Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier
Die nachfolgenden Vorträge wurden gehalten im Rahmen
eines Tagesseminars der Thomas Dehler-Stiftung (FDP-Stiftung in Bayern) zum
Thema „Was bleibt vom Marxismus?“. Der Organisator der Veranstaltung, Georg Batz, hatte durch die Auswahl der beiden Referenten Prof. Dr. Konrad Löw und Dr. Michael Schmidt-Salomon für eine spannungsreiche Grundkonstellation gesorgt. Während der konservative Politologe Konrad Löw in seinen beiden Vorträgen die Überzeugung vertrat, dass Karl Marx weder als Wissenschaftler noch als politischer Agitator besondere Wertschätzung verdient habe, versuchte Schmidt-Salomon aufzuzeigen, dass Karl Marx (trotz aller Schwächen und Gefahren seines Werks) sehr wohl zu den bedeutendsten Autoren des letzten Jahrtausends gehört.
In der Diskussion warf Löw Schmidt-Salomon vor, die Gefährlichkeit von Marx zu unterschätzen und seine Bedeutung für Philosophie, Ökonomie und Sozialwissenschaft überzubewerten, während Schmidt-Salomon Löw dahingehend kritisierte, dass dieser Werk, Leben und Wirkung von Karl Marx undifferenziert und selektiv (d.h. intellektuell unredlich) darstelle und allem Anschein nach auch die Grundgedanken der Marxschen Philosophie nicht verstanden habe. Während Löw meinte, dass die Täter, die im (umstrittenen) „Schwarzbuch des Kommunismus“ aufgeführt werden, allesamt Marxisten waren, mahnte Schmidt-Salomon an, dass auch ein Großteil der Opfer Marxisten gewesen sind und dass diese oftmals der ursprünglichen Marxschen Philosophie näher gestanden haben als diejenigen, die ihre Verbrechen mit Hilfe marxistisch klingender Phrasen rationalisierten.
Als Konrad Löw seine Thesen mit der Bemerkung bekräftige, dass sich einige (mitunter auch bekannte) Linke nach der Lektüre seiner Texte zu scharfen Marxkritikern gewandelt hätten, erwiderte Schmidt-Salomon, dass er dieses Phänomen bei sich nicht habe feststellen können, was wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen sei, dass er keinerlei Veranlassung habe, der selbstwertdienlichen Psychologie der Konvertiten („Die größten Kritiker der Elche, waren früher selber welche“) zu folgen. Da er niemals ein gläubiger Anhänger des Marx-Mythos gewesen sei, könne er unbefangen an das Marxsche Werk herangehen, er müsse keinen Negativ-Mythos aufbauen, um die (vermeintlichen oder tatsächlichen) Irrwege der eigenen Lebensgeschichte zu kompensieren.
Die nachfolgend wiedergegebenen Vorträge von Michael Schmidt-Salomon können in gewisser Weise als Antworten auf die beiden bekanntesten marxkritischen Bücher von Konrad Löw verstanden werden. Der 1. Vortrag „Mythos Marx“ zeigt anhand einer kurzen Einführung in das Leben und das Werk von Karl Marx auf, warum Löws Versuch einer Entlarvung des Mythos Marx (siehe Löw: „Der Mythos Marx und seine Macher“) am Thema vorbeizielt. Der 2. Vortrag „Karl Marx und die Marxismen“ erklärt, warum es unredlich ist, Marx eindimensional als „Vater der Terrors“ darzustellen, wie es Löw vor allem im „Rotbuch der kommunistischen Ideologie“ (Vorwort: Stéphane Courtois) unternommen hat.
Totgesagte leben länger, heißt es. Im Fall „Karl Marx“ scheint dies in besonderem Maße zuzutreffen. Kaum ein Autor der Geschichte wurde so oft zu Grabe getragen wie er – und doch: Marx ist, wie es scheint, nicht totzukriegen – selbst nach dem kläglichen Zusammenbruch des „real existiert habenden Sozialismus“. Als die BBC 1999 in ihrer Millenniumsumfrage nach den „bedeutendsten Denkern des Jahrtausends“ fragte, landete Marx mit überwältigender Mehrheit auf Platz eins, vor Einstein, Newton und Darwin. Auch auf dem „Index der meist zitierten Autoren aller Zeiten“ steht Marx ganz vorne, gefolgt von Lenin, Shakespeare, Aristoteles und den Autoren der Bibel. Selbst in der jüngsten Umfrage des Zweiten Deutschen Fernsehens nach den „Besten“ in der deutschen Geschichte schaffte es Marx unter die ersten Drei, wobei er u.a. Einstein, Bach und Goethe hinter sich ließ. Ist dies alles nur dem wirklichkeitsverschleiernden „Mythos Marx“ zu verdanken, an dem die Sozialisten aus aller Welt gestrickt haben, wie Konrad Löw glaubt? Oder gibt es darüber hinaus nicht vielleicht doch noch einige gute Gründe dafür, dass Marx in einem Atemzug mit den größten Denkern der Menschheitsgeschichte genannt wird? Um diese Fragestellungen soll es in diesem ersten Referat gehen.
Zur Vorgehensweise: Der Vortrag ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil werde ich kurz die Biographie von Karl Marx darlegen und diese in
Beziehung zu den damaligen sozio-ökonomischen Entwicklungen setzen. Im zweiten Teil wird es um die Bedeutung
der philosophischen Werke Hegels und Feuerbachs gehen, mit denen sich Marx
intensiv auseinandergesetzt hat. Im
dritten Teil werde ich die Grundrisse (im doppelten Sinne, denn es handelt sich tatsächlich um Risse!) des marxistischen Weltbildes skizzieren und im
vierten Teil versuchen, ein stimmiges Bild des Menschen zu zeichnen, der
sich hinter dem Mythos Marx verbirgt. Dabei werde ich einige zentrale Punkte
der Marx-Kritik von Konrad Löw unter die Lupe nehmen und aufzeigen, warum diese
m.E. weder der Person noch dem Denker Marx gerecht wird.
Karl Marx wurde 1818 in Trier geboren. Die Stadt befand sich damals in einer sozial, politisch und ökonomisch schwierigen Lage. Bis 1814 hatte Trier unter der Herrschaft der Franzosen gestanden, eine Zeit, in der die lokale Wirtschaft einigermaßen prosperierte und das Geistesleben nachhaltig von den Ideen der französischen Revolution geprägt wurde. Nach dem Sieg über die Franzosen fiel die Stadt an Preußen. Die ökonomische Lage verschlechterte sich zunehmend, teils wegen fehlender Absatzmärkte, teils aufgrund der hohen Steuerlasten, die Preußen den linksrheinischen Gebieten aufbürdete. Fabriken und Handwerksbetriebe mussten schließen, die für die Region so wichtigen Preise für den Moselwein fielen ins Bodenlose, Armut und Elend begannen das Stadtbild zu dominieren. In der Folge fanden radikal-demokratische, republikanische und utopisch-sozialistische Ideen vermehrt Anhänger in der Trierer Bevölkerung.
Auch das Trierer Gymnasium, das Marx von 1830-1835 besuchte, wurde - sehr zum Missbehagen der preußischen Behörden - von einem dezidiert aufklärerischen, republikanischen Geist getragen. Dies spiegelt sich auch in Marxens berühmten Abituraufsatz zum Thema „Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes“ wieder. In dem Aufsatz des gerade 17-jährigen finden sich – wenn auch gewissermaßen im Embryonalstadium – zwei Aspekte wieder, die im Marxschen Lebenswerk von fundamentaler Bedeutung sind, nämlich
Nach dem Abitur studiert Marx zunächst in Bonn, ab 1836 in Berlin. Sein Interessenschwerpunkt verlagert sich von der Rechtswissenschaft hin zur Philosophie. Ab 1837 beschäftigt er sich intensiv mit den Werken Hegels und tritt in Kontakt mit hegelianischen Akademikern und Schriftstellern. Nach der Promotion 1841 arbeitet Marx vorwiegend als Journalist, wird Chef-Redakteur der in Köln ansässigen Rheinischen Zeitung, die nach Angriffen gegen die preußische Zensur, wiederholter, schonungsloser Berichterstattung über die Not der Moselwinzer und heftigen Attacken gegen den russischen Absolutismus 1843 verboten wird. Nach kurzem Aufenthalt in Kreuznach, wo Marx und Jenny von Westphalen heiraten, verlässt das Paar Deutschland und siedelt sich in Paris an. Zu diesem Zeitpunkt, also um 1844 herum, hat Marx seine spezifische Sicht der Dinge bereits entwickelt. Er vertritt eine dialektische, materialistische, radikal diesseitige Philosophie, die sich in den Dienst der aufkommenden Arbeiterbewegung stellt.
Nachdem er als Mitarbeiter des „Vorwärts“ im Februar 1845 auch aus Paris verbannt wird, verbringt er die Zeit in Brüssel (Februar 1845 - März 1848) vor allem mit ökonomischen Studien. In Brüssel beginnt auch die intensive Zusammenarbeit mit Friedrich Engels, dessen erschütternde Reportage über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, großen Eindruck auf Marx macht. Gemeinsam verfassen sie im Januar 1848 im Auftrag des Bundes der Kommunisten das berühmte Manifest der Kommunistischen Partei, das Ende Februar erstmalig in London erscheint. Im gleichen Monat kommt es in Paris zur Revolution, wenig später zu den Märzrevolutionen in Deutschland und Österreich. Nach kurzem Intermezzo in Paris gehen Marx und Engels nach Köln, wo sie die Neue Rheinische Zeitung herausgeben, die starken Druck auf die Frankfurter Nationalversammlung sowie auf die preußische Regierung ausübt. Am Ende jedoch siegen die restaurativen Kräfte. Marx wird im Mai 1849 ausgewiesen und die Neue Rheinische Zeitung eingestellt. Nach kurzer Zwischenstation in Frankreich geht Marx im August 49 ins Londoner Exil, wo er abgesehen von einigen Reisen bis zu seinem Tod 1883 bleiben wird.
Die ökonomische Situation der Familie ist vor allem am Anfang der 1850er Jahre miserabel - teils, weil die Vertriebenen nur spärliche Einkünfte haben, teils weil Marx über das Kapital vielleicht schreiben, allerdings nur schlecht praktisch mit ihm umgehen konnte. Von den sieben Kindern sterben vier schon in frühen Jahren. Als Marx 1859 nach schier endlosen Verzögerungen das „unglückliche Manuskript“ seines Buches „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ abschließt, schreibt er mit einer guten Portion Galgenhumor: „Ich glaube nicht, dass unter solchem Geldmangel je über „das Geld“ geschrieben worden ist. Die meisten autores über dies Subject waren in tiefem Frieden mit the subject of their researches.“ Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung durch Engels und andere Genossen sowie einige Erbschaften verbessert sich die finanzielle Lage der Familie in den darauf folgenden Jahren enorm. Die Familie Marx kann sich ab 1864 ein durchaus großbürgerliches Leben leisten.
Marx verbringt seine Zeit in London vorwiegend mit ökonomischen Studien und fertigt Abertausende Seiten von Exzerpten an. Dabei verrennt er sich mehr und mehr in Detailfragen, der große Bogen will kaum noch gelingen. Wahrscheinlich ist es nur dem stetig drängelnden Friedrich Engels zu verdanken, dass im September 1867 der erste Band des „Kapital“ erscheint. Auf die angekündigten Bände 2 und 3 des Werkes warten die Leser zu Lebzeiten des Autors vergeblich. Marx, der förmlich in Material ertrinkt, schiebt die Vollendung der Bände immer weiter vor sich her – vielleicht, weil er sich zunehmend auch der internen Widersprüche seines Werkes bewusst wird. Anstatt die angefangenen Arbeiten zu vollenden, beteiligt er sich an politischen Ränkespielen und engagiert sich in der Internationalen Arbeiter Assoziation sowie in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
In den letzten Jahren leidet Marx unter starken Gesundheitsproblemen, die sich nach dem Tod seiner Frau im Dezember 1881 und endgültig nach dem Tod seiner Tochter Jenny im Januar 1883 dramatisch verschärfen. Wenige Wochen später stirbt Marx im Alter von 64 Jahren am 14. März 1883 in London.
Soweit die äußeren Daten. Unklar bleibt: Was für ein Mensch war Karl Marx? Die Berichte und Dokumente vermitteln ein widersprüchliches Bild. Einerseits erscheint er als liebevoller Vater, gewitzter und humorvoller Gesprächspartner, anderseits als Familienpascha und unnachgiebiger Tyrann, der zur Erreichung seiner Ziele rücksichtslos gegen sich und andere vorging. Es hat den Anschein, dass zwei Seelen in Marxens Brust ruhten: Er war Humanist und Antihumanist, Revolutionär und Traditionalist zugleich, ein Kämpfer für die Freiheit, der aber auch vor Zensur und Gewalt nicht zurückschreckte.
Es gibt eine hübsche Anekdote, die den inneren Zwiespalt, in dem sich Marx befand, sehr schön zum Ausdruck bringt: 1867 verweilte Marx vier Wochen in Hannover als Gast des vornehmen und gut situierten Arztes Dr. Ludwig Kungelmann. Während dieses Aufenthaltes, den Marx zu den „schönsten und erfreulichsten Oasen in der Lebenswüste“ zählte, korrigierte er die letzten Druckbögen des 1. Bandes des Kapital, verbrachte aber den Hauptteil der Zeit mit Tischgesprächen, die sich vornehmlich um Literatur, Kunst, Musik drehten. Fragen zu seiner politisch-ökonomischen Weltanschauung blockte Marx meist ab, da er nicht den Eindruck eines sozialistischen Wanderpredigers erzeugen wollte. Einmal jedoch konnte er sich den bohrenden Fragen nicht entziehen. Er wurde von einem Herrn gefragt, wer denn eigentlich im Sozialismus die Stiefel putzen solle. Marx reagierte darauf etwas unwirsch und erwiderte: „Das sollen Sie tun!“ Nachdem der Mann gegangen war, sagte Gertrud Kungelmann, die Dame des Hauses, deren charmante Art auf Marx einen gewaltigen Eindruck machte: „Lieber Marx, Ich kann mir Sie auch nicht in einer nivellierenden Zeit denken, da Sie durchaus aristokratische Neigungen und Gewohnheiten haben“ – „Ich auch nicht“, antwortete Marx. „Diese Zeiten werden kommen, aber wir müssen dann fort sein.“
Losgelöst davon, ob die Szene sich damals wirklich so abgespielt hat, sie zeigt sehr deutlich einen charakteristischen Zug des marxistischen Denkens: Selbst der größte Revolutionär ist am Ende nichts weiter als ein „Ensemble der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse“, ein Kind seiner Zeit. Er kann vielleicht erahnen, wie ein Leben im angestrebten „Reich der Freiheit“ aussehen könnte, wirklich nachvollziehen kann er es nicht, da er von einer völlig anderen geschichtlichen Epoche geprägt wurde. In diesem Sinne liegt den Widersprüchen des Marxschen Denkens und Lebens eine innere Logik zugrunde. Diese erklärt, warum Marx einerseits gegen das bürgerliche Ideal der „Heiligen Familie“ heftig polemisierte, anderseits sich selbst aber ein Leben ohne seine Frau und seine Töchter schwer vorstellen konnte, warum er auf der einen Seite für eine Gesellschaft der Gleichen kämpfte, von der er auf der anderen Seite wusste, dass er selbst in einer solchen Gesellschaft nicht hätte leben können oder wollen. Marxens Credo war, dass unter idealen Bedingungen der „neue Mensch“ entstehen würde, aber er war gleichzeitig felsenfest davon überzeugt, dass er und all seine Mitstreiter dieser „wahrhaft menschlichen“, freundlichen Spezies nicht angehörten, dass sie bestenfalls Vorläufer für diese neue Gattung sein konnten.
Man kann die Philosophie des Marxismus schwerlich begreifen, wenn man dabei die beiden philosophischen Systeme außer Acht lässt, auf die Marx bei der Entwicklung seines eigenen Denkansatzes vornehmlich zurückgegriffen hat, nämlich die dialektische Geschichtsphilosophie Hegels sowie die materialistische Anthropologie Ludwig Feuerbachs.
Beginnen wir mit Hegel: Hegel zufolge fußt die Entwicklung der Vernunft in einer permanenten Abfolge von Widersprüchen, die überwunden werden und so für steten Fortschritt sorgen. Grundlegend für diesen Prozess ist die sog. „dialektische Triade“ von These, Antithese und Synthese, bzw. von Position, Negation und Negation der Negation.
Fortschritt ist in diesem Denksystem geradezu unvermeidlich, da das Bessere als Feind des Guten gilt. Enden kann der Prozess des Fortschritts erst, wenn keine Verbesserungen mehr möglich sind.
Da nach Hegel alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig ist, fällt die Entwicklung der Wirklichkeit mit der Entwicklung der Vernunft zusammen. So verfügt jede Zeit über den Grad an Wahrheit, der ihr entspricht. Da Hegel all dies erkannt und auf den Begriff gebracht zu haben glaubt, wähnt er sich nicht nur auf der Höhe des geschichtlichen Wahrheitsentfaltungsprozesses, er glaubt auch, das endgültige philosophische System geschaffen zu haben, in dem alle Widersprüche aufgehoben und aufs Trefflichste miteinander versöhnt sind. Näher als er, meint Hegel, auch wenn er es nicht verbis expressis ausspricht, könne man dem Absoluten, dem Weltgeist oder Gott nicht kommen. Im Umkehrschluss bedeutet dies auch, dass der Staat, der den Meisterdenker Hegel hervorgebracht hat, selber auch einen Höhepunkt in der menschlichen Geschichte darstellen muss. In der Tat ist Hegel davon überzeugt, dass der aufgeklärt-monarchistische preußische Staat im Grundkern kaum noch verbessert werden könne und daher gewissermaßen einen Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung markiert.
Nun zu Feuerbach. Im Zentrum der Feuerbachschen Philosophie steht nicht mehr der absolute Geist Hegels, sondern der konkrete sinnliche Mensch, der sich den absoluten Geist denkt, um auf diese Weise den Schmerz und die Vereinzelung der eigenen Lebensexistenz zu überwinden. Feuerbachs Philosophie ist von Grund auf materialistisch, d.h. hier prägen nicht mehr die Ideen den Menschen, der Mensch, der sich in der Natur und der Gesellschaft behaupten muss, ist der Schöpfer seine eigenen ideologischen Überbaus. Für Feuerbach ist deshalb klar, dass nicht Gott die Menschen geschaffen hat, sondern umgekehrt: die Menschen haben Gott erschaffen, um sich durch die Fabrikation eines Schöpfers selbst Sinn zu verleihen.
Religion gilt Feuerbach als falsche Antwort auf durchaus richtig gestellte Fragen. Sie fesselt den Menschen, indem sie verspricht, die Kluft zu überwinden, die zwischen dem Ich und dem Du existiert. Die Überwindung dieser Kluft ist für Feuerbach geradezu ein Signum echter Menschlichkeit. da das Wesen des Menschen nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten sei. Emphatisch formuliert er: „Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); Mensch mit Mensch - die Einheit von Ich und Du ist Gott.“ (14)
Feuerbach will – das ist wohl die Quintessenz seiner gesamten Philosophie - an die Stelle der illusionären, religiösen Brücke zur Gattung eine echte Verbindung stellen. Da der illusionäre Umweg über Gott nicht mehr notwendig ist, formuliert er die Grundsätze einer säkularen Religion der umfassenden Menschenliebe, die in vielerlei Hinsicht die Gedanken humanistischer Autoren des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. (15)
Schauen wir uns nun an, wie Marx die Systeme Hegels und Feuerbachs in seinen eigenen Denkansatz integrierte. Von Hegel übernahm er die Vorstellung, dass die Geschichte dialektisch zu einem Zustand voranschreitet, der nicht mehr verbesserungsfähig ist, weil in ihm alle Widersprüche der vorangegangenen Epochen aufgehoben sind. Allerdings stellte Marx diese Konzeption Hegels „vom Kopf auf die Füße“. Das heißt: Für Marx war dieser Prozess nicht auf philosophische Ideen und schon gar nicht einen imaginären, sich entwickelnden Weltgeist zurückzuführen, sondern auf die konkreten Widersprüche, die in der Lebenspraxis der produzierenden und konsumierenden Individuen auftreten. An die Stelle der ideellen Fortschrittsfaktoren These, Antithese und Synthese treten somit die materiellen, politisch-ökonomischen Verhältnisse, die von Widersprüchen geprägt sind und somit die menschliche Geschichte solange vorantreiben, bis sie im Endstadium des kommunistischen „Reichs der Freiheit“ vollständig aufgehoben sind.
Jede geschichtliche Epoche basiert nach Marx auf spezifischen systemimmanenten Widersprüchen (Klassengegensätzen), die ihre Ursachen in den jeweils spezifischen Produktionsverhältnissen haben. Ab einem bestimmten Punkt sind die Produktivkräfte aufgrund einer fortschreitenden Rationalisierung der Produktion (dank immer effektiverer Maschinen und Produktionsabläufe) so weit entwickelt, dass sie die überkommenden politischen Verhältnisse sprengen müssen, damit weiterer Fortschritt möglich ist. Mit dieser Umwälzung an der materiellen Basis geht eine rasche Veränderung des ideologischen Überbaus einher. So wurde das hierarchische Modell des Feudalismus, in dem alles Gute sprichwörtlich von oben kam und Demokratie undenkbar war, im Kapitalismus mehr und mehr ersetzt durch die Ideologie des freien Marktes, die außer dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage keine weiteren Kontrollinstanzen zulässt. Die Markt-Ideologie durchdringt zunehmend alle gesellschaftlichen Teilbereiche und bestimmt auch immer mehr das Denken und Empfinden der Menschen.
Während bei Hegel der damalige preußische Staat als geschichtsnotwendiges Idealbild des Staates überhaupt gedeutet wird, blickte Marx über die Gegenwart hinaus. Die Zukunft wurde ihm zur Verheißung einer weltgeschichtlichen Erlösung, eines „Reichs der Freiheit“, in dem alle Widersprüche früherer Epochen aufgehoben sind. Warum? Weil die Proletarier mit ihrer Revolution nicht nur sich selber befreien, sondern auch die Kapitalisten, die – so wird unterstellt – selbst unter den kapitalistischen Verhältnissen leiden, da diese Verhältnisse sie von ihrer Gattung entfremdet und zu einem Leben als vereinzelte Egoisten verdammt haben.
Diese merkwürdige Konzeption wird nur verständlich, wenn man sich die zugrunde liegende anthropologische Konzeption Feuerbachs vor Augen führt. Wie gesagt: Der Mensch war für Feuerbach nur dann wahrhaft Mensch, wenn er sich im Mitmenschen erkennen konnte, wenn er in eine liebende Verbindung mit ihm trat. Marx nahm diese Vorstellung in sein Konzept auf. Auch für ihn ist der Mensch nur dann Mensch, wenn er von seinen Mitmenschen nicht entfremdet ist. Ausgehend von der aus der Religionskritik gezogenen Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, gibt es nach Marx nur noch einen kategorischen Imperativ, der unbedingt Beachtung finden muss – und dieser verlangt „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…“
Marx hat diesen pathetisch klingenden, ethischen Imperativ nie aufgegeben. Er ist für seine gesamte Lehre ebenso grundlegend wie die Vorstellung, dass der Mensch sich nur dann voll entwickeln könne, wenn er nicht in scharfe Konkurrenz zu seinen Mitmenschen tritt. Vor allem in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von 1844 kommt dieser humanistische Aspekt des Marxschen Denkens deutlich zum Tragen. Dort entwickelte Marx erstmalig seine am sinnlichen Individuum orientierte Vorstellung von einer „wahren Tätigkeit“, die er den entfremdeten Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise entgegengestellt.
Obgleich Marx diesen ethischen Ansatz niemals aufgab, geriet er dennoch in seinen späteren Werken zunehmend in den Hintergrund. Warum? Weil sein deterministisches Geschichtsmodell ethische Appelle mehr oder weniger überflüssig machte. Durch eine erneute intensive Beschäftigung mit Hegel avancierte Marx zum Antimoralisten. Die konkreten Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Leidenschaften der Menschen begriff er als notwendigen Ausdruck spezifischer historischer Existenzformen, die ihrerseits durch die jeweiligen sozioökonomischen Bedingungen hervorgebracht werden. Der Kapitalist konnte den Proletarier nicht lieben und umgekehrt. Beide waren Marionetten des jeweiligen historisch vermittelten Klasseninteresses. Moral predigen half da wenig. Marx konnte weder den Kapitalisten noch den Aristokraten oder den Klerus moralisch verurteilen. Seiner Meinung nach verhielten sich die Akteure im gesellschaftlichen Spiel exakt so, wie sie sich auf dem erreichten Entwicklungsstand der Produktivkräfte verhalten mussten.
Statt moralische Appelle zu verfassen, versuchte Marx daher die Dynamik zu ergründen, die die Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft seiner Meinung nach so weit hochschaukeln würden, dass die Klasse der Proletarier das Ruder letztlich übernehmen müsste. Dies wiederum sollte nach Marxschem Verständnis nicht nur das Ende der kapitalistischen Lohnausbeutung bedeuten, sondern auch das Ende von Religion, Staat und Moral. All diese Ideologien und Systeme, die - so Marx – in letzter Instanz keinem anderen Zweck dienten, als antagonistische Klasseninteressen zu verschleiern, sollten in der klassenlosen Gesellschaft absterben.
Halten wir zunächst fest: Durch die Integration des Feuerbachschen Humanismus und der Hegelschen Geschichtsphilosophie entsteht ein in sich logisches und doch widersprüchliches (bzw. in dialektischer Spannung stehendes) Denksystem. Einerseits geht der Marxismus von einem glühenden humanistischen Ethos aus („alle Verhältnisse umwerfen“) andererseits von einem strengen Geschichtsdeterminismus, der ethische Appelle als weitgehend sinnlose Unternehmungen begreifen muss, da die menschliche Geschichte – wie Marx darlegt – nicht von abstrakten ethischen Idealen bestimmt wird, sondern von konkreten ökonomischen Interessen.
Innere Logik und Widersprüchlichkeit •
Humanistisches
Ethos („alle Verhältnisse umwerfen…“) •
Revolutionäres
Modell (Diktatur des Proletariats) •
Skeptizismus (historische Relativität der Erkenntnis)
des Marxismus
versus
Geschichtsdeterminismus (materialistischer Antimoralismus)
versus
evolutionäres Modell (Selbstaufhebung des Kapitalismus)
versus
Dogmatismus (Erkenntnis der „objektiven Gesetzmäßigkeiten“ der
Geschichte)
Dieser Kernwiderspruch hat weitreichende Konsequenzen. Er führt beispielsweise dazu, dass ein Marxist auf Nachrichten, die auf eine Verelendung der Massen hindeuten (Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger etc.), ambivalent reagieren muss. Als marxistischer Humanist ist er über die Not der Menschen zweifellos betroffen, empört und fühlt möglicherweise den Impuls, sofort helfen zu wollen. Als marxistischer Geschichtsdeterminist wird er die Verelendung der Menschen jedoch begrüßen müssen, weil durch sie der Systemwiderspruch wächst, der nach marxistischer Perspektive letztlich zum Umkippen des gesellschaftlichen Systems und damit zur Befreiung aller Geknechteten und Notleidenden beitragen wird. So kann sich eine strategische Unmenschlichkeit in den Dienst einer auf die Zukunft ausgerichteten radikalen Menschlichkeit stellen.
Ohnehin ist die Spannung von Ethos und Geschichtsdeterminismus für die Frage der politischen Strategie von großer Bedeutung. Auch wenn die Not groß ist, wird ein orthodoxer Marxist nicht die „Diktatur des Proletariats“ ausrufen, sofern die Entwicklung der Produktivkräfte nicht auf der hierfür notwendigen Stufe angelangt ist. Ein Punkt, der – wie wir noch sehen werden - zur Spaltung der russischen Marxisten am Anfang des 20. Jahrhunderts führte.
Zusätzlich problematisch wird das Modell dadurch, dass der marxistische Geschichtsdeterminismus keineswegs so eindeutig ist, wie er oftmals dargestellt wird, denn wir finden bei Marx sowohl das bekannte revolutionäre Konzept des Übergangs vom Kapitalismus in den Sozialismus als auch ein weit weniger bekanntes evolutionäres Modell.
Das revolutionäre Modell kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Das auf Wachstum angelegte kapitalistische System führt zu zyklischen Krisen und zu einer fortschreitenden, letztlich weltweiten Akkumulation des Kapitals. Im Zuge dieses Prozesses werden Großbetriebe immer größer, Kleinbetriebe verschwinden fast völlig von der Bildfläche. Immer mehr Menschen verarmen, da u.a. aufgrund der Rationalisierungsschübe in der Produktion das Angebot an menschlicher Arbeitskraft weit größer ist als die Nachfrage von Seiten der Großunternehmen, die aufgrund ihrer Marktmacht den Preis der Arbeit immer erbarmungsloser diktieren können. Wird der Leidensdruck der Mehrheit der Menschen innerhalb eines derart entwickelten kapitalistischen Systems zu groß, kommt es zum Systemumsturz, zur Diktatur des Proletariats, die darauf ausgerichtet sein wird, die „Enteigner“ zu enteignen und die Produktionsmittel zu vergesellschaften.
Neben diesem revolutionären und durchaus auch militanten Modell, in dem die „Waffe der Kritik“ notwendigerweise durch die „Kritik der Waffen“ ergänzt werden muss, gibt es bei Marx jedoch auch ein zweites, evolutionäres Modell des Systemübergangs. Es sieht in etwa folgendermaßen aus: Es gelingt dem kapitalistischen System, die Verelendung der Massen durch Sozialgesetzgebungen etc. zu verhindern. Aufgrund des systeminternen Zwangs zur Profitmaximierung kommt es zu immer rascheren Innovationen auf dem Gebiet der Produktion. Menschliche Arbeitskraft ist durch die entwickelte Maschinerie immer weniger vonnöten, wodurch der für den Kapitalismus typische Gegensatz von Kapital und Arbeit zunehmend aufgehoben wird. Statt dem Produzenten wird der Konsument zur treibenden Kraft des Systems. Die für die Produktion noch notwendige menschliche Restarbeitszeit wird unter den Gesellschaftsmitgliedern verteilt entsprechend der jeweiligen individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Auf diese Weise kann der Kapitalismus fast automatisch in das Reich der Freiheit übergehen. Die Notwendigkeit einer militanten Machtübernahme durch das Proletariat entfällt, weil der Gegensatz von Kapital und Arbeit obsolet geworden ist
Dieses zweite evolutionäre Modell ist bei Marx zweifellos weniger stark entwickelt als das revolutionäre, aber es ist durchaus vorhanden, was den sozialreformerischen Kräften, beispielsweise den Sozialdemokraten, die Möglichkeit gab, sich ebenso auf Marx berufen zu können wie die sozialrevolutionären Kräfte beispielsweise im Umfeld des Spartakusbundes.
Es mag verwunderlich sein, dass Marx in einem derart wichtigen Punkt seiner Theorie keine klare, eindeutige Position fand. Aber diese Konturlosigkeit der Zukunft ist durchaus charakteristisch für das Marxsche Denken. In seiner Beurteilung von Vergangenheit und Gegenwart war Marx meist sehr prägnant (auch wenn er sich in einigen Punkten irrte). Mögliche künftige Entwicklungen deutete er aber nur sehr skizzenhaft an. Abgesehen von einigen wenigen Formulierungen blieb völlig unklar, wie das „Reich der Freiheit“ konkret aussehen oder der Übergang vom Kapitalismus in den Sozialismus und in den Kommunismus erfolgen sollte. Vielleicht war es die Erkenntnis, dass er selbst letztlich auch nur ein Kind seiner Zeit war, die ihn daran hinderte, zukünftige Verhältnisse gedanklich eindeutig vorwegzunehmen. Immerhin konnte er sich – ich erinnere an die Anekdote vom Anfang – nicht vorstellen, selbst in einer solch nivellierenden, nicht mehr von Klassengegensätzen geprägten Zeit zu leben. Von daher ist es gut nachvollziehbar, dass er sich mit eindeutigen Zukunftsbeschreibungen merklich zurückhielt.
Wie passt ein solcher prinzipieller Skeptizismus nun aber zusammen mit dem Dogmatismus, der ebenfalls im Marxschen Werke unübersehbar vorhanden ist?
Wir dürfen davon ausgehen, dass Marx sein Lieblingsmotto „De omnibus dubitandum“ („An allem ist zu zweifeln“) durchaus ernst genommen hat. Er liebte das Streitgespräch und feilte an seinen Argumenten, bis sie auch den letzten Gesprächspartner überzeugten. Dabei stützte er sich auf unzählige Quellen, die sehr häufig auch aus anderen weltanschaulichen Lagern stammten.
Und doch ist der dogmatische Zug seines Denkens unverkennbar. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass er als Prophet der Arbeiterklasse, die die weltgeschichtliche Erlösung herbeiführen wird, dachte, allgemeine, für alle Menschen verbindliche Wahrheiten verkünden zu können. Im Gegensatz zu ihm, meinte Marx – und das ist die Wurzel seiner Ideologiekritik -, hatten seine theoretischen Vorgänger nur Partikularinteressen bedient (beispielsweise die Interessen des Adels und des Bürgertums). Seine eigene Theorie hingegen sei gegen eine solche ideologische, von Partikularinteressen bestimmte Ausrichtung immun, schließlich diene sie der universellen Befreiung des Menschen durch den Menschen.
Wie Hegel verstand auch Marx seine Theorie als Höhepunkt der geschichtlichen Entwicklung. Als solche war sie unantastbar und deshalb galten Kritiker auch automatisch als Ketzer, die – um die Reinheit der heilen Theorie zu bewahren - auszuschalten waren. Damit legte Marx den Grundstein dafür, dass sein Ansatz in der Folge zur fundamentalistischen Politreligion verkommen konnte, wobei seine Nachfolger in den Denkansatz Theoriefragmente einbauten und gleich mitdogmatisierten, die in der ursprünglichen Theorie überhaupt nicht vorhanden waren, bzw. die dieser in zentralen Punkten sogar widersprachen. (Hierauf werde ich in meinem zweiten Referat näher eingehen.)
In den Augen seiner fanatischsten Anhänger galt Marx nicht nur als das Universalgenie der Menschheit und Gottvater der Arbeiterklasse, sondern auch als vorbildlich treuer Gatte und Freund, als liebender Familienvater usw. Er wurde in jeglicher Hinsicht idealisiert, nicht nur als Philosoph und Ökonom, sondern auch als Mensch. Mit diesem Säulenheiligen hatte der reale Marx freilich wenig zu tun, denn das Universalgenie beging theoretische Fehler, der Gottvater der Arbeiterklasse bewegte sich lieber in großbürgerlichen und aristokratischen Kreisen, der treue Gatte beging zahlreiche Seitensprünge, der treue Freund interessierte sich nur wenig für die Nöte seiner Gefährten, der liebende Familienvater spielte allzu oft den Haustyrann usw. All dies ist richtig und muss gesagt werden. Insofern bin ich mit der von Konrad Löw versuchten Entzauberung des Mythos Marx durchaus einverstanden.
Aber: Die Entzauberung des Mythos, die rationale Aufhellung geglaubter Illusionen, muss unter fairen Kriterien erfolgen, d.h. sie muss sich bemühen, den realen historischen Verhältnissen zu entsprechen. Es sollte keinesfalls an die Stelle des Positiv-Mythos ein Negativ-Mythos gesetzt werden, denn auch ein solcher würde der geschichtlichen Gestalt „Karl Marx“ wie auch seinem Werk nicht gerecht werden.
Ich möchte dies nachfolgend in drei Schritten demonstrieren:
Um den Humanisten Marx zu entzaubern, zitiert Konrad Löw in seinem Buch „Der Mythos Marx und seine Macher“ eine der umstrittensten Stellen im Marxschen Werk, eine Stelle, die im ersten Moment in etwa so klingt, als wäre sie für den „Stürmer“ geschrieben worden: „Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kult des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit… Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“
Löw kommentiert: „Das hindert manche nicht, Marx insofern total zu exkulpieren. Alles nur Missdeutung. Auch derlei unglaubliche Nachsicht dient dem Schutz der Ikone.“ Löw zufolge wäre es also ein grober Fehler, Marx vom Vorwurf des Antisemitismus reinwaschen zu wollen. Was ist davon zu halten?
Zugegeben: Die Formulierungen, die Marx in seiner Schrift „Über die Judenfrage“ wählt, erscheinen gerade vor dem Hintergrund dessen, was später im 20. Jahrhundert geschehen sollte, als höchst unglücklich, ja verwerflich. Aber: Lässt sich aus dieser oder auch ähnlichen Stellen im Marxschen Werk schließen, dass Marx ein Antisemit war? Und falls ja, um welche Form des Antisemitismus handelt es sich hier?
Dass der aus jüdischem Hause stammende Marx kein Antisemit im völkisch-rassistischen Sinne sein konnte, wird auch Konrad Löw (hoffentlich) nicht bestreiten wollen. Dass er als scharfer Religionskritiker auch nicht in den Denkkategorien des christlich-religiösen Antijudaismus dachte (Jude = Christusmörder), ist ebenso evident. Was man Marx vorhalten kann, ist, dass er eine Art kulturellen Antijudaismus verinnerlicht hatte, der sich in der, aus religiöser Wurzel gespeisten, aber säkular gewendeten Rede vom „Schacherjuden“ widerspiegelt. Mit diesem pauschalisierenden Begriffsgebrauch, d.h. der Assoziation des Judentums mit dem weltlichen Egoismus, stand Marx jedoch nicht alleine, wie beispielsweise folgendes Zitat von Feuerbach belegt: „Das Christentum nennt sich die Religion der Liebe, ist aber nicht die Religion der Liebe, sondern die Religion des supranaturalistischen, geistlichen Egoismus, gleichwie das Judentum die Religion des weltlichen, irdischen Egoismus ist.“
So unglücklich und unreflektiert dieser Sprachgebrauch auch ist, es wäre grundverkehrt, Marx oder Feuerbach in einen Topf mit den religiösen oder völkischen Antisemiten zu werfen. Wenn Marx schreibt, dass die Emanzipation des Judentums letztlich in der Emanzipation der Menschheit vom Judentum liegt, so bedeutet dies, dass alle wirkliche Emanzipation am Ende auch die Emanzipation vom Diktat des Geldes einschließen muss.
Dass es sich bei der militant klingenden Schlussformel nicht um einen antisemitischen Hetzaufruf handelt, wird deutlich, wenn man statt des Judentums einen anderen Adressaten einfügt: Marx hätte innerhalb seiner Theorie ebenso schlüssig formulieren können: „Die Emanzipation des Christentums ist die Emanzipation der Menschheit vom Christentum“. Oder auch: „Die Emanzipation des Kapitalismus ist die Emanzipation der Menschheit vom Kapitalismus“. Entscheidend ist hierbei, dass die Kritisierten nicht von der Emanzipation ausgeschlossen sind, sondern als wesentlicher Teil der befürworteten Emanzipationsbewegung begriffen werden. Ihre Existenz soll nicht im physischen Sinne ausgelöscht, sondern im ethischen Sinne auf einer höheren Ebene aufgehoben werden.
Mit anderen Worten: Der Marxschen Perspektive fehlt genau
jene Vernichtungslogik, die sowohl
den völkischen als auch einen Großteil des religiösen Antisemitismus kennzeichnet.
(Siehe hierzu beispielsweise Martin Luther, die dem es u.a. heißt: „Darum wisse
Du, lieber Christ, und zweifel nichts daran, dass Du,
nähest nach dem Teufel, keinen bittern, giftigern, heftigern Feind habest, denn
einen echten Juden... Ich will meinen treuen Rat geben: Erstlich,
dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht brennen
will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder
Schlacke davon sehe ewiglich... Zum anderen, dass man
auch ihre Häuser dergleichen zerbreche und zerstöre...”)
Halten wir fest: Trotz des unreflektierten Sprachgebrauchs, der von einem dumpfen kulturellen Antijudaismus gespeist ist, ist der Antisemitismus-Vorwurf gegenüber Marx nicht haltbar.
Nun ist der Beleg, dass Marx kein klassischer Antisemit war, selbstverständlich nicht zugleich auch ein Beleg dafür, dass Marx humanistisch dachte. Wie ich schon andeutete, war Marx’ Verhältnis zum Humanismus ambivalent. Einerseits war er ein Verfechter humanistischer Ideale, andererseits drängte ihn sein geschichtsdeterministisches Weltbild dazu, moralische Appelle nicht nur zu unterlassen, sondern Appelle dieser Art auch in Grund und Boden zu kritisieren. In diesem Zusammenhang heißt es unmissverständlich im Kommunistischen Manifest: „Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral… sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten pp.; sie wissen im Gegenteil sehr gut, dass der Egoismus ebenso wie die Aufopferung eine unter bestimmten Verhältnissen notwendige Form der Durchsetzung der Individuen ist.“
Löw interpretiert diese Aussage als eine Absage an den Humanismus. Doch stimmt das? Die Antwort hierauf lautet: Jain. Zwar handelt es sich hier um eine deutlichen Absage an den alten, idealistischen Humanismusbegriff, aber die Passage entspricht in ganz hervorragender Weise jenem neuen, „evolutionären Humanismus“, der, seit Julian Huxley den Begriff prägte, von Vielen als die einzig zeitgemäße Variante der humanistischen Idee verstanden wird. Warum „einzig zeitgemäß“? Weil das Menschenbild des evolutionären Humanismus nicht auf hehren Idealen und metaphysischen Überzeugungen basiert, sondern auf harten empirischen Fakten. Geht man von einem von einem evolutionär-humanistischen, d.h. naturalistischen, wissenschaftlich untermauerten Menschenbild aus, so kann man dem Kommunistischen Manifest in diesem Punkt nur zustimmen. In der Tat sind Egoismus und Aufopferung nur Ausdruck des Durchsetzungswillens des Individuums (bzw. seiner Gene), das je nach historischer Situation unterschiedliche Handlungsstrategien entwerfen muss, um seine Ziele zu erreichen!
Konrad Löw gibt sich die denkbar größte Mühe, ein Negativbild von Marx’ Persönlichkeit zu zeichnen. Auch hier hat er in einigen Punkten durchaus Recht. Marx konnte sich äußerst rücksichtslos verhalten, wenn es galt, potentielle Gegner auszuschalten. Er war auch nicht der ewig treue, liebevolle Gatte, als der er von Amtsmarxisten gerne dargestellt wurde. Seine Briefe sind häufig gezeichnet von bitterem Hohn und maßloser Arroganz, die Formulierungen oftmals im höchsten Maße beleidigend, die Urteile ungerecht und bar jeder Empathie.
Aber auch hier stimmt das Bild, das Löw zeichnet, nicht ganz: Marx war eben nicht nur der selbstherrliche Egomane, Diktator und Haustyrann. Er war auch ein geistreicher Gesprächspartner, ein toller Geschichtenerzähler, ein sensibler, liebevoller Vater, ein Mensch, an den man sich in der Not wenden konnte.
Löw wählt die biographischen Zeugnisse über Marx sehr selektiv aus. Man erfährt bei ihm zwar, dass Marx den Tod eines Kindes bei der Geburt mit den Worten wegsteckte: „Meine Frau ist endlich niedergekommen. Das child jedoch nicht lebensfähig, starb gleich. Dies an und für sich kein Unglück.“ Man erfährt aber nicht, wie sehr Marx beispielsweise litt, als sein achtjähriger Sohn Edgar erkrankte und schließlich starb. Marx ließ all seine Arbeiten liegen, wachte wochenlang Tag und Nacht am Bett des Kindes. Nachdem Edgar in den Armen seines Vaters gestorben war, bekam Marx über Nacht weiße Haare und konnte viele Monate über nichts anderes sprechen und schreiben als über den Verlust des Kindes: „Bacon sagt, dass wirklich bedeutende Menschen so viel Relationen zur Natur und der Welt haben, so viel Gegenstände des Interesses, dass sie jeden Verlust leicht verschmerzen. Ich gehöre nicht zu diesen bedeutenden Menschen. Der Tod meines Kindes hat mir Herz und Hirn erschüttert, und ich fühle den Verlust noch so frisch wie am ersten Tag.“
So etwas liest man nicht bei Löw. Der Grund ist offensichtlich: Briefe wie dieser hätten das Bild des kaltherzigen Egomanen Marx erschüttert.
Ähnliche Auslassungen finden sich zuhauf bei Löw. So ignoriert er weitestgehend die Belege, die zeigen, dass Marx einen beachtlichen Teil seines Vermögens dafür eingesetzt hatte, Kampfgefährten zu unterstützen. Stattdessen behauptet Löw, dass Marx mit den Geldern nicht auskam, weil er sich erstens an der Börse verspekulierte und zweitens seine Ansprüche an den Lebensstandard zu hoch geschraubt waren. Da Marx’ angebliche Verschwendungssucht eines der Lieblingsthemen von Löw ist, sei auch dazu kurz Stellung genommen.
Es ist wahr, dass Marx schon zu Studienzeiten immer wieder von seinem Vater ermahnt wurde, nicht so verschwenderisch mit dem Geld umzugehen. Unbestreitbar war Marx, sofern er nicht von depressiven Stimmungen heimgesucht wurde, ein hedonistischer Mensch, der, wenn das Geld da war, den Champagner sprudeln ließ und den großzügigen Gastgeber spielte. Na und?, mag man da fragen. Ist es denn für einen Kommunisten ein „Sakrileg“, zu feiern und das Leben zu genießen? Löw und auch Pilgrim scheinen das zu glauben.
Marx hätte dem mit Sicherheit entschieden widersprochen. Sein Humanismus war nicht asketisch, sondern epikureisch geprägt. Er gab offen zu, dass ihm der Adel und das Großbürgertum kulturell (nicht politisch!) näher stand als die (aufgrund struktureller Gewalt) ungebildeten Arbeitermassen, mit denen er sich nicht über Shakespeare oder Dante unterhalten konnte. Steht das im Widerspruch zu seiner Theorie? Nein. Ich bin sicher, dass Marx in diesem Punkt unumwunden dem russischen Kommunisten Lunacarskij zugestimmt hätte, der einmal gesagt hat, dass es im Kommunismus nicht darum gehen sollte, die Aristokratie zu beseitigen, sondern vielmehr darum, das Proletariat zur Aristokratie zu erheben.
Konrad Löw reicht es nicht aus, auf die geschilderte Weise Marx nur als Humanisten und Menschen zu „entzaubern“, er will auch beweisen, dass Marx kein origineller Denker gewesen sei, der in nennenswerter Weise zum Erkenntnis-Projekt der Aufklärung beigetragen hätte. Dies ist vielleicht der fundamentalste Angriff, den Löw auf den „Mythos Marx“ gestartet hat, schließlich kann man – siehe das Beispiel Schopenhauer – selbst dann noch mit gutem Recht zu den „großen Denkern“ gezählt werden, wenn man weder ein klassischer Humanist ist noch zur Sorte der besonders angenehmen Menschen gehört. Was ist also von Löws Einwand zu halten, dass Marx weder in philosophischer noch in historischer oder ökonomischer Hinsicht Nennenswertes zum Erkenntnisgewinn der Menschheit beigetragen hat?
Zunächst einmal muss man eingestehen, dass es natürlich schon vor Marx materialistische Denker wie La Mettrie, Feuerbach oder Stirner gegeben hat, ebenso gab es von sog. bürgerlichen Autoren verfasste, brillante historische und ökonomische Untersuchungen, auf die Marx in seinen Schriften ausgiebig zurückgriff. Dies gab Marx im Übrigen selbst freimütig zu: „Was mich betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben.“
Stimmt demnach Löws Vorwurf der fehlenden Originalität?
Nun ja, „Originalität“ ist bei genauerer Betrachtung ein höchst problematisches Konzept. In den letzten 2500 Jahren ist soviel gedacht, soviel geschrieben worden, dass sich mittlerweile schon die Wiederholungen der Wiederholungen wiederholen. Newton, zweifellos einer der großen, originellen Denker der Wissenschaftsgeschichte, schrieb in diesem Zusammenhang den berühmten und seither viel zitierten Satz: „Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.“ (Interessanterweise war selbst diese berühmte Newtonsche Abwehr von Originalität wenig originell. Merton, der ein ganzes Buch über die Entwicklung und Ausdeutung dieser rhetorischen Figur schrieb, konnte aufzeigen, dass der Aphorismus mindestens 27 mal zuvor von anderen Autoren benutzt wurde, bevor Newton ihn 1676 in seinen berühmten Brief an Hooke einfügte.)
So originell und revolutionär die Wissenschaft als Ganzes auch sein mag - der einzelne Wissenschaftler/die einzelne Wissenschaftlerin ist bei genauerer Betrachtung doch weitgehend unoriginell, denn er/sie ist hochgradig abhängig von dem, was andere zuvor geleistet haben. Das gilt zweifellos auch für Marx. Auch er stand auf den Schultern von Riesen bzw. auf den Schultern von Zwergen, die ihrerseits auf den Schultern von Zwergen standen. Wenn wir dennoch sog. „Geistesgrößen“ wie Kant, Darwin, Freud oder Einstein besondere Originalität zusprechen, so nicht, weil sie ihre Erkenntnisse aus dem Nichts schöpften, sondern weil sie in der Lage waren, die bereits entwickelten Mosaiksteine der Erkenntnis zu einem neuen Bild zusammensetzten, das die Sichtweise der Menschen revolutionierte.
Genau dies ist auch Marx gelungen. Er schuf ein neues Bewusstsein für die historisch-soziale Relativität unseres Denkens und Handelns. So fehlerhaft seine Analysen im Detail auch waren (Löw verweist hier zu Recht auf das Problem der „Sklavenhaltergesellschaft“), die von ihm in vielen Punkten meisterhaft vorgetragene These, dass das Denken, Handeln und Empfinden der Menschen durch ihr gesellschaftliches Sein und hierbei vor allem durch die historisch gewachsenen Produktivkräfte geprägt wird, hat unser Bild des Menschen entscheidend geprägt und ist über weite Teile auch heute noch stimmig.
Wie fruchtbar diese These war, konnte Marx selbst auf vielen Gebieten demonstrieren (ich erinnere hier nur an seine fulminante, auf wenige präzise Sätze begrenzte Religionskritik, seine Entfremdungstheorie, seine vielfältigen, wenn auch verstreuten Anmerkungen zu Bildung, Kultur und Erziehung, sowie seine Theorie des Warenfetischismus („Mystizismus der Ware“), die heute m.E. aktueller ist als je zuvor). Aufgrund der Fruchtbarkeit dieses neuen Denkansatzes war es kein Wunder, dass sich Generationen von Forschern (aber auch von Künstlern) die Marxsche Perspektive zu eigen gemacht haben. Dies (wie Konrad Löw) allein darauf zurückzuführen, dass Marx-Kenntnisse durch die Erfolge von Sozialdemokratie und Bolschewismus in intellektuellen Kreisen quasi verpflichtend wurden, ist schon eine arg verkürzte Sichtweise.
Schon allein aufgrund dieses neuen philosophischen wie sozialwissenschaftlichen Denkansatzes hätte es Marx verdient, unter die bedeutendsten Figuren der Geistesgeschichte eingeordnet zu werden. Aber Marx beließ es bekanntlich nicht bei Philosophie und Sozialwissenschaft. Er betrieb ausgedehnte politisch-ökonomische Studien, mit deren Hilfe er die Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten seiner Zeit zu ergründen versuchte. Für Marx selbst entwickelte sich dieses Projekt zum Alptraum, er verrannte sich in Details und verfing sich in Widersprüchen. Dennoch: So problematisch einige seiner Analysen und Prognosen auch waren, auch auf diesem Gebiet ermöglichte Marx neue Perspektiven - vor allem die Erkenntnis, dass die gravierende Ungleichverteilung von Reichtum und Macht kein Naturgesetz ist, sondern eine soziale Konstruktion, die unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgehoben werden kann.
In der Analyse des kapitalistischen Systems spürte er zahlreiche systemimmanente Probleme auf, die bis heute aktuell geblieben sind. Darunter u.a.: a) das Problem der Akkumulation des Kapitals mit der Folge der Ausdünnung der bürgerlichen Mittelschicht, b) das Problem der zyklischen Krisen, c) das Problem der Mehrwertabschöpfung, d) das Problem der ökologischen Zerstörung durch Überproduktion und – last but not least – e) das Problem der steigenden Arbeitslosigkeit aufgrund der Revolutionierung der Produktionstechnologie (So warf Marx den Nationalökonomen seiner Zeit vor (man könnte das Gleiche auch noch den wirtschaftswachstumsgläubigen Experten unserer Tage ins Merkbuch schreiben!), zu vergessen, „dass die Produktion von zuviel Nützlichem zuviel unnütze Population produziert.“)
Ich komme zum Schluss: Da Mythen elementare Bestandteile des religiösen Denkens sind, ist es alles andere als verwunderlich, dass der Mythos Marx zur Grundlage einer fundamentalistischen Politreligion werden konnte. Diesen Mythos zu entzaubern, ist zweifellos ein wichtiges aufklärerisches Anliegen. (Wobei natürlich nicht vergessen werden darf, dass nicht nur der Mythos Marx entzaubert werden muss, sondern auch der Mythos Jesus, der Mythos Mohammed, der Mythos Buddha etc. All dies sind Mythen, die erstens den Realitäten weit weniger entsprechen als der Marx-Mythos und die sich zweitens im Laufe der geschichtlichen Entwicklung als mindestens ebenso verhängnisvoll erwiesen haben.)
Wie gesagt:: Mit Konrad Löws Grundanliegen, den Marx-Mythos zu entzaubern, bin ich sehr einverstanden. Mit seinen Ergebnissen jedoch nur sehr bedingt. Denn wenn man den mythischen Schleier hebt, hinter dem der reale Marx verborgen war, so tritt uns nicht ein eindimensionales, unkreatives Monster gegenüber, wie uns Konrad Löw weismachen möchte, sondern eine höchst heterogene, kreative und faszinierende Gestalt: Ein Mann, der zwischen Champagner und Pfandhaus hin und her pendelte, der das „Reich der Freiheit“ anvisierte, aber (gewissermaßen als Nebenwirkung) brutalste diktatorische Regime mitverursachte, der den Satz „An allem ist zu zweifeln“ zum Lebensmotto erhob, aber dennoch immer Recht behalten wollte, der die Religionen in den Erdboden kritisierte, aber in gewisser Weise selbst zum Religionsstifter wurde, der die Freigeister, Künstler und Intellektuellen der Welt ebenso inspirierte wie die Zensoren, Dogmatiker und Tyrannen, - ein ungemein gescheiter, am Ende in mancherlei Hinsicht auch gescheiterter Genius, der die Welt nicht nur neu interpretierte, sondern auch veränderte – und zwar in einem Umfang, den er sich wohl selbst in seinen kühnsten (Alp-)Träumen nicht hätte ausmalen können.
Man wird sich darüber streiten können, ob Marx ein großer Humanist oder ein in ethischer Hinsicht vorbildlicher Mensch gewesen ist. Dass er aber mit Newton, Kant, Darwin, Freud und Einstein in die Riege der größten Denker unserer Spezies gehört, wird man wohl getrost behaupten dürfen, ohne deshalb gleich der Mythosverehrung bezichtigt zu werden. Es gibt in der Tat nur wenige Theoretiker, die unser Weltbild auf ähnliche Weise revolutioniert und auf derart vielen Gebieten zu Erkenntnisfortschritten beigetragen haben wie Karl Marx. Selbst aus seinen Fehlern sind wir klüger geworden. Ein größeres Lob kann man einem dialektisch denkenden Philosophen eigentlich kaum aussprechen…
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Als Karl Marx am 14. März 1883 starb, hinterließ er ein gewaltiges,
Tausende von Seiten umfassendes Werk, das die historische Entwicklung prägen
sollte wie kaum ein anderes. Und doch war Marxens Lebenswerk auf merkwürdige Weise
unvollendet, glich eher einem gigantischen Torso als einer nach allen Seiten
abgedichteten, in sich stimmigen Weltanschauung. Die offensichtlichen Lücken
und Widersprüche innerhalb der Marxschen Ursprungsphilosophie standen der
Verbreitung des Marxismus jedoch kaum im Wege. Im Gegenteil! Sie waren und sind
mitverantwortlich dafür, dass der Marxismus sich in allen nur erdenklichen
Varianten über den Erdball ausbreiten konnte und dass er auch heute noch – viele
Jahre nach dem Zusammenbruch des „real existierthabenden Sozialismus“ – alles
andere als erledigt ist.
Schon zu Marx’ Lebenszeiten gab es recht unterschiedliche Auffassungen darüber, was man unter Marxismus eigentlich zu verstehen habe. Es gibt einen häufig zitierten Ausspruch von Marx, der dies andeutet: „Was mich betrifft, so weiß ich nur das eine, dass ich kein Marxist bin“. Marx bezog sich hier auf den französischen Marxismus, der unter anderem durch seine beiden Schwiegersöhne Charles Lonquet und Paul Lafargue repräsentiert wurde. Es gab Autoren, die aus diesem Ausspruch ableiten wollten, dass Marx eine generelle Abscheu gegen die Dogmatisierung seiner Lehre hegte. Wahrscheinlich ist dies zu weit gegriffen. Marx hatte sicherlich keine Probleme mit dem „Ismus“ an sich, aber er konnte das, was unter seinem Namen gedacht und entwickelt wurde, nicht mit seiner eigenen Lehre in Einklang bringen. Wenn Marx sagte, „Ich bin kein Marxist“, so sollte dies wohl nur heißen: „Wenn das Marxismus ist, dann bin ich kein Marxist!“
Ich werde in meinem Vortrag versuchen zu ergründen, was denn Marx von all jenen Marxismen gedacht hätte, die sich erst nach seinem Tod entwickelten. Kein leichtes Unterfangen, angesichts der Vielzahl heterogener Ideen, Strömungen und Bewegungen, die im Laufe der Geschichte mit dem Etikett „Marxismus“ versehen wurden. Selbstverständlich wird es hier nicht möglich sein, die gesamte Bandbreite des Marxismus abzudecken, und einige wesentliche Punkte werden wir auch nur sehr oberflächlich streifen können.
Besondere Aufmerksamkeit verdient zweifellos der Marxismus-Leninismus, den ich im ersten Teil meiner Ausführungen darstellen möchte, da diese Variante des Marxismus in der Geschichte von größter Bedeutung war. Der zweite Teil wird Sozialdemokratie und Spartakusbund zum Thema haben, der dritte Teil wird sich mit den Dissidenten des bürokratischen Sozialismus des Ostblocks beschäftigen, der vierte Teil mit marxistischen Bewegungen in China, Kambodscha und Lateinamerika, der fünfte Teil wird die (frühe) Kritische Theorie zum Gegenstand haben, der sechste Teil die sog. „Neue Linke“ und der siebte Teil den Einfluss des marxistischen Denkens auf die Kunst sowie auf die französische Philosophie. Im abschließenden achten Teil werde ich versuchen, eine Antwort auf die Frage „Was bleibt vom Marxismus?“ zu geben.
Anfang des 20. Jahrhunderts entstand eine besondere Spielart des Marxismus, die von vielen Menschen bis heute mit dem Marxismus an sich gleichgesetzt wird: der Marxismus-Leninismus. Bei genauerer Betrachtung ist diese Zusammensetzung jedoch höchst problematisch, denn zentrale Aspekte der marxistischen und der leninistischen Philosophie sind unvereinbar. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Differenz von Vergesellschaftung und Verstaatlichung.
Vergesellschaftung bedeutet bei Marx freie Assoziation der
Produzenten (nicht Planungsanweisungen aus der Parteizentrale!), Aufhebung
entfremdeter Produktions- und Konsumtionsweisen (nicht anonymisierte
Massenproduktion in Fabriken und Kolchosen!), ihr Ziel ist die Verwirklichung
des Selbst als Individuum wie auch als Gattungswesen (nicht die Unterwerfung
des Individuums unter ein bürokratisch organisiertes Kollektiv!). Unter nicht
entfremdeten Arbeitsbedingungen, die durch eine Vergesellschaftung herzustellen
wäre, schreibt Marx, wäre die Arbeit „freie Lebensäußerung, daher Genuss des
Lebens. [...] In der Arbeit wäre [...] die Eigentümlichkeit meiner
Individualität, weil mein individuelles Leben bejaht. Die Arbeit wäre wahres tätiges
Eigentum.“
Mittels Verstaatlichung, welche notwendigerweise mit einem weitreichenden System bürokratischer Herrschaft verbunden ist, lässt sich eine solche auf individuelle Selbstentfaltung ausgerichtete Produktionsform kaum erreichen. Im Gegenteil! Marx zufolge befinden sich die Proletarier prinzipiell „im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen.“
Unumwunden teilt Marx den Hass der Pariser Kommune auf die - so Marx wörtlich im ersten Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“ - „zentralisierte Staatsmaschinerie, die mit ihren allgegenwärtigen und verwickelten militärischen, bürokratischen, geistlichen und gerichtlichen Organen die lebenskräftige bürgerliche Gesellschaft wie eine Boa constrictor umklammert“.
Konsequenterweise wendet sich Marx wenige Zeilen später der Staatsbesessenheit vorangegangener Revolutionen zu, und seine Worte klingen beinahe wie eine böse Vorahnung des Elends von 1917ff.: „Alle Revolutionen vervollkommneten [...] nur die Staatsmaschinerie, statt diesen ertötenden Alp abzuwerfen. Die Fraktionen und Parteien der herrschenden Klassen, die abwechselnd um die Herrschaft kämpften, sahen die Besitzergreifung (Kontrolle) (Bemächtigung) und die Leitung dieser ungeheuren Regierungsmaschinerie als die hauptsächliche Siegesbeute an. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stand die Schaffung ungeheurer stehender Armeen, eine Masse von Staatsparasiten und kolossaler Staatsschulden.“
Angesichts dieser Verirrungen war für Marx evident, dass eine wirkliche Revolution des Volkes großen Wert auf einen schnellen Abbau des Staatsapparates legen musste. Auch deshalb pries er die Pariser Kommune. Die zentrale Devise formulierte er unmissverständlich: „Beseitigung der Staatshierarchie überhaupt und Ersetzung der hochfahrenden Beherrscher des Volkes durch jederzeit absetzbare Diener, der Scheinverantwortlichkeit durch wirkliche Verantwortlichkeit, da sie dauernd unter öffentlicher Kontrolle arbeiten.“
Wie anders war Lenins Sicht der Dinge. Wenn Marx die Frage „Staat oder Kommunismus?“ stellte, so entschied sich Lenin eindeutig für den Staat, gegen die kommunistische Gesellschaft. Im Gegensatz zu Marx fußte Lenins Denken nicht in der Tradition der europäischen Aufklärung. Sein Revolutionseifer wurzelte nicht im Bewusstsein einer breiten liberalen und humanistischen Emanzipationsbewegung, sondern war vor allem Ausdruck eines durch die eigene Biographie induzierten Hasses auf die Obrigkeit. Lange bevor er sich in die Lektüre von Marx und Engels begab, war Lenin entschlossen zum gewaltsamen Umsturz des zaristischen Regimes. Unter der Anleitung seines Bruders Alexander hatte er eifrig die Werke der führenden russischen Revolutionäre gelesen. Den entscheidenden Anstoß dazu, selbst Berufsrevolutionär zu werden, erhielt er durch den Tod des geliebten Bruders, der wegen der Beteiligung an einem Attentatsversuch auf den Zaren hingerichtet wurde.
Der unbändige Revolutionseifer Lenins wurde später von einer Vielzahl russischer Marxisten scharf kritisiert. Man warf ihm vor, die Marxschen Werke eindimensional für seine revolutionären Zwecke zu missbrauchen. Führende marxistische Theoretiker wie Rykow und Plechanow (letzterer prägte den Begriff des „dialektischen Materialismus“) wiesen darauf hin, dass Marx die sozialistische Revolution als Endprodukt der kapitalistischen Entwicklung verstanden habe und dass in Russland die Bedingungen für eine solche Entwicklung objektiv nicht gegeben seien. Folgerichtig beteiligten sich die russischen Marxisten auch an der provisorischen Regierung, die nach der Februarrevolution angetreten war, die Grundsteine für eine bürgerliche, parlamentarische und kapitalistische Entwicklung in Russland zu legen.
Lenin, dessen Denken nicht unwesentlich von dem Terroristen Netschajew beeinflusst war, hatte zwar eine Zeitlang mit einem solchen, im Einklang mit dem dialektischen Geschichtsmodell stehenden Marxismus sympathisiert, später jedoch bezeichnete er diese Position als „unmarxistischen bürgerlichen Opportunismus“. Gleich in seiner ersten Rede nach der Rückkehr aus Deutschland rief er zum Sturz der provisorischen Regierung auf. Die Mehrzahl der Mitglieder der Generalkonferenz reagierte darauf mit wütendem Protest. Bogdanow schrie: „Das sind die Wahnvorstellungen eines Irrsinnigen!“ und Goldenberg, früherer Mitarbeiter Lenins, kommentierte zornig: „Alles, was wir eben gehört haben, ist eine völlige Verleugnung der ganzen sozialdemokratischen Doktrin, der ganzen Theorie des wissenschaftlichen Marxismus. Wir haben soeben ein klares und unmissverständliches Bekenntnis zum Anarchismus gehört. Sein Verkünder, der Erbe Bakunins, ist Lenin. Lenin, der Marxist, Lenin, der Führer unserer militanten Sozialdemokratischen Partei, ist nicht mehr. Ein neuer Lenin ist erstanden, Lenin, der Anarchist.“
Dieser scharfe Angriff auf Lenin durch seine eigenen Gefolgsleute ist vor dem Hintergrund des marxistischen Geschichtsmodells verständlich. Russland hatte gerade den Feudalismus überwunden, nach marxistischer Auffassung hätte nun erst einmal eine kapitalistische Phase erfolgen müssen, die durch Schaffung entwickelter Produktivkräfte und einer großen Proletariererklasse die Voraussetzungen liefern sollte für einen sozialistischen Umsturz in ferner Zukunft. Lenin wollte aber gewissermaßen eine Abkürzung zum Sozialismus nehmen. Dies glich nach Einschätzung der orthodoxen Marxisten einem anarchistischer Akt. Deshalb auch Goldenbergs Vergleich des Staatssozialisten Lenin mit dem Anarchisten Bakunin, der im ersten Moment ein wenig verrückt klingt, jedoch nicht völlig unbegründet ist. Tatsächlich zählten Bakunin und Netschajew zu den Inspirationsquellen Lenins. Von ihnen übernahm er den Typus des Berufsrevolutionärs, sowie die Bereitschaft zu Terror und direkter Aktion - unabhängig davon, ob nach Marxscher Theorie nun eine revolutionäre Situation vorlag oder nicht.
Wie wir wissen, konnten sich Bogdanow und Goldenberg damals nicht durchsetzen. Als geschickter Taktiker verstand es Lenin in der Folgezeit, die marxistische Opposition innerhalb seiner Partei mehr und mehr auszuschalten und den „schwarzen Schimmel“ des Marxismus-Leninismus als einzig wahres Zugpferd des Kommunismus zu verkaufen.
Auf Marx direkt berufen konnte sich Lenin dabei nur wenig. Anschlussfähig waren sicherlich Teile der Marxschen Kapitalismuskritik sowie das revolutionäre Modell der proletarischen Machtergreifung. Der Kern der marxistisch-leninistischen Doktrin jedoch stammt aus der Feder Lenins, der die offensichtlichen Lücken der marxistischen Theorie nach eigenem Gusto auffüllte. In diesem Zusammenhang sind von besonderer Bedeutung:
Da die Imperialismustheorie nicht nur für den Staatssozialismus des Ostblocks, sondern auch für die militanten Befreiungskämpfe in China, Afrika und Lateinamerika sowie für die Entwicklung der außerparlamentarischen linken Bewegungen bis heute von großer Bedeutung ist, soll sie hier kurz beleuchtet werden:
Lenin verstand den Imperialismus als höchstes - das heißt auch: letztes! – Entwicklungsstadium des Kapitalismus. Der Imperialismus ist durch einen aggressiven Charakter gekennzeichnet, der sich aus dem Streben der Monopole sowie der durch sie gesteuerten politischen Mächte nach Rohstoffquellen, Absatzmärkten, Einflusssphären und Militärstützpunkten ergibt. Die ungleichmäßige ökonomische Entwicklung der imperialistischen Zentren führt notwendigerweise zu einem steten Kampf um Neuverteilung dieser Ressourcen in der Welt, ein Kampf, in dem sowohl ökonomische, politische und im Ernstfall auch militärische Mittel eingesetzt werden. Für die sozialistische Bewegung stellt der Imperialismus in zweifacher Hinsicht eine Gefahr dar: zum einen ist er eine Bedrohung für all jene Staaten, die sich dem sozialistischen Weg verschrieben haben (eine Gefahr, die sich mit dem Zusammenbruch des real existierthabenden Sozialismus weitgehend erledigt hat), zum anderen ist der Imperialismus eine Bedrohung für den Erfolg des Sozialismus in den kapitalistischen Ländern, weil er dort das Proletariat und ihre Führer korrumpiert, da zumindest mittelfristig die Verelendung der Massen aufgrund der imperialistisch erschlossenen Gewinne nicht mehr innerhalb der entwickelten kapitalistischen Nationen erfolgt, sondern außerhalb, in der Peripherie, d.h. in den unterentwickelten Regionen, deren natürliche und humane Ressourcen hemmungslos ausgebeutet werden können. (Diese Denkfigur hat sich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks freilich nicht erledigt. Wir begegnen ihr weiterhin, sogar in verstärkter Form in den heftigen Debatten um die Globalisierung.)
Doch kehren wir noch einmal zu Lenin zurück: Nach der Oktoberrevolution brachten die Bolschewiki ihre politischen Widersacher rücksichtslos zur Strecke. Nicht nur in der Zeit des sog. „Kriegskommunismus“ mussten abertausende Menschen ihr Leben lassen – darunter nicht nur Anhänger des Zarenregimes, sondern auch zahlreiche Sozialisten, die mit dem von Lenin eingeschlagenen Kurs nicht einverstanden waren (bekanntestes Beispiel: der Kronstadter Matrosenaufstand). Die ebenso kompromisslose Verstaatlichung aller Betriebe führte zu einer schweren ökonomischen Krise, die schreckliche Hungersnöte zur Folge hatte. Etwa um das Jahr 1922 herum schien Lenin eingesehen zu haben, dass die rigorose Verstaatlichung ein schwerwiegender Fehler gewesen war. Plötzlich bezeichnete er diese, seine eigene Politik als „dumm und selbstmörderisch“ und empfahl seinen verdutzten Anhängern, den „Handel zu lernen“. Etwas resigniert stellte er fest: „Bauern sind keine Sozialisten, und Pläne zu machen, als ob sie Sozialisten wären, hieße auf Sand zu bauen. Die Verwandlung der bäuerlichen Psychologie und Gewohnheiten ist ein Ding, das Generationen braucht. Die Anwendung von Gewalt macht es auch nicht besser.“ In einem seiner letzten Artikel hieß es gar: „Für den Anfang könnten wir etwas von der Kultur der Bourgeoisie gebrauchen.“
Damit war Lenin am Ende wieder bei authentisch marxistischen Ansichten angelangt, Ansichten, die er selbst beispielsweise 1905 nachdrücklich vertreten hatte: „In solchen Ländern wie Russland leidet die Arbeiterklasse nicht so sehr unter dem Kapitalismus als vielmehr unter der ungenügenden Entwicklung des Kapitalismus. […] Die bürgerliche Revolution ist im Interesse des Proletariats unbedingt notwendig. Je vollständiger und entschiedener, je konsequenter die bürgerliche Revolution sein wird, desto gesicherter wird der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie für den Sozialismus sein. Nur Leuten, die das Abc des wissenschaftlichen Sozialismus nicht kennen, kann diese Schlussfolgerung neu oder seltsam, ja paradox erscheinen.“
Als Lenin im Jahr 1922 an seine alten Überzeugungen wieder anknüpfte, war sein Gesundheitszustand so miserabel, dass er nicht mehr in der Lage war, die zuvor begonnene „Neue Ökonomische Politik“ auf längere Zeit abzusichern. Er scheiterte auch mit seinem Vorhaben, den Genossen Stalin, den Lenin als „zu grob“ einschätzte, aus der gehobenen Stellung als Generalsekretär der Partei zu entfernen. Als seinen Nachfolger hatte Lenin Trotzki vorgesehen, aber nach seinem Tod dauerte es nicht lange, bis Stalin alle Macht im Sowjetreich erobert hatte. Unter seiner Herrschaft wurde das System des Terrors perfektionalisiert. „Säuberungswellen“ erschütterten das Land und kosteten unzählige Opfer. In der Gestalt des Stalinismus verkam der Marxismus-Leninismus vollends zur fundamentalistischen Politreligion. Während Lenin noch mit Unbehagen auf den Kult um seine Person reagiert hatte, genoss es Stalin sichtlich, sich als übermenschlichen Propheten der bolschewistischen Säkularreligion zu stilisieren, als vom Histomat bestimmten Führer der auserwählten Volksgruppe „Arbeiterklasse“ und unfehlbaren Papst des kommunistischen Parteipriestertums.
Nach Stalins Tod versuchte Chruschtschow die Zügel der totalen Staatsmacht zu lockern, er wurde aber auf halbem Wege zurückgepfiffen. Breschnew und seine nur kurz im Amt verweilenden Nachfolger Andropow und Tschernenko versuchten den Ostblock-Sozialismus mithilfe einer zentralistisch gesteuerten Bürokratie zu erhalten, gerieten aber im ökonomischen wie militärischen Wettlauf mit dem Westen zunehmend auf die Verliererstraße. Erst mit Gorbatschow änderte sich der Kurs dramatisch, er wollte mit seiner Perestroika- und Glasnost-Politik an die alten Ideale des demokratischen Marxismus anknüpfen, die Öffnung des zuvor hermetisch abgeriegelten Gesellschafts- und Wirtschaftssystems führte jedoch zum Kollaps. Am Ende zeigte sich deutlich, wie Recht Marx hatte, als er vor den Folgen einer staatsfixierten Revolution warnte. In der Tat lässt sich das Wirken von Lenin, Stalin und Genossen kaum besser beschreiben als mit den bereits zitierten Worten von Marx: „Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stand die Schaffung ungeheurer stehender Armeen, eine Masse von Staatsparasiten und kolossaler Staatsschulden.“
Bewertung: Ich bin überzeugt, dass Marx auf den Leninismus weit gereizter reagiert hätte als auf den französischen Marxismus seiner Zeit. Mit Lenins Imperialismustheorie hätte er sich wohl anfreunden können, nicht aber mit dessen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie. Meine Vermutung: Hätte Marx zur Zeit der russischen Revolution gelebt, wäre er wahrscheinlich als Menschewik inhaftiert worden und wenig später einer stalinistischen Säuberungsaktion zum Opfer gefallen.
Der Begriff Sozialdemokratie taucht in Deutschland das erstmals 1848 auf und wurde kurze Zeit später zum zentralen Leitbegriff der politischen Arbeiterbewegung. Ziel der Sozialdemokratie war (und ist es mit Abstrichen sicherlich auch heute noch) die Verwirklichung einer solidarischen Gesellschaft auf der Basis einer Demokratisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche, insbesondere der Wirtschaft. Während in der Frühphase der Bewegung (insbesondere zur Zeit des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins) vor allem die Gedankenwelt Lassalles prägend war, gewannen unter dem Einfluss des Bismarckschen Sozialistengesetzes mehr und mehr die Konzepte von Marx und Engels an Bedeutung und sie blieben in der 1890 gegründeten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands offiziell tonangebend bis zum Godesberger Grundsatzprogramm von 1959. Heutzutage scheint es Teilen der SPD eher peinlich zu sein, dass die Partei eine ihre Wurzeln im Werk von Karl Marx hat. Daher verwundert es auch nicht, dass sich innerhalb der Sozialdemokratie – vielleicht einmal abgesehen von akademischen Arbeitskreisen innerhalb der Friedrich Ebert Stiftung – kaum noch jemand großartig mit dem Werk von Karl Marx beschäftigt.
Dies war jedoch – wie gesagt – früher völlig anders. Und so erschütterten die Widersprüche des Marxschen Werkes auch die Arbeiterbewegung nachhaltig. Von Anfang an herrschte in der Sozialdemokratie ein scharfer Richtungsstreit vor. Während die einen für die proletarische Revolution votierten, traten die anderen für Reformen ein, präferierten die einen die Räte-Republik im Sinne der Pariser Kommune, sahen die anderen ihr Heil in der parlamentarischen Demokratie. Eben dieser Richtungsstreit war mitverantwortlich für die wohl schwerste innerparteiliche Krise der SPD in den Jahren 1916-1918, die die Spaltung der Partei in M- und USPD, die Entstehung der Spartakusgruppe und die Gründung der KPD zur Folge hatte.
Unzufrieden mit der reformorientierten, überopportunistisch erscheinenden Politik der Mehrheits-SPD im Allgemeinen und ihrer Unterstützung des im Sinne der Imperialismustheorie gedeuteten Krieges im Besonderen, versuchten damals Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die führenden Köpfe des Spartakusbundes, eine revolutionär sozialistische Alternative zu entwickeln. Obwohl ihr Konzept tragisch scheiterte, gelten Luxemburg und Liebknecht bis heute innerhalb der außerparlamentarischen Linken als große Vorbilder. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie bei aller Sympathie für die (damals noch junge) russische Revolution sich doch deutlich von dem autoritären Partei- und Staatskonzept Lenins abgrenzten und stattdessen einen basisdemokratischen Rätekommunismus vorschlugen. Außerdem vermag ihre beißende Kritik am zähen, organisationsfanatischen Parlamentarismus und ihre Bereitschaft zu spontaner Aktion all diejenigen zu begeistern, die glauben, dass Parlamente nichts wirklich bewegen können. Letztlich dürfte auch ihr Märtyrer-Status (beide bezahlten bekanntlich ihr Ideale mit dem Leben) nicht unwesentlich zu ihrer anhaltenden Popularität beigetragen haben.
Bewertung: Wäre Marx heute Sozialdemokrat? Das ist schwierig zu entscheiden, da wir nicht wissen, wie Marx unter den heutigen gewandelten sozioökonomischen Bedingungen denken würde. Wenn überhaupt, so würde er wohl dem linken Flügel der Partei oder aber vielleicht doch eher der PDS angehören. Etwas klarer scheint mir zu sein, wie er in den Jahren 1916-18 entschieden hätte. Wahrscheinlich wäre er an der Seite von Liebknecht und Luxemburg aufgetaucht. Aber auch dies ist natürlich reine Spekulation. Zumindest gibt es zwischen Liebknecht/Luxemburg und Marx weniger theoretische Inkongruenzen als zwischen Marx und Lenin.
Im festen Griff der Breschnew-Doktrin brachten die Ostblockstaaten nur wenige Marxisten hervor, die Liebknecht oder Luxemburg hätten das Wasser reichen können. Die wenigen Ausnahmemarxisten, die es gab, wurden in der Regel inhaftiert, zensiert oder ausgewiesen, weil sie nicht in das bürokratische Herrschaftssystem passten, das (durchaus typisch für bürokratische Herrschaft) eine erschreckende Normierung in Richtung Mittelmäßigkeit zur Folge hatte.
Nach dem Tode Stalins wurde zwar das Instrument der physischen Eliminierung des Regimekritikers weit seltener angewandt als zuvor, dennoch war es nicht ungefährlich, auf die vielfältigen Widersprüche zwischen dem Marxschem Werk und der real sozialistischen Wirklichkeit hinzuweisen. Nur die bekanntesten Fälle, in denen marxistisches, aber bolschewismuskritisches Denken mit Verhaftung, politischer Isolation oder Ausweisung geahndet wurde, seien hier genannt: in der Sowjetunion Sacharow und Kopelew, in der CSSR die Agitatoren des „Prager Frühlings“, in der DDR Ernst Bloch, Robert Havemann, Wolf Biermann und Rudolf Bahro.
Mit dem Schlagwort des „bürgerlichen Revisionismus“ versuchten die kommunistischen Herrschaftseliten die Vertreter eines humanistischen, den Frühschriften von Marx verpflichteten Marxismus zu diffamieren. Der jugoslawische Marxist Petrovic, in dessen Zeitschrift „Praxis“ ein Großteil der führenden „marxistischen Revisionisten“ publizierte, fasste den Grundkonsens der marxistischen Dissidenten in zwei Punkten zusammen:
„1. Der Sozialismus, wie ihn Marx begriffen hat, ist keine bürokratische Diktatur, sondern eine humane Gemeinschaft der befreiten Menschen. Deshalb kann er weder durch staatliche Reglementierung des gesellschaftlichen Lebens noch durch repressive Maßnahmen herbeigeführt werden, sondern nur durch die Entwicklung der Demokratie, das Absterben des Staates und der Einführung der Arbeiterselbstverwaltung in der Produktion.
2. Der Stalinismus ist keine neue Stufe in der Entwicklung des Marxismus, sondern eher eine Negation seines Wesens. [...] Marxismus ist eine humanistische Philosophie der Freiheit, Stalinismus eine pseudophilosophische Rechtfertigung der Sklaverei.“
Was Ernst Bloch vom Christentum sagte, lässt sich leicht auf den staatsbürokratischen Marxismus-Leninismus übertragen: Das Beste, was er hervorgebracht hat, sind seine Ketzer. Und so verwundert es nicht, dass diese Ketzer, die einen „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ erschaffen wollten, auch heute noch in der linken Kultur eine gewisse Bedeutung haben, während die bürokratiefahlen Konzepte der Genossen Ulbricht, Honecker & Co. mit dem Untergang des real existiert habenden Sozialismus weitgehend in der Versenkung verschwunden sind.
Bewertung: Hier bin ich mir relativ sicher: Marx hätte kaum auf der Seite der Sozialismusbürokraten gestanden, die nur der Mangel verwalteten, sondern auf der Seite der Dissidenten. Insbesondere Rudolf Bahros marxistische Widerlegung der DDR-Gesellschaft („Die Alternative“) hätte er wohl mit großem Genuss gelesen.
In welch unterschiedlichen Gewändern der Marxismus auftreten konnte, erkennt man, wenn man über West- und Osteuropa hinausblickt. Werfen wir zunächst einen Blick in den asiatischen Kulturkreis.
In China, wo die KP in den Zeiten des verheerenden Bürgerkrieges zwischen 1946 und 1949 die Macht eroberte, versuchte Mao Zedong eine chinesische Variante des Kommunismus zu etablieren. In der Zeit des „Großen Sprungs“ (1958-60) beabsichtigte er eine rasche Industrialisierung des Landes verbunden mit einer Dezentralisierung und Entbürokratisierung der Machtzirkel. Doch das Experiment scheiterte kläglich und löste eine der schwersten Hungersnöte in der chinesischen Geschichte aus, die mehr als zehn Millionen Menschen das Leben kostete. Während der darauf folgenden Konsolidierungsphase wuchs die Macht der Parteikader immer weiter an, was eine erneute Entbürokratisierungs-Initiative des weitgehend entmachteten Mao zur Folge hatte: die sog. „Kulturrevolution“, die ab 1966 in China wütete. Maos Hauptverbündete in diesem Kampf war die junge Generation in den Städten, die mit Gewalt gegen den alten Machtapparat und ihr kulturelles Umfeld vorging. Letztlich war aber auch die Kulturrevolution ein Desaster, das unzähligen Menschen das Leben kostete und am Ende doch nur zu einer Stärkung der alten Machteliten führte, die das kommunistische China mehr oder weniger streng nach sowjetischem Vorbild gestalteten.
Im Westen wurde der „große Vorsitzende“ Mao in den 1968er Jahren dennoch als Politidol verehrt. Die Gründe hierfür liegen nicht in einer besonderen theoretischen Erneuerung, die der Maoismus gegenüber dem Marxismus erbracht hätte, sondern vielmehr in dem fehlenden Wissen der rebellierenden Studenten über die realen Verhältnisse in China. Zudem ließen sich das Bündnis des großen Vorsitzenden Mao mit der jungen Intelligenz in China sowie seine Bürokratie- und Parteikritik romantisierend auf die eigene Situation übertragen. Die in den 70er-Jahren erfolgte Aufklärung über Maos brutalen Autoritarismus sorgte dann jedoch für einen raschen Niedergang seines Ansehens innerhalb der linken Subkultur. Die einst so virulente Gattung der deutschen Maoisten ist heute ausgestorben.
Kommen wir zu einer anderen, noch bedrohlicheren Variante des asiatischen Kommunismus: Das Regime der Roten Khmer in Kambodscha. Auf Kambodscha soll hier nur deshalb kurz eingegangen werden, weil in dem kleinen Land die wohl ungeheuerlichsten Verbrechen erfolgten, die je unter der Flagge des Marxismus-Leninismus begangen wurden. Unter Pol Pot und den Roten Khmer wurde Mord zur gängigen Herrschaftsmethode. Ein Viertel der Gesamtbevölkerung sollen in den rund dreieinhalb Jahren ihrer Terrorherrschaft gewaltsam ums Leben gekommen sein. „Lieber zehn Freunde schlachten, als einen Feind am Leben lassen!“ lautete die Maxime der roten Khmer. Mit dem Tode bestraft wurde nicht nur jede Kritik an der politischen Führung, sondern auch das Praktizieren religiöser Riten, ein ungenehmigter Familienbesuch oder ein Sexualkontakt außerhalb der Ehe. Pol Pot hatte das Bestreben, alle Revolutionen der Vergangenheit zu übertrumpfen: Er schaffte die Geldwirtschaft ab und führte innerhalb von weniger als zwei Jahren eine vollständige Kollektivierung durch. Er versuchte den Jahrtausende alten Gegensatz zwischen Stadt und Land aufzulösen, indem er die Städter zu Bauern machte, und die gesellschaftlichen Unterschiede aufzugeben, indem er die besitzenden, intellektuellen und Handel treibenden Schichten liquidierte.
Die Forschung fahndet bis heute nach den genauen Ursachen für die ungeheure Grausamkeit dieses Terrorregimes. Der marxistisch-leninistischen Doktrin ist eine Mitverantwortung hierfür kaum abzusprechen, auch wenn man natürlich nicht übersehen darf, dass der grausame Gleichheitswahn der Roten Khmer auch andere Wurzeln hatte, beispielsweise die Individualismusfeindlichkeit und Sittenstränge des Buddhismus, der die Kultur Kambodschas maßgeblich bestimmte.
Wahrscheinlich sind es auch diese uns fremden kulturellen Hintergründe (Konfuzianismus in China, Buddhismus in Kambodscha), die es der westlichen Linken schwer machten, an den asiatischen Kommunismus theoretisch anzuknüpfen. Zwar wurden Mao und Ho Chi Minh (Vietnam) als Aushängeschilder für den antiimperialistischen Kampf in der 68er-Zeit positiv bewertet, eine wirklich Auseinandersetzung mit ihnen fand aber nicht statt.
Anders verhält es sich im Falle der marxistischen Bewegungen in Lateinamerika, die von ihrem kulturellen Hintergrund für die westeuropäische Linke weit eher nachvollziehbar war. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Entwicklungen in Kuba, Chile und Nicaragua.
Die Kubanische Revolution wurde von vielen zunächst als Musterbeispiel einer gelungenen sozialistischen Machtübernahme gefeiert. Dabei war Fidel Castro – im Unterschied zu Ernesto Che Guevara – ursprünglich alles andere als ein Marxist oder Sozialist. Als Machtpolitiker erkannte er aber schnell, dass er seiner Revolution einen marxistisch-sozialistischen Anstrich geben musste, wenn er in der Konfrontation mit dem übermächtigen Amerika auf die Hilfe der Sowjetunion zählen wollte.
Che Guevara hingegen war ein marxistisch-utopistischer Überzeugungstäter. Dem bürokratisch verwalteten Sowjetregime brachte er allerdings wenig Sympathie entgegen. Sein Ziel war eine marxistisch-kommunitäre Gesellschaft, die von der Idee der Selbstverwaltung bestimmt war und den neuen Menschen auf Kuba hervorbringen sollte. Realpolitisch konnte sich Guevara jedoch kaum durchsetzen und so suchte er sein Glück im revolutionären Abenteuertum, das am Ende zu seinem gewaltsamen Tod in Bolivien führte. Als Identifikationsfigur bot sich Guevara in vielfacher Hinsicht an, erstens als Vertreter eines alternativen, bürokratiekritischen Sozialismus, zweitens als Mann der Praxis, der die Welt nicht nur neu interpretieren, sondern auch verändern wollte, drittens als Märtyrer der Revolution, der nicht nur für seine Überzeugungen gelebt hatte, sondern auch für sie gestorben war. Last but not least sah der revolutionäre Che auch noch blendend aus, so konnte man ihn auch aus rein ästhetischer Perspektive wunderbar als Aushängeschild der Revolution vermarkten, was sich bis heute nicht groß verändert hat. Allerdings wirbt der tote Che heute weniger für den Sozialismus als für als revolutionär angepriesene Produkte der Wintersport- oder Telekommunikationsbranche.
Selbst innerhalb der Linken hat Che heute nur noch ästhetische Bedeutung. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen (bei genauerer Betrachtung reichlich unausgegorenen) Konzepten findet im Gegensatz zu den 1960er und 1970er Jahren kaum noch statt.
Mehr oder weniger in Vergessenheit geraten ist auch ein Ereignis, das die europäische Linke in den siebziger Jahren in kollektive Erregung versetzte: Der Sturz und die Ermordung des demokratisch gewählten Marxisten Allende durch den von den USA gestützten General Pinochet. Dass die Vereinigten Staaten einem Diktator zur Macht verhalfen, um einen demokratischen Sozialismus zu vermeiden, festigte das durch die Kubablockade und den Vietnamkrieg bestens vorbereitete Bild Amerikas als imperialistisch agierenden Weltpolizisten. Als Jahre später die Regierung Reagan den sog. Contras in Nicaragua unter die Arme griff, um die in Managua herrschenden Sandinisten zu stürzen, führte dies hierzulande zu mitunter bizarr anmutenden Solidaritätsaktionen.
Die Abscheu vor Amerikas Politik war so groß, dass selbst eingefleischte Pazifisten Geld für die Aktion „Waffen für Nicaragua“ spendeten. Dass das Schicksal Nicaraguas in unseren Breitegraden eine so starke Resonanz fand, war nicht allein der Ablehnung gegenüber dem amerikanischen Imperialismus zu verdanken, sondern auch der Tatsache, dass sich in Nicaragua wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern zwei Bewegungen verbündeten, die von ihrer ideologischen Ausrichtung eigentlich grundverschieden waren, nämlich der atheistisch sich verstehende Marxismus mit einem sozial engagierten, meist katholisch geprägten Christentum. Auch wenn Papst Johannes Paul II. die Vertreter der marxistisch inspirierten Befreiungstheologie innerkirchlich bald schachmatt setzte, so zeigte die lateinamerikanische Synthese von Marxismus und Christentum auch in Westeuropa nachhaltige Wirkungen. Das Arbeitsbündnis von progressiven Christen und konfessionslosen Linken hat sich bis heute gehalten. Insofern kann man sagen, dass die heutigen Eine-Welt-Gruppen und Antiglobalisierungsinitiativen vom lateinamerikanischen Modell der Befreiungstheologie profitiert haben.
Bewertung: Mit dem kollektivistischen Marxismus des asiatischen Typus hätte Marx, der – wie insbesondere seine Entfremdungstheorie zeigt – von der Freiheit des Individuums aus dachte, sicherlich wenig anfangen können. Anders sieht es in Lateinamerika aus: Ein Marx an der Seite von Allende ist durchaus vorstellbar, inwieweit er auch an der Seite Castros und Che Guevaras gestanden hätte, ist schwerer einzuschätzen, da er die Machtübernahme der Guerilleros wahrscheinlich als einen blinden „anarchistisch-aktionistischen Akt“ interpretiert hätte.
Von großer Bedeutung für die politische Kultur der Linken in Deutschland war eine kleine Gruppe jüdischer Intellektueller, die in den 1920er Jahren begannen, die marxistische Theorie weiterzuentwickeln - bzw. (aus leninistischer Sicht) den Marxismus im kleinbürgerlichen Sinne zu entstellen. Max Horkheimer, der Leiter des damals frisch gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, versammelte um sich herum junge Gelehrte, die Jahrzehnte später zu den wichtigsten Theoretikern der Studentenbewegung werden sollten, darunter u.a. Herbert Marcuse, Erich Fromm und Theodor Adorno. Die Kernfragen, die die Frankfurter anfangs klären wollten, waren:
In ihren theoretischen Auseinandersetzungen, die gleichermaßen vom Marxismus wie von der Psychoanalyse Freuds geprägt waren, gewann ein Konzept von Anfang an höchste Bedeutung: das Konzept der Autorität. Solange autoritäre Charakterzüge die Gesellschaft dominierten, stellten die kritischen Theoretiker fest, standen die Chancen für eine freiheitliche, sozialistische Revolution denkbar schlecht. Das Proletariat, auf dem seit jeher die Hoffnungen der Sozialisten ruhten, taugte nicht als revolutionäres Subjekt, da die Proletarier selbst mehrheitlich eher autoritäre als antiautoritäre Charakterzüge aufwiesen.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten, die eine Emigration der Institutsmitglieder zur Folge hatte, schien diese Analyse nur zu bestätigen. Während Erich Fromm im amerikanischen Exil mit dem Bestseller „Die Furcht vor der Freiheit“ eine viel beachtete freudomarxistische Analyse des Nationalsozialismus vorlegte, arbeiteten Horkheimer und Adorno an ihrem berühmten Buch über die „Dialektik der Aufklärung“. Dort erklärten sie, warum sich die aufklärerische und damit auch die marxistische Fortschrittsverheißung in der Wirklichkeit nicht einlösen ließ. Die Weiterentwicklung der instrumentellen Intelligenz war eben nicht unmittelbar mit einer Weiterentwicklung der moralischen Intelligenz verbunden, die Vernunft entzauberte nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst, und deshalb führte die zivilisatorische Überwindung der Barbarei nicht – wie von Marx versprochen - zum erhofften Reich der Freiheit, sondern bloß zu einer neuen Barbarei auf technisch höherem Niveau.
Mit der „Dialektik der Aufklärung“ erschütterten Horkheimer und Adorno das marxistische Geschichtsmodell bis ins Mark. An die Stelle des revolutionären Fortschrittsoptimismus trat nun beißender Kulturpessimismus und wenn es eine praktische Konsequenz ihrer Analysen gab, so war es der Rückzug ins Reich der Theorie.
Damit wollten sich Fromm und Marcuse jedoch nicht zufrieden geben. Während Fromm sein Konzept des Radikalen Humanismus ausformulierte, die antiautoritäre Erziehung förderte und politische Reformvorschläge machte, die später Einzug ins Grundsatzprogramm der Grünen fanden, entpuppte sich Marcuse mehr und mehr als zentraler Stichwortgeber der militanten Linken. Auch wenn er es vielleicht nicht in dieser Form beabsichtigte, trugen seine Auslassungen über die sog. repressive Toleranz sowie seine Legitimation der revolutionären Gegengewalt dazu bei, dass ein Teil der Linken zum Schluss kam, auch in der BRD die Waffe der Kritik durch die Kritik der Waffen ergänzen zu müssen.
Bewertung: Vorausgesetzt Marx hätte die Zivilisationseinbrüche des Nationalsozialismus sowie des Sowjetkommunismus erlebt, wäre er ein Vertreter der Kritischen Theorie geworden? Mir scheint dieser spekulative Gedanke nicht abwegig zu sein, denn Fromms Analytische Sozialpsychologie oder auch Adornos Kritik der Kulturindustrie lassen sich auf hervorragende Weise in das Marxsche Denksystem einpassen. Schwer zu entscheiden ist die Frage, ob Marx eher dem pessimistischen (Horkheimer, Adorno) oder dem optimistischen Flügel (Fromm, Marcuse) angehört hätte: Für den Adornoschen Kulturpessimismus war er zu sehr auf eine Veränderung der Verhältnisse ausgerichtet, zur Frommschen „Revolution der Hoffnung“ fehlte ihm aber wohl die notwendige Dosis politischer Naivität.
Die Ursachen, die zur Entstehung der antiautoritären „Neuen Linken“ und der damit verbundenen Studentenbewegung führten, sind vielfältig und mittlerweile auch gut dokumentiert. Anzuführen sind in diesem Zusammenhang u.a.:
1. die unzureichende Verarbeitung des Nationalsozialismus verbunden mit der Erkenntnis, das ehemalige Nationalsozialisten im politischen und gesellschaftlichen Establishment der BRD Führungspositionen innehatten;
2. die Empörung über den Vietnamkrieg, der als Akt des Imperialismus gedeutet wurde;
3. die überenthusiastisch aufgenommenen Berichte über Befreiungskämpfe in Asien, Afrika und Lateinamerika;
4. die veränderte Bildungspolitik, die aus den Eliteuniversitäten Massenuniversitäten machten;
5. die sexuelle Revolution, die althergebrachte Beziehungsmodelle radikal in Frage stellte;
6. die Pop- und Rockmusik, die als Sprachrohr der rebellierenden Jugend in ihrem vorwärts treibenden Beat die allgemeine Aufbruchstimmung transportierte.
In dem aufgeladenen kulturellen Klima dieser Tage entfalteten die Schriften der zuvor nur wenigen Intellektuellen vorbehaltenen Schriften marxistischer Theoretiker eine zuvor kaum für möglich gehaltene Breitenwirkung. Längst verschollen geglaubte Bücher wurden neu aufgelegt und zu vieldiskutierten Bestsellern. Wer nur irgendwie mitreden wollte, musste Marx & Co. gelesen haben und einigermaßen marxistisch phraseologisieren können. So entstand eine seltsame Melange aus Offenheit und Experimentierfreudigkeit auf der einen Seite und naiv sozialistischem Dogmatismus auf der anderen.
Dass die Bewegung der „neuen Linken“, die die Gesellschaft zweifellos in vielerlei Hinsicht kulturell befruchtete, zunehmend entgleiste und dabei in Teilen auch ihren ursprünglich antiautoritären Charakter aufgab, ist nicht nur auf die schon mehrfach angedeutete innere Widersprüchlichkeit des Marxismus zurückzuführen. Von Bedeutung sind hier vor allem:
a) die Frustration, die mit der Enttäuschung der naiven Revolutionserwartung der Agitatoren einherging (im Unterschied zu Frankreich solidarisierten sich die deutschen Arbeiter nicht einmal kurzfristig mit den rebellierenden Studenten, deren merkwürdige Sprache sie nicht einmal verstanden),
b) die Fehlinterpretation der gesellschaftlichen Situation (die späteren Terroristen glaubten, mit ihren Aktionen den angeblich „faschistoiden Charakter des Systems“ entlarven und dadurch „die Massen“ mobilisieren zu können),
c) die unangemessen harten Reaktionen des Staates und der Medien auf die Provokationen der rebellierenden Studenten (Tod Benno Ohnesorgs, BILD-Hetze gegen Dutschke etc.). (Diese verheerende Eskalationsspirale lässt sich besonders gut demonstrieren am Beispiel der einstigen Journalistin und späteren Terroristin Ulrike Meinhof. Eine historische Parallele finden wir bei Karl Liebknecht, der sich unter dem Druck des Systems vom evolutionär denkenden Sozialdemokraten zum militanten Agitator wandelte.)
Fanden die erste Generation der RAF sowie die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ noch eine durchaus beachtliche Unterstützung vonseiten der Linken, konnten die Terroristen späterer Generationen kaum noch auf Solidarität innerhalb der Szene hoffen. Wenn es zu Solidaritätsbekundungen kam, so hauptsächlich aufgrund der dramatisch klingenden Berichte über die Haftbedingungen der Gefangenen, eine tiefer gehende politische Analyse war damit kaum noch verbunden. Das Unverständnis gegenüber den Aktionen, die der letzten Generation der RAF zugeschrieben wurden, ging so weit, dass nicht wenige Linke zur Überzeugung gelangten, dass die letzte Generation der RAF eine Erfindung staatlicher und wirtschaftlicher Kräfte sei, um die Aufrechterhaltung des politischen Repressionsapparates zu legitimieren bzw. unliebsame ökonomische Entwicklungen zu verhindern. In diesem Zusammenhang erlangte das im Knaur-Verlag erschienene Buch „Das RAF-Phantom“ Kultstatus innerhalb der linken Szene. Losgelöst von der Frage, ob und wenn ja: inwieweit die gewagte Theorie des RAF-Phantoms stimmig ist, die Tatsache, dass viele Linke im Rückblick die RAF als ein Herrschaftsinstrument konservativer Kräfte einschätzen, zeigt an, dass der von der RAF eingeschlagene Weg des militanten Widerstandes nur noch wenig Rückhalt in der Szene findet.
Bewertung: Kann man sich Marx als Mitglied oder Unterstützer der Rote Armee Fraktion vorstellen? Wohl kaum. Er hielt terroristische Aktionen in nicht revolutionären Situationen für blinden Aktionismus, den er scharf verurteilte (das ist der rationale Anteil der überzogenen Marxschen Bakunin-Kritik, der oftmals übersehen wird). Hätte Marx denn wenigstens Sympathien für die antiautoritäre Bewegung gehabt? Ich denke, diese Frage kann man (trotz des autoritären Habitus, mit dem Marx oftmals auftrat) mit „Ja“ beantworten. Schon 1842 wendete sich Marx gegen alle „Erziehungs- und Bevormundungstheorie“ und setzte dies allem Anschein auch in die Praxis um, wie die Journalistin Betty Lucas nach einem Londonbesuch bei der Familie Marx berichtete: „Marx’ Kinder sind in jeder Beziehung frei erzogen… Einige Äußerungen beleidigten mein christliches Herz.“
Es fällt relativ schwer, bedeutende Künstler des 20. Jahrhunderts zu benennen, die nicht vom Marxismus in irgendeiner Weise beeinflusst wurden. Das Spektrum der Künstler, die marxistische Gedankengänge verarbeitet haben, reicht von Pablo Picasso und Frida Kahlo über Bertolt Brecht und Thomas Mann bis hin zu Charlie Chaplin. In den Werken dieser Künstler wurde die Aufforderung, alle knechtenden Verhältnisse umzuwerfen, und die Utopie einer gerechten Weltordnung, in der jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann, in prägnante Formen gegossen. Diese Werke haben nicht nur den Zusammenbruch des real existiert habenden Sozialismus schadlos überstanden, sie werden auch noch in Zukunft das Denken und Empfinden von Menschen mitprägen – und damit zumindest den ethisch-politischen Impuls des Marxismus am Leben erhalten.
In diesem Zusammenhang darf auch der marxistische Einfluss auf die französische Philosophie, vor allem auf die Schriftstellerphilosophen Jean-Paul Sartre und Albert Camus, nicht vergessen werden. Beide verliehen dem Marxismus durch die Einbeziehung existentialistischer Positionen neue Schattierungen. Politisch gesehen war vor allem Camus’ heftig umstrittenes Werk „Der Mensch in der Revolte“ von großer Bedeutung. Camus kritisierte dort nicht nur den sowjetischen Totalitarismus in schärfster Form (was zum Bruch mit Sartre und seiner Verbannung aus orthodox sozialistischen Kreisen zur Folge hatte), er arbeitete auch zwei Punkte heraus, die für die spätere französische (poststrukturalistische und postmoderne) Philosophie zentral sind, nämlich
Auf diese Weise leitete Camus schon Anfang der 1950er Jahre die Postmodernisierung des Marxismus ein. Ein Projekt, das wenig später von Foucault, Derrida, Lyotard, Baudrillard u.a. weiter verfolgt wurde und das vor allem nach dem Zusammenbruch des real existiert habenden Sozialismus den linken Diskurs bis in die Gegenwart hinein entscheidend prägte.
Bewertung: Marx hätte sich über seinen Einfluss auf die Künste sicherlich gefreut. Er litt sehr darunter, dass er sich mit den Künsten nicht in der Weise beschäftigen konnte, wie er es gern getan hätte. Ob er sich für die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts stärker hätte begeistern können als für die Philosophie des 19. Jahrhunderts? Ich halte es zumindest nicht für ausgeschlossen, dass ein Marx des 20. Jahrhunderts Camus’ „Mensch in der Revolte“ positiv rezipiert hätte…
Seit Marx die Grundlagen seiner Philosophie formuliert hat, sind mehr als anderthalb Jahrhunderte vergangen. Seitdem sind unzählige Ansätze entwickelt worden, die sich in der einen oder anderen Weise auf Marx bezogen haben. Was davon hat noch Bestand und wird auch noch Zukunft Bestand haben?
Der real existiert habende Sozialismus, der ausgehend von Lenins Oktoberrevolution über die Diktatur Stalins hin zur Breschnew-Doktrin, die Weltpolitik maßgeblich mitbestimmte, trat Ende der 1980er Jahre unbeklatscht von der Bühne der Weltgeschichte. Soweit ich dies einschätzen kann, ist kaum ein westlicher Linker an der Wiederaufnahme dieses staatsbürokratischen Trauerspiels interessiert.
Die wenigen, noch existierenden Länder, die am Projekt einer staatlich sanktionierten Diktatur des Proletariats festhalten, genießen wenig Sympathie. Was China betrifft, so sehen und sahen sich die Linken hierzulande weit mehr auf der Seite der protestierenden Studenten, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens von Panzern überrollt wurden, als auf der Seite der chinesischen KP. Nordkoreas Regime brauchte innerhalb der Linken kein Ansehen verlieren, da es dieses ohnehin nicht genoss. Fidel Castros Kuba profitierte zwar eine Zeitlang von einem gewissen Sympathie-Bonus (hervorgerufen durch eine geschickt vermarktete Che Guevara-Romantik sowie einiger Fortschritte im sozialen Bereich), die rücksichtslose Verfolgung von Kritikern sorgte aber dafür, dass sich in jüngster Zeit selbst hartnäckige Sympathisanten von Castro distanzierten.
Insofern besitzen heutige Marxisten - jenseits der Sozialdemokratie - wenige realpolitische Vorbilder, auf die sich positiv beziehen können. (Eine löbliche Ausnahme bildet hier vielleicht die kommunistische Partei Keralas. Kerala, ein bevölkerungsreicher Bundesstaat im Süden Indiens, war der erste Ort, an dem auf demokratischem Weg eine kommunistische Regierung gewählt, ihres Amtes enthoben und wieder gewählt wurde. Die Erfolge der indischen Marxisten, die auf Demokratisierung, Dezentralisierung und Landreform setzten, waren und sind beachtlich: Der Alphabetisierungsgrad im armen Kerala entspricht in etwa dem der reichen USA, das gleiche gilt für die durchschnittliche Lebenserwartung. Die Vermögensunterscheide in Kerala sind minimal, 90 Prozent der Bauern Grundbesitzer, Männer und Frauen gleichberechtigt. Religiöse Konflikte spielen kaum eine Rolle und die Bevölkerungsentwicklung ist stabil – eine ungewöhnliche, ja man muss sagen: vorbildliche Bilanz für ein Entwicklungsland im Allgemeinen und Indien im Speziellen. Allerdings: Auch wenn man aus der klugen Politik Keralas viel über nachhaltige Politik in Entwicklungsländern lernen kann, als Vorbild für eine linke Realpolitik im Westen taugt der indische Bundesstaat kaum. Die sozioökonomischen und ökologischen Voraussetzungen sind schlicht und ergreifend zu unterschiedlich.)
Was also bleibt vom Marxismus – außer einigen großen Kunstwerken und der Erinnerung an die Verbrechen, die im Namen des Marxismus begangen wurden?
Ich bin überzeugt, dass gewisse Elemente der marxistischen Theorie auch in Zukunft noch Bestand haben werden. Bleiben wird beispielsweise der für Humanisten unaufkündbare Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…“. Bleiben wird auch die Marxsche Entfremdungstheorie und die dahinter stehende Vorstellung, dass der Mensch sich in seinem Leben als Produzent, Konsument, als Mensch unter Menschen verwirklichen können sollte. Bleiben wird ebenfalls die Einsicht, wie stark unser individuelles wie gesellschaftliches Bewusstsein von historisch gewachsenen und ökonomisch bestimmten Kräften geprägt wird.
Auch Teile der marxistischen Religions-, Ideologie- und Kapitalismuskritik
dürften nachhaltige Wirkungen zeigen. Beispielsweise die Warnung vor den
Folgen, die mit einer ungebremsten Akkumulation des Kapitals verbunden sein
können, denn in der Tat darf man neben den Erfolgen der kapitalistischen
Marktwirtschaft ihre soziale, kulturelle wie ökologische Zerstörungskraft nicht
übersehen. Angesichts des sowohl im globalen wie im nationalen Maßstab
voranschreitenden Prozesses des Auseinanderklaffens von arm und reich, der
verheerenden Umweltschäden und knapper werdender Energieressourcen sind
durchaus Zweifel daran angebracht, ob die viel gepriesene „unsichtbare Hand des
Marktes“ die Verhältnisse tatsächlich zum Besseren wird ordnen können. Viel
eher scheint sie zum Instrument eines „perfekten Verbrechens“ zu werden - mit Millionen von Opfern, erdrosselt von der
unsichtbaren Hand des Marktes.
Insofern ist es durchaus verständlich, dass in den Reihen der Globalisierungskritiker Versatzstücke der Marxistischen Theorie reißenden Absatz finden. Insgesamt stellen diese Gruppen – wie ich meine – weit eher eine Hoffnung als eine Bedrohung für die auch in Deutschland nur in Ansätzen verwirklichte Vision einer offenen Gesellschaft dar. Man müsste schon einigermaßen blind sein, würde man übersehen, dass die Freiheit des Individuums zur Zeit weniger von rechten und linken Extremisten bedroht wird als von „Wirtschaftsfundamentalisten“ der sog. „Mitte“. So absonderlich manchem diese Einschätzung auch erscheinen mag: Das Recht auf freie Meinungsäußerung und -bildung wird zur Zeit weit stärker von Murdoch und Berlusconi bedroht als beispielsweise durch die Kommunistische Plattform – und gegen diese sehr reale Bedrohung wird selbst der beste Verfassungsschutz der Welt nichts ausrichten können.
Fazit: Als das Ostblocksystem zugrunde ging, stimmten einige, die sich als Sieger im Wettstreit der Systeme empfanden, triumphal das Totenlied auf den Marxismus an. Doch dieser Abgesang war verfrüht. Der Marxismus wird, so meine Einschätzung, solange virulent bleiben, solange es dem kapitalistischem System nicht gelingt, seine internen Widersprüche aufzuheben. Dies aber wird kaum möglich sein – aus Gründen, die wohl niemand besser formuliert hat als Karl Marx. Richten Sie sich also darauf ein, dass Sie das Ende des Marxismus nicht erleben werden!
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich persönlich würde mich keineswegs als Marxisten bezeichnen. Ich halte es für hochgradig unsinnig und gefährlich, sich derart in seinem Denken und Handeln auf eine Person zu konzentrieren, dass man ihre Lehre zum „Ismus“ erheben kann. Es ist allerdings ebenso unsinnig und gefährlich, sich vor Erkenntnissen nur deshalb zu verschließen, weil sie in irgendeinem „Ismus“ begründet sind. Wir müssen endlich begreifen, dass eine Wahrheit nicht dadurch zur Lüge wird, dass Lügner sie gebrauchen.
Was wir heute nicht entbehren können, ist eine vorurteilsfreie Herangehensweise an das Werk von Karl Marx. Denn in diesem Werk steckt vieles, was auch gegenwärtig noch von Belang ist. Ignorieren wir diese Erkenntnisse, so erhöhen wir das Risiko, dass die totalitären Varianten des Marxismus (aber auch des Nationalismus und religiösen Fundamentalismus) wieder attraktiv werden. (Und wenn die Schere zwischen arm und reich noch weiter aufgeht, wird das viel früher geschehen, als wir uns das heute vorstellen können!)
Werden aber die Erkenntnisse von Marx, sowie die Erkenntnisse derer, die den marxistischen Ansatz weiterentwickelt haben (in jüngster Zeit beispielsweise Robert Kurz) politisch ernst genommen, so könnten wir mit ihrer Hilfe durchaus in der Lage sein, größere Spielräume für das Projekt der offenen Gesellschaft zu schaffen, das heute selbstverständlich nicht mehr in nationalen Kategorien gedacht werden kann
Als Leitmaxime mag dabei ein Satz gelten, den Marx mehr als 100 Jahre vor dem Erdgipfel in Rio schrieb und mit dem er das heute so gerne zitierte „Prinzip der nachhaltigen Entwicklung“ vorwegnahm:
„Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!