http://www.gegenstandpunkt.de/radio/2006/ga060320.htm Die Meinungsfreiheit - ein demokratischer Höchstwert

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Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora München vom 20. März 2006
GegenStandpunkt – Kein Kommentar! im Freien Radio für Stuttgart vom 15. März 2006


Die Meinungsfreiheit – ein demokratischer Höchstwert

Da gab es kürzlich ein paar Karikaturen, in denen der Prophet Mohammed als Terrorist dargestellt und damit Muslime überhaupt verdächtigt werden, ein "Sumpf" des Terrorismus zu sein. Starker Tobak, das sagten nicht nur viele Islamgläubige, sondern auch viele Meinungsmacher hier. Unisono heißt es, "religiöse Gefühle" solle man nicht mutwillig "verletzen". Andererseits, so dieselben Meinungsmacher, muss sich die Religion aber auch gefallen lassen, dass sie keinen unbedingten Artenschutz genießt: Der Gläubige mag zwar seinen Gott für das Höchste halten, aber er kann nicht verlangen, dass sich alle anderen auch daran halten – in der Demokratie gilt die Meinungsfreiheit, und die stellt jedem frei, sich unter anderem auch über die Religion kritisch und bis zu einem gewissen Maß sogar abfällig zu äußern. Wenn die Muslime nun gegen "Blasphemie" der Karikaturen Sturm laufen, so ist ihnen Einhalt zu gebieten, weil sie damit ihre religiösen "Werte" über die grandiose Errungenschaft der Meinungsfreiheit stellen. Bei der handelt es sich nämlich um einen Höchstwert, mit dem "die Freiheit" und "die Demokratie" steht und fällt. Da stellt sich auch die europäische Öffentlichkeit auf einen unversöhnlichen Standpunkt, ruft einen "Kampf der Kulturen" aus und lässt keinen Zweifel daran, dass sie im Namen dieses "Kulturkampfes" ebenfalls jede Menge gewaltsamer Übergänge ihrer Staatsgewalten für gerechtfertigt und angebracht hält. Das Ganze hat etwas Lächerliches: So viel Gift und Galle und Aufrufe zur mannhaften Verteidigung der Freiheit, bloß damit man mal über einen Abgott fremder Gläubiger grinsen kann? – Aber offensichtlich geht es um mehr als das: Die Demokratie behandelt den "Wert" der Meinungsfreiheit als Höchstwert, weil er dafür unverzichtbar ist, wie hierzulande – und gerade im Gegensatz zur Verfasstheit islamischer Staaten – Herrschaft ausgeübt wird. Dazu ein paar kritische Anmerkungen.

1.

Tatsächlich ist die Meinungsfreiheit ein "Wert" der höheren Art, nach dem kein Mensch einfach von sich aus ein Bedürfnis verspürt. Wer etwas meint und das auch äußern will, wer also etwas mitzuteilen hat, weil es ihm anderen gegenüber auf diese Mitteilung ankommt, der will das tun und nicht dürfen; der fällt ein Urteil oder meldet ein Interesse an. Der will nicht bloß mal etwas gesagt haben, vielmehr geht es ihm um eine Auseinandersetzung: Sein Gegenüber soll dem Urteil zustimmen oder es widerlegen, also den vorgetragenen Gedanken ernsthaft prüfen, und das durch das Urteil begründete Interesse soll er unterstützen oder begründet ablehnen. Wenn die Meinungsfreiheit gefeiert wird, ist von alldem nicht die Rede – da wird gefeiert, dass man überhaupt etwas sagen darf. Auf die Idee, das für toll zu halten, kann man nur kommen, wenn man sich eine über einem stehende Gewalt vorstellt, die einem schon das bloße Meinungsäußern verbieten könnte. Aber immerhin, könnte man jetzt sagen – ist doch besser, wenn man die eigene Meinung äußern darf, als wenn selbst das verboten ist. Klar: Wenn es einem auf das eigene Urteil bzw. Interesse praktisch ankommt, will man nicht schon im Vorfeld niedergebügelt werden. Wenn es tatsächlich eine Instanz gäbe, die einem schon die bloße Äußerung verbietet, dann müsste man gegen die den Kampf aufnehmen – aber doch bloß als Voraussetzung dafür, dass dann das Urteil bzw. Interesse wirksam werden kann. Eine ganz andere Sache ist es aber, wenn es einem auf das Recht auf die eigene Meinung ankommt. Dann ist stillschweigend vorausgesetzt, dass es eine höhere Instanz gibt, die befugt ist und die Macht hat, Rechte dieser Art zu erteilen. Appelliert man an die, dieses Recht einzuräumen, dann handelt man sich damit ein, dass es die gewünschte Freiheit nur gibt, sofern diese Instanz sie gewährt. Wenn diese Instanz den Appell dann erhört und freie Meinungsäußerungen erlaubt, dann hat sie von der Macht, die sie über ihre Bürger mit den freien Meinungen hat, kein Jota zurückgenommen. Und die wird man in der anschließenden Auseinandersetzung um Einsichten oder nie mehr los.

2.

Das ist nämlich die andere Seite jeder staatlich gewährten Freiheit und nicht nur des Rechts der freien Meinungsäußerung (Art. 5.1 GG): Die Instanz, die diese Freiheit gewährt, behält sich auch vor, den Gebrauch, den die damit Beschenkten von dieser Freiheit machen, nach ihrem Ermessen zu beurteilen und zu regulieren (Art. 5.2 GG). Nach ihrem Ermessen betrachtet und bestraft sie manche Äußerung als verbalen Übergriff gegen sich selbst oder ein anderes von ihr als schutzwürdig beurteiltes Interesse – und verbietet sie oder stellt sie unter Strafe. Damit ist aber das Kommando der übergeordneten Instanz über die Meinungsäußerungen noch lange nicht fertig: Es greift in sämtliche Verstandes- und Willensäußerungen noch viel tiefer ein, gerade indem es jede geäußerte Meinung gleichermaßen gelten lässt. Das heißt nämlich umgekehrt: Der demokratische Staat macht es jedem, der das Recht in Anspruch nehmen möchte, seine Meinung frei zu äußern, zur Pflicht, alle anderen Meinungen – auch diejenigen, die seiner widersprechen – als genauso gültig wie die seine anzuerkennen. Aber immerhin, könnte man wiederum sagen, wenigstens wird einem – vielleicht mit ein paar Ausnahmen – nichts verboten. Bloß: Was hat man davon, wenn man darauf verpflichtet wird, gegenteilige Meinungen anderer als ebenso richtig wie die eigene anzuerkennen? Mit dieser Vorschrift wird jede Äußerung, ob sie nun richtige Einsichten oder den größten Blödsinn ausdrückt, mit jeder anderen gleich gültig, dann ist sie aber – wie alle anderen auch – gleichgültig. Das Urteil oder das Interesse, das eine Äußerung transportieren will, schrumpft darauf zusammen, dass man etwas meinen und sagen darf. So muss man sich mit der Erlaubnis zum Meinen zufrieden geben, als wäre es auf die gemeinte Sache gar nicht angekommen, sondern nur darauf, seine unmaßgebliche Auffassung mal gesagt zu haben.

3.

Dabei geht es der Aufsicht führenden und Freiheit gewährenden Instanz selbstredend nicht um belanglose Ansichten, mit denen die Menschen einander unterhalten, oder Boshaftigkeiten, mit denen sie einander persönlich ärgern wollen. Die prinzipiell gleiche Gültigkeit – also praktische Irrelevanz – aller geäußerten Meinungen knöpft sich praktische Interessen vor, die den Betroffenen wichtig und gesellschaftlich bedeutsam sind. Klar: Jeder darf sagen, wie er sich die Gesellschaft vorstellt und auch, wie er sie geändert haben möchte. Jede in dieser Hinsicht vorgetragene Vorstellung hat ihr Daseinsrecht, aber nur, wenn sie sich an jedem vorgetragenen entgegenstehenden Interesse relativiert. Das heißt: Der Meinungsäußerer darf sich nicht anmaßen, auf die wirkliche, praktische Gültigkeit seiner Meinung zu dringen. Er darf nicht darauf beharren, sich mit anderen interessierten Menschen – diskutierend oder auch streitend – über die Richtigkeit oder Falschheit der vorgetragenen Anliegen verständigen zu wollen, um sie nach Abschluss dieser Auseinandersetzung durchzusetzen. Der Alltag frei meinender Bürger, die sich die Meinungsfreiheit zu Herzen nehmen, spiegelt das genau wider: Alle legen großen Wert auf ihre eigene Meinung, beharren auf ihrem Recht, sie haben zu dürfen, sind beleidigt, wenn sich einer darüber respektlos äußert – und zugleich behandeln sie ihre eigene Meinung als praktisch unbedeutend, wenn sie im selben Atemzug dazu sagen: "Ich mein’ ja bloß …" oder etwas feiner: "In meiner Sicht / meines Erachtens / meiner Meinung nach…". Der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem sich die Meinungsäußerer befinden, bleibt also von ihren Meinungen völlig unberührt. Der ist und bleibt ihnen vorausgesetzt, der wird beherrscht und geregelt von der Instanz, die die Meinungsfreiheit gewährt. Es ist der Staat, der festlegt, wie viel die unterschiedlichen Interessen, die immer nur als Meinungen daherkommen dürfen, wirklich gelten. Indem der Staat jede Meinung auf praktische Bedeutungslosigkeit festlegt, ihnen also den Übergang zur praktischen Durchsetzung untersagt, folgt er den Interessen und Berechnungen, die er für sich als die gültigen definiert und durchsetzt. Zu Ende gedacht läuft ‚Meinungsfreiheit‘ also darauf hinaus: Die demokratische Staatsmacht gewährt allen Bürgern gleichermaßen das Recht des freien Meinens – und eben so verschafft sie sich ihre grundsätzliche Freiheit, über angemeldete Interessen entweder als bloße Meinungsäußerungen hinwegzugehen oder sie praktisch ins Recht zu setzen. So verpflichtet sie alle Bürger gleichermaßen auf den Respekt vor der Freiheit ihres Staates, sein Interesse gegen alle privaten durchzusetzen.

4.

Die Freiheit der Meinungsäußerung gehört tatsächlich zu dem eigentümlichen Verhältnis beschränkender Anerkennung, in dem die moderne bürgerliche Staatsgewalt zu ihren Bürgern steht: Sie gewährt denen ein Recht auf ihr Interesse. Zugleich verlangt sie von ihnen, dieses Interesse zu relativieren; sie erlaubt ihnen nicht, sich untereinander über die Gültigkeit ihrer individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten auseinander zu setzen, sich auf ein Resultat zu einigen und dies dann auch praktisch werden zu lassen. Von vornherein mutet die Staatsgewalt ihnen zu, die Regelung ihrer gesellschaftlichen Beziehungen ausschließlich der höchsten Gewalt zu überlassen. So genießen die Bürger zwar "die Freiheit", aber das Kommando über die materiellen Bedingungen dieser Freiheit liegt ganz bei der Staatsmacht. Sie gewährt ihren Untertanen Anerkennung, aber in einem sehr abstrakten Sinne, nämlich unter prinzipieller Absehung von allem, was die brauchen, wollen und können, und emanzipiert sich damit von deren materiellen Interessen. In diesem Verhältnis, das der Staat zu seinen Bürgern eingeht, in diesem Gewähren einer abstrakten Freiheit, ist das Recht auf freies Meinen und Sich-Äußern enthalten – einschließlich der Maßregel, dass der Mensch sich schon damit gut bedient finden soll, sich ungehindert geistig auskotzen zu dürfen.

Das gilt als historischer Fortschritt gegenüber Herrschaftsverhältnissen, in denen eine auf Herkunft oder religiöse Vorschriften gegründete Autorität jedem seinen gesellschaftlichen Platz und Stellenwert zuweist, wo die Anerkennung des einzelnen davon abhängt, dass er seinerseits den religiösen Glauben der herrschenden Gewalt übernimmt und sie aus ihm heraus als gottgewollt anerkennt. Darüber sollte man aber doch nicht ganz die äußerst begrenzte Reichweite dieses Fortschritts vergessen: Die demokratische Obrigkeit hat eingesehen, dass es für den staatsbürgerlichen Gehorsam nicht nur unnötig, sondern vielfach sogar hinderlich ist, wenn sie ihren Bürgern vorschreibt, von welchem Gott sie sich den Gehorsam hienieden befehlen lassen sollen. Sie stellt es jedem frei, sich auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten den Gott auszusuchen, von dem er sich sagen lässt, dass die Unterwerfung unter das weltliche Regiment gottgefällig ist. Ja – Gipfel der Freiheit –, er braucht nicht einmal an einen Gott zu glauben, sondern darf sich ersatzweise im humanistischen Wertehimmel das höchste Prinzip auswählen, aus dem er dasselbe deduziert, nämlich dass das menschliche Zusammenleben "ohne ein staatliches Gewaltmonopol undenkbar" sei…

Mehr zu diesem Thema:

"Viel Lärm um ein paar Zeichnungen zum Thema ‚Mohammed‘ und ein
Kreuzzug für die Meinungsfreiheit"
in GegenStandpunkt 1-06 (erschien am 17. März 2006)


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