Notizen zu Michel Foucault: Überwachen und Strafen
Dieses wohl bekannteste Werk des Autors beschäftigt sich mit der Entstehung der großen Einschließungsmilieus (Schule, Militär etc.) und ihrer Disziplin. Gerade diese großen Disziplinaranstalten werden heute fortschreitend abgebaut. Wer erst diszipliniert und zugerichtet werden muss hat schon verloren. Diesen Autor kann man also aus zwei Perspektiven lesen: als anarchistische Gegenwehr gegen Bevormundung und als Begleitmelodie zum Abbau öffentlicher Institutionen.
Foucaults Ausgangspunkt ist der Umgang einer Gesellschaft mit "Strafe". Deren Systematik konstruiert, nach Foucault, ganz wesentlich die Struktur einer Gesellschaft. Seine Position soll in diesem Text wiedergegeben werden. Foucault beginnt mit der Darstellung eines historischen Prozesses vom Spätmittelalter bis zur Neuzeit.Etwa Ende des 18.Jh wird die Marter abgeschafft, die Strafe zielt nicht mehr auf den Körper, sondern auf den Kopf oder die Seele. Die Bestrafung verschwindet aus der Öffentlichkeit, sie verlässt den Bereich der öffentlichen Wahrnehmung, wird Verwaltungsapparaten übergeben. Ihre Wirkung erhofft man sich jetzt nicht mehr durch die Intensität, sondern durch ihre Unvermeidlichkeit. Diese Entwicklung ist etwa 1848 abgeschlossen. Wesentlich ist heute der Versuch zu "Heilen", zu "bessern". Der Strafe bleibt ein peinlicher Rest, der unvermeidliche Zugriff auf den Körper wird jetzt nüchtern und sauber durchgeführt; der Körper wird in ein System von Verpflichtungen und Verboten gesteckt. Das Ziel der Strafoperation ist nun ein gänzlich anderes: Das Denken, der Wille, "die Seele". "Als Verbrechen definiert man immer noch Rechtsgegenstände, die vom Gesetzbuch definiert sind, aber gleichzeitig urteilt man über Leidenschaften ... Unangepasstheiten", eben den Willen.
"Im Affekt", Vorsatz, mildernde Umstände, all diese "Sozialprognosen", sind nicht etwa Hilfsmittel der Urteilsfindung, sondern Ausschlaggebend für das Urteil, sie beschreiben allesamt den Anteil des eigenen Willens zum Verbrechen. Unter dem Vorwand eine Tat zu erklären wird das Individuum qualifiziert. Strafziel ist nicht mehr die Sühne, sondern die Einordnung in die Sozialordnung. Strafziel ist nicht eigentlich der Diebstahl, sondern vielmehr der (womöglich fortgesetzte)
Wille gegen die Eigentumsordnung zu verstoßen. Zu beschriebenem Zweck entstehen völlig neue
Strafformen: überwachte Freiheit, medizinischer Behandlungszwang, Aufenthaltsverbot und andere
mehr.
Die Strafe soll eigentlich erst nach erfolgreicher Verhaltensänderung beendet sein.
Flexible Strafzeiten und medizinische Gutachten sollen diesem Ziel dienen. Die sogenannte
Erklärung der Tatumstände sind der Zugriff auf den Willen, dieser hat nur anscheinend
erklärende Funktion - es ist die entscheidende Annexion. Wer aber über den inneren Willen
richtet, urteilt nicht nur über eine Tat und deren Umstände. Abschätzung und Beurteilung haben
ihren Charakter wesentlich geändert. Es geht nicht mehr um die Wahrheit der Tat, sondern um
ihren - nach Herrschaftswissen definierten - Ursprung. Diese Suche nach dem Ursprung der Tat
zielt aber auf das künftige Verhalten des
Täters abseits seiner Erklärungen. Urteile sind also nicht mehr nur Beurteilungen von Schuld
oder Unschuld, sondern Klassifizierungen des Täters. Sie enthalten Normalitätsabschätzungen und Prognosen.
Parallel dazu entstehen unzählige Instanzen nebenrichterlicher Tätigkeit. Psychologen, Sozialarbeiter, diverse Gutachter, die gesamte Knastaufsicht werden Nebenrichter, da sie alle über den "Erfolg" der Behandlung urteilen und damit das Strafmaß mitbestimmen. Sie sind Nebenrichter, aber gleichwohl Richter und verlängern mit ihren Urteilen die richterliche Entscheidung über das Gerichtsverfahren hinaus. "Der Psychologe ist nicht Experte in Sachen Verantwortlichkeit, sondern Berater in Sachen Bestrafung." Der Gefangene wird in ein System von Beurteilungen und Bestrafungen eingespannt. "Die gesamte Operation des Strafens hat sich mit außerjuristischen Personen und Elementen aufgeladen." Es wird Herrschaftswissen aufgehäuft.
Der Autor will die Geschichte des Strafens schreiben und stellt dafür 4 Regeln auf:
1. Bestrafung muss als komplexe gesellschaftliche Funktion gedacht werden - keine Rechtssoziologie!
2. Die Gewaltverfahren sind mit den sonstigen gesellschaftlichen Gewaltpotentialen zu vergleichen. Die Bestrafungen sind in die Perspektive der politischen Taktik einzuordnen.
3. Strafgeschichte ist Geschichte der Humanwissenschaften, denn Machttechnik beruht auf Menschenkenntnis.
4. Wie wird die "Seele" (der Wille) über den Körper gebrochen?
Foucault unternimmt also den Versuch, die Metamorphose der Strafmethoden von einer politischen Technologie der Körper her zu untersuchen - und bildet dazu
3 Hypothesen
1. Machtverhältnisse und Erkenntnis haben eine gemeinsame Geschichte.
2. Unterwerfung schafft Erkenntnis.
3. "In diesem Sinne kann man sagen, dass die gesetzlichen Strafen zur Sanktionierung bestimmter Vergehen bestimmt sind, die Definition der Vergehen und ihre Verfolgung aber wiederum dazu dienen, den Strafmechanismus in Gang zu halten."
Eine Annahme, die voraussetzt, dass Herrschaft keinen ihr äußeren Zweck hat, sich also selbst und um ihrer selbst Willen reproduziert und dazu hauptsächlich außerökonomische Mittel anwendet. Gegen die materialistische Kritik wird der Einwand formuliert, das nur der bereits beherrschte Körper auch ein ausbeutbarer und damit nützlicher Körper ist.
Historischer Einblick: In der Sklavenhaltergesellschaft musste das Strafsystem hauptsächlich Sklaven produzieren, im Feudalismus war wegen der geringen Produktivkraft Körperstrafe nötig. Der Manufakturkapitalismus verlangt Strafmanufakturen, die moderne Industrie Internierung zwecks Besserung.
Foucault lehnt also die Annahme, dass Strafsysteme die Produktionsverhältnisse schützen sollen, als die Strafsysteme unterschätzend ab und glaubt nicht an die so reibungslose Selbstreproduktion des Herrschaftsverhältnisses im Kapitalismus: "Strafsysteme fügen sich in die Ökonomie ein. .. zu einem Gutteil ist der Körper als Produktionskraft von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt; auf der anderen Seite ist seine Konstituierung als Arbeitskraft nur innerhalb eines Unterwerfungssystems möglich; zu einer ausnutzbaren Kraft wird der Körper nur, wenn er sowohl produktiver wie unterworfener Körper ist. ... Es gibt also eine politische Ökonomie der Körper welche es erlaubt, seine Fähigkeiten nicht nur zu besiegen, sondern sie auch nutzbar zu machen nach ihrer Unterwerfung."
Dies nennt Foucault die Mikrophysik der Macht
Seiner Ansicht nach ist diese Macht kein Eigentum, sondern eine Strategie, keine Eroberung, sondern eine immerwährende Schlacht, kein Privileg einer herrschenden Klasse, sondern "die Gesamtwirkung ihrer strategischen Positionen", die sich in der Position der Beherrschten offenbart. Foucault grenzt sich hier ganz explizit von marxistischen Positionen ab und bestreitet wiederholt die Selbstreproduktion kapitalistischer Verhältnisse ohne außerökonomische Gewalt.
Gewalt/Ideologie, Vertrag/ Eroberung, Aufklärung/ erkennbare Interessen sind nach Foucault völlig untaugliche Ausgangspunkte zur Beschreibung dieser Mikrophysik der Macht. Er will eine "Anatomie der politischen Körper als Gesamtheit der materiellen Elemente und Techniken, welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege, .. der Macht dienen" aufschreiben. Die Bestrafung ist in diese politischen Körper einzubeziehen. Das Gefängnis ist ein Machtwerkzeug durch seine Materialität, die die sie bauen, wissen wie sie gebaut werden müssen, und das will der Autor eben auch wissen. Seine zentrale Frage ist die nach dem "Wie", nicht die nach dem "Warum".
Seiner Weltsicht nach, beschreiben die durch Macht entstandenen "Wissenskomplexe" (in ihrer historischen Entwicklung) Formen und Bereiche von Erkenntnis überhaupt. gerade diese Sicht wurde und ist der zentrale Ansatzpunkt für die ausufernde Kontextualisierung als allgemeiner Tendenz im gesamten geistigen Leben heute. Erkenntnis wird darin grundsätzlich auf ihren Kontext bezogen, sie ist ohne diesen undenkbar, wird als genereller "Wille zur Macht" denunziert. Nur der Sprechort interessiert, das Gesagte hat keinen eigenen Wert.
Das Fest der Martern
Um den Unterschied zu den modernen herauszuarbeiten, beschreibt Foucault noch einmal die vormodernen Strafsysteme. Dort musste jede ernsthafte Strafe etwas von einer peinlichen Strafe haben. Marter war die quantifizierbare Kunst des Schmerzens, es gab einen juristischen Code der Leiden, eben eine differenzierte Produktion derselben, brandmarkend für das Opfer, samt dem dazugehörigen Wissen. Die Richter hatten das Wahrheitsmonopol, die Verfahren waren geheim, unkontrollierbar und komplex, aber nicht regellos. Geständnisse waren von hohem Wert, die unter Folter mussten den Indizien entsprechen. Die Folter war eine Gerichtsprozedur mit strengen Spielregeln, grausam aber nicht unkontrolliert, eben ein regulierter Teil des Strafsystems. Hielt der Angeklagte durch, war er frei.
1. der Verurteilte wird durch den Pranger zum Boten seiner Verurteilung.
2. In der Abbitte wird das Geständnis erneuert.
3. Herstellung einer Sühnebeziehung zwischen Marter und Verbrechen.
4. Die lange Dauer der Hinrichtung ist das "Theater der Hölle".
Die Marter war beliebt, weil sie sich in die christliche Mystik einfügte. Sie war auch ein eindeutig politisches Ritual. Auch ein Vergehen ohne Opfer musste geahndet werden, da es die Souveränität des Königs verletzte, die ja absolut gedacht wurde, da von Gottes Gnaden. Diese Souveränität, die den Krieg miteinschloss, war die römisch- imperiale, also auf Unterwerfung und nicht auf einen Gesellschaftsvertrag gegründet, ein Verbrechen mithin eine Beleidigung dieser selbst. Marter stellte die Souveränität dann wieder her. Daher musste die Bestrafung öffentlich stattfinden, eben um die Souveränität zu demonstrieren. Nicht die Gerechtigkeit, sondern die Macht sollte wiederhergestellt werden. Der Scharfrichter war der Vorkämpfer des Königs, sein Werk die Zurschaustellung der Übermacht. In jedem Verbrecher wurde ein kleiner Königsmörder gesehen. Der Souverän hatte die Macht an seine Richter delegiert, aber nicht veräußert. Letztere waren dem König Rechenschaft schuldig und hielten deshalb die Regeln ein.
Die Marter war das Schauspiel des Gottesgnadentums, die gesamte Ökonomie war auf die Anwendung außerökonomischer Gewalt angewiesen. Jedes Verbrechen war damit ein Angriff auf das vielfältige System der persönlichen Abhängigkeiten, welche dieses ökonomische System konstituierten.
Das Volk, die eigentliche Hauptperson bei den Hinrichtungen, durfte im Gejohle seine Loyalität beweisen, wenn der Souverän "sich an seinen Feinden rächt". Aber das ökonomische System ist in Auflösung begriffen. Die Abscheu schlägt um, die Hinrichtungen werden zum Kristallisationspunkt der Solidarität.
Die Verallgemeinerte Bestrafung
Der Nahkampf zwischen Gemartertem und Scharfrichter, der der Gewalttätigkeit des Volkes in so gefährlicher Weise Vorschub leistete, fand Mitte des 18.Jh ein Ende. Zwischen dem Fürsten und dem Volke soll nicht mehr vermittelnd ein Henker stehen - die Justiz soll endlich bestrafen statt zu rächen. Bestrafen kann aber nur, wer den Menschen respektiert - natürlich nicht als das Maß der Dinge, sondern als das Maß der Macht. Alle großen Reformen in Frankreich werden in der Nationalversammlung beschlossen, gänzlich abgeschafft wird die Marter dann erst 1848. Aber schon seit dem Ende des 18.Jh nehmen die Eigentumsdelikte dramatisch zu. Mit der Stärkung der bürgerlichen Position werden auch deren Strafinteressen stärker von der Justiz berücksichtigt. Der Diebstahl wird erstmalig systematisch verfolgt. Die Chronisten sind übereinstimmend der Meinung, dass Kriminalität zunimmt, obwohl die zahl der Gewalttaten abnimmt. Die Bürgerlichen können, obwohl sie eine revolutionäre Klasse sind, an das alte System der Machtregulation zum größten Teil anknüpfen.
Die verfeinerte Justiz und die moderne Polizei entstehen, dies
lässt die gesamte Umwandlung als Reform erscheinen. Die Reformer kritisieren weniger die Grausamkeit, als vielmehr die Fehlerhaftigkeit der feudalen Justiz: Die fehlende Gewaltenteilung, die Käuflichkeit der Ämter und die königlichen Privilegien behindern eine sachliche Verfolgung von Eigentumsdelikten, so
lässt sich der um sich greifende Hafen- und Fabrikdiebstahl eben nicht verfolgen. Ziel der Reformer ist daher eine neue Ökonomie der Strafgewalt, die mit solchen Massendelikten fertig wird. Die Humanisierung ist also eine Begleiterscheinung, vor allem sollen die Kosten gesenkt werden, auch die politischen.
Die im Endstadium des Feudalismus entstandenen gesetzlosen Freiräume werden von den Bürgerlichen erst genutzt und nach ihrem Erfolg bekämpft. Die Reform war also auch eine Wiederherstellung der Gesetzlichkeit. Diese war durch das Leben im Spätfeudalismus ad absurdum geführt worden. Um die Strafökonomie der Verausgabung und des Exzesses durch die Kontinuität und Gleichmäßigkeit zu ersetzen, entsteht das moderne Gerichtswesen. "Es gilt neue Prinzipien zur Regulierung, Verfeinerung und Verallgemeinerung der Strafkunst festzusetzen, ... das Strafziel zu verschieben." Eben zum Eigentumsschutz hin.
Die Theorie dazu liefert J.J. Rousseau mit seiner Idee des freien Gesellschaftsvertrags, der jeden Dieb als Feind der Gesellschaft identifiziert, der sich an der Freiheit der Anderen vergeht, auch heute noch die bestimmende Ideologie. Das Recht der Strafe ist also jetzt die angebliche Verteidigungshandlung der Gesellschaft und nicht mehr die Rache des Souveräns.
"Bei der Achtung vor dem Körper geht es weniger um den zu bestrafenden Übeltäter als um die Menschen, die aufgrund des Vertrags das Recht haben, sich gegen jenen zusammenzuschließen. ... Die Rückwirkungen der Strafe gilt es zu kalkulieren und zu verringern." Die Humanisierung hat ihren Grund also in der Regulierung; Strafe
muss nützlich werden.
Nützlich für den Eigentumsschutz ist eine solche Strafe, die Wiederholungen, oder allgemeiner: weitere Gesellschaftsvertragsverletzungen, weitere Störungen ausschließt. Die Strafe muss also im Verhältnis zu den möglichen Folgen eines bestimmten Delikttyps stehen, die Grässlichkeit ist für die Strafzumessung weniger bis unwichtig. Die Strafe zielt also auf mögliche künftige Unordnung, Nachahmung und Wiederholung. Die moderne Strafökonomie muss also eine Kunst der gezielten Wirkungen zum Zwecke der Vorbeugung sein. Diese Vorbeugung soll nun nicht mehr durch abschreckende Wirkung einer maßlosen und rachsüchtigen Übermacht erreicht werden, sondern durch eine effiziente Strafökonomie.
Diese Effizienz beruht auf Regeln:
1. Die Nachteile einer Strafe müssen die Vorteile des Vergehens übertreffen. Es geht dabei nicht um eine Erwiderung des Verbrechens durch Marter, sondern um eine Interessenkalkulation.
2. Die "Qual der Vorstellung der Qual", also die Erwartung eines Nachteils durch die Strafe macht ihre Wirksamkeit aus.
3. Die Strafe muss sich am stärksten bei denen auswirken, welche die Tat nicht begangen haben.
4. Strafgewissheit und genaue Vergehensdefinition sind dazu unabdingbar.
Dazu ist zuallererst ein omnipräsenter Verfolgungsapparat notwendig, also die moderne Polizei. Des weiteren wird eine allseits bekannte, d.h. veröffentlichte, verbindliche Vergehensdefinition benötigt, die nicht mehr von irgendwelchen Privilegien abhängig ist. Gewaltenteilung und ordentliche Gesetzbücher entstehen. "Nichts macht den Apparat der Gesetze brüchiger als die Hoffnung auf Straflosigkeit." Sei es durch mangelnde Verfolgung oder durch Unklarheiten der Definition. Alle Verfahren werden öffentlich. Der Tatnachweis muss sachlich korrekt erfolgen, Inquisition muss vermieden werden. Alle Vergehen und Strafen müssen optimal spezifiziert werden. Alles was der neuen Aneignungsform schädlich ist, muss auch als Vergehen erfasst und definiert werden, Vergehen weitet sich aus, es entstehen z.B. Trickbetrug und Hehlerei.
Notwendig ist also eine parallele Klassifizierung von Vergehen und dazugehörigen Strafen nach Maßgabe gesellschaftlicher (Aneignungsform) Notwendigkeiten. Die Strafen sind in ihrer Wirkung auf den jeweiligen Täter hin zu spezifizieren, "sie müssen darauf Rücksicht nehmen, was der Verbrecher in seiner inneren Natur ist, auf den vermutlichen Grad seiner Bosheit, auf die innere Qualität seines Willens", wenn sie Wirkung erzielen soll.
Mit der Notwendigkeit der parallelen Klassifizierung von Verbrechen und Strafen entsteht also die Notwendigkeit der Individualisierung der Strafen, die dem besonderen Charakter des Delinquenten Rechnung trägt, also individualisiert.
Diese Individualisierung erstreckt sich aber gerade nicht auf Intention und Umstände der Tat, wie noch im feudalen Verfahren, denn nicht die Tat selber, sondern die Täter werden nun klassifiziert; die Hilfstruppen der modernen Justiz halten Einzug. So wird zunächst der Widerspruch zwischen der notwendigen Individualisierung der Strafe (sie soll ja Wirkung erzielen und eine Geldstrafe hat auf einen reichen Täter keine Wirkung) und dem genau ausgeführten Katalog der genau definierten Verstöße gegen den Gesellschaftsvertrag, der ja per se antiindividualistisch ist, gekittet, eben durch den Bezug auf den Täter. Für genau diesen entstehen damit die
grässlichen Unwägbarkeiten der Strafmaßes, und diese wiederum bringen ihn zur Disziplin, auch über die Einzelstrafe hinaus, wie am Beispiel der Strafverdoppelung bei "Rückfall" deutlich wird. Mit dem "Rückfall zielt man nicht auf den Urheber einer durch das Gesetz definierten Tat ab, sondern auf das sich vergehende Subjekt, auf einen bestimmten Willen."
Der vorgeschriebene Wirkungsbezug führt also über die Individualisierung zur Qualifizierung des Täter und damit zum Geist/Willen des Täters als dem eigentlichen Ziel der Strafoperation. Hinter der Milde steckt also eine kalkulierte Strafökonomie und eine Verschiebung des Ziels der Strafoperation. Ausgangspunkt auch der modernen Bestrafung ist also ein politischer Plan: Die Einhaltung des Gesellschaftsvertrags der formellen Gleichheit bei gleichzeitiger Zurichtung für die Lohnarbeit durchzusetzen ist das Ziel. Wer gegen diesen Vertrag verstößt disqualifiziert sich als Bürger, wird "Ruchloser" und darin Objekt wissenschaftlicher Untersuchung. Gleichzeitig bringt der gewünschte Wirkungsbezug der Strafen die Suche nach immer neuen Straftaktiken hervor, die Interventionstaktiken sind, da sie ja auf die Gesellschaft zielen. Macht schafft also Erkenntnis nach dem Verfahren Trial and Error. So wird die Technologie der subtilen sparsamen und wirksamen Gewalten entwickelt.
Die Milder der Strafen (die Ideen der Reformer)
Die Kunst des Strafens ist also eine Technologie der (qualvollen) Vorstellungen, welche nur Wirksam sein können, wenn sie sich in die Mechanik der Interessenabwägung einschalten. Die passende Züchtigung zu finden bedeutet, den Nachteil ausfindig zu machen, welcher der Idee der Untat für immer die Anziehungskraft nimmt. Dieser nachteiligen Hemmnismittel müssen den potentiellen Tätern unaufhörlich bewusst sein, wozu verschiedene Bedingungen erfüllt sein müssen:
1. Jeder Eindruck von Willkür muss unterbunden werden. Die Strafe muss als logische Konsequenz der Gesellschaftsvertragsverletzung erscheinen. Das Strafzeichen (also die Wirkung der Strafe in der Gesellschaft) muss einen direkten Bezug zur Tat haben, eben das allbekannte Zeichen der Tat sein. Ziel der Reformer war eine symbolische Kommunikation. Die Reformer entwickelten dazu verschiedenste Straftheater, die in der Öffentlichkeit stattfinden sollten. Dabei ging es nicht um eine Symmetrie der Rache (Matern), sondern um eine absolute Transparenz zwischen Strafzeichen und Bezeichnetem, zwischen Verbrechen und Strafe.
2. "Diese Zeichenspiel muss in die Mechanik der Kräfte eingreifen, es muss das Begehren ... mindern, .. die Furcht steigern, es muss das Verhältnis der Kräfte umkehren," also tatsächlich in die Mechanik der bewussten oder besser noch, der unbewussten Interessenabwägung eingreifen. Dazu ist unabdingbar, "dass die Strafe auf die jeweiligen Beweggründe der Tat abzielt: Arbeit für den Landstreiche etc. .. Die Gewalt die zum Verbrechen führt muss gegen sich selber ausgespielt werden. das Interesse muss gespalten werden."
3. Das gespaltene Interesse muss zu einer Ökonomie der Interessen ausgebaut werden, darum ist eine zeitliche Abstufung der Strafe vonnöten. Die Dauer der Strafe bekommt eine flexible Funktion innerhalb ihrer Ökonomie. Das Modell der fortschreitenden Haftvergünstigungen wird entwickelt (Peletier), die Strafe bekommt eine innere Mechanik. "Es ist besser, wenn die Strafe mit der von ihr herbeigeführten Wirkung nachlässt." Bei den Martern gab es oft die kürzesten Strafen für die schwersten Verbrechen.
4. Die Hemmzeichen, die man langsam in der Vorstellung des Verurteilten einprägt müssen, in der Gesellschaft rasch zirkulieren. Die Reformer wollten dies durch die nutzbringende Anwendung erreichen (Straßenbau), um so die Loyalität der Zuschauenden zu sichern. Diese sollten von der nutzbringenden Anwendung der Strafe auf den Nutzen derselben und darüber auf den Nutzen des dieser Strafe zugrunde liegenden Gesellschaftsvertrags schließen. Die Gefangenen sollten den "Schaden" wiedergutmachen: Durch die Arbeit, die sie leisten, und durch die Zeichen die sie geben.
5. Öffentlichkeit ist dafür vonnöten. Bei der Marter war die Abschreckung vom Terror getragen, jetzt aber muss der Träger des Exempels die Lektion selbst sein, eben sein Dasein als Gefangener ist die Inszenierung der öffentlichen Moral. Die Züchtigung ist dann die Wiederinkraftsetzung des Strafgesetzbuches und kein ihr äußerlicher Terror der in einem undurchsichtigen Verfahren festgelegt wird.
Die Marter war auch immer ein Ritual grausamer Freude über die Wiederherstellung der souveränen Macht. Die moderne Bestrafung muss als Trauerritual doppelte Trübnis verkünden: dass einer den ach so vernünftigen Gesellschaftsvertrag brechen konnte, und das man ihn jetzt leider dafür bestrafen muss. Der Diskurs der Gesellschaft über das Verbrechen ändert sich: Der zweifelhafte aber oft besungene große Pirat, der Freibeuter, der Kohlhaas verblasste. Gelingt die strafende Recodierung wird die Störung der Aneignungsform, der Verstoß gegen den Gesellschaftsvertrag, der Angriff auf die offizielle Moral, nunmehr allen als Unglück erscheinen können und der Übeltäter als Feind, dem man das gesellschaftliche Leben wieder beibringen muss.
Ziel der Reformer war eine Strafgesellschaft mit tausend kleinen Züchtigungstheatern. Jedem Verbrechen sein Gesetz, jedem Verbrecher seine Strafe, jede Strafe eine kleine Lehrfabel, geschwätzig und impertinent. Das Strafgefängnis wird von den Reformern eindeutig abgelehnt, sie sehen in ihm ein Relikt feudaler Despotie (Kloster und Burgkerker) und halten es für eine völlig untaugliche Methode, da es dem Öffentlichkeitsprinzip widerspricht.
Und trotzdem hat das Gefängnis binnen kurzer Zeit die Strafjustiz erobert, wurde zur wesentlichen Form der Züchtigung. Anfangs als Ersatz für die Galeere gedacht, entstand eine zentrale Strafadministration, welche als geschlossener Körper in den Strafapparat integriert wurde. Dem Traum der Reformer vom Theater der spezifischen Züchtigungen folgt der große einförmige Apparat, der Unterschiede nur noch in verschiedenen Haftbedingungen kennt. Mangels Möglichkeiten orientiert sich die Bestrafung am schon vorentwickelten Prinzip der Zwangs- und Arbeitshäuser.
Das Rasphuis von Amsterdam von 1596: Stete Überwachung, Verbotssysteme, flexible Strafdauer, die von der Verwaltung bestimmt wird. Das Zwangshaus von Gent, in dem um 1720 die Arbeit als Strafe organisiert wird, das englische Modell, vor allem Gloucester, dort wird die abgestufte Isolierung hinzugefügt. "Die Einkerkerung zum Zwecke der Transformation der Seele und des Verhaltens tritt damit ins System der bürgerlichen Gesetze ein." Nach negativen Erfahrungen werden so Flucht und Aufruhr verhindert. Das Modell von Philadelphia (1782) vereinigt bereits all diese Techniken aus den vorangegangenen Versuchen: totale Zeitplanung und ständige Beschäftigung, hochökonomische Anwendung der Gefangenenarbeit, abgestufte Isolierung und sonstige Zwangsmaßnahmen, flexible Haftbedingungen und Strafzeiten.
Explizit nehmen die Betreiber vom Öffentlichkeitsprinzip abschied; die
Gewissheit, dass der Gefangene seine Strafe verbüßt, muss reichen. Die größte Neuerung ist allerdings die umfassende Registrierung des Vergehens, des Urteils, der Täterbiographie, der Strafwirkungen und jedes einzelnen Hafttages samt sämtlichen Vorkommnissen im Gefängnis. Neu ist auch die geplante Zusammenlegung der Gefangenen aufgrund der in der Registrierung gewonnenen Erkenntnisse über Eigenschaften, Vorlieben und Abneigungen, zum Zwecke der Erziehung. Die Aufseher der Gesinnungswandelmaschine sind nun diejenigen, die eine "Besserung" bestätigen oder eben nicht und daraufhin die weiteren Strafmaßnahmen festsetzen. Das gesammelte Wissen bezieht sich nun kaum auf die Tat, als vielmehr auf die mögliche "Gefährlichkeit" des Individuums und seines Verhaltens, Kenntnisse, die auch außerhalb der Gefängnismauern anzuwenden sind.
Die Strafrealität verlangt eine bestimmte Technologie der Strafen: Den Willen zu brechen ist das Ziel. Die Steuerung der Strafmaßnahmen erfolgt über das genau beobachtete Verhalten, dessen fortgesetzte Beobachtung wiederum zur Verfeinerung der Strafübungen verwendet wird.
Der Wille zum Vertragsbruch ist nun nicht besonders schwer zu erklären, die von den Reformern ersehnte Wiederherstellung des Rechtssubjekt Sonntagsrede, Ziel ist das der Autorität gehorchende Subjekt. Die Dressur des Verhaltens durch die genaue Zeitplanung, das Einzwängen des Körpers verlangt die totale Gewalt des Strafagenten und die vollständige Auslieferung des Delinquenten. Diese Strafgewalt muss autonom von den Gerichten sein, ihre eigenen normen setzen und ihr eigenes Wissen produzieren. Sie ist dann eine konzentrierte Orthopädie zur Formung der Gehorchenden.
Ende des 18Jh gibt es 3 Formen der Strafgewalt:
Monarchenrecht, die Gewalt des Souveräns, die Zeremonien der Leiden, mit seinen gemarterten Körpern, seinen Brandmalen, dem besiegten Feind des Souveräns.
Das Gesellschaftsvertragsrecht im Sinne der Reformer, mit seinen Strafzeichen, der Wiederherstellung des Rechtsubjekts, der allgemeinen Akzeptanz des Gesellschaftsvertrags, bleibt Wunschtraum.
Staatlicher Verwaltungsapparat, Gesinnungswandelmaschine, mit Dressurübungen, die ewige Spuren hinterlassen, gesichert durch die unmittelbarem Zwang unterworfenen Körper; der dressierte Körper, gehorchen.
Warum letztgenannte Strafform sich so umfassend durchgesetzt hat will der Autor untersuchen.
Disziplin
Die gelehrigen Körper
Im späten 17 und frühen 18. Jh. wird der Körper - nicht zum ersten Mal - als Zielscheibe der Macht entdeckt, und zwar sowohl von den Philosophen als auch von den Militärplanern und anderen. Ein Beispiel für die Entwicklung der modernen Disziplin ist die Reform des Militärs. Statt des früher so beliebten großartigen Kriegers werden jetzt geformte, gelehrige, genauen befehlen unterworfene Kampfmaschinen hergestellt. Und anhand der Ergebnisse vervollständigen die Reformer des Militärs ihre Kenntnisse über Körperformung und Verhaltenssteuerung.
- Die Körper werden nicht mehr als Masse, sondern en Detail behandelt.
- Ökonomie und Effizienz der Bewegungen sind das Ziel
- Die Durchführung ist jetzt die permanente Zwangsübung, das Manöver und nicht die Peitsche.
- Ihre Eleganz besteht eben darin, auf so ein kostspieliges Gewaltverhältnis wie die Sklaverei (Peitsche) verzichten zu können
- Auch das nichtanalytische, launische, auf Huldigung und Pachtzins abzielende Leibeigentum entspricht der modernen Disziplin
- Genausowenig wie die klösterliche Askese mit ihren Frömmeleien
Wiewohl die moderne Disziplin von allen vorgenannten Formen wichtiges übernimmt. Der unterworfene und geübte Körper soll nun nicht mehr einfach ausführen was verlangt wurde, sondern auch wie es verlangt wurde. Die Tauglichkeit zu bestimmten Zwecken (Fähigkeiten) soll gesteigert werden, ohne das daraus eine eigenständige Macht erwächst. 177
Foucault beschreibt die Entstehung dieser neuen Mikrophysik der Macht seit dem 17. JH als eine neue "politische Anatomie des Details,... als die List der aufmerksamen Böswilligkeit", welche im 17Jh nicht erfunden, aber konsequent angewandt wird. "Die Kleinlichkeit der großen Reglements, der kleinliche Blick der Inspektoren, die Kleinlichkeit der klösterlichen Erziehung, die der Kaserne, der Schule, der Manufaktur", ist das eigentliche Wesen der modernen Disziplin.
Disziplinartechniken
A bis DA: Die Verteilung der Individuen im Raum
1. Schritt: Die Klausur der Klöster wird auf andere gesellschaftliche Organisationen übertragen. Die Abschließung von der Außenwelt ist der Ausschluss aller Nichtkontrollierbarkeit, die innere Organisation kann flexibel sein, solange die erste Bedingung hinreichend erfüllt wurde. Die ersten Manufakturen waren wie Klöster organisiert, um Störungen zu vermeiden
2. Schritt: Die Fortentwicklung der Klausur ist die Parzellierung als verfeinerte Raumbearbeitung. Gegen das Zusammenrotten, Verschwinden, Vagabundieren setzt die Disziplin die Anbindung des Individuums an einen fremdbestimmten Raum, sie organisiert einen analytischen Raum.
3. Schritt: Die Zuweisung von sichtbaren Funktionsstellen der Kontrolle im bereits parzellierten Raum an bestimmten Positionen: Lehrerpult, Schwesternzimmer, Aufsichtszimmer. In einem so hergestellten Strukturgitter sind die einzelnen Elemente austauschbar, sie werden nur noch in ihrem Abstand zueinander und in ihrem Rang definiert. "Die Disziplin individualisiert die Körper durch ihre Lokalisierung" (und definiert sie damit), die sie nicht verwurzelt, sondern in einem Netz von (durch die Disziplin bestimmten) Relationen verteilt und sie evtl. zirkulieren lässt. Die Einrichtung eines solchen seriellen Raums ermöglicht nicht einfach nur die Kontrolle, sondern auch Erziehungsmaßnahmen (Knast, Schule, Kaserne). Die Parzelle (oder Zellen) sind Mischräume: sind real durch ihre Mauern und in ihrer baulichen Struktur ausgeklügelt, und sie sind ideal weil sie Hierarchisierungen und Klassifizierungen entsprechen
Abschluss: Die erste große Operation der Disziplin ist also die Einrichtung "lebender Tableaus", die aus unübersichtliche, unkontrollierbaren, "unnützen" Massen geordnete Vielheiten machen. Dieses Tableau "ist die Basis der Mikrophysik der Macht", sie basiert zugleich auf Machttechnik und deren Vervollkommnung durch stete Wissensvermehrung anhand ihrer eigenen Ergebnisse. Diese Tableaus sind immer Multifunktional, sie sind fast so austauschbar wie ihre Insassen .
B. Die Kontrolle der Tätigkeit
Die Zeitplanung ist eine alte Disziplinartechnik und funktioniert nach drei Prinzipien: Festsetzung der Rhythmen, Zwang zu bestimmten Einzeltätigkeiten, Regelung der Wiederholungszyklen. Das Kloster war auch hier Vorbild für die Schule, das Spital, die Kaserne, die Manufaktur. Konzentration auf die gewünschte Tätigkeit und vollständige Zeitnutzung sind die Ziele.
1. Schritt: Drill ist alt, neu ist der Präzisionsgrad, mit dem Tätigkeiten und Bewegungen in ihre Einzelteile zerlegt und standardisiert werden (Prozess erst mit Taylor abgeschlossen). Ausgefeilte Tätigkeitsprogramme, die miteinander kombiniert werden können, lösen die alten Arbeitsanweisungen - z.B. Ernteanweisungen - ab.
Das Anhängsel der Maschine wird mittels eines ausgefeilten Tätigkeitsprogramms an dieselbe gekettet, nachdem er seiner handwerklichen Fähigkeiten beraubt wurde. Jeder Gedanke an eine eigenständige Nutzung muss ausgeschlossen werden. Foucault sieht in dieser Zurichtung für die Nutzung an der Maschine die eigentliche Unterwerfung unter den stählernen Takt und nicht in der Ausbeutung durch Mehrwertaneignung nach ursprünglicher Akkumulation. Der Tag wird zur Abfolge verschiedener Tätigkeitsprogramme.
2. Schritt: Die erschöpfende Ausnutzung der Zeit besteht nun nicht mehr allein in der Vermeidung des Müßiggangs mittels Peitsche, sondern kann auf planmäßige Rationalisierung (Leistungssteigerung bei der Tätigkeit) ausgeweitet werden, eben weil die gewünschten Tätigkeitsabläufe (Schule, Taylor, etc) Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sind.
3. Schritt: Die Entwicklung der modernen Erziehung und
Ausbildung. Die Initiationszeit der alten zunftmäßigen Handwerksausbildung, eine globale Zeit, die von einem Meister überwacht und durch eine Prüfung kontrolliert wurde, wird durch die Disziplinarzeit der Ausbildungsreihen abgelöst. Es entsteht eine analytische Pädagogik, die in ihrem Detail sehr sorgfältig ist. Es werden Serien von Serien mit genau definiertem, aufeinander abgestimmten Niveau installiert und durch verbindliche Prüfungen miteinander verbunden.
Damit wird jedes Individuum in eine Zeitreihe eingespannt, die sein Niveau, also seinen Rang in der Ausbildung und darüber hinaus bestimmt und ihn damit vergleichbar macht. Die Zeit der Ausbildung wird also in aufeinander abgestimmte Stränge zerlegt und diese Stränge werden nach analytischem Schema organisiert. Die Ausbildungsinstitutionen steigern seit dem 17. Jh. ständig die Rentabilität des Zeitflusses, sie zerlegen, addieren, kapitalisieren die Zeit. Diese zeitliche Reihung ermöglicht jederzeit detaillierte Kontrolle und Intervention, also Macht. Das Konkurrenzprinzip ermöglicht die Ausschreibung von Rattenrennen.
4. Schritt: Die Disziplinierte Kooperation wird zuerst vom Militär entwickelt und später auf die Produktion übertragen. Die jeweilige Einheit wird zu einer einheitlichen Maschinerie mit vielfältigen Teilen, zu einer Geometrie der teilbaren Abschnitte entwickelt. Die durch Disziplinartechniken erzeugten Kräfte müssen also zusammengesetzt werden. Foucault zitiert hier Marx, der auch schon die Analogie zwischen Militär und Produktion sah, sich aber um die Ausgestaltung nicht kümmerte: "Verglichen mit einer gleich großen Summe einzelner individueller Arbeitstage produziert der kombinierte Arbeitstag größere Massen von Gebrauchswerten. ... Dieser Mehrwert entspringt der Kooperation selbst." Um aus einer Anhäufung von Zeit und einer gezielte Verteilung im Raum eine gesellschaftliche Maschine zu entwickeln müssen Bedingungen erfüllt sein: Kontrollierte Tätigkeit und kontrollierte Verteilung im Raum müssen zusammen gebracht werden (z.B: Schlachtordnung). Aus der Abfolge kontrollierter Übungen werden chronologische Serien entwickelt (Lagerhaltung, Vorfertigung, Fertigung, Versand) Ein eindeutiges System kurzer, präziser kurzer Befehlssignale, die keiner Erläuterung bedürfen, sondern einzig ausgeführt werden, muss durchgesetzt werden.
Abschluss:
Die Disziplin setzt das menschliche Tableau, die Übung, das Manöver und die militärische Taktik ( so definiert Foucault die disziplinierte Kooperation) ein. Als Taktik definiert er "die Kunst mit Hilfe lokalisierter Körper, codierter Tätigkeiten und formierter Fähigkeiten (gesellschaftliche) Apparate zu bauen, die das Produkt verschiedener Kräfte durch ihre kalkulierte Kombination vermehren." Dieser Taktik weist Foucault eine entscheidenden politische Funktion zu: als ein Mittel zur Verhinderung des Krieges innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Aufgabe erfüllt die Armee nicht alleine durch ihr Gewaltmonopol sondern vor allem auch durch die Ausbreitung ihrer Methoden der Bezwingung der Körper, eben die Schaffung der gelehrigen, fügsamen, nützlichen Massen der Staatsbürger. Die dazu notwendigen Techniken wurden parallel zu den Ideen der Demokratie entwickelt. Militarismus und Demokratie gehören zusammen.
Die Mittel der guten Abrichtung
1. Schritt: Die hierarchische Überwachung
hat im Militärlager einen idealen Vorläufer. Ihr Prinzip ist das des zwingende hierarchischen Kontrollblicks; die Raumordnung der Macht wird mit Hilfe der allgemeinen Sichtbarkeit durchgesetzt. Auf den Städtebau übertragen bedeutete das eine räumliche Verschachtelung der hierarchischen Überwachungsstruktur, mit den bekannten geometrischen Stadtgrundrissen der barocken Stadt. In der Architektur wird die simple Einschließung des Klosters durch die Steuerbare Sichtbarmachung der Insassen abgelöst (das Kalkül der Kontrollöffnungen) . Die Architektur wird zum Mikroskop des Verhaltens. Die Unmöglichkeit der idealen Überwachung mit einem Blick führt zur Aufgliederung der dann selbst überwachten Überwachung. In der entstehenden Großindustrie wird dies das zentrale Problem der Produktion. "Die Funktion der Leitung, Überwachung, Vermittlung, wird zur Funktion des Kapitals, sobald die ihm untergeordnete Arbeit kooperativ wird."
2. Schritt: die normierende Sanktion
Im Herzen Aller Diziplinarsysteme arbeitet en kleiner Strafmechanismus samt den dazugehörigen Justizprivilegien, eine Sub- Justiz, die das alltägliche Verhalten qualifiziert
"Was in den Werkstätten, in der Schule, in der Armee überhand nimmt, ist eine Mikrojustiz der Zeit (Verspätungen, etc.), des Körpers ..,der Sexualität. ... Strafmittel sind die kleinen Demütigungen, Entziehungen (Lohn), bis jedes Subjekt in einem Universum von Strafbarkeiten und Strafmitteln heimisch ist."
Konformität in Verhalten und Leistung ist das Strafziel, nicht ein bestimmtes Gesetz. Daraus resultiert der korrigierende Charakter der Strafen aus dem Bereich des Lernens, des Übens. Die Strafe ist idealiter mit den sonstigen Verpflichtungen identisch (z.B.: Nachsitzen in der Schule). Der Besserungseffekt soll weniger aus Sühne und Reue, sondern vielmehr direkt aus der Mechanik der Dressur entstehen.
Die Bestrafung ist nur ein Element innerhalb eines Systems von Dressur und Besserung, von Sanktion und Belohnung! Dieser Zweitakt ( Belohnen oder/und Bestrafen) ermöglicht eine Qualifizierung aller Verhaltensweisen aller Individuen zwischen zwei Polen; das Verbot ist also nicht mehr eine einfache Scheidelinie. Versieht man nun jede einzelne Verhaltensqualifizierung mit einer Einschätzung (z.B..: Schulnote), so entsteht eine hierarchische Differenzierung, nicht der Taten, sondern der Individuen selber.
Die so entstehenden Leistungs- und Verhaltensabstufungen markieren in ihrem Abstand zueinander den Rang. Dieser selber gilt dann als Belohnung oder Bestrafung. Gleichzeitig erfolgt eine Wertzuweisung durch Tauglichkeitsmessung innerhalb der Dressur. Die Wertzuweisung diszipliniert dann über die Dressur hinaus. Die normierende Sanktion wirkt also homogenisierend (Verhalten) und gleichzeitig vergleichend, differenzierend, hierarchisierend und auch ausschließend.
"Sie wirkt NORMEND, NORMIEREND, NORMALISIEREND."
Das Strafsystem der Norm richtet sich also nicht nach einem starren Katalog der Verbote, auch wenn es die alte Strafjustiz nachahmt, von der es allmählich Besitz ergreift.
3. Schritt: Die Prüfung
ist die ritualisierte Kombination der hierarchischen Überwachung und der normierenden Sanktion. Die Prüfenden können den Erfolg ihrer Dressur messen um sie so zu verbessern; eine Rückübertragung von Wissen. Bei der Prüfung sind es die Unterworfenen und nicht mehr die Mächtigen, die im Scheinwerferlicht stehen. Die Objektivierung des Prüflings ist die Exekution der Macht. Ihr Triumph ist Vorführung der sorgfältigen Zurichtung und ihre Registratur. Die Individualisierung, früher ein Privileg der Macht, wird in der Klassifizierung durch Prüfung umgekehrt: sie ist Zeichen der Unterwerfung, Sieg der Norm. Der eigentliche Ort der Individualität ist das (Schul-, Polizei-)Archiv; die unendlich vergleichende Messung der Dressur.
Einblick in die Anwendungsgeschichte verschiedener Disziplinar- und Abrichtungstechniken.
Pestreglement des 17. Jh.
In der Seuchenbekämpfung wird die Überwachung erstmalig auf die ganze Gesellschaft ausgedehnt. Es erfolgt die Registratur alles Pathologischen durch ein Notstandsregime, also durch eine Gewalt ohne Teilung. In der Seuchenmedizin wird die ganze Gesellschaft eine Disziplinargesellschaft. Die von früher bekannte Verbannung der Leprakranken spiegelt den Traum einer reinen Gesellschaft. Die Bannung der Pest durch die Reglements der Einschließung ist der neue Traum der Disziplinargesellschaft. Beide Seuchenbekämpfungsmodelle beschreiben nach Foucault historisch verschiedene (aber nie gegensätzliche ) Machtmodelle: Ausschließung und Disziplin
Seit dem l9. Jh. werden nun beide Machtmodelle kombiniert: Die "Aussätzigen der Gesellschaft werden wie Pestkranke behandelt" und nicht einfach mehr ausgeschlossen, sondern diszipliniert. Psychiatrie, Knast, Erziehungsheim verwahren also den "Aussatz" der Gesellschaft, auf den sie dann allerdings individualisierende Disziplinartechniken anwenden. Diese Disziplinierungen dienen bei diesen Delinquenten jedoch nicht die der Ausbildung zur Tauglichkeit, sondern hier sind diese Disziplinierungen die eigentliche Stigmatisierung.
Unter den Disziplinartechniken gibt es also einige, die zum Aussätzigen stempeln.
Das Panopticon
Die radikale Sichtbarkeit des Insassen ist eine Falle, er ist Objekt einer Information, nie Subjekt einer Kommunikation. Als Knast verhindert es Aufruhr, als Spital Ansteckung, als Psychiatrie Gewalttätigkeiten, als Schule sichert es den totalen Einfluss des Lehrers. Die dicht gedrängte Masse, die immer Kollektivität erlaubt, wird ersetzt durch eine Sammlung getrennter Individuen, die mit einem Blick beobachtetet werden können und für jedes Experiment zur Verfügung stehen.
Diese Architektur ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis allein durch ihre Existenz aufrechterhalten kann, es also konserviert und dabei jegliche physische Konfrontation vermeidet. In der Strukturalistischen Sicht schafft diese Maschine ein Machtverhältnis, wobei es dann egal sei, wer die Macht ausübt. Dem kann entgegnet werden, dass das Machtverhältnis am Tag der Einsperrung festgelegt wird. Weiterhin fügt sich diese Maschine in ein bestimmtes Herrschaftskonzept ein und nur in diesem ist sie sinnvoll.
Das panoptische Schema, das alle vorgenannten Disziplinartechniken vereint, erlaubt ungeahnte Rationalisierungen. Kann der Gefangene jederzeit überwacht werden, ohne dass diese Überwachung seinerseits kontrollierbar ist, dann reicht auch eine sporadische Überwachung mittels des so totalisierten Kontrollblicks vollkommen aus.
"Das panoptische Schema ist dazu bestimmt, sich im Gesellschaftskörper auszubreiten, zu einer allgemeinen Funktion zu werden". Die Seuchenmedizin bildete die Ausnahmedisziplinargesellschaft mittels Kriegsrechts. Das panoptische Prinzip hingegen dient der Steigerung der Produktivität auf allen Gebieten, welche dieses Modell als einzige garantieren kann, weil die Beherrschung bis in die elementarsten Bestandteile der Gesellschaft eindringen kann. Es ist eine neue politische Anatomie der Macht, die konsequenteste und genaueste Anwendung (mehr als die Summe) aller entwickelten Disziplinartechniken, es ist deren Verallgemeinerung in einem einzigen leicht übertragbaren Mechanismus.
Die fortschreitende Anwendung der Disziplinarsysteme im 18. Jh. führt also von der begrenzten Disziplinierung in den Seuchengesetzen, also von "Quarantäne- Anwendungen" zum panoptischen Betrieb mit der Disziplin als dem eigentlichen Funktionszusammenhang der Herrschaft. Diesen
Prozess nennt Foucault
"DIE FORMIERUNG DER DISZIPLINARGESELLSCHAFT".
Die Methoden der frühen Inseln der Disziplin (Kloster, spezielle Schulen, Armee, Hafenspitäler) durchdringen die Gesellschaft. Hauptsächlich der Anwendungsbezug, also die Nützlichkeit der modernen Dressur, führt zu ihrer Ausweitung. Die Durchschlagskraft der bereits disziplinierten Armeen schafft der Dressur den nötigen Bekanntheitsgrad.
Die Disziplinarsysteme weiten ihre Methoden auf bisher noch nicht Betroffene aus: Schulen disziplinieren den Lebenswandel auch der Eltern, Fabriken den der Arbeiterfamilien. Mildtätigkeit karitativer Organisationen gibt es nur gegen Wohlverhalten etc. Die allgemeine Registratur verlängert zudem die Disziplinargewalt über die eigentliche Institution hinaus: Schulzeugnisse, Vorstrafenregister. Zudem werden alle zentralen Disziplinarsysteme nach und nach verstaatlicht (Schulen, Spitäler) und weiterhin zentralisiert. Genaugenommen werden sie erst mit ihrer Verstaatlichung echte Disziplinarsysteme. Sie sichern langfristig die Eigentumsverhältnisse.
"Hinter der großen Abstraktion des Tausches (Warengesellschaft) vollzieht sich die minutiöse und konkrete Dressur der nutzbaren Kräfte". Das moderne Individuum wird sorgfältig fabriziert. "Die Formierung der Disziplinargesellschaft vollzieht sich innerhalb breiter historischer Prozesse, die ökonomischer, rechtlich politischer und wissenschaftlicher Art sind".
Die neue Technologie der Macht muss ökonomisch sein, sowohl in ihrer Anwendung, als auch in ihrer Wirkung. Geringe Kosten, ökonomisch wie politisch, sind wegen des Bevölkerungszuwachses unabdingbar. Die Industrialisierung verlangt eine Anpassung der Bevölkerung an die Lohnarbeit. Zu diesen Zwecken werden leistungsfähige, nicht prunkvolle Apparate benötigt. "Die Entwicklung der Disziplinarprozeduren entspricht diesen beiden Prozessen, oder vielmehr ihrer Gegenseitigen Anpassung".
Die notwendige Anpassung an die Lohnarbeit , also das Klasseninteresse der
Bürgerlichen, führt Ausweitung der Disziplinarprozeduren, welche vom Militär abgeschaut wurden, und nicht irgendein nebulöser
Prozess auf Gegenseitigkeit. Verschämt versteckt der Autor das eigentliche Motiv für die Ausweitung der Disziplin
Die Disziplin eignet sich zur Durchsetzung, Absicherung und Vorbereitung der "Warengesellschaft" (kapitalistische Produktion und
Aneignung), weil diese Machttechnik auf eine Steigerung der "Tauglichkeit" abzielt, deshalb wurde das militärische Prinzip in der Produktion übernommen. Mit einer Machttechnik, die ihre Opfer am Pranger zerfleischt, ist keine kontinuierliche Produktion vereinbar. Statt der vormaligen Verausgabung der souveränen Macht, setzt die Disziplinargesellschaft auf die Verbindung von spezifischer Dressur und elementarer Unterwerfung, am besten eben mittels Dressurstrafen. Die Disziplin ist das kostengünstigste Verfahren die politische Kraft der Individuen zurückzuschrauben und die nutzbare zu steigern.
2) Die Aufklärung lieferte die Grundlage zum Heben von Bodenschätzen und zum zentralisierten Ansammeln von Wissen über den Menschen, sie hat die Freiheit proklamiert und die Disziplin neu "erfunden", sie hat die formelle Gleichheit ausgerufen und den darauf gegründete Gesellschaftsvertrag durch Unterwerfung gesichert. Dabei widerspricht angeblich jede Disziplinierung notwendig dem Gleichheitsprinzip: Die Disziplinierungen am Arbeitsplatz widersprechen der Ideologie des freien (Arbeits-)Vertrags. Foucault argumentiert hier vom bekannten Standpunkt des alten Kleinbürgers und sieht daher die Disziplin als "Gegenrecht", als systematische Verfälschung des freien Vertrags.
3) Jede Dressur führt zu Kenntnissen über den Dressierten, welche wiederum die Dressur verbessern. Macht schafft Wissen, versucht dieses zu monopolisieren, und dieses Wissen führt zur Vertiefung der Machtbeziehungen.
"Gefängnis - Totale und asketische Institution"
Das Gefängnis war nicht zuerst eine Freiheitsberaubung, der man dann die technische Funktion der Umformung aufgebürdet hat. "Im Gegensatz zum Schlosskerker, war das Gefängnis von Anfang an beides:" Die Zeitform der Bestrafung als "Straf-Lohn" für das Vergehen korreliert mit der Lohnarbeit und ist daher gesellschaftlich evident. Die strenge Kaserne, die unnachsichtige Schule die das Gefängnis auch ist, stellt es in eine Reihe mit den anderen Disziplinarsystemen Zudem ist die Haftstrafe in höherem Maße als z.B. die Geldbuße "egalitär". Als die damals noch neue Klassenmacht die Justiz kolonisierte, wird die Gefängnisstrafe endgültig zur Strafnorm, weil "die Gefängnisstrafe so tief dem Getriebe der Gesellschaft entsprach, dass sie alle anderen von den Reformern des l9. Jh. erdachten Bestrafungen der Vergessenheit anheimgab." Die Besserungstechniken gehören ebenso von Anfang an zum Gefängnis wie seine eigene Reform, mit der sich dieser keineswegs träge Apparat ständig erneuert und sich sein eigenes Wissen schafft. Die dazugehörigen endlosen, geschwätzigen und experimentierfreudigen Debatten kreisen immer um die "richtige", d.h. gesellschaftlich nützliche Dressur. Das Gefängnis muss ein erschöpfender Disziplinarapparat sein, "es muss sämtliche Anlagen des Individuums erfassen und dressieren, es muss eine Gesamtdisziplin sein". Das "integrale Reformatorium" Gefängnis soll die ganze Existenz umcodieren, wozu die totale Macht über den Gefangenen gesichert werden muss: Despotische Disziplin. Eine solche Disziplin duldet keine echte Unterbrechung vor ihrem Erfolg, sie muss unaufhörlich sein. Die spezifischen Disziplinar- und Abrichtungstechniken des Gefängnisses:
"Lebendes Tableau" und hierarchische Überwachung
Die Häftlinge werden nicht nur von der Außenwelt, sondern auch untereinander, und zwar beide Male vollständig isoliert, was eine direkte und nachhaltige Individualisierung zur Folge hat. "Das Gefängnis darf um keinen Preis aus den von ihm versammelten Missetätern eine einheitliche und solidarische Bevölkerung machen" Es muss isolieren um zu individualisieren, um wirklich zu unterwerfen. Zudem ist die Isolierung eine der wirksamsten Züchtigungen, da sie das Interesse des Häftlings spalten kann: Er will dann irgendwann arbeiten.
Kontrolle der Tätigkeit und normierende Sanktion
Zwang zur Arbeit und Gewöhnung an selbige, samt der dazugehörigen Eigentumsordnung. Das Ideologem dazu ist das von der "Verderblichkeit des Müßiggangs". Die Arbeit soll aber auch dem Gefangenen ganz einfach die Zeit vollständig entwenden. Die Besserung soll aus der Dressur selbst entstehen; geringfügige Entlohnung setzt sich durch, da dann die Knastarbeit das Pendant zum "moralischen Lebenswandel" ist. Die Gefängnisarbeit senkt punktuell die Löhne und verursacht entsprechende Arbeiterproteste, worauf die Betreiber immer den besonders nützlichen Dressurcharakter hervorheben. Arbeit wird zur Religion der Knäste, die Anpassung an die Produktionsbedingungen bleibt über alle Reformen Programm: Individuelle Behandlung derjenigen, die sich der Unterwerfung durch die Lohnabhängigkeit noch nicht gebeugt haben. Das Gefängnis als Maschine zur Produktion von Arbeitern. Der Lohn der Knastarbeit soll ihren Zwangscharakter kaschieren und offenbart doch nur denselben aller Lohnarbeit.
Zeitreihe und Prüfung
"Das Gefängnis wird tendenziell zu einem Instrument der flexiblen Strafzumessung", zu einer nebenrichterlichen Instanz. Vergünstigungen (z.B.: Freigang) und Verkürzung der Haftzeiten geben der Strafe den offensichtlichen Charakter einer Behandlung, die in ihrem Erfolg gemessen wird, es messen die Aufseher und Direktoren die "Gefährlichkeit" oder Anpassung des Insassen. Die Behandlungsstrafe individualisiert endgültig, da sie sich auf das straffällige Individuum bezieht und nicht auf Taten (die sind nämlich immer die gleichen). Die Behandlung wird also nicht auf Taten ausgerichtet, der einzelne Häftling ist der "Kranke, Anormale". Strafzeit ist Behandlungszeit, der Gefangene wird in eine chronologische Serie von Verschärfungen und Erleichterungen, von Dressuren und Prüfungen eingespannt: er macht seine Knastkarriere.
Die Ausgestaltung der Strafe obliegt einem von der Justiz autonomen Vollzug, der die Wirkung seiner eigenen Handlungen selbst kontrolliert und bewertet. Die Haftverkürzungen etc sind also "Unabhängigkeitserklärungen" der Gefängnisse. Die Willkür, früher Privileg des Souveräns (Fürsten), "wächst fortschreitend der Gewalt zu, welche die Bestrafungen organisiert und kontrolliert". Das Gefängnis erhält einen Teil der Strafsouveränität. Denn all die Diagnosen, Charakterisierungen, Präzisierungen und differenzierenden Klassifizierungen werden zwar im Urteil schon angedeutet, können aber erst in der Haft ,also nach dem Urteil, wirklich einsetzen. Die Willkür die ihm widerfährt wird dem Gefangenen nun selbst angelastet. Erfolge oder Defizite bei der Dressur "entscheiden" über die Strafzeit. Der Despotismus der Administration verschanzt sich hinter der Sachlichkeit der "Erziehung".
Das Gefängnis erhält realiter einen Teil der juristischen Gewalt (Strafzumessung), der zwar heftig umstritten, aber mit dem Hinweis auf die Nützlichkeit durchgesetzt wurde - Willkür ist nützlich. "In Wechselwirkung mit der panoptischen steinernen Maschine arbeitet ein lückenloses individualisierende Dokumentationssystem, das in seiner Breite aus dem Gefängnis einen Konstitutionsort des Wissens macht, was wiederum die Nützlichkeit der Strafe vervielfältigt." Der Nützlichkeitsanspruch der Strafe führt also zur Autonomie ihres Vollzugs und ermöglicht diesem damit ein eigenständiges, fast monopolisiertes Wissen. "Eben dieses Wissen bezieht sich nun überhaupt nicht mehr auf eine bestimmte gesetzwidrige Tat, sondern auf die zu bestrafende Person, nicht auf die Verurteilung, sondern auf die im Knast eingelieferte Person," seine Prägung, Anlagen, Eigenheiten, Biographie, eben auf sein Leben, das Leben des Delinquenten, seine spezifische Existenz.
Dieses Wissen, diese Einschätzungen werden von der Justiz fortschreitend übernommen und im Urteil miteinbezogen, hat seinen Ursprung aber im Vollzug, wo es auch individuell ausgestaltet wird. "Die gesetzliche Strafe bezieht sich (trotz auch ihrer Zielrichtung auf Besserung, immer noch) auf eine Handlung. Die Vollzugstechnik bezieht sich auf ein Leben." Die Besserungsstrafe kann nur wirken, wenn sie die komplette Existenz des Delinquenten einkalkuliert und eben diese größtenteils zu vernichten trachtet. "Hinter dem Rechtsbrecher, dem durch die Ermittlung der Tatsachen die Verantwortung für ein Vergehen zugeschrieben werden kann, zeichnet sich der Charakter des Delinquenten ab, dessen allmähliche Formierung durch die biographischen Nachforschungen aufgezeigt wird."
"Die Einführung des Biographischen ist von großer Bedeutung in der Geschichte des Strafwesens, weil sie den Kriminellen vor dem Verbrechen und letztlich sogar unabhängig vom Verbrechen schafft." Die Einführung des Biographischen führt zur Psychologisierung des Delinquenten. Gegenstand des Diskurses sind nicht mehr die Tat und ihre Ursachen - jede echte Reflexion muss ausgeschlossen werden, deshalb die Psychologie -, sondern die sog. "Gefährlichkeit des Individuums". Jede "Erklärung" einer Tat fällt mit doppelter Wucht auf den Verurteilten zurück: sie wird ihm als pathologische Verfehlung , als Krankheitssyndrom angedichtet. Als solches Bündel von Trieben, Tendenzen, Anomalien wird er der Besserungstechnologie zur Behandlung übergeben und eben nicht als Urheber einer Tat. Delinquenz wird also weniger vom Gesetz, als vielmehr von der Norm her definiert. Mit einer Typologie der Delinquenten als einer Typologie biographischer Einheiten, als Typologie verschiedener "Gefährlichkeit", als Typologie der "Anomalien", ihrer Existenzformen, Lebensweisen und nicht als Typologie verschiedener Delikte entsteht die moderne Kriminologie. Diese liefert den Gerichten ein einheitliches und "wissenschaftlich" abgesichertes Bild vom Täter, "damit die Bestrafung als Therapie und das Urteil als Diskurs des Wissens öffentlich auftreten kann".
"Sehr bald erwies sich das Gefängnis aufgrund seiner Wirklichkeit und Folgen als (angeblich! mb) eine große Niederlage der Strafjustiz." Es trägt nicht zur Minderung der Kriminalität bei, fördert "den Rückfall". "Das Gefängnis kann gar nicht anders als Delinquenten zu fabrizieren"; weil die Entlassenen keine andere Möglichkeit haben, weil auch die Angehörigen der Delinquenz zugerechnet werden, vor allem aber, weil es nichts als Hass produziert, wovon der Selbsthass des Delinquenten der gefährlichste ist. Der Disziplinarzwang, der zum vorteilhaften Leben nach den Regeln des ach so schönen Gesellschaftsvertrags führen soll, zeigt doch nichts anderes als dessen Zwangscharakter, sowie die Zwangsarbeit doch nichts anderes als den Arbeitszwang überdeutlich werden lässt. Die (Verwaltungs-)Maßnahmen des Besserungsvollzugs sind vom Prinzip her für den Gefangenen nicht, bzw. nur durch Selbstaufgabe, beeinflussbar. Diese Rechtsmaßnahmen ohne Urteil steht ihm als Willkür gegenüber. Dagegen geht die konformistische Kritik am Gefängnis seit Jahren immer die selben beiden Wege:
Das Gefängnis bessere nicht genug. Das Gefängnis straft nicht genug. Die praktische Antwort ist die ganze Zeit auch immer die gleiche geblieben: Die Konzentration auf die Grundsätze der Besserungsstrafe. Das Gefängnis wird als sein eigenes Heilmittel verschrieben. So folgen die Reformen aus verschiedenen Jahrhunderten den gleichen Prinzipien, sowohl 1850 als auch 1945:
- Prinzip der Besserung
- Prinzip der flexiblen Strafen
- Prinzip der Klassifikation der Gefangenen
- Arbeitszwang
- Prinzip der Besserungsstrafe als Erziehung
- Prinzip der technisch- medizinischen Kontrolle der Haft
- Prinzip der Anschlussüberwachung.
Gesetzwidrigkeit und Delinquenz
Die Verfeinerung der Machtechnologie bringt keine wesentliche Änderung in Bezug auf die gesellschaftlichen Folgen des Gefängnisses, seine sogenannte Niederlage im Kampf gegen die Gesetzwidrigkeit, trotzdem der Apparat immer perfekter wird. Das Gefängnis schafft ein (fast) geschlossenes Milieu der Delinquenz, da es Gelegenheitstäter zu Gewohnheitstätern macht, einer bestimmten Menschengruppe die gleichen Demütigungen samt ihren Folgen verschafft, die Entlassenen stigmatisiert wie einst die Marter. Das Gefängnis organisiert und kontrolliert die Delinquenz, sein angeblicher
Misserfolg ist durchaus nützlich. Die Justiz und ihre Auftraggeber haben die Unmöglichkeit einer gesetzestreuen Bevölkerung längst erkannt. Die sozialen Auseinandersetzungen produzieren zwangsläufig eine entsprechende Gesetzwidrigkeit, welche immer die Gefahr
einer Politisierung in sich trägt.
Das Strafmittel Gefängnis ist nun nicht dazu bestimmt den untauglichen Versuch zu unternehmen, alle Straftaten zu verhindern, sondern selbige sachlich und vor allem personell zu differenzieren. Die Strafjustiz
muss als "Verwaltung der Gesetzwidrigkeit" angesehen werden. Beide zusammen bilden die Ökonomie einer Klassenjustiz, die ihre Möglichkeiten realistisch einschätzt und vor allem eine sich politisierende Gesetzwidrigkeit verhindern
muss. Das Gefängnis und die Strafjustiz heben ihr eigenes Produkt, eben die Delinquenz, aus der Masse der Gesetzwidrigkeiten heraus. Das vom Gefängnis
organisierte Milieu ist nur anscheinend an den Rand gedrängt, realiter wird es zentral überwacht, stigmatisiert und erforscht. Jeder einzelne Entlassene ist nicht nur zwangsläufig ein potentieller Spitzel,
sondern schleppt ständig die Justizaugen mit sich herum, er wirkt wie ein markiertes Testisotop. Zudem wirkt er mehrfach abschreckend: Die reale Willkürlichkeit der Grenzziehung zur Haftstrafe verunsichert auch bei gewöhnlichen gesetzwidrigen Handlungen, wie auch seine erdrückende Stigmatisierung und Überwachung abschrecken. Dazu gelingt es dem Gefängnis ein "pathologisiertes Subjekt zu produzieren", dessen sichtbare Schäden auch den beschriebenen Effekt haben und die Delinquenz von der Bevölkerung isolieren, was mithin die Gesetzwidrigkeit letzterer in eine Einmündung in weitreichende, offenkundige also politische Form hindert. (Stell dir vor alle Diebe Marburgs würden an nur einem Tag offen und gemeinsam klauen.)
"Indem sich die Delinquenz von anderen Gesetzwidrigkeiten absetzt, schwebt sie als Drohung über ihnen".
Die
Gesetzwidrigkeit der Bevölkerung wird eingeschränkt, die der Delinquenz wird auf wirtschaftlich und politisch folgenlose Bereiche abgedrängt. (Die sich keineswegs durch besondere "Gefährlichkeit" auszeichnet: Was ist ein Einbruch gegen eine Vergewaltigung, ein Messerstich in einem Polizisten gegen ein überfahrenes Kind.) Wer aus der allgemeinen Gesetzwidrigkeit herausgenommen und Gegenstand der Erkenntnis, der Dressur und der verschärften Überwachung wird, bestimmen Klasseninteresse und sonstige Herrschaftsnormen, ist also in seiner Feinabstimmung Gegenstand des politischen Diskurses. Delinquenz ist zu jedem Zeitpunkt Produkt, nützliches zumal, da es das Sozialbanditentum verhindert. Die Absonderung der Delinquenz gelingt nie vollständig, sie ist eine Taktik: Sehr beliebt der Einsatz als Streikbrecher, die Darstellung als Monster, als permanente Gefahr. Sehr wirksam ist auch die Verachtung die jedem wirtschaftlich Prekarisierten entgegenschlägt.
Das Kerkersystem
Wie im letzten Kapitel gezeigt, ist das Gefängnis auch dort nützlich, wo es keine Arbeiter produziert, sondern Delinquenz organisiert. Beim Gefängnis handelt es sich aber um einen ausschließenden Disziplinarmechanismus zur Behandlung des "Aussatzes", des noch immer nicht disziplinierten Rests der Gesellschaft. Nun sind aber ähnliche Institutionen aber die ganze Gesellschaft verteilt: Das Erziehungsheim, die Sonderschule, das "offene" Jugendgefängnis, die geschlossene Psychiatrie, das Militärgefängnis oder
Strafbataillon.
Jede große Disziplinarinstitution hat ihren eigenen "Aussatz" und folgerichtig auch ihren eigenen Kerker, in dem zwar die gleichen Disziplinartechniken, aber in wesentlich verschärfter und eben ausschließender Form angewandt werden. Es wird ein "Kerkersystem, ein Kerker-Archipel" in der Gesellschaft ausgebildet. Dieses Kerkersystem ist das reale Bindeglied zwischen der einfachsten Disziplinierung und der langen Strafhaft. Dieses Kerkersystem entsteht notwendig auch in anderen Bereichen (z.B.. Erziehung): Die Nebenkerker sollen das Gefängnis ersetzen (z.B. für Jugendliche), aber "jede Strafinstitution, die das Gefängnis ersetzen, soll gipfelt doch in den Mauern der Zelle", die Gefängnispraxis wird also auf den harten Kern der Undiszipliniertheit übertragen, bevor dieser das Gefängnis erreicht.
"Die Praxis, die das Verhalten der Undisziplinierten oder der Gefährlichen zwangsweise normiert, kann ihrerseits zu einer verfeinerte und rationellen Technik genormt werden. Die Disziplinartechnik wird zu einer Disziplin, die auch ihre Schule hat", nämlich sich selbst. Um Knastwachtel zu werden muss man nichts als ordentlicher Deutscher sein. Die Nebenkerker lassen nun das Wegsperren vom gesetzlichen Urteil fortschreitend ab, weiten es auf die Gesellschaft aus und füllen die Kerker anhand von gesellschaftlichen Normalitätsabschätzungen, die selber wiederum in der Disziplin erprobt wurden. Ein Amtsarzt kann die Einweisung in die Psychiatrie verfügen, die, auch wenn sie aufgehoben wird, Bewachung darin und danach zur Folge hat. Der gleiche Amtsarzt sortiert den Strich. Die Möglichkeiten des Jugendamtes sind bekannt und zahlreich. Das ausgebildete Kerkernetz hängt über geringste Vergehen die Drohung der Delinquenz. Wirkt jedes Disziplinarsystem von sich aus schon hierarchisierend, so reicht dies zu seinem Erfolg doch nicht aus; erst die Kerkerdrohung gibt ihm den sicheren Halt. Die Normalitätsrichter werden vertausendfacht.
Jede Disziplinarorganisation hat ihre eigene Kerkerdrohung für hartnäckige Normalitätsabweichungen, der Übergang zum Verbrechen ist bruchlos in dem Sinne, das die klassische Schuldfrage unerheblich ist. Die Delinquenz macht Kerkerkarriere, das Produkt des Erziehungsheims wird häufig an den Knast weitergereicht. Das Kerkersystem ist das große Fundament aller Normalisierungsmacht, sowohl als Drohung, wie auch als Labor. Ohne Kerkerdrohung langfristig kein Disziplinargewalt.