessiert ja auch nicht weiter, wenn es um die korrekte (linke) Moral geht, statt um Materialismus. Entsprechend empört reagiert er dann auch, wenn sich Leute erdreisten, gegen seine Moral zu verstoßen. Diese hängen dann mit ihrer prinzipiellen Staatskritik einem "antinationalen Wahngebilde" (S. 10) an, welches sich so darstellen soll: "Links heißt gegen Staaten, gegen Nationen zu sein, also gegen jene Institutionen, die die Menschen angeblich daran hindern, gegen ihr Elend aufzustehen, jene Institutionen mithin die für die Unterdrückung der Menschen durch den kapitalistischen Normalbetrieb einstehen. In diesem Basis-Überbau-Schema steht der Staat nicht etwa als Ausdruck für die Durchsetzungsgewalt des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis, mithin also einem Verhältnis der apersonalen Herrschaft plus den dazugehörenden, sinnstiftenden Ideologien, wie dem von der sozialen Absicherung, sondern der Staat steht hier als verantwortlicher Akteur, der daran Schuld ist, dass die Welt schlecht sei und der Mensch von seiner Wesensart des gut seins abgehalten wird." (S. 10 f.)

Es stimmt zwar, dass AnarchistInnen oft den Fehler machen, den Anarchismus im Menschen verankert zu sehen und den Staat dafür zu kritisieren, dass er die Menschen von dieser ihrer Bestimmung abhält (für den Text von Paolo Fox müsste man das trotzdem nachweisen, statt es einfach nur zu behaupten), sonst aber rein gar nichts. Das fängt schon damit an, dass der bürgerliche Staat[2] nicht irgendein "Ausdruck" der kapitalistischen Verhältnisse ist, sondern er diese überhaupt erst einrichtet[3] und aufrecht erhält. Schließlich setzt er das Privateigentum, an dem sich - als freie und gleiche Privatsubjekte (das sind sie nämlich von Natur aus genauso wenig wie AnarchistInnen oder Racketfans) - alle gleichermaßen betätigen können, sollen und müssen. So werden von ihm lauter elementare ökonomische Gegensätze ins Werk gesetzt, die er dann mit dem von ihm gesetzten Recht und dessen Durchsetzung mit seinem Gewaltmonopol so einschränkt, dass diese nicht in Raub und Mord enden, sondern ökonomisch produktiv werden - schließlich finanziert er sich aus der Besteuerung dieser Ökonomie und hat schon daher ein Interesse, diese am Laufen zu halten. Durch den Ausschluss, sowohl von den Mitteln der Bedürfnisbefriedigung, als auch von den Produkten, mit denen diese sich befriedigen ließen, der durch die Setzung des Privateigentums entsteht, sind viele Menschen darauf angewiesen, jemanden zu finden, der ihre Arbeitskraft kauft, um an Geld als allgemeines Äquivalent zu kommen, mit dem sie dann das für ihr Überleben notwendige Zeug kaufen können. Vom Rechtsstaat geschütztes Individuum und Privatsubjekt zu sein, heißt also für die meisten Leute entweder Ausbeutung im Produktionsprozess oder Verhungern (bzw. sozialstaatlich alimentiert als industrielle Reservearmee für den Arbeitsmarkt zur Verfügung gehalten zu werden).

Den Antinationalen ist daher darin zuzustimmen, den Staat als "verantwortlichen Akteur" für die kapitalistischen Verhältnisse zu betrachten. Ob sie ihn dabei korrekt bestimmen, müsste jeweils am Einzelfall geprüft werden. Und ja: der bürgerliche Staat ist auch die Instanz, welche mit ihrem Gewaltmonopol versucht, Aufstände gegen die Ökonomie niederzumachen. Wenn sich die ArbeiterInnen gar nicht erst gegen die für sie schädlichen Verhältnisse zu erheben versuchen, dann liegt das freilich nicht am Staat, sondern an den verkehrten Vorstellungen, die sie sich von ihnen machen. Dass die Aufstände, wenn es zu ihnen kommt, aber niedergeschlagen und die Menschen in ihren Elend gehalten werden, dann aber schon.

Israel und antideutsche Wahngebilde

Aber nicht nur, dass sie das Los des auf den Verkauf der eigenen Arbeitskraft Angewiesenen nicht wegen eines ohnehin unerfüllbaren Glücksversprechens freudestrahlend akzeptieren und dem bürgerlichen Staat dafür danken, stößt laatsch an den Antinationalen übel auf. Mindestens genauso schlimm ist es für ihn, dass ihre allgemeine Staatskritik auch eine Kritik an Israel bedeutet, ja dass dieses genauso abgeschafft werden solle, wie alle anderen Staaten auch. Was für ein Verstoß gegen die antideutsche Moral, da muss man doch empört sein: "Die richtige Kritik des Staates als notwendige Institution, um die bürgerliche Gesellschaft als kapitalistische zusammenzuhalten und um den alltäglichen Prozess der Verwertung des Werts zu sichern, schlägt dann in ihr Gegenteil um, wenn behauptet wird, alle Staaten seien sich gleich (böse) und es gäbe keine Unterschiede." (S. 11) Böse ist eine untaugliche moralisierende Kategorie (offenbar kann laatsch nur in solchen denken) und selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen den Staaten, z.B. in der konkreten Ausgestaltung ihrer Herrschaft, in der Ausstattung mit Gewaltmitteln, im Erfolg der Standortpolitik, im Staatsbürgerschaftsrecht, in ihren Staatsideologien etc. Das ändert doch aber nichts an ihrer Gemeinsamkeit, die laatsch mit aufrecht erhalten der kapitalistischen Gesellschaft hier sogar mal richtig bestimmt. Diese ist für israelische ArbeiterInnen aber genauso ungemütlich, wie für die Arbeiter im Rest der Welt - worin soll dann also der Grund liegen, Israel nicht mit in die allgemeine Staatskritik einzubeziehen? Für laatsch darin, "dass es nur einen Staat gibt in dem ‚wir alle' der Staat sind, nämlich Israel und auch dies ‚nur', weil sich der Staat als antifaschistisches Staatskollektiv gegen die Vernichtung der jüdischen Subjekte konstituierte." (S. 11) Wenn aber Israel nichts als die bewaffnete kollektive antifaschistische Selbstverteidigung der jüdischen Subjekte ist, wieso bedarf es dann seiner staatlichen Herrschaft über die jüdischen Subjekte? Doch nicht etwa aus den gleichen Gründen, wie bei allen anderen bürgerlichen Staaten auch?

Ziemlich böswillig ist es übrigens, Antinationalen zu unterstellen, dass, weil ihre allgemeine Staatskritik auch Israel trifft, es ihnen mit ihr eigentlich allein oder mindestens hauptsächlich darum ginge Israel zu beseitigen: "den AntinationalistInnen ist der Staat als solcher jene Instanz, die es abzuschaffen gilt, um mit ihm und über ihn die bürgerliche Gesellschaft - sprich, unspezifisch spezifisch Israel - zu beseitigen." (S. 11) Als würde aus einer allgemeinen Staatskritik die Abschaffung (ausschließlich) eines speziellen Staats folgen - und das Geraune von "unspezifisch spezifisch" erklärt da auch nichts.

Rechtsstaat und Racket

Wie bereits gesagt, unterschlägt laatsch bei seinem interessierten Vergleich (der schon deshalb auch kein wirklicher ist) die Gemeinsamkeiten zwischen dem Rechtsstaat und dem, was er als "Racket" verabscheut - auch diese seien daher zum Abschluss kurz nachgetragen. Am "Racket" hat er dabei auszusetzen, dass dieses "die Identität des Individuums als Spiegelbild der Gruppe beschreibt, welches also beschreibt, wie Menschen das Gegenteil von der Subjektbildung betreiben, nämlich das Aufgehen in der Identität des entprivatisierten und entsinnlichten Kollektivs" (S.14). Dass das Individuum als "Spiegelbild der Gruppe" gilt, scheint das Racket jedenfalls mit dem Nationalismus zu teilen, wo ja auch fein säuberlich in ‚wir' und ‚die anderen mit ihren spezifischen Nationaleigenschaften' unterschieden wird. Dies reflektiert jedoch auf das vom Rechtsstaat erlassene Staatsbürgerschaftsrecht, was diese Unterteilung ja erst vornimmt - reelle Abweichungen in den Vorstellungen, wer denn eigentlich dazu gehört und wer nicht, sind dadurch selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Der bürgerliche (Rechts-)Staat - und das vernachlässigt laatsch fast die ganze Zeit - bringt eben nicht nur das Privatsubjekt des Wirtschaftsbürgers hervor, sondern dieser muss zugleich auch Staatsbürger und NationalistIn sein. Schließlich ist er als Konkurrenzsubjekt auf den Staat, den er real vorfindet verwiesen, weil dieser ihm erst sein Dasein als Konkurrenzsubjekt ermöglicht und identifiziert sich daher mit ihm und seinem Erfolg - was dann auch entsprechend bebildert wird. Insofern hat die Ideologie, "der Staat seien ‚wir alle'" (S. 11) durchaus ihre reale materielle Grundlage.

Diese gälte es dann auch zu kritisieren, statt sie gegen das "Racket" zu verteidigen - freilich nicht, wie dies bei laatsch immer durchklingt - unter dem Aspekt Individuum vs. Kollektiv. Dass diese zusammenfallen können, hat sich ja schon am Wirtschafts- und Staatsbürger gezeigt. Es ist aber auch ein anderes Zusammenfallen ihrer möglich, nämlich im bewussten Zusammenschluss jener, welche auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, das aber nicht mehr sein wollen. Und ihr Zusammenschluss ist auch nötig, wenn sie dieses Interesse an einem schönen Leben gegen den bürgerlichen Staat durchsetzen wollen. Die ArbeiterInnen dafür zu agitieren, ist wie eh und je die Aufgabe, seit es den Kapitalismus gibt.

P.S.: Da ich einmal am Verfassen eines Leserbriefs bin, möchte ich noch kurz meine Verwunderung darüber ausdrücken, wie unbenommen ihr die unbewiesenen Behauptungen von Mark Schneider (bgr) über die FAU-Leipzig (S. 44) in euer Heft übernehmt. Warum G. Hanloser eingeladen wurde, hat diese doch auf ihrer Veranstaltung erklärt: weil sie die Abkehr der Szene von sozialen Kämpfen (wie etwa den Montagsdemos) für verkehrt hält und in den Theorien der Antideutschen einen Grund für diese Abkehr sieht. Dass sie damit eigentlich das Eichmannzitat von v.sc.d im Feierabend legitimieren wollte, ist da schon eine recht dreiste Unterstellung. Und gerade die Oberpolitgruppe bgr (die ja auch schon selbst Erfahrungen darin hat) sollte doch wissen, warum man ReferentInnen einlädt: zum einen um sich ihre Kompetenz verfügbar zu machen - schließlich können sich ja nicht alle intensiv mit jedem Thema beschäftigen - und zum anderen, um mit ihren Namen Publikum zu ziehen. So what?


[1] Wissen über den Rechtsstaat und die "Rackets" folgt aus einem Vergleich sowieso nicht. Ist ja auch klar: man muss vorher schon beide bestimmt haben, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden feststellen zu können. Von daher ist ein solcher Vergleich auch einigermaßen überflüssig.
[2] Dieser kann hier selbstverständlich nur andeutungsweise abgerissen werden. Bei Interesse am Thema empfehle ich die Lektüre von: Karl Held (Hg.): ‚Der bürgerliche Staat'. Der Text ist auch online unter http://www.gegenstandpunkt.com/ verfügbar.
[3] Hier geht es um eine logische Argumentation und nicht darum, wie die Einrichtung des Kapitalismus jeweils historisch verlief.

== MPunkt==
[Nummer:18/2005]
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