GENERATION GEDÄCHTNIS
die Regeneration der Nation und die Degeneration meiner Generation

Fred Manela gewidmet

Dieser Text ist Fred Manela gewidmet, einem gebürtigen jüdischen Deutschen, den ich in den USA kennengelernt habe. Bis zu seiner Flucht aus Nazideutschland war er Teil einer jüdischen Untergrundorganisation. Er warnte jüdische Menschen in Berlin  vor den Pogromen am 9. November 1938. Nach dieser Nacht flüchtete er ins Ausland,  nach dem Krieg  emigrierte er in die USA. Fred erzählte mir gleich bei unserer ersten Begegnung sehr viel: er liebte es, sich auf Deutsch zu unterhalten. Er stellte sich mir als „letzten jüdischen Goten“ vor: seine Familiengeschichte reichte jahrhundertelang in die deutsche Geschichte zurück, worauf er stolz war und worüber er auch gerne Spaß machte. Er  begann, immer stärker berlinerisch zu sprechen und bei der Kellnerin auf deutsch zu bestellen. Schon  bei unserem ersten Treffen kamen wir ins Gespräch über seine persönliche Überlebensgeschichte. Einige Zeit später hatte ich die Chance, ihn in Berlin zu interviewen. Er fuhr jedes Jahr in seine deutsche Heimat zurück. Jedes Mal, wenn er wieder in Berlin sein konnte, blühte er auf. Jeden Morgen stand er in aller Frühe auf- als „alter Preuße“- , und machte sich für Gesprächsrunden mit deutschen Schülern bereit. Trotz gesundheitlicher Probleme ist er Jahr für Jahr auf eigene Kosten nach Deutschland gekommen, um  jungen Deutschen seine Erlebnisse in der Nazi-Zeit zu erzählen. Er wollte ihnen vermitteln, welches Unheil Rassismus und Antisemitisms über die Menschen bringen. Aber vor allem wollte er ihnen die Schuldgefühle nehmen, die sie in seinen Augen nicht zu haben brauchten. Bei seinem letzten Deutschlandbesuch wurde er am Bahnhofzoo von deutschen Neonazis angepöbelt und die Treppe hinabgestoßen. Trotz dieses Zwischenfalls wollte er wiederkommen, doch das Schicksal hat es nicht mehr zugelassen. Er ist Ende letzten Jahres gestorben. Fred Manela war einer der engagiertesten Zeitzeugen, die ich kennengelernt habe. Viele seiner Verwandten und Bekannten konnten nicht verstehen, was ihn immer wieder ins Land der Täter und der Mörder zurückzog. Ich denke, der Grund, warum er Jahr für Jahr in seine alte Heimat zurückkam waren wir: die junge Generation. Er hat sich von den jungen Deutschen sehr viel erhofft. Weil wir die Chance haben, uns unbefangener der Geschichte zu stellen und so verantwortlicher umgehen können  mit der nicht vergehenden Vergangenheit der Vernichtung. Weil wir zuhören, weil wir wissen wollen, was geschehen ist und weil wir -nach Adornos Diktum [1] - alles dafür tun würden zu verhindern, daß sich die Verbrechen der Vergangenheit wiederholen. Doch seit der Walser-Bubis-Debatte Ende letzten Jahres, die Politikwissenschaftler Funke und Rensmann sprechen von ihr als vom "ersten 'Antisemitismusstreit' der Berliner Republik" [2] , sind viele Diskussionen geführt und Spekulationen darüber angestellt worden, ob die junge Generation ihre Verantwortung noch wahrnehmen will.

1. Generationskunde I:

Geschichte als Geschichte der Generationen und ihres Verhältnisses zur Vergangenheit

Die erste Generation:

Die erste Nachkriegsgeneration stand, als sie so alt waren wie wir heute, unter dem Schock, daß ihre eigenen Eltern damals mitgemacht oder zumindestens weggeschaut haben: als jüdische Bürger entrechtet wurden, den „Judenstern“ tragen mußten, als sie immer offener schikaniert und verfolgt wurden, jüdische Geschäfte boykottiert und geplündert wurden, bis am 9. November 1938 die Synagogen brannten, jüdische Menschen ermordet und die ersten Zehntausende in KZ’s verschleppt wurden. Nachdem der deutsche Angriffskrieg begonnen hatte, verschwanden die jüdischen Nachbarn, ihr Besitz wurde vom NS-Staat billig verschleudert. Man wußte, daß die Deportierten nicht wiederkommen würden. Man ahnte, daß die verschleppten Menschen vernichtet werden sollten.

Mein Vater hat früh angefangen, mir davon zu berichten. Da er jung verstorben ist, konnte er mir vieles nicht mehr erzählen, aber er hat mir eines eingeschärft: „Wenn Dir die alten Leute erzählen wollen, sie hätten damals nichts gewußt, dann glaub ihnen nicht.“ Sie haben es alle gewußt. Mein Vater wuchs im damaligen Oberschlesien auf. Das Vernichtungslager Auschwitz war nicht weit. Er erzählte mir, daß wenn der Wind aus dieser Richtung kam, der Lehrer im Klassenzimmer stand und mit hämischer Freude die Klasse fragte: „Riecht ihr’s? Die brennen wieder die Juden.“ Und die meisten haben gelacht. So macht man aus Kindern Komplizen des Massenmords. Doch außer den großen Mordzentren im Osten gab es im gesamten „Reichsgebiet“ tausende von Lagern, allein in der Umgebung von Frankfurt über 200. Die ganze Stadt glich damals einem Arbeitslager, die ausgemergelten Gestalten der NS-Sklavenarbeiter in den KZ-Kluften wurden auf offener Straße geschunden und erschossen. (im Falle des Frankfurter KZ Adlerwerke kommt hinzu, daß die Zivilbevölkerung die uniformierten Peiniger noch bei der Menschenjagd geholfen hat, als ein Sklavenarbeiter versucht hat zu fliehen.)  Gegen Kriegsende wurde die Gefangenen der Lager auf Todesmärschen durch ganz Deutschland getrieben, wer sich nicht weiterschleppen konnten wurde auf der Stelle erschossen. Erst die totale Niederlage der NS-Wehrmacht und die Befreiung durch die Alliierten setzten dem Massenmorden ein Ende. Den Befreiern der Lager bot sich ein Bild des Schreckens. Kurz nach der Befreiung wurden die ersten Deutschen durch die Lager geführt, damit sie es mit eigenen Augen sehen konnten. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurden die Eliten des NS-Regimes vor Gericht gestellt und mit ihnen die Spitzen der deutschen Industrie, der Banken und Konzerne, die sowohl den Krieg als auch die Ausplünderung und Ermordung von Millionen Menschen in den Lagern mitgeplant und mitfinanziert hatten. Doch die Phase der gründlichen Aufarbeitung währte nur sehr kurz. Mit Beginn des Kalten Krieges wurde die Frage nach der Schuld an dem Menschheitsverbrechen zweitrangig. Die Anti-Hitler-Koalition zerbrach, neue Fronten entstanden und neue Koalitionen. Von diesem Zeitpunkt an begann das Verschweigen, das Verleugnen und Verdrängen der deutschen Verbrechen.

 

Die zweite Generation:

Das Schweigen währte gut zwanzig Jahre. Der Kalte Krieg, ein neu-altes Feindbild und neue Allianzen, sowie der „Wiederaufbau“ waren effektive Verdrängungsopiate für die Kriegsgeneration. Der Massenmord blieb  Geheimnis der Erwachsenenwelt. Mit den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt und dem Eichmann-Prozeß in Jerusalem kehrten die verdrängten Verbrechen zurück und die Schuldfrage, die nun auch von den Kindern der Täter gestellt wurde. Die Antworten waren immer dieselben: „Wir haben alle nichts gewußt.“ Weitere Nachfragen der Nachgeborenen wurden abgeblockt: „Nachdem, was wir an Opfern gebracht haben, wie könnt ihr es wagen...“ Und: „Wir haben doch alles nur für Euch getan.“ Das verstockte Verschweigen und die beharrliche Weigerung der Kriegsgeneration, irgendeine Schuld zuzugeben führte bei vielen Nachkriegsdeutschen dazu, daß sie sich wesentlich schuldiger fühlten als die wahren Schuldigen. Sex, Drugs & Rock’N’Roll sowie APO, RAF und Ökopax waren die Verdrängungsdrogen der Kinder des „Wiederaufbaus“, wie selbstkritische Köpfe der „68er“-Generation wie Klaus Theweleit und Reimut Reiche geschrieben haben: „Die Verurteilung der eigenen an der Vernichtung der Juden beteiligten oder sie duldender Eltern sei, bei den meisten von uns, nur vordergründig gewesen. In Wahrheit hätten wir es psychisch nicht über uns gebracht, den notwendigen „Elternmord“ zu vollziehen. Dieser wäre aber die nötige Voraussetzung einer wirklichen Auseinandersetzung mit den Eltern und die Voraussetzung einer wirklichen Trauer über das geschehene Morden gewesen“ [3] (Die „Unfähigkeit zu trauen“ der Tätersöhne und -töchter...)

Die Bearbeitung der NS-Geschichte kann nicht im Setting eines Familien- oder Generationenkonflikts geschehen, als ödipaler Konflikt von aufbegehrenden Jugendlichen gegen starrsinnige Ewiggestrige. Zu groß ist die Gefahr, daß ein solcher Konflikt der üblichen bürgerlichen Dramaturgie folgt: auf jugendlich-ungestüme Vorwürfe folgt die reumütige Heimkehr der verlorenen Söhne und Töcher, heim nach Haus. Um des lieben Familienfriedens willen wird das „leidige Thema“ begraben. Die Väter und Mütter verzeihen den Söhnen und Töchter ihre Ausbrüche und Ausschweifungen, die Kinder verzeihen den Eltern. Jetzt, da die Nachkriegsgeneration auch politisch an die Macht gekommen ist und die Repräsentation der Republik übernommen hat zeigt sich, daß die Einschätzung von Theweleit und Reiche richtig war. „Deutschland ist erwachsen geworden,“ heißt es überall in den Medien. Fünfzigjährige werden endlich richtig erwachsen und die Nation total normal. Als twentysomething kann man da nur den Kopf schütteln, wenn man sieht, mit was für einer kindischen Freude die „Generation 68“ die Macht antritt, während sie gleichzeitig Erwachsenenernst spielen und Verantwortungsdarsteller. Es sei ihnen gegönnt, es war ein langer Marsch aus der Außerparlamentarischen Opposition in die Regierungsverantwortung und so mancher von uns hat sie auch gewählt. Doch nun zeigt sich: Kohl hat die „Gnade der späten Geburt“ proklamiert, von Schröder wird sie praktiziert. Ob „geistig-moralische Wende“ Anfang der Achtziger oder „der Wechsel“ Ende der Neunziger: ein Wandel hat sich mittlerweilen in der deutschen Gesellschaft vollzogen. Auf seiten der politischen und kulturellen Eliten dieses Landes ebenso wie in der breiten Bevölkerung und auch bei Jüngeren. Walser hat mit seiner Rede diesem Wandel lediglich Ausdruck verliehen. Wenn der deutsche Familienfrieden aber zum Verschweigen und Verharmlosen der Verbrechen führt und in den „Großen Frieden mit den Tätern“ mündet, wie Ralph Giordano das genannt hat [4] , dürfen wir das nicht zulassen, denn dann wird es gefährlich. Das kann man an den Reaktionen auf die dokumentarische Ausstellung „Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht“ beobachten. Unter der Losung „Unsere Großväter waren keine Mörder!“ kam es zu dem größten Neonazi-Aufmarsch in der Nachkriegsgeschichte, als die Ausstellung in München gezeigt wurde. Und unter derselben Losung haben Ende 1998 CDU Stadträte in Saarbrücken Unterschriften für eine Zeitungsanzeige gesammelt. Kurze Zeit später wurde ein Bombenanschlag auf die Ausstellung verübt. Alle, die die deutschen Verbrechen nicht Verbrechen nennen, sind Brandstifter!

Die Dritte Generation

Kaum hatten Martin Walser und Ignatz Bubis in den Räumen der FAZ miteinander gesprochen wurde die Debatte, die ihr Streit entfacht hatte, zu einem Diskurs der Generationen. Kurz nachdem das Streitgespräch von Walser und Bubis im Fernsehen ausgestrahlt worden war, lud das ZDF Bubis auch zu einem Gespräch mit  v. Dohnanyi in einer größeren Runde ein und holte neben einigen Prominenten auch Mareike Ilsemann hinzu. Die dreiundzwanzigjährige Studentin hatte sich in einem Artikel, der in der ZEIT abgedruckt wurde, als erste junge Person zu Wort gemeldet. Dabei „scheute sich nicht zu sagen“, daß ihr Martin Walser „aus der Seele gesprochen habe“ [5] . Wie auch -so vermutet sie jedenfalls- vielen anderen jungen Deutschen, die durch die „Überkonfrontation“ mit dem Holocaust überfordert seien. Ich kann nur, ebenfalls wie sie, für die deutschen Nicht-Juden sprechen, aber ich würde ihr widersprechen. Oft ist das Gegenteil der Fall: gerade die Enkel der Tätergeneration haben ein starkes Bedürfnis an der Thematisierung der NS-Vergangenheit. Sie wollen nicht „wegschauen und wegdenken“, sondern zuhören. Sie haben sehr viele Fragen, denn sie wollen verstehen, was damals passiert ist. Ich weiß das aus eigener Erfahrung aus meiner Tätigkeit für die „Survivors Of The Shoah  Visual History Foundation“: Ich habe im Frankfurter Büro der Foundation alle Briefe gelesen, die Ostern ’97 nach der Fernseh-Ausstrahlung von „Schindler’s Liste“ eingegangen sind. Vor allem sehr junge Menschen haben an die Foundation geschrieben. Ihr Interesse war enorm und die Briefe voll rührendem und glühendem Willen zum Engagement. Sie suchten den Kontakt zu den Überlebenden, die Zeugnis ablegen über das, was ihnen in der Shoah geschah: „Damit zukünftige Generationen niemals vergessen, was so wenige überlebten, um es uns zu erzählen“ (Steven Spielberg). Sie wären sicherlich alle sehr gute Interviewer geworden. Die meisten von ihnen werden keine Überlebenden mehr kennenlernen. Wenn man als Schüler nicht das Glück hat, daß ein engagierter Überlebender den Unterricht besucht, hat man später selten die Chance.

Ich finde das bedauerlich und tragisch, da ich weiß, daß es viele Überlebende gibt, die sich Kontakt zu jungen Deutschen wünschen und daß aus diesen Bekanntschaften auch Freundschaften entstehen können.

Die befangeneren Älteren und die Staatsoberen haben uns dabei kaum geholfen. Letztes Jahr lud der Bundestag am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, zum ersten Mal Jugendliche und Überlebende gemeinsam nach Bonn ein. 53 Jahre nach Kriegsende zwar spät, allerdings war es auch erst das dritte Mal, daß dieser Gedenktag vom Bundestag begangen wurde: 1996 wurde der 27. Januar, der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslager Auschwitz, von Bundespräsident Roman Herzog zum neuen nationalen Gedenktag erklärt. Umso verwunderlich war, daß er am 9. November 1998 davon sprach, daß wir über die richtige „Dosierung“ des Gedenkens noch reden müßten [6] . Mir geht es vor allem um die versäumten Möglichkeiten, junge Menschen mit Shoah-Überlebenden in Kontakt zu bringen. Begegnungen zwischen ihnen und der dritten Generation sind viel zu selten. Und dabei besteht die Besonderheit unserer Generation doch gerade darin, daß wir die Letzen sind, die Überlebensgeschichten der ehemals Verfolgten des Nazi-Regimes noch hören können. Sie sind die Letzten, die wir noch fragen können. Wie werden wir ohne sie gedenken? Imre Kertész, selbst Überlebender der Shoah, sagte: „Die Überlebenden müssen sich damit abfinden; Auschwitz entgleitet ihren mit dem Alter immer schwächer werdenden Händen.“

Sie könnten ruhiger sterben, wenn sie wüßten, daß wir die Erinnerung bewahren, sie könnten leichter vergessen, wenn sie wüßten, daß wir nicht vergessen werden: damit die Ermordeten nicht noch „um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis“ [7] . Als Erben der Erinnerung tragen wir dafür die Verantwortung. Unsere Art des Gedenkens wird prägend sein für die kommenden Generationen. Denn wir leben in einer Schwellenzeit: die Zukunft der Vergangenheit entscheidet sich in unserer Gegenwart.

2. Kollektivgedächtnis I:

Gedenken und das Prinzip Gerechtigkeit

„Das Große Schweigen und die Zweite Schuld“

In biblischen Berichten spielt der Zeitraum von 40 Jahren eine herausragende Rolle. Es ist die Zeit, in der die Generationen alt werden. Ihren absehbaren Tod vor Augen beginnen sie, Zeugnis abzulegen. Ihre persönlichen Erinnerungen gehen ein in das kollektive kulturelle Gedächtnis. Für das lebendige Gedächtnis ist der Spanne von 80 - 100 Jahren von entscheidender Bedeutung, ein Zeitraum, der gemeinsam „bewohnt“ wird von 2-3 Generationen, die auch biblisch für eine Schuld einzustehen haben. 

Viele Überlebende der Shoah haben ihr Leben lang geschwiegen. Bis vor ein paar Jahren. Seitdem gibt es überall auf der Welt, wo Überlebende leben, eine wahre Erinnerungsflut. Nun treten die Erinnerungen, die jahrzehntelang einem gelähmten und lähmenden Schweigen unterworfen waren, wieder ans Licht. In Deutschland am wenigsten, wie ich durch meine Arbeit selbst erfahren mußte. Im Land der Täter und Mörder ist die Erinnerung für die Opfergeneration schwieriger und schmerzvoller und lange Zeit wollte die deutsche Gesellschaft ihre Geschichten nicht hören. Naomi Bubis und ihre Freundin Sharon Mehler haben das Schweigen über die Shoah in ihrem Buch „Shtika“ beschrieben [8] . In diesem Buch wird auch deutlich, wie stark die Kinder der Überlebenden, die Zweite Generation, unter den Auswirkungen der Shoah mitleiden müssen. Ihre Eltern haben geschwiegen, um sie nicht zu belasten, damit sie nicht mit Haß aufwachsen. Aber auch unter dem Schweigen leiden ihre Kinder. Weil sie ihr Leid für sich behalten, spüren sie den Schmerz und fragen sich, was ihren Eltern alles angetan wurde. Ganz anders motiviert ist das Schweigen der anderen Seite. Das Schweigen der Eltern ist den Täterkindern unheimlich, sie fragen sich, was ihre Eltern wohl damals getan haben. Das diffuse Gefühl der Schuld, das viele Täternachfahren mit sich herumtragen, ist durch dieses Verschweigen der Verbrechen in der deutschen Gesellschaft verursacht worden. Dieses „Großes Schweigen“ in Deutschland hat Ralph Giordano als „Zweite Schuld“ bezeichnet. Diese Schuld ist bald auch nicht wiedergutzumachen, denn „wer sich der Opfer nicht erinnern will, der tötet sie noch einmal“ (Gedenkrede von Ignatz Bubis am 9. November 1998) [9] .

Insofern ist der kommemorative Imperativ der jüdischen Religion „Zachor!“ (Gedenke und bewahre! [10] ) für uns als Nachfahren der Täter ein kategorischer Imperativ. Das Gebot zu gedenken gilt für alle Nachgeborenen und wird auch für unsere Nachfahren weiterbestehen. Unsere angeborene „Unschuld“ als Nachgeborene endet dort, wo wir uns dieser Verantwortung verweigern und „wegschauen und wegdenken“ à la Walser.

Kollektives Gedächtnis

Die Zeitzeugengeneration stirbt uns weg, es bleibt nur noch wenig Zeit. Wir müssen das Schweigen brechen. Wir müssen die schmerzhaften Fragen aufwerfen, die unsere Eltern ihren Eltern nicht mehr stellen wollen.

„Und so lösen sich die Rätsel auf, wer denn die „Meinungssoldaten“ seien, von denen sich Martin Walser belästigt fühlt; wer ihn denn zwinge, immer wieder hinzuschauen“ schrieb Claudius Seidl in der Süddeutschen Zeitung, „das ist weder das Weltjudentum noch eine Medienmafia. Es sind die eigenen Kinder und Enkelkinder.“ [11] Die angeblichen „Abstumpfungseffekte“, die Lehrer bei jüngeren Schülern befürchten, entpuppen sich oft als Projektion des Widerwillens jener Lehrer, sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Doch sollten die jüngeren Deutschen nicht in die Kontinuität der Verleugnung gezwungen werden. „Wer jungen Leuten die Stunde Null verordnet, weil er es nicht erträgt,“ so Mischu Friedmann, „der nimmt ihnen ihr Gesicht - Geschichtslosigkeit ist Gesichtslosigkeit.“ [12]

Wir müssen die Kommunikation führen, untereinander und im Kontakt mit den Kindern und Enkelkindern der Überlebenden, denn Gedächtnis ist ein kollektiver und kommunikativer Prozeß: „Das individuelle Gedächtnis baut sich in einer bestimmten Person kraft ihrer Teilnahme an kommunikativen Prozessen auf“ [13] Daher ist Walsers Rede von der Shoah als „Schande“ ein untauglicher Begriff, wie der Kulturforscher Jan Assmann im taz-interview sagte: „Schande ist etwas, das in der Sprachlosigkeit mündet. Schande kann man nicht bearbeiten. Man muß über Auschwitz reden können, ohne als Meinungssoldat denunziert zu werden.“ [14]

Das gesellschaftliche Gespräch über die NS-Vergangenheit ist konstitutiv für das kollektive Gedächtnis. Als Erben der Erinnerung entwickeln wir Nachgeborenen ein gemeinsames Gedächtnis. Vielleicht ist das der Grund, warum Walser den gesamten Prozeß und seine Protagonisten diffamiert: er möchte seine individuelle Biographie vom kollektiven Gedächtnis abkoppeln, um seine Vergangenheit zu retten: die „Verteidigung der Kinderheit“, wie schon sein erster Roman nach der „Wende“ hieß. Das ist nicht untypisch für die „Generation HJ“ (Maxim Biller [15] ), denn es war ihre Jugend, die schönste Zeit in ihrem Leben. Im Gespräch mit Hajo Steinert stellte er die Frage, „ob es eine gemeinsame Vergangenheit gibt, oder ob es deine Vergangenheit, meine Vergangenheit und seine Vergangenheit und ihre Vergangenheit geben darf ... Es gibt so viele Vergangenheiten wie es Menschen gibt. Natürlich wäre es schön, wenn man sich über Vergangenheit einigen könnte, aber es ist sehr schwer.“ [16]

Er wird seine Erinnerungen mit ins Grab nehmen, aber die Menschheit wird die Shoah als größtes Verbrechen der Geschichte erinnern. Mit seinem Gewissen, da mag er recht haben, ist jeder allein, aber mit seinem Gedächtnis ist jeder Teil eines größeren Zusammenhangs. Nicht das individuelle Gewissen, sondern das kollektive Gedächtnis ist der Ort der Erinnerung. Mag sein, daß für Walser und seine Altersgenossen die Frage nach den Verbrechen der NS-Vergangenheit eine „Gewissensfrage“ ist, für die Jüngeren stellt sich die Frage als Gedächtnisfrage: Wie werden wir das kollektive Gedächtnis gestalten? Wie bilden wir eine solidarische und empathische Gedächtnisgemeinschaft? Darin besteht unsere Verantwortung als „dritte Generation“, als letzte Zeugen der Zeitzeugen des Menschheitsverbrechens. Denn „nicht nur das Erinnern, sondern auch das Vergessen sind soziale Phänomene“ [17] . Mit anderen Worten: ein Schlußstrich wäre möglich. Gesellschaften können sich kollektiv dazu entscheiden zu vergessen. Dann würde Walser recht behalten, der schon vor 25 Jahren in seinem Aufsatz „Unser Auschwitz“ zu dem Schluß kam: „Nur die Opfer, soweit sie noch das bloße Leben haben, und die, die auf der Seite der Opfer sind, die können weder Auschwitz vergessen, noch so weiterleben, als hätte Auschwitz nie stattgefunden. Für uns aber wird Auschwitz keine Folgen haben.“ [18]

Gedenken und Gedächtnis

Mit seiner Rede vom „grausamen Erinnerungsdienst“ hat Martin Walser „unter Berufung auf sein eitles Gewissen unter dem stehenden Beifall der versammelten sogenannten Eliten dieses Landes gewagt, die mühsame, unter Schwierigkeiten und Widersprüchen, unter Schmerzen entstandene Kultur der Erinnerung dieses Landes zu schmähen und zu beschädigen“ (Micha Brumliks Rede auf der Demonstration am 27. Januar 1999 am Mahnmal an der Paulskirche). Im FAZ-Gespräch hat Bubis vergeblich auf einen versöhnlichen Satz gedrängt: „Wir müssen einen Weg finden, für ein gemeinsames Erinnern.“ In der FAZ hat Ulrich Raulff am Tag nach Bubis Gedenkrede -und nicht etwa nach der Walserrede!- verkündet: „der Schleier ist zerissen!“ Der Schleier, „den eine trügerische Vorstellung von „Gedächtniskultur“ vor der Tatsache aufgespannt hatte, daß das Gedächtnis alles andere als einheitlich ist.“ [19] Von den Jüngeren, die mit der Tätergeneration weniger eng verbunden ist, muß hier Widerspruch kommen: Es darf kein getrenntes Gedenken geben! Daß wir Nachgeborenen gemeinschaftlich gedenken, Nachfahren der Opfer und Nachfahren der Täter, ist  außergewöhnlich, aber Normalität im „Land der Täter“. Eine Normalität, die schier unvorstellbar schien direkt nach dem Krieg. Diese gemeinsame Gedächtniskultur lassen wir uns von niemandem zerstören, schon gar nicht von einem der, wie er selbst das nennt, „in den Dreck hineinverwirkt“ war (Walser zu Augstein). Wir als „dritte Generation“ müssen gemeinsam versuchen, unsere Verantwortung in dieser Schwellenzeit gerecht werden und die Erinnerung in eine Form gießen, die auch an zukünftige Generationen weitergegeben werden kann. Ohne Rituale wird das nicht gelingen. Kollektives Gedächtnis funktioniert über Kommunikation und Ritual. Wir haben zwar Gedenktage, aber noch keine richtigen Rituale. Wir werden zivilreligiöse Rituale des Gedenkens erst noch finden müssen. Die christlichen Kirchen haben uns, trotz ihres reichen Fundus an Riten und Ritualen, keine bereitgestellt. Wir können dankbar sein, daß die jüdische Tradition dazu ein paar Ansätze bietet, die auch wir Nichtjuden annehmen können. So endete z. B. die Frankfurter Demonstration am 27. Januar 1999 an der Gedenkstätte Börneplatz, alle Teilnehmer konnten dort noch verweilen und einen Stein auf eines der Namensschilder der deportierten und ermordeten Frankfurter Jüdinnen und Juden legen. Dies ist ein Ritus aus der jüdischen Religion, um die Toten zu ehren und ein Zeichen zu setzen, daß man an ihrem Grab gewesen war und ihrer gedacht hat. Schließlich sind Gedenkstätten Ersatz für den Friedhof für die in der Shoah Ermordeten, den es nicht gibt. Die in der Shoah Ermordeten haben kein Grab und oft gibt es auch keine Hinterbliebenen mehr. Indem wir einen Stein hinterlegen, zollen wir den Toten Respekt und zeigen, daß wir dort gewesen sind. Es geht um nichts anderes, als die „Fähigkeit zu trauern“ zu entwickeln, denn „Tote, bzw. das Andenken an sie, werden nicht „tradiert“. Daß man sich an sie erinnert ist Sache affektiver Bindung, kultureller Formung und bewußten, den Bruch überwindenden Vergangenheitsbezugs“ [20] . Das Gedenken an die Opfer der Shoah hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr der Routine versagt. Immer mehr Menschen suchen nach neuen, dezentralen Formen des Gedenkens, erforschen in Geschichtswerkstätten und auf eigne Initiative die lokale Geschichte: man sucht nach den Namen der deportierten Menschen und versucht, ihnen ihr Gesicht wiederzugeben - ein nicht verordnetes Gedenken im ganzen Land, das vor ca. zehn Jahren eingesetzt hat und in den kommenden Jahren sich immer stärker intensivieren wird, je stärker und schmerzhafter uns bewußt wird, daß wir in einer Schwellenzeit leben. Gerade der „dritten Generation“ muß das bewußt sein.   

3.    Kollektivschuld I:

„Land der Väter und Täter“:

die Regeneration der Nation

Ritual, Ritualisierung und Routine

All diese Schwierigkeiten, eine rituelle Form des Gedenkens zu finden, hat Martin Walser nicht gemeint, als er sich gegen „Ritualisierung“ aussprach. Was Walser meint sind nicht Rituale, sondern eine Routine, in die Gedenkveranstaltungen abgleiten können. So jedenfalls hat ihn Salomon Korn verstanden, der solche Bedenken gegen das Gedenken ernst genommen hat und in der FAZ den „in floskelhaften Redewendungen kanalisierten Jargon der Betroffenheit“ beschrieben hat [21] . Damit hat er Walser eine Brücke der Verständigung gebaut. Es ist fraglich, ob Martin Walser das so gemeint hat, jedoch hat man sich nach dem FAZ-Gespräch zwischen ihm und Ignatz Bubis, Salomon Korn und Frank Schirrmacher darauf geeinigt: „Wir brauchen eine neue Sprache der Erinnerung“ [22] . Herr Dr. Korn jedoch hatte das „Gedenkdilemma“ in seinem Beitrag zwei Wochen zuvor genau benannt: es entsteht dort, wo die Opfer und ihre Nachfahren mit ehemaligen Tätern, Mitläufern und Profiteuren und deren Nachfahren gemeinsam gedenken. Dann erschöpft sich das gemeinsame Gedenken schnell in unverbindlichem Betroffenheitsjargon und harmlosen Nie-Wieder-Appellen, die nicht wehtun. Man kann sagen, daß Bubis Walsers Bedenken ernst genommen hat, als er in seiner Rede zum 9. November 1998 klar Stellung bezog gegen dessen „Friedenspreisrede“ und so die Routine der Harmlosigkeit durchbrach. Bubis sah sein Lebenswerk bedroht, die Vermittlung und Verständigung zwischen Juden und Deutschen nach der Shoah. Als er sich selbst als „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“ bezeichnete, brach damit ein Tabu in der deutsch-jüdischen Community: das Gefühl, auf gepackten Koffer zu sitzen, um das Land der Täter und Mörder bald wieder zu verlassen. Nun war es offiziell, daß Juden in Deutschland ihre Heimat sahen. (Oder wie Steven Spielberg in Berlin bei der Gala der „Survivors Of The Shoah Foundation“ sagte: „We are here to stay!“) Damit konnte eine „Normalität“ des deutsch-jüdischen Verhältnisses ihren Anfang nehmen, die wahrscheinlich erst die Generation unserer Enkel erleben wird. Doch Bubis hat uns eine Brücke gebaut. Immer wieder hat er wiederholt, Deutschland sei nun ein normales Land und daß die nachgeborenen Generationen keine Schuld trifft. Von der „Kollektivschuld“ sprechen andere, z. B. Walser!

Kollektivschuld

Schon in seinem programmatischen Text „Unser Auschwitz“ schrieb er: „Wenn aber Volk und Staat überhaupt noch sinnvolle Bezeichnungen sind für ein Politisches, für ein Kollektiv also, (...) dann ist alles, was geschieht, durch dieses Kollektiv bedingt, dann ist in diesem Kollektiv die Ursache für alles zu suchen. (...) Dann ist Auschwitz eine großdeutsche Sache. Dann gehört jeder zu irgend einem Teil zu der Ursache von Auschwitz. Dann wäre es eines jeden Sache, diesen Anteil aufzufinden.“ [23] Wohl gemerkt: es ist der ehemalige Hitler-Junge und Wehrmachts-Freiwillige, der uns sagt, wir seien schuldig, bzw. „Teil der Ursache“ des millionenfachen Massenmords. Von keinem Überlebenden habe ich bisher gehört, wir nachgeborenen Deutschen sollten nach „unserem Anteil von Auschwitz“ forschen. Worin aber Walsers „Anteil an Auschwitz“ besteht ist leicht auszumachen: wenn der Hitler-Junge Martin gegen Kriegsende noch freiwillig in die Wehrmacht eingetreten ist, dann hat er objektiv dazu beigetragen, daß die Alliierten die KZ’s noch später befreien konnten. Walser aber wickelt die Schuldfrage über das abstrakte Kollektiv der Nation ab, denn „dort, wo das Schamgefühl sich regen, wo Gewissen sich melden müßte, bin ich nicht betroffen“, wie er in demselben Aufsatz schreibt. Drängt er aus Schamunfähigkeit und Gewissenlosigkeit der ganzen Nation die Schuld auf?

Nein, Walser hat dieses Kollektivschuldgefühl, weil er sich eher mit der Täterseite identifizieren kann als mit den Opfern. Im SPIEGEL-Gespräch mit Rudolf Augstein hat er von seinen Motiven erzählt, warum er 1965 -kurz nach den Frankfurter Auschwitzprozessen- seinen Aufsatz „Unser Auschwitz“ geschrieben hat: Er habe damit gegen die Verteufelung der angeklagten KZ-Wärter protestiert, „weil es eben unsere Leute sind.“ (in seinem Text ist auch von „nationaler Solidarität mit den Tätern“ die Rede.) Die Formel der „Kollektivschuld“ diente nach dem Krieg immer dem Täterschutz. Wenn Walser davon redet, daß mit ihm „wir Deutschen“ sich beschuldigt fühlen müssen beim Anblick von Holocaust-Dokumentationen im Fernsehen, dann stülpt er uns seine „Schande“ über, zwingt uns ein völlig völkisches „Wir“ auf und versucht uns seine Last aufzubürden. Wir sollten ihm das aber nicht abnehmen. Bei allen großen Gesten nationaler Schuldbekenntnisse sollten wir skeptisch sein, z.B. wenn v. Dohnanyi sagt: „Wir haben das getan. Wir haben den Rassismus zum Völkermord gemacht.Wir haben den Holocaust begangen.“ [24] Horkheimer notierte schon Anfang der sechziger Jahre über deutsche Schuldbekenntnisse und das darin eingeschriebene „Wir“: „Immer wieder formulieren: Das Schuldbekenntnis der Deutschen nach der Niederlage des Nationalsozialismus war ein famoses Verfahren, das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten. Das Wir zu bewahren war die Hauptsache <...> Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte.“

NIE WIEDER WIR!

Wer ist „wir“?

Nie würde ich formulieren: „Wir haben die Juden, die Sinti und Roma und Slawen umgebracht.“ Diese Formulierung verbietet sich schon aus Respekt vor dem deutschen Widerstand und all den Opfern, die Deutsche waren. Das sehen anscheinend die schuld- und schandebewußten Deutschen anders, so v. Dohnanyi in seinem ersten FAZ-Text zur Walserverteidigung gegen „Gewissenswarte“, die ihm „den Eindruck vermitteln, sie täten dies am Ende vielleicht doch in erster Linie, um sich durch die Identifikation mit den Opfern selbst aus der Reihe der Täter-Erben zu stehlen.“ [25] Scheint so etwas Schlimmes wie Fahnenflucht zu sein: desertieren von der Schande. Gedenken also als „Nestbeschmutzung“?  Was ist mit den deutschen Juden, viele von ihnen waren vor allem ersteres: Deutsche. Sind sie nicht „unsere Leute“? Und ist man nicht auch als Deutscher primär ein Mensch, der anderer ermordeter Menschen gedenkt? Und wer hat den Walserianern überhaupt das Recht gegeben, „Wir“ zu sagen und sich anzumaßen, für alle zu reden. Erschreckend, daß nur so wenige sich gegen diese Vereinnahmung zur Wehr setzen. Dieses „Wir“ will ich aber nie wieder hören: denn dieses neue deutsche „Wir“ würde unbestimmt bleiben, wenn es nicht die Juden gäbe. Sie werden instrumentalisiert, um „nichtjüdischen Deutschen“ -wie man heute so sagt- ein „Wir-Gefühl“ zu geben und Walser hat mit seiner flammenden Rede seinen Beitrag dazu geleistet. Ignatz Bubis wird als der „Andere“ gebraucht, um den Alleinvertretungsanspruch der „Wir“-Rhetoriker zu begründen. Die Abstammung wird für gegenwärtige Zwecke instrumentalisiert. Dadurch ist ein Druck entstanden, der, wie Detlev Claussen geschrieben hat, „die Zwangskonfession zu einem ethnischen Kollektiv als alternativlose Form des Selbstverständnisses“ [26] macht: „Wir sind wieder wer“ und zwar Ethno-Deutsche: Schande-Arier. Das wäre dann nicht nur nationalistisch, dann würde es rassistisch und antisemitisch. (Aber der deutsche Nationalismus hat bisher nie ohne Antisemitismus funktioniert und die deutschen Ethno-Nationalisten wollten immer vor allem Deutsche und nicht bloß Menschen sein.) Um das zu ändern, müßte die Nation neugegründet werden.

Man muß Walser ernst nehmen und sich gegen ihn wenden: statt diffus gegen „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ zu sprechen, muß man sich gegen die „Nationalisierung der Erinnerung“ aussprechen: die Instrumentalisierung der Shoah für die Zwecke der Renationalisierung. Schon 1986 hat Walser diese Möglichkeit erkannt und ausgerufen: „Wie soll jemand in seinem Kopf mit Auschwitz umgehen, wenn er nicht die gesamte Nation weiterhin in sich  existent fühlt?“ [27] Das nenn ich eine Volte: die sog. „Vergangenheitsbewältigung“ als Begründung für die „Wiedervereinigung“. Gegen solche Instrumentalisierung gilt es sich zu wehren: Die Ermordeten sind kein Gründungsopfer für die „Berliner Republik“ gewesen.

Blut und Schande

Egal, ob es nun „die selbstbewußte Nation“ oder „die schuldbewußte Nation“ heißt, es geht um dasselbe: nationale Identität. Identität funktioniert jedoch nur über Ab- bzw. Ausgrenzung. Jede Definition der Nation, ob als „Schuldkollektiv“ oder „Blut-und-Schande-Bande“, grenzt diejenigen Deutschen aus, die die Schuld nicht trifft; die keine Täter waren, weil sie Opfer wurden, ausgegrenzt aus dem Nationalkollektiv. Das ist das Fatale an der kollektiven Schuldkonstruktion: wer damals Opfer war, kann heute kein Deutscher sein. Die Existenz von jüdischen Deutschen, von deutschen Sinti und Roma, von ehemaligen Widerstandskämpfern und Überlebenden anderer Opfergruppen und deren Kindern verhindern, daß die Reihen geschlossen werden können für eine „neue Nationalmannschaft“, die dann entweder geschlossen zum Gedenken antritt und/oder sich geschlossen gegen die Schande wehrt. Doch wird die Gruppe der Deutschen, die nicht zum Schuldkollektiv gehört, demnächst noch größer: mit der Reform des Staatsbürgerrechts gibt es dann auf einen Schlag Millionen Deutscher, die überhaupt keinen familiären Bezug zur Shoah haben. Als deutsche Staatsbürger sind sie dann genauso in der politischen Haftung für die NS-Verbrechen und unabhängig von ihrer Herkunft werden auch diese Deutsche der Opfer des Nationalsozialismus gemeinsam mit uns gedenken und ganz normal in der Schule und der Gesellschaft über die NS-Zeit aufgeklärt werden. Im deutschen Diskurs wird es immer eine nationale Narration über die Shoah geben, denn sie war ein „nationales Projekt“ (Goldhagen), jedoch von ethnifizierten, also „arisierten“ Deutschen. Deutsche nicht-deutscher Herkunft (ohne „arische Abstammung“) werden sich wohl eher mit den Opfern identifizieren, die aus dem ethnischen Kollektiv verstoßen und als ethnisches Kollektiv vernichtet werden sollten. „Uns“ ist eine besondere Beschäftigung mit der Täterseite geboten, doch auch nicht nur uns: jeder kann so vielleicht einen Begriff für das eigne Potential an Unmenschlichkeit entwickeln [28] , aber auch die Ahnung, daß schlimmste Abgründe in uns allen sind und ein Riesenpotential an Feigheit, wie Jan Philip Reemtsma bei seiner Laudatio auf Saul Friedländer gesagt hat [29] . Deswegen führt eine solche gewissenhafte „Gewissenserforschung“, die v.Dohnanyi von uns als echte, ernste Deutsche verlangt, auch nicht wirklich weiter, sondern lenkt ab und schüchtert ein. Wir müssen eben nicht sagen: „Wir haben das gemacht.“ Sehr wohl muß man sagen: „Die Deutschen haben das gemacht!“ Das Massenmorden wurde nicht nur, wie Helmut Kohl das immer genannt hat, „in deutschem Namen“ begangen, sondern von Deutschen, „ganz gewöhnlichen Deutschen“: „No Germans - no Holocaust.“ [30]

Wir müssen uns aber auch nicht so deutsch fühlen, wie die Generation der in die NS-Verbrechen Verstrickten und walsermäßig „Verwirkten“. Wir können dann auf das Walser-„Wir“ verzichten, wenn wir uns nicht mehr über ethnische Abstammung als Blutsnation definieren, sondern als Staatsbürger. Als solche sind wir alle, selbst ehemalige Opfer und deren Angehörige, in der politischen Haftung für die deutschen Verbrechen, aber ohne die metaphysische Tiefe, die einer „negativen Erwählung“ gleichkommt: so lange „Volk“ völkisch definiert ist, also über Abstammung und Blutsbande, solange bliebe die „Schande“ Blutsschande; solange das „Volk“ nicht die gesamte Bevölkerung des Nationalstaates umfaßt, so lange bliebe die Schuld rein deutsch.

Doch kaum nimmt eine Bundesregierung diese „nationale Normalisierung“ in die Hand und reformiert das Staatsbürgerschaftsrecht,  kommt es zum massiven Widerstand im Volk, das durch die von den Konservativen entfachte Unterschriftensammelung mobilisiert wird. Ein Verdacht kommt auf: vielleicht will man in Deutschland gar nicht normal werden

Juden und Ausländer

Nach Walsers Worten ist es immer „Instrumentalisierung von Auschwitz“, wenn man nach möglichen Beziehungen von Geschehnissen der Gegenwart zu den Verbrechen der Vergangenheit fragt. Die Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann haben in ihrem ZEIT-Interview haben darauf hingewiesen, daß dieser Vorwurf trivial ist und falsch: „Erinnerungen (haben) in der Öffentlichkeit immer eine Funktion. Niemand lebt bloß im Augenblick. Was in einer Gegenwart erinnert wird, steht immer im Bezug zu dieser Gegenwart, man könnte auch sagen: ist immer instrumentalisiert. ... Es gibt kein neutrales Gebiet. Die erinnerte Vergangenheit dient immer dazu, die Gegenwart zu legitimieren oder auch zu delegitimieren.“ [31]

Für uns Nachgeborenen gilt: wenn wir nicht den Anspruch aufgeben wollen, aus der Geschichte zu lernen,  wenn wir Verantwortung wahrnehmen wollen, müssen wir nicht nur „hinschauen“, sondern auch die NS-Geschichte, vor allem die Vorgeschichte des Nazi-Genozids im Blick haben. Bei kaum einer Frage wird das deutlicher als bei der Frage nach den Rechten von Minderheiten hierzulande. Blickt man auf die Geschichte der Emanzipation der jüdischen Minderheit in der deutschen Geschichte, findet man schnell Parallellen zwischen aktueller deutscher „Ausländerfeindlichkeit“ und alter deutscher Judenfeindschaft: man stößt schnell auf eine Unterschriftenkampagne aus Süddeutschland, die gegen die Emanzipation und rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland gestartet wurde. Das Wort „Antisemitismus“ wurde erst geboren, nachdem die gescheiterten deutschen Demokraten versucht hatten, den deutschen Juden gleiche Rechte als Bürger zu gewähren: „Antisemitismus“ ist die Bezeichnung für rassistische „postemanzipatorische“ Judenfeindschaft, die nach dem Scheitern der Demokratiebewegung die rechtliche Gleichstellung der Juden verhindern, bzw. rückgängig machen wollte. Dann kann man aber vielleicht auch verstehen, warum Ignatz Bubis zusammen mit der Hamburger Bischöfin Maria Jepsen, dem Bundesvorsitzenden der Arbeiterwohlfahrt Dr. Ragati und dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbunds Dieter Schulte in der „Frankfurter Rundschau“ eine Anzeige schalten ließ, mit der „dringenden Bitte an CDU/CSU keine Unterschriftensammlung durchzuführen.“ [32] Für Antisemiten ist das eine fremde Einmischung in innerdeutsche Angelegenheiten, für aufgeklärte Demokraten demokratisches Engagement. Für Walser war es wahrscheinlich ersteres, im FAZ-Gespräch wollte er Bubis auch untersagen, nach Rostock-Lichtenhagen zu gehen. Es gibt einen Passus in Bubis’ Rede zum 60. Jahrestag der Pogromnacht, der sich im Nachhinein wie die vorweggenommene Antwort auf Walsers entlarvende Frechheit liest: „Es ist die Gesellschaft, die hier gefordert ist, und es kann nicht sein, daß die Bekämpfung des Rassismus und Antisemitismus sowie der Fremdenfeindlichkeit den Juden überlassen wird, während ein Teil der Gesellschaft sich dadurch eher belästigt fühlt.“ [33]

4.    Kollektivgedächtnis II:

Politik und Moral

Die zwei Gesichter des Gedenkens:

Der Historiker Michael Brenner faßt die Debatten um die bürgerliche Gleichstellung zusammen: „Als die Juden schließlich zu gleichberechtigten Bürgern wurden, hatte man bereits so lange darüber gestritten, daß sie in den Köpfen vieler Deutscher keine Deutschen sein konnten. Ein kulturell, religiös und schließlich auch rassisch definierter Begriff des Deutschtums sollte sich schließlich über staatsbürgerliche Erwägung hinwegsetzen. Die soziale Integration stieß damit häufig bereits zum Zeitpunkt der erfolgten Emanzipation auf unüberwindbare Hürden.“ Und heute, über hundert Jahre später? Ist nicht das Wort „Ausländer“ schon eine Wortschöpfung, die eine Eindeutschung von Migranten und ihren Kindern zum normalen „Inländer“ schon sprachlich ausschließt? Und wer kann mit Sicherheit sagen, daß nicht in hundert Jahren eine türkische Großmutter im Stammbaum das Ticket in die Vernichtung bedeutet? Zeigt doch der weitere Verlauf der Geschichte, wie eine Gesellschaft, die über längere Zeit hinweg ein Teil der Bevölkerung verächtlich gemacht hatte, der Barbarei anheim fiel. „Nein, wir sind nicht naiv“, sagte Micha Brumlik an der Paulskirche: „auch wir wissen, daß der Weg nach Auschwitz gewunden war und daß keine zwangsläufige Entwicklung vom Scheitern der Demokratiebewegung und der Judenemanzipation in vielen, nicht allen deutschen Ländern, in die Gaskammern führte. Diese Entwicklung war gewiß nicht zwangsläufig, aber doch in vielem folgerichtig. Man tut dem Abstammungsrecht von 1913 kein Unrecht, wenn man darauf hinweist, daß sein ausschließlicher Charakter es den Nationalsozialisten und ihren bürgerlichen Koalitionspartnern erleichtert hat, es rassisch umzudeuten.“ [34]

Angemessenes Gedenken hat also immer zwei Gesichter, so wie die Frankfurter Demonstration auch zwei Pole hatte: es dient einerseits dem Zweck, aus der Geschichte zu lernen, es besteht andererseits darin, den Ermordeten und Erschlagenen ohne jede weitere Zwecksetzung Respekt zu bekunden, ihnen -

soweit das überhaupt möglich ist - aus dem Schweigen des Todes heraus im Kreis der Lebendigen einen Platz einzuräumen. Dementsprechend bewegte sich die Demonstration zwischen zwei verschiedenen Orten: die Frankfurter Paulskirche sowie: erst das Gesundheitsamt, zum Gedenken der verfolgten, ermordeten Frankfurter Sinti und Roma, und abschließend der Frankfurter Börneplatz zum Gedenken der deportierten und ermordeten Frankfurter Jüdinnen und Juden. Die Paulskirche, der Ort an dem vor mehr als einhundertundfünfzig Jahren deutsche Bürger für eine demokratische Republik eintraten, ist der richtige Ort, über Politik zu reden, Braubachstraße und Börneplatz sind Plätze des

Gedenkens, wo wir der Opfer inne werden.

 

Moralischer Universalismus

Gedenken, das sich nur auf politische Gegenwartsfragen bezieht, setzt sich dem Vorwurf der „Instrumentalisierung“ aus. Doch eine Gedenkpraxis, die glaubt, auf die Vergegenwärtigung politisch-moralischer Fragen verzichten zu können, ebenfalls. Letzteres betrifft die staatsoffizielle Form des Gedenkens. Auschwitz wird so seit über 20 Jahren in Deutschland instrumentalisiert, um das nationale „Wir“-Gefühl zu restaurieren. Auch Schäuble gerät  ins Schwärmen, wenn er „das Nationale“ beschwört, ohne das Gedenken von Auschwitz angeblich nicht möglich sei. Das ist falsch. Wir gedenken der Opfer als Menschen.

Nach Saul Friedländer ist Gedenken in Deutschland „ein Schritt in einen postnationalen Gefühlsraum.“ [35]

Prof. Avishai Margalit von der Hebrew University Jerusalem gab folgendes Beispiel bei seiner Frankfurter Horkheimer-Vorlesung „Ethics of Memory“: Als Hitler am 22. August 1939 über seine Lebensraumträume und Massenmordbefehle sprach, stellte er die rhetorische Frage, wer sich heute noch an die Ausrottung der Armenier erinnere. Die Antwort muß lauten: die Menschheit. Daß die Menschheit sich erinnert und die Opfer nicht den zweiten Tod durch das Vergessen sterben, ist die besondere Verantwortung von Deutschen, Juden und Israelis, wie der israelische Botschafter Avi Primor in seinem Brief an Walser geschrieben hat [36] . Wir werden dem „Gedenkdilemma“ von nationalen Ritualen vielleicht erst durch einen moralischen Universalismus entgehen, der sich auf die Toten erstreckt. In der Frankfurter Schule wurde dafür der Begriff der „anamnetischen Solidarität“ geprägt, d.h. einer Solidarität mit den Opfern der Geschichte um ihrer selbst willen. Der Frankfurter Philosoph Lutz Wingert definiert diese Solidarität mit den Opfern im Stande ihres Opferseins: „Indem wir bestimmte Verpflichtungen gegenüber den früheren Generationen von Opfern erfüllen, knüpfen wir von unserer Seite aus zu ihnen eine Beziehung des Respekts von der Art des Respekts, der unter Angehörigen einer moralischen Gemeinschaft geübt wird.“ Um nichts anderes geht es bei symbolisch-öffentlichen Ehrungen der Opfer als auch beim privaten Gedenken: den Toten Respekt zu erweisen. Im Talmud steht der Satz, der auch am Yad Vashem in Jerusalem zitiert wird: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung, das Vergessen verlängert das Exil“. Walter Benjamin hat in seinen geschichts-philosophischen Thesen eine messianische Theorie der Generationsverhältnisse entwickelt, in deren Mittelpunkt die Hoffnung auf Erlösung steht: „Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf Erlösung verwiesen wird ... Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten ... Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an die die Vergangenheit Anspruch hat.“

5.    Generationen II:

die Degeneration meiner Generation

Generationsunterschiede

Nachhaltig Schaden genommen durch die Walser-Debatte hat vor allem die von ihm beschworene „Normalität“. Sie hatte gerade begonnen: zwischen uns Jüngeren. Das sagte auch Mark, ein junger deutscher Jude im SPIEGEL-Gespräch [37] . Er selbst habe mit nicht-jüdischen Bekannten über die NS-Vergangenheit reden können, ohne daß seine Gefühle als Nachfahre von Überlebenden verletzt würden. Es ist allerdings fraglich, ob wir Täterenkel uns als „dritte Generation“ bezeichnen dürfen. Diese Bezeichnung bezieht sich auf den Riß in der Familiengeschichte, den die Shoah hinterlassen hat und der aus allen Überlebenden und ihren Kindern und Kindeskindern Gerettete gemacht hat. Das wurde besonders deutlich in dem SPIEGEL-Gespräch mit Mark, Igor und Hilda. Hilda sprach von dem Riesenschmerz und der Einsamkeit, die sie gerade an Feiertagen verspürt: zu wissen, daß früher, in der Zeit vor der Shoah, an den Feiertagen eine riesige Familie zusammengekommen ist, von denen fast niemand überlebt hat. Und das ist in allen jüdischen Familien so, die damals in Europa gelebt haben. Diesen Unterschied zwischen deutschen Nichtjuden und europäischen Juden wahrzunehmen ist die minimale Voraussetzung für eine Verständigung zwischen den Nachfahren der Opfer und der Täter. Doch das ist anscheinend  zu viel verlangt von vielen Jungdeutschen (wofür auch dieses Buch genug Beispiele bietet). In wüster, übelster Manier beschimpfte eine junge Deutsche die drei einige Wochen später in demselben Magazin [38] . Trotzig erklärte sie, der einzige Unterschied zwischen ihnen und ihr sei, daß sie „die Religion nicht als Erbanlage erworben habe“- und an Jesus glaube. Doch die christliche Nächstenliebe scheint bei ihr wenig ausgeprägt, so gehört sie offensichtlich zu den Deutschen, die „den Juden Auschwitz nicht verzeihen können.“ Und so fragt die deutsche Christin die drei, ob „Auschwitz Erbsünde“ sei und beschwerte sich als Täterenkelin „in Sippenhaft“ genommen zu werden: „Dann seid ihr die Täter und ich das Opfer“.  Der Schriftsteller Eike Geisel hat diese pathologische, aber typisch deutsche Rollenverkehrung in seinem letzten Buch über „gute Nazis und selbsternannte Opfer“ treffend als „Opfersehnsucht und Judenneid“ beschrieben: „die Gnade der späten Geburt wird erkauft mit dem Preis der frühen Verblödung.“ [39] Darauf ein kleiner, leicht veränderter Text von „Tocotronic“:

„Dieser Text

Zur Lage der Nation und zur Degeneration meiner Generation

 zu meiner aussichtslosen Lage und zur Klärung der Schuldfrage 

und darum klage ich an

Martin Walser nur Du bist schuld daran,

 daß aus uns nichts werden kann

 Du hast uns mit Deinen Tricks

 aus der Gesellschaft rausge-ixt.“ [40]

Geschlechtsunterschiede

Natürlich ist der eigentliche Skandal nicht dieser Text der unschuldigen Frau, sondern daß der SPIEGEL diesen, der nicht mehr als einer von unzähligen fiesen Leserbriefe ist, groß aufgemotzt auf zwei Seiten veröffentlicht, Titel: „Deutsche Studentin wehrt sich!“ Schon des öfteren ist sie Opfer der Schande geworden: man drängt sie mit ihrem deutschen Nummernschild von der Autobahn und afrikanische Männer belästigen und bedrängen sie wegen der Vergangenheit usw. Sie ist in ihrem Opferwahn nicht allein. Merkwürdigerweise sind es vor allem deutsche Frauen, die ihre nationale Identität als nachgeborene Holocaust-Opfer entdecken. Der „Bund doofer Mädels“ hat viele Leihmütter: z.B.  Monika Maron, die in der ZEIT [41] auch vor Kühnheit zitterte, als sie Walser gegen Bubis verteidigte, entdeckte gar eine neuartige Form von Rassismus: antideutschen Rassismus im Ausland. „Manchmal glaube ich, wir sind verrückt, daß wir uns nicht wehren.“ Das nennt sich heute „Normalisierung“, was früher Volksverhetzung hieß: DEUTSCHE, WEHRT EUCH!

Und das „Kauft nicht bei Juden!“ heißt heute: „Boykottiert Waren aus Israel!“ Solche Töne waren auch im letzten Golfkrieg wieder zu hören. Damals war Alice Schwarzer zum ersten Mal stolz, so deutsch zu sein, gab sie bekannt. Und im Januar 1999 traf sich die Übermutter der deutschen Frauenbewegung mit Leni Riefenstahl zum Kaffeekränzchen und berichtete in einer EMMA-Titelgeschichte [42] von ihren Impressionen: „...aus der Nähe nur ein Mensch, ein weiblicher dazu, also bescheiden und verbindlich.“ Ich möchte an dieser Stelle gar nicht darauf eingehen, wie sie die Komplizenschaft der Reichsregiesseurin verschleiert und bekannte Fakten unterschlägt, sondern auf geschlechtsspezifisches Verharmlosungsverhalten: „Warum ... wird gerade Riefenstahl zum Symbol für die nicht geleistete Trauerarbeit von Millionen? Ist es, weil die angeblich besondere Schuld dieser einen Frau den Wahn der Millionen Männer verdeckt?“ Die Faszination mit dem NS-Faschismus, ein reines Männerding? Dabei schreibt Schwarzer selber über die „Nazisse“ (Erich Kuby): „(Als) die Nazis an die Macht kamen, schwärmte Leni Riefenstahl für den Führer, wie Millionen andere Deutsche auch. Nur bei ihr kam hinzu - der Führer schwärmte auch für Leni. Ihre archaischen, mythischen, poetischen Bilder brachten ihn zum Träumen.“ Und ihr Film „Triumph des Willens“: „...ein Film, der so göttlich war, wie sich die Nazis gerne selber sahen ... anonyme irdische Menschen, verklärt zur heroischen Verkörperung einer großen Idee.“ Der Nationalsozialismus als große Idee. Kein Kommentar. Das hätte sich Henryk M. Broder wahrscheinlich auch nicht träumen lassen, als er 1981 sein aufsehnerregenden ZEIT-Artikel schrieb: „Ihr seid die Kinder eurer Eltern!“ Nachdem in EMMA Übles über das „Israel-Palästinenser-Problem“ stand, hatte er Schwarzer eine deutsche Antisemitin genannt. Da die „Radikalfeministin“ (Schwarzer über Schwarzer) glaubt, daß „Sexismus und Antisemitismus auf demselben Boden gedeihen“, muß sie sich als deutsche Frau so einen Vorwurf nicht gefallen lassen- nach den „Ketten von Pogromen und dem Genozid an meinem Geschlecht“.

Hat -am Ende- Matin Walser sie gemeint mit seinem Instrumentalisierungsvorwurf?

Doch die Verschwesterung von EMMA mit Leni ist kein Zufall: es waren zu erst die Erinnerungen der „Trümmerfrauen“, die für die Landser-Literatur der Kriegsheimkehrer die Lanze brachen. Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung“ stellte fest, daß die Deutschen nun „seit langer Zeit zum ersten Mal die Möglichkeit, eine abgeschlossene Periode ihrer Geschichte mit glücklicher Wehmut und milder Zuneigung zu betrachten.“ Sentimentalitäten und NS-Nostalgie, die ich auch von meiner kürzlich verstorbenen Großmutter gehört habe: „Ich war damals eine Nazi, mir ging es gut.“ Verstehen kann man so was als normaler Mensch nicht. Es ist vielleicht nicht unser Recht, sie alle zu verurteilen; zu verzeihen allerdings auch nicht. Vor allem ist nie zu vergessen, was in der „schönen alten Zeit“ verbrochen wurde.

Deutschnormalismus

„Gehen wir heute toleranter miteinander um? Haben wir wirklich die Trauer der Hinterbliebenen und die Gefühle der Opfer verstanden? Verstehen wir díe Ängste der Überlebenden zu respektieren?“

Das waren die Fragen, die Ignatz Bubis am 9. November 1998 aufgeworfen hat. Walser hat -stellvertretend für seine ganze Generation- die vielleicht letzte Chance vertan, ein versöhnliches Verständigungsgespräch mit einem Vertreter der Opfergeneration zu führen. Wer Überlebende des Nazi-Genozids beleidigt, das Andenken an die Opfer der Shoah schmäht und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit als „grausamen Erinnerungsdienst“ bezeichnet, der macht sich schuldig an der „zweiten Schuld“. Wenn derjenige auch noch jemand ist, der selbst verstrickt war in das NS-System, dann ist der Fall klar: ein „Bösmensch“ aus der Vergangenheit. Wenn sich aber meine Generationsgenossen von seinen Attacken gegen das gemeinschaftliche Gedenken angesprochen fühlen, dann ist das fatal. Hat die Schweizer Literaturkritikerin Gunhild Kübler recht, die in diesem Zusammenhang die bestechende These formulierte: „Im öffentlichen Ringen um die Deutungsautorität über die Vergangenheit greifen jetzt die Großväter an ihren einstmals rebellischen Söhnen und Töchtern vorbei, um sich mit den Enkeln zu arrangieren.“ [43] Ist Walser der „geistige Großvater“ einer ganzen Generation geworden, aus der sich die Nation regeneriert als kesses Unschuldskollektiv? Die „Generation Berlin“, der Walser mit seiner Rede ein „Zauberschwert“ in die Hand gelegt hat, wie die Neonazi-Presse schwärmte? Mit dem soll wohl die „Moralkeule“ pariert werden, wenn Kinder der Opfer die Verbrechen nicht vergessen wollen. Im Tonfall ähneln manche Äußerungen ganz normaler junger Deutschen von ganz allein den Texten junger Rechtsextremer aus deren Reader „Wir 89er“. Deswegen muß man für dieses Buchprojekt auch nicht extra jugendliche Neofaschisten ansprechen: die „98er“-Generation läuft auch ohne rechtsextreme Indokrination Gefahr, einem „Normalisierungs-Nationalismus“ in die Hände zu spielen, der brandgefährlich ist. Dieses Buch beweist, daß es gar keine Unterwanderung durch Neonazis bedarf, auch so plappern selbst FDP-Stipendiaten im Jargon der „Neuen Rechten“ daher. Und die deutsche Studentin Kathi-Gesa Klafke ruft uns auf: „Laßt uns den Holocaust endlich einreihen in ...“ Laßt uns relativieren, laßt uns die Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit der Shoah verleugnen. Franz Schönhuber und die „Deutsche National-Zeitung“ freuten sich. „Der Schoß ist fruchtbar noch...“ (Brecht)

Jeder, der auf der Singularität des deutschen Menschheitsverbrechens besteht, ist der Normalisierungslogik zufolge ein „negativer Nationalist“. Dann kann in Deutschland niemand normal national sein, denn dann wäre man entweder Normalisierungsnationalist oder „negativer Nationalist“. Auf die tückische Gefahr jedes Normalismus-Diskurses hat der Literaturwissenschaftler Jürgen Link in seinem „Versuch über den Normalismus“ hingewiesen, einer Studie über den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Nach Link ist das öffentliche Gespräch so organisiert, daß der Dissens keine Chance zur Artikulation bekommt. Die Diskursmacht hat, wer bestimmt, was der Normalzustand ist. Auf diese Weise erneuern sich autoritäre Traditionen in der Logik der Mediengesellschaft. So setzt man mit Diskursmacht mit der „Normal“-Keule Deutschnationalismus durch. Doch können solche Diskurse auch umkippen und die Keule zurückschlagen: je mehr einer verkündet, nun endlich normal zu sein, desto mehr gerät er in Verdacht, es nie gewesen zu sein.

Die Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann haben in ihrem ZEIT-Interview vorgeschlagen, daß man die Formulierung vom „negativen Nationalismus“ nicht vorschnell pejorativ gebrauchen sollte: „Wir haben mit diesem negativen Nationalismus, anders als mit dem „positiven“, noch wenig Erfahrung gemacht. So etwas gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Das ist eine einmalige deutsche Erinnerungssituation auf der Welt.  Man sollte dieses Novum nicht gleich mit disem polemischen Begriff erledigen. Die Erinnerungssituation ist so einmalig wie das Verbrechen selbst.“ Mag sein, daß man im Ausland als „negativer Nationalist“ wahrgenommen wird, wenn man auf der Singularität der Shoah besteht. Doch geht es hierbei um etwas wesentlich wichtigeres als nationale Identität: es geht um Aufklärung über den Zivilisationsbruch, der eine Menschheitserfahrung ist. Die Welt ist eine andere seitdem.  

 

Scham ist normal!

Unbemerkter hatte eine „Normalität“ des deutsch-jüdischen Verhältnisses bei uns Jüngeren eingesetzt. Ein unbefangenerer Umgang, der gerade von dem Wissen geprägt ist, daß wir gemeinsam mit der Geschichte leben lernen müssen. Der Walser-Streit hat neue Gräben zwischen den Generationen aufgerissen. Während der ZEIT-Artikel von Ilsemann noch betroffen formuliert war, so ist der SPIEGEL-Beitrag der deutschen Studentin Kathi-Gesa Klafke so bösartig wie die Frage von Herrn v. Dohnanyi, der ihr „aus der Seele sprach“: ob sich  die Juden „so sehr viel tapferer als die meisten anderern Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 „nur“ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären.“ [44] Eine infame Frage, doch die meisten jungen Täternachfahren merken das nicht, sie spüren es nicht, wie niederträchtig die Frage ist. Daß sie das nicht spüren können liegt daran, daß sie keine Scham empfinden. Nicht aus Schamlosigkeit, sondern aus Empfindungslosigkeit: „Wieso denn schämen?“ „Ich habe im Laufe der Zeit gelernt,“ schreibt Klaus Theweleit über deutsche Jugendliche [45] , „daß sie tatsächlich nicht wissen, was das ist ... wie das gehen soll, „sich schämen“. Sie sind nicht verstockt, nicht hinterhältig in diesem Punkt. Sie weisen das klar von sich. Wieso denn ich? Wie kann man. Ich war doch gar nicht... Die Empfindung „Scham“ ist ihnen einfach nicht zugänglich; etwas sehr Schönes, was ihnen damit fehlt, aber sie wissen es nicht. ... Nur, wer sich schämen kann, über die Dinge, die er getan hat, über Dinge, die in seiner Nähe getan wurden, über Dinge, die „Menschen“ getan haben, bekommt Zugang zur eigenen Geschichte, zur eigenen Körpergeschichte, zur eigenen politischen Geschichte, auch der anderen. Wer dies Gefühl der Scham nicht kennt (es handelt sich um eine Auflösung des Körpers, eine Selbstverschmelzung - der Körper vergeht in einem heißen Flimmern und baut sich neu und „gereinigt“ wieder zusammen), wer diese hallunzinatorische Anerkennung der Schönheit des Daseins der anderen, vor deren Schönheit man sich schämt, nicht kennt, bleibt von der Wahrnehmung der Daseinsweise anderer Menschen so gut wie hoffnungslos ausgeschlossen.“ In der ZEIT schrieb Thomas Assheuer: „Anders als die Schande kann Scham ein moralisch souveränes Bewußtsein freisetzen, das weder dem Zwang des Vergessens noch dem Zwang des Erinnerns erliegt.“ [46]

6.    Kollektivschuld II:

Schuld und Schulden, Schande und Schaden:

Kollektivverbrechen:

Am 9. November 1998 hat Salomon Korn die Gedenk-Routine ebenfalls durchbrochen, indem er in seiner Rede zum 60. Jahrestag der Pogrome in der Frankfurter Synagoge daran erinnerte, daß Millionen Deutsche bis heute von dem Massenraub namens „Arisierung“ profitieren [47] . Hier deutet sich ein Weg aus dem „Gedenkdilemma“ an, den Walser freilich kaum gemeint haben dürfte: daß wir in Zukunft nicht ausschließlich der Opfer gedenken, sondern auch die Täterseite bedenken, bzw. benennen: Namen nennen, wie das die Ausstellung „Betrifft: ‘Aktion 3’: Deutsche verwerten jüdische Nachbarn“ [48] tut [49] .

Die Ausstellung ist eine Sensation: dem Politologen Wolfgang Dreßen ist es gelungen, in klandestiner Art und Weise einige Akten aus den Kellern der Oberfinanzdirektion Köln ans Licht der Öffentlichkeit zu schmuggeln.

Die Finanzdirektion wirft ihm nun „Vertrauensbruch“ vor, denn die Akten sollen geheim bleiben: sie wurden kurzerhand zu „Steuerakten“ erklärt, um sie für weitere 80 Jahre sperren zu können (obwohl darin natürlich keine Steuertatsachen aufgeführt sind). Die Finanzbeamten wollen verhindern, daß die Namen von damals Beteiligten veröffentlicht werden, die noch heute gutbürgerliche Steuerzahler sind. Denn die damaligen Beamten haben alle „Arisierungs“-Deals penibel festgehalten. Man kann genau erfahren, welcher Herr X. oder welche Frau Y. sich geraubten jüdischen Besitz angeeignet hat. Die überkorrekte Buchhaltung der Finanzbeamten wird im Lichte der Öffentlichkeit zur Dokumentation rassistischen Unrechts. Die Kölner Ausstellung geht nun auf Wanderschaft wie die „Verbrechen der Wehrmacht“-Ausstellung. Es wäre wünschenswert, sie bekäme dieselbe Aufmerksamkeit, ist aber unwahrscheinlich. Solche Ausstellungen müßten flächendeckend in jeder deutschen Stadt, jeder Kleinstadt, jedem Dorf stattfinden: die Finanzämter müssen die Akten freigeben. Dazu bedürfte es Druck von unten, doch der ist nicht zu erwarten. Denn das Ausmaß der „Arisierung“ macht deutlich, wie ganz gewöhnlichen Deutschen, die eigene Familie schuldig geworden sind: als „Ariseure“, Mitläufer und Profiteure des Judenmords. Während Nazi-Deutschland mit einem Angriffskrieg über Europa herfiel, fielen an der Heimatfront Nazi-Deutsche raffierig und schamlos über die Wohnungen und Häuser ihrer deportierten jüdischen Nachbarn her. Sie alle wußten, was sie taten. Alle wußten: „Die kommen nicht wieder.“ Und so manch einer wußte sehr genau, wo was zu holen war. Ganz gewöhnliche Deutsche rannten den Finanzämtern die Türen ein, die die „Verwalter“ des jüdischen Besitz waren. Sie hatten genaue Listen über den kompletten Besitz der verschleppten Jüdinnen und Juden, die sie vor der Deportationen selbst anfertigen mußten. Der Run auf das Raubgut war so groß, daß sich die Finanzämter bei anderen NS-Behörden beschwerten: „Kaufliebhaber überlaufen die Dienststellen und behindern den Dienstbetrieb.“

Wie die Aasgeier machte sich die deutsche Zivilbevölkerung über den jüdischen Besitz her: in den Dörfern wurde das Raubgut auf offener Straße versteigert, in den Städten fast täglich in Messehallen günstig angeboten. In der Schnäppchenjagd auf die Beute vollendete sich die nationale Volksgemeinschaft: Krankenhäuser, Kinderheime, Schulen etc. deckten sich mit den Kleidern der deportierten jüdischen Kindern ein und den Ausstattungen aus jüdischen Institutionen, die Universitäten übernahmen Bibliotheken, die Schulen Schulbänke, etc. „Es war ein offenes, kollektives Geheimnis“, so Wolfgang Dreßen [50] , „daß fast jede deutsche Familie, die ausgebombt wurde, später in jüdischen Möbeln saß.“ Die Profiteure der Ausplünderung waren keineswegs nur Parteigenossen. Auch Privatpersonen kauften allerlei Gebrauchs- und Wertgegenständen- für einen Spottpreis. Die „Arisierung“ hatte aus allen Deutschen Volksgenossen gemacht. Die Kaufwut der „arischen“ Deutschen daheim im Reich war so groß, daß ständig Nachschub aus den von der NS-Wehrmacht besetzten Ländern organisiert werden mußte. Speditionsunternehmen machten Reibach: zigtausende Güterwaggons und Frachtschiffe brachten Mobiliar, Gemälde oder Kücheneinrichtungen, Mäntel, Musikalien oder Büchern für die Kaufliebhaber. Schmuck, Teppiche, Kostbarkeiten, die nie zu ihren rechtmäßigen Besitzern oder deren Erben zurückgekehrt sind. Bis heute wird in deutschen Familien aus Porzellan gegessen, dessen rechtmäßige Besitzer in einem Vernichtungslager vergast wurden. Deswegen wird das Thema „Arisierung“ nationales Tabu bleiben: es macht die deutsche Schuld konkret, beweist die Verstrickung des Volkes in die Verbrechen, das Schuldigwerden ganz gewöhnlicher Deutscher durch die Beteiligung der Bevölkerung an dem staatlich organisierten Raub, der dem Massenmord vorausging. Wie die aufgehäuften Schuhe und Brillen in Auschwitz beweisen, bis unmittelbar davor.

Scham und Schande

Oft waren es dieselben Finanzbeamten, die als Arisierungsagenten des NS-Staates den Nachlaß der Deportierten „verwaltet“ hatten, die nach 1945 die Überlebenden bei ihrer Rückkehr in ihre Heimat davon abhielten, zu ihrem Recht zu kommen und ihren Besitz zurückzuholen. Mit großem Erfolg konnten die Ex-NS-Staatsbeamten die Entschädigungsansprüche von Überlebenden abwehren. Dabei waren sie nicht allein, Richter, aber auch Mediziner und v.a. Psychiater haben bei der Abwehr von Entschädigungsforderungen mitgeholfen [51] . Überlebende mußten ehemaligen NS-Mediziner beweisen, daß sie erst durch ihren KZ-Aufenthalt traumatisiert wurden und nicht vorher schon psychisch labil waren (oder aufgrund „genetischer Anlagen“). Sie mußten sich als Bittsteller fühlen und wurden als Lügner und Simulanten verdächtigt, wenn sie keine oder zu wenig Beweise für ihre Verfolgung erbringen konnten. Für viele Überlebende begann eine zweite Qual, eine Re-Traumatisierung durch die deutschen Behörden, deren Gutachter oft genug ehemalige Nazis waren [52] . Das gehört zum beschämendsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte: eine wirkliche Wiedergutmachung der deutschen Verbrechen ist gar nicht menschenmöglich; daß aber auch die menschenmögliche „Wiedergutmachung“ dermaßen staatlich-juristisch erschwert wurde, daß von ehemaligen Nazi-Beamten ein bürokratischer Kleinkrieg gegen NS-Opfer geführt wurde und in der breiten Bevölkerung so ein starkes Ressentiment gegen die Überlebenden besteht hat dazu geführt, daß viele nachgeborene Deutsche auf einen positiven Bezug auf „Nation“ und „Volk“ lieber ganz verzichten. Darin liegt ein fortschrittliches Moment. Doch können die Täternachfahren sich mit einer postnationalen Identität nicht völlig aus der deutschen Misere ziehen.  

In der ZEIT hat Robert Leicht die politische Haftung der nachgeborenen deutschen Staatsbürger für die deutschen Verbrechen beschrieben und sich dabei auf das Erb-Recht bezogen: „Wer für die Schulden (oder die Schuld) nicht haften will, muß das Erbe ausschlagen. Doch wer ein Erbe herrenlos läßt, handelt zugleich verantwortungslos. Geschichtslos sein wollen heißt: die Verantwortung los sein wollen.“ [53]

Dieser Vergleich ist sehr treffend: denn auch „wir“, die schuldfrei nachgeborenen Deutschen sind -durch Staatsbürgerschaft und Familienbande- Mitprofiteure des NS-Unrechts, unfreiwillige „Ariseure“: „wenn am Ende dieses Jahrhunderts etliche Billionen DM von der Kriegsgeneration an die Nachkriegsgeneration vererbt werden, dann sind dabei erhebliche Vermögensanteile aus ehemals jüdischem Besitz.“ (Salomon Korn) [54] . Dann beerben die Täternachfahren die Opfer! Das heißt, wir haben es nicht allein mit einer moralisch nie zu sühnenden Schuld zu tun, wir stehen bei den Überlebenden und ihren Nachfahren auch materiell und finanziell in der Schuld. Dann sind da noch ein paar Rechnungen offen. Die „Erben der Schuld“ müssen auch die Schulden übernehmen: wir erben keine abstrakte moralische Schuld, sondern müssen für die Schäden bezahlen. Und es kann nicht angehen, daß Bubis und der World Jewish Congress, die Entschädigungsforderungen stellen wie lästige Gläubiger behandelt werden. [55] In fünfzig Jahren Bonner Republik waren es etwas mehr als hundert Milliarden DM (der „Aufbau Ost“ verschlingt ein Vielfaches.) Jeder Bundesbürger hat dabei zwischen 1 DM und 1,50 DM beigetragen. Gleichzeitig leben in Osteuropa viele Überlebende, die bisher keinen Pfennig Entschädigung bekommen haben; dafür aber die Täter, Kollaborteure und Mörder im deutschen Dienst, die von der deutschen Staatsanwaltschaft nie gefunden wurden, aber regelmäßig von der deutschen Rentenbehörde [56] . In Osteuropa führen sie ein viel besseres Leben als die Überlebende. Während die Bundesregierung herummauschelt und -schachert, sterben sie in verarmten Verhältnissen. Dann bestünde also die Schande der deutschen Nation darin, daß sie sich so billig und schäbig aus der Verantwortung stiehlt und bis zu letzt ihre Geschäfte mit dem Tod macht. Solange noch Überlebende leben, die nicht zu ihrem Recht gekommen sind, gibt es keine „Gnade der späten Geburt“.

Ende der Schonzeit für die deutsche Groß-Industrie:

„Wiedergutmachung“ [57] war in Deutschland nie populär: zwei Drittel der Bevölkerung war damals dagegen, sowie heute zwei Drittel der Bevölkerung angeblich für einen „Schlußstrich“ sind. Doch die „Wiedergutmachung“, die bisher geleistet wurde, reicht nicht als Schadensersatz. Sie deckt noch nicht einmal den materiellen Schaden durch „Arisierung“: Zwangsenteignung, Raub und Zerstörung. Manche in Deutschland hatten bei der Bundestagswahl 1998 noch die Illusion, eine rot-grüne Bundesregierung würde diesen Mißstand beheben. Doch den Sozialdemokraten ist das Thema schon längst nicht mehr wichtig und der Brandt-Enkel Schröder, erster Bundeskanzler der „Generation Unschuld“ ließ verkünden: „Wir brauchen keine zweite Wiedergutmachungsdebatte“. Und im Jahr 2000 sei aber Schluß mit Zahlungen! Das ist Unfug, die Zahlungen an NS-Opfer werden mindestens bis 2030 weitergehen. Es geht auch nicht um eine „zweite Wiedergutmachungsdebatte“, sondern darum, sich mit den Überlebenden zu solidarisieren und entschieden ihre Entschädigungsforderungen zu vertreten. Die fehlende Bereitschaft, materielle „Wiedergutmachung“ zu leisten das ganze Gerede über „Vergangenheitsbewältigung“, „Aufarbeitung“ und „Erinnerungskultur“ zu schanden. Von der „Schande“ und „unserer aller Schuld“ zu reden ist billig, das kostet nichts. Die Ex-68er, die mit in der Regierung sitzen, sollten sich an den zentralen Satz ihres deutsch-jüdischen Lehrers Horkheimer erinnern: „wer vom Kapitalismus nicht reden will, der muß auch vom Faschismus schweigen.“ Nie gab es einen offensichtlicheren Grund für die Enteignung des Großkapitals. Die führende Köpfe der Industrie und die deutsche Bourgeosie waren Mitwisser, Komplizen und Profiteure des Vernichtungskriegs und des Massenmords der Nazis: Kriegsverbrecher, die zu recht in Nürnberg auf der Anklagebank saßen. Die Schlußstrich-Debatte nutzt v.a. dem deutschen Kapital, nicht nur dem Seelenhaushalt der aussterbenden Kriegsgeneration. Doch der „Genosse-der-Bosse“-Sozi Schröder erklärt vollmundig, seine Aufgabe sei es, sich schützend vor die deutsche Industrie zu stellen. Dabei war es bisher immer nur der Staat, bzw. die Gesellschaft, die „Wiedergutmachung“ geleistet hat - die Großkapitalisten, Profiteure von Sklavenarbeit, Raub und Massenmord, „die Großbanken, Versicherungen und Industriekonzerne haben es verstanden, ihre „Arisierungs“- und Kriegsgewinne zu privatisieren, ihre historische Schuld aber zu verstaatlichen“ (Salomon Korn) [58] . Dabei konnten sie sich immer auf das „Londoner Schuldenabkommen“ (1953) berufen, in dem alle Ansprüche und Forderungen auf den deutschen Staat übertragen wurden. Die meisten Reperationszahlungen konnten ausgeklammert werden. Sie sollten erst verhandelt werden bei einem richtigen Friedensvertrag mit Deutschland. So konnten Forderungen und Klagen von Überlebenden bis 1989 abgewehrt werden. Doch die „Wiedervereinigung“ bedeutete keine verspätete Wiedergutmachung: die NS-Opfer kamen in dem „Zwei-Plus-Vier-Abkommen“ gar nicht mehr vor. Und ein echter Friedensvertrag für das 21. Jahrhundert ist nicht in Sicht. Erst seit 1996, dank eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, hat sich alles geändert: nun sind Klagen möglich geworden. Nun rächt sich, daß die Großkapitalisten ihre Verantwortung an den NS-Verbrechen geleugnet haben. Jetzt haben Überlebende eine Chance, durch „class-action“-Sammelklagen aus dem Ausland zu ihrem Recht zu gelangen. Die Globalisierung hat hier etwas Gutes gebracht: die jetzige Bereitschaft der Konzerne, Stiftungen einzurichten sind nur unter ausländischem Druck (v.a. aus den USA) zustande gekommen. Mit Moral hat das nichts zu tun, es ist die neue „Strategie des ‘Stiftengehens’“: „vom Täter zum Wohltäter“ [59] .

„Wiedergutmachung“ und Entschädigung:

Selbst wenn sich die Bundesregierung an ihren Koalitionsvertrag hält und die Industrie noch im 20. Jahrhundert ihren ehemaligen Sklaven etwas auszahlt, ist damit nichts abgegolten. Die „Ariseure“ und die Profiteure der NS-Sklavenarbeit müssen zahlen, vor allem die Groß-Profiteure der Massenvernichtung: in erster Linie die deutsche Chemie-Industrie, allen voran die zu liquidierende I.G. Farben, Degussa und Degesch wegen Zyklon B, die Groß-Industrie und Versicherungskonzerne wie die Allianz, die Milliarden unterschlagen hat und die Groß-Banken wie die Deutsche Bank, die Dresdner Bank, die Commerzbank, die eigentlich enteignet werden sollten. Die Entschädigungsforderungen sind keine Gefälligkeiten oder Gnadenakte. Es sind längst überfällige Rückerstattungen und Kompensationen: Rückgabe oder Ersatz für geraubten Besitz, Bezahlung des vorenthaltenen Lohns für Sklavenarbeit, Schadensersatz für Freiheitsentzug, körperliche und seelische Schäden, Nachteile im späteren Leben, im Beruf, in der Ausbildung, der Verlust der Angehörigen. „Wiedergutmachung“ und „Entschädigung“ sind dafür ungeeignete Begriffe: als sei durch eine simple Geldzahlung das erlittene Unrecht, die Qualen der Verfolgung, das Leiden, die Todesangst, die Ermordung von Familie und Freunden „wieder gut zu machen“. Als sei der Schaden dann wieder weg. Diese Begriffe verschleiern den Sachverhalt: es geht um Schadensersatz. Durch Schadensersatz soll kein Schaden ungeschehen oder gar „wieder gut gemacht“ werden, sondern Ersatz für materielle Einbußen durch die Schädigungen gezahlt werden. Vor allem der entgangene Lohn, den die deutschen Konzerne ihren ehemaligen Sklaven vorenthalten haben. Davon haben die wenigen Überlebenden der Millionen Sklavenarbeiter bisher nichts gesehen. Entschädigt wurden bisher höchstens der Freiheitsentzug: mit 5 DM pro Tag KZ (und auch das nur, wenn man mehr als ein halbes Jahr in einem KZ inhaftiert war - viele haben einen so langen Zeitraum nicht überlebt). Für die deutschen Global Players wären das „Peanuts“, die sie aus der Portokasse bezahlen könnten: während den Überlebenden 20 Millionen für eine Stiftung angeboten wurde, bot VW den Rolling Stones an, ihre Tournee mit 35 Millionen Mark zu sponsern. Während sie einerseits Historikern ihre Archive öffnen, um das „dunkelste Kapitel der Firmengeschichte“ zu erhellen, wollen sie den überlebenden Opfern der Sklavenarbeit gegenüber das immense Unrecht, das sie an ihnen verbrochen haben, nicht eingestehen. (Vielleicht hat das Großkapital auch die Befürchtung, daß ein umfassender Schadensersatz für die Opfer des „Vernichtung durch Arbeit“ Faschismus-Kapitalismus weltweit einen Präzedenzfall schafft für Schadensersatzforderungen von Opfern von Ausbeutung und Zwangsherrschaft.)

Am deutlichsten wird diese „Strategie des Stiftengehens“ bei den I.G. Farben i.A. (in Abwicklung): statt sich selbst zu liquidieren wie im Kriegsverbrecherurteil von Nürnberg beschlossen, versuchen die „Liquidatioren“ einen Neu-Start. Bei der diesjährligen I.G.Farben Aktionärsversammlung in Frankfurt war Haupttagesordnungspunkt die „Rückgewinnung der Vermögenswerte im Osten“, ein Unterpunkt abzuspeisende Entschädigungsforderungen von Überlebenden. Dabei ist I.G. Farben ein verurteilter Kriegsverbrechen, der zu liquidieren ist und dessen gesamtes Vermögen den Überlebenden zur Verfügung zu stellen wäre. Doch was es bedeutet, sich mit den Überlebenden zu solidarisieren, konnte man auf der Demonstration gegen die IG-Farben-Versammlung am eignen Leib erfahren: die Demonstranten, unter ihnen Überlebende, wurde von der Polizei mit massiver Gewalt abgedrängt, um den Akionären eine ungestörte Versammlung zu ermöglichen. Dieses Bild hat sich mir eingebrannt: eine alte Frau im Rollstuhl, die die eintätowierte Auschwitz-Nummer auf dem Arm hatte und um sie herum die Polizeiketten mit Helmen und Schlagstöcken. Für die Polizei war es ein gewöhnlicher Einsatz, sie ging dabei mit gewohnter Härte vor, während uns die Aktionäre hinter ihrem Schutz zuriefen, wie gehörten selber alle ins Lager. Solange es keine Gerechtigkeit gibt, kann es keinen Frieden geben.

 

Und so bestehen die gesellschaftlichen Strukturen, die in Deutschland den Nazi-Faschismus an die Macht gebracht haben weiter und wir können nicht ausschließen, daß „die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“ [60]

Das 20. Jahrhundert ist vorbei, die Überlebenden sterben, und die Gesellschaft ist immer noch weit entfernt von der Erfüllung des Schwurs von Buchenwald: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

 

Resümee:

Jedoch läßt es sich mittlerweilen so leicht über den Holocaust philosophieren, über Schande, Schuld, Scham oder Verantwortung räsonieren, daß mich das Gefühl beschleicht, daß bei Vielen das Unsägliche, was geschah dabei aus dem Blick gerät. Dabei können wir uns nur über die Empathie dem Thema der Shoah nähern. Meiner Erfahrung nach ist sie bei Kindern und Jugendlichen viel ausgeprägter als bei jungen Erwachsenen. Meine Erfahrung mit diesem Buchprojekt ist, daß ich nicht für „meine Generation“ sprechen kann oder will. Vielleicht wird sich diese Generation von ihren Kindern den Mangel an Empathie und die Ignoranz gegenüber den Erzählungen der Überlebenden vorhalten lassen müssen. In der Ohnmacht gegenüber dem Entsetzlichen bleibt nur Solidarität und Empathie: Solidarität mit den Überlebenden, und „anamnetische Solidarität“ mit denen, die nicht überlebt haben: das Gedächtnis.

Mit der Einrichtung einer zentralen Trauerstätte in Berlin gibt es nun auch einen Ort dafür. Doch die einzig wirklich menschliche Haltung hat der Literaturnobelpreisträger Isaac Singer zum Ausdruck gebracht, als er gefragt wurde, was er sich noch wünsche im Leben: „I want everybody back.“



[1] „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“

Adorno, Theodor W.: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ in: Gesammelte Schriften, Bd.10/2 1977, S.569

[2] Der Tagesspiegel vom 13.12.1998: „Friedensrede als Brandstiftung?“ von Funke, Hajo; Rensmann, Lars

[3] Theweleit, Klaus: „Ghosts“, Frankfurt 1998, S.127

[4] Giordano, Ralph: „Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein“, Hamburg 1987, S.85-167:

“Das Fundament: der Große Frieden mit den Tätern. Die Mörder blieben unter uns.“

[5] ZEIT vom 10.12.1998: „Die Elfjährige und die SS. Walser, Bubis und die Folgen: Überdruß am Gedenken?“ von Mareike Ilsemann

[6] Walser im FAZ-Gespräch: „Der Bundespräsident hat diesen Satz beigesteuert, weil ich meine Rede gehalten habe.“ Und auch für die FAZ stand fest: Herzog habe „Walser unmißverständlich gegen Bubis in Schutz genommen“.

[7] Adorno, Theodor W.: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ in: „Eingriffe“, Frankfurt 1963, S.128

[8] Bubis, Naomi; Mehler, Sharon: „Shtika. Versuch, das Tabu zu brechen“, Frankfurt 1996

s. auch: Schneider, Richard Chaim: „Zwischenwelten. Ein jüdisches Leben im heutigen Deutschland“, München 1994

Brumlik, Micha (Hg.): „Zuhause, keine Heimat? Junge Juden und ihre Zukunft in Deutschland“,

Gerlingen 1998

[9] FAZ vom 10.11.1998: „Wer von der Schande spricht. Niemand darf die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus auslöschen. Eine Rede zum 9. November von Ignatz Bubis.“

[10] „shamor ve zakhor be-dibur echad“: „Gedenke und Bewahre, in einem einzigen Gebot“, heißt es in dem Sabbatlied Lekha Dodi. Das Volk Israel kommt als Gedächtnisgemeinschaft eine besondere Rolle zu: das „Du sollst nicht vergessen!“ ist ein kultureller Imperativ geworden, der sich mit dem Prinzip Gerechtigkeit verbindet und zum Fundament der Kultur an sich wird. 

[11] Süddeutsche Zeitung, Do. 10.12.1998: „Land der Väter und der Täter“ von Claudius Seidl

[12] Interview im Tagesspiegel, 9.11.1998

[13] Assman, Jan: „Das kulturelle Gedächtnis“, München 1999, S.36-37

[14] Tageszeitung, Do. 3.12.1998: „Gegen die Hermeneutik des Mißtrauens / Historikerpreisträger Jan Assmann wirft Martin Walser die falsche Verwendung von Sprache vor.“ Interview mit Harry Nutt

[15] „Junges Deutschland“, Kolumne des ZEIT-Magazins

[16] quelle: http://www.dlf.de/literatur/gespraeche/walser.html

[17] Assmann, S.34ff. über den französischen Soziologen Maurice Halbwachs, der in den 20er Jahren den Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ geprägt hat. Halbwachs lehrte Soziologie in Straßburg, dann an der Sorbonne. 1944, gleichzeitig mit seiner Berufung an das Collège de France, wurde er von den Deutschen deportiert und am 16.3.1945 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet.

Halbwachs führte den Begriff des „sozialen Rahmens“ ein, der das kollektive Gedächtnis strukturiert. Gedächtnis hat zwar immer nur der Einzelne, aber dieses Gedächtnis ist immer schon kollektiv geprägt. Kollektive „haben“ zwar kein Gedächtnis, aber sie bestimmen das Gedächtnis ihrer Glieder. Individuell im strengen Sinne sind nur die Empfindungen, nicht die Erinnerungen. Denn „die Empfindungen sind eng an unseren Körper geknüpft“, während die Erinnerungen notwendig „ihren Ursprung im Denken der verschiedenen Gruppen haben, denen wir uns anschließen.“

[18] Walser, Martin „Unser Auschwitz“, S.22 in:

[19] FAZ vom 10.11.1998: „Das geteilte Gedächtnis“ von Ulrich Raulff

[20] Assmann, S.34

[21] FAZ vom 1. Dez.1998

[22] FAZ vom 14. Dez.1998: „Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung. Das Treffen von Ignatz Bubis und Martin Walser: Vom Wegschauen als lebensrettender Maßnahme, von der Befreiung des Gewissens und den Rechten der Literatur“, S.39-41

[23] Walser, Martin: „Unser Auschwitz“, S.18 in:

[24] FAZ vom 14.11.1998: „Eine Friedenspreisrede. Martin Walsers notwendige Klage“. Der vollständige Absatz in diesem ersten Brief von v. Dohnanyi lautet: „Wer in unseren Tagen zu diesem Land in seiner Tragik und mit seiner Geschichte wirklich gehören will, wer sein Deutschsein wirklich ernst und aufrichtig versteht, der muß sagen können: Wir haben den Rassismus zum Völkermord gemacht; wir haben den Holocaust begangen; wir haben den Vernichtungskrieg im Osten geführt. Diese Verbrechen sind, um mit Walser zu sprechen, deswegen auch unsere persönliche Schande. Nicht „Deutschland“, die abstrakte Nation; nicht das „Deutsche Reich“, die staatliche Organisation; nicht die anderen Deutschen - nein, wir selbst sind es gewesen. Deutsche waren die Befehle; deutsch die Befehlshaber; deutsch die Organisatoren (wenn auch mit europäischer Hilfe) und deutsch auch die Zuschauer. Die Schande trifft noch heute jeden einzelnen von uns als Deutschen. Jedenfalls, wenn er (oder sie) ein nachdenkliches Gewissen hat.“

[25] ebenda

[26] „Freitag“ vom 8.Januar 1999: „Neue deutsche Versöhnung. Was vom Walser-Streit bleibt. Mehr als ein bitterer Nachgeschmack.“ Von Detlev Claussen

[27] Interview mit Martin Walser von 1986 in: MW, Auskunft. Frankfurt 1991.

[28] Die Milgram-Experimente sind ein gutes Beispiel für die zivilisatorische Notwendigkeit, sich mit dem eignen verborgenen destruktiven Potential zu beschäftigen. Der amerikanische Psychiater Hans Ashkenazy hat das in seinem Buch: „Sind wir alle Nazis? Zum Potential der Unmenschlichkeit“ beschrieben (Campus, 1979) 

[29] FAZ vom 26. Nov. 1998: „Worüber zu reden ist. Jan Philipp Reemtsma entgegnet Dohnanyi“

[30] Goldhagen, Daniel Jonah: „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust.“, Berlin 1996

[31] ZEIT vom  3. Dez.1998: „Niemand lebt im Augenblick. Ein Gespräch mit den Kulturwissenschaftlern Aleida und Jan Assmann über deutsche Geschichte, deutsches Gedenken und den Streit um Martin Walser.“

[32] „Eindringliche Bitte an die CDU/CSU: Keine Unterschriftenaktion durchführen

Alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien fordern eine erleichterte Einbürgerung der dauerhaft hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer. Die längst überfällige Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurde bisher versäumt. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizäcker hat die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts als „eines unserer ganz zentralen gesellschaftlichen Probleme“ bezeichnet.

Wie die meisten anderen europäischen Länder will die Bundesregierung, daß der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft nicht von der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit abhängt. Hierüber sollen alle demokratischen Parteien einen Konsens finden. Durch eine Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft werden fremdenfeindliche Vorurteile verstärkt.“

Frankfurter Rundschau Nr 19., 23.Januar 1999

[33] FAZ vom 10.11.1998: „Wer von der Schande spricht. Niemand darf die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus auslöschen. Eine Rede zum 9. November von Ignatz Bubis.“

[34] Rede am Mahnmal an der Rückseite der Paulskirche am 27. Januar 1999. Der AStA der Frankfurter J. W.  Goethe - Universität hatte gemeinsam mit gewerkschaftlichen Gruppen eine Demonstration organisiert und eine Anzeige in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht: „Wir danken Ignatz Bubis dafür, daß er die Dinge beim Namen genannt hat und wenden uns gegen das „Wegschauen und Wegdenken“, dem Martin Walser das Wort redet. GEGEN DAS BRANDSTIFTEN und seine Normalisierung in einer „Berliner Republik“.“ Diese Anzeige wurde von mehr als hundert Personen unterstützt und finanziert, unter ihnen Prof. Micha Brumlik, Ralph Giordano, Lea Rosh, Prof. Horst-Eberhard Richter, Beate Klarsfeld, der ehemalige hessische Justizminister Rupert von Plottnitz und die JUSO-Vorsitzende Andrea Nahles (der Bundesverband der JuLis hatte abgelehnt). Mehrere Mitglieder des Bundestages aus SPD, Bündnis90 / Die Grünen und PDS haben mitunterschrieben (niemand aus der FDP). 

[35] Süddeutsche Zeitung vom 24.11.1998: „Eine Geschichte bis zum Tode ... und darüber hinaus: Der Geschwister-Scholl-Preisträger Saul Friedländer und sein Laudator Jan Philipp Reemtsma im Gespräch“

[36] FAZ vom 9.12.1998: „Der Fleck auf dem Rock. Keine Frage der Schuld, sondern der Verantwortung - Meine Antwort an Walser“ von dem israelischen Botschafter Avi Primor

[37] SPIEGEL vom 07.12.1998: „Zum Hinschauen verdammt.“ Die jüdischen Studenten Mark Jaffé, Hilda Joffe und Igor Gulko aus Berlin über den Streit um die Erinnerung an Auschwitz.

[38] SPIEGEL vom 28.12.1998: „Also doch Erbsünde? Eine deutsche Studentin wehrt sich.“

[39] Geisel, Eike: „Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung“, Berlin 1998, s.S.55ff: „Opfersehnsucht und Judenneid. Ein Kommentar zur Nationalisierung der Erinnerung“

[40] nach „Michael Ende Du hast mein Leben zerstört“ von „Tocotronic“

[41] ZEIT vom 19.11.1998: Monika Maron: „Hat Martin Walser zwei Reden gehalten?“

[42] EMMA 1/99

[43] Die Weltwoche vom 10.12.1998: Gunhild Kübler: „Das neue Selbstgefühl und die alte Schuld“

[44] FAZ vom 14.11.1998. Natürlich vergißt v. Dohnanyi, der sich sein besonderes Rederecht in dieser Frage aus seiner Abstammung von einem 20. Juli-Verschwörer ableitet, an dieser Stelle wieder mal die Sozialisten und Kommunisten, die den ersten und erbittertsten Widerstand geleistet haben, nicht erst, nachdem das militärische Desaster offenkundig war. Aber das ist durchaus Normalität in diesem Land, Roman Herzog macht in seinen Sonntagsrede dasselbe.

Wichtiger in diesem Zusammenhang ist die Replik von Jan Philipp Reemtsma in der FAZ vom 26. Nov. 1998: „Worüber zu reden ist.“: „Erstens kommt es darauf an, was der Fall gewesen ist, und nicht auf die Phantasien von jemanden, wer es auch sei, darüber, was gewesen wäre, wenn alles anders gekommen wäre, als es gekommen ist. Zweitens würde es alle zivilen Maßstäbe auf den Kopf stellen, wenn jemand der Opfer eines Verbrechens geworden ist, zunächst glaubhaft versichern müßte, er selber sei konstitutionell unfähig dazu, Verbrechen zu begehen - genauer am Beispiel: sei jederzeit bereit und in der Lage, Verbrechen zu verhindern oder sich doch für ihre Verhinderung Risiken auszusetzen, bevor ihm das Recht eingeräumt wird, über Strafe, Entschädigung und seinen Wunsch zu reden, das Verbrechen möge nicht vergessen werden. Drittens verkürzt von Dohnanyis Satz die Frage, um die es geht, auf ein Modell, das zu simpel ist, das der Wichtigkeit nicht entspricht und darum zum moralischen Räsonment nicht taugt: hier die Schergen des Regimes, dort eine Bevölkerung, die keinen Heldenmut aufbringt - Helden sind stets nur wenige. Niemand kann von einem anderen verlangen, ein Held zu sein. Wohl aber kann von jedem verlangt werden, daß er kein Schurke und kein Lump sei.“

[45] Theweleit, Klaus: „Das Land, das Ausland heißt“, München 1995, S.33-34

[46] ZEIT vom 12.11.1998: Thomas Assheuer: „Ein normaler Staat?“

[47] Frankfurter Rundschau vom 10.11.1998: „Millionen Deutsche profitieren noch heute von der „Arisierung“. Die Reichspogromnacht wirft Schatten auf das kommende Jahrhundert.“ Von Solomon Korn

[48] Frankfurter Rundschau vom 30.10.1998: „Die Schnäppchenjagd auf jüdisches Porzellan. In den Finanzämtern stapeln sich Beweise, wie die „arischen Nachbarn“ sich am Besitz Deportierter bereicherten“ von Ingrid Müller-Münch

[49] Im Rahmen des Gedenkens die Täter zu benennen sprengt allerdings den Gedenkkonsens. Das mußte die Roma-Union in Frankfurt erfahren, die forderte, auf der Gedenktafel für die ermordeten Roma-Kinder am Frankfurter Gesundheitsamt auch die ärztlichen Schreibtischtäter, die „Rasse- und Zigeunerforscher“ Robert Ritter und Eva Justin zu erwähnen, die nach 1945 ihre Arbeit dort fortsetzen konnten.

Die Sinti und Roma blieben lange Zeit von jeglicher Entschädigung ausgeschlossen: Rassismus habe bei ihrer Verfolgung keine Rolle gespielt, sondern „kriminalpräventive Maßnahmen“. So war es auch nur konsequent, daß die alten NS-Zigeunerakten den Polizeidienststellen weiter zum Gebrauch dienten. Und bis heute geben bei Umfragen über zwei Drittel der befragten Bundesbürger offen einen rassistischen Antiziganismus zu.

[50] Frankfurter Rundschau vom 30.10.1998

[51] Ein Beispiel: in Hamburg entschied der Landgerichtsrat Dr. Günther Schulz, der 1941 an „Rasseschandeurteilen“ mitgewirkt hatte, als Vorsitzender einer Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Hamburg über die Entschädigungsansprüche von NS-Opfern.

[52] Frankfurter Rundschau vom 26.10.1996 Richter: „Der ureigne Platz des Arztes ist stets an der Seite der Hilfsbedürftigen“, Dokumentation von Prof. Horst-Eberhard Richter, der bei einem Ärztekongress den Fall des Würzburger Psychiatrie-Ordinarius Prof. Heyde geschildert, der mitverantwortlich Massentötungen organisiert und als Obergutachter Tausende von Todesurteilen verhängt hatte. Er leitete später eine Ärztekommission, die Kranke, Arbeitsunfähige und sogenannte Psychopathen in den KZ’s aussonderte und sie ins Gas schickte. Nach dem Krieg konnte er einem Häftlingstransport der Alliierten entfliehen und so tauchte er als Dr. Sawade in Flensburg wieder auf und betätigte sich dort als psychiatrischer Gutachter. Seine Identität war in Ärztekreis sehr wohl bekannt. Dennoch konnte er innerhalb von neuen Jahren unbehindert 6.000 bis 7.000 Gutachten erstellen. Wen wundert es da noch, daß so viele Antragsteller auf so wenig Verständnis stießen und als Simulanten verdächtigt wurden?

[53] ZEIT vom 3.12.1998: „Warum Walser irrt. Auch die Nachgeborenen haften für das Erbe von Auschwitz“ von Robert Leicht

[54] Frankfurter Rundschau vom 10.11.1998

[55] s. SPIEGEL vom 30.11.1998: „Moral verjährt nicht.“ SPIEGEL-Gespräch mit Ignatz Bubis:

 SPIEGEL: „Kann es zu so etwas wie einem informativen Overkill bei der Beschäftigung mit dem Holocaust kommen?“

BUBIS: „Den gibt es schon. Ich sage Ihnen, wie das geht. Ein Gläubiger geht auf einen Schuldner zu und übergibt ihm eine Mahnung. Der Schuldner reagiert nicht. Der Gläubiger mahnt ein zweites Mal, der Schuldner reagiert wieder nicht. Nach der dritten Mahnung wird es dem Schuldner zu blöd. Er sagt: Solange du micht mahnst, zahle ich nicht. Aber als er nicht gemahnt wurde, hat er auch nicht gezahlt.“

SPIEGEL: „Ist das die Metapher für das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen?“

BUBIS: „Gegenwärtig habe ich diesen Eindruck. Gläubiger gehen einem immer auf die Nerven. Niemand möchte an seine Schuld erinnert werden.“

1987 kam es zum Skandal, als Hermann Fellner (CSU) öffentlich sagte: „Die Juden melden sich schnell zu Wort, wenn irgendwo in deutschen Kassen Geld klimpert.“ An den Diskussionen während des Walser-Streits konnte man sehen, daß auch diese Vorstellung weitverbreitet ist „hinter vorgehaltener Hand“: die Verleugnung der Schuld verbindet sich mit den alten antisemitischen Klischees oder wie Adorno und Horkheimer sagten: „Die Abwehr der Erinnerung an das Unsägliche, was geschah, bedient sich eben der Motive, welche es bereiten halfen.“.

[56] Als durch Recherchen der Panorama-Redaktion vor kurzem offenbar wurde, daß in Lettland über 300 Angehörige der Waffen-SS eine Beschädigtenrente erhalten, hingegen die Opfer der Shoah in diesem Land bis heute keinen Pfennig erhalten haben, führte das eben nicht dazu, daß die Rentenzahlungen an die SS-Leute eingestellt wurden. Statt dessen wandten sich zu Dutzenden Angehörige der Waffen-SS an die deutschen Versorgungsämter, um Anträge zu stellen. Sie hatten sich bisher offensichtlich nicht getraut, sich öffentlich zu outen und nahmen die Panorama-Sendung jetzt zum Anlaß, ihre Anträge prüfen zu lassen. Das Versorgungsgesetz ist -anders als das Entschädigungsgesetz für NS-Geschädigte- niemals geschlossen worden. Für Leistungen aus diesem Gesetz stehen im Bundeshaushalt jährlich 13 Milliarden Mark zur Verfügung: 13 Milliarden Mark jährlich für Kriegsopferrenten, 1 Milliarden einmalig zur Entschädigung des ganzen, durch das nationalsozialistische Deutschland angerichtete Leids in den Ländern der früheren Sowjet-Union.

[57] Der Begriff „Wiedergutmachung“ stammt laut Dr. Küster aus dem Sprachrepertoire des NS-Regimes (Prof. Böhm und sein Stellvertreter Dr. Küster traten 1952 als deutsche Delegationsleiter zurück aus Protest gegen die moralisch untragbare Haltung der Bundesregierung), s. Burgauer, Erica: „Zwischen Erinnerung und Verdrängung - Juden in Deutschland nach 1945“, Hamburg 1993, S.308

s. ebenfalls: die Ausführungen von Dr. Heinz Düx, der als Untersuchungsrichter an der Vorbereitung der Auschwitz-Prozesse in Frankfurt/ Main beteiligt war: „Geschichte der verpaßten Wiedergutmachung“, Vortrag am 22.10.1996 in der Evangelischen Cyriakusgemeinde, zitiert in: „Die zweite Qual. Entschädigungsverfahren für Verfolgte der NS-Zeit“, Hg. Gruppe Stadtteilerkundung Rödelheim, Frankfurt 1996

Pross, Christian: „Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer“, Berlin 1999

[58] Frankfurter Rundschau vom 10.11.1998

[59] „Vom Täter zum Wohltäter“ lautete der Titel eines Vortrags von einem Vertreter des „Bundesweiten Bündnis gegen I.G. Farben“ bei der Konferenz „Deutschland wiedergutgemacht. Frieden mit Auschwitz - Krieg im Kosovo. Konferenz gegen die Versöhnung mit der deutschen Vergangenheit“ in der Berliner Humboldt-Universität am 2./3. Juli 1999, organisiert vom „Bündnis gegen I.G.Farben“ mit Vertretern der VVN/BdA (Verein der ehemals Verfolgten des Nazi-Regimes/Bund der AntifaschistInnen).

Auf der Konferenz sprachen einige der Überlebenden, die sich in einem Offenen Brief an die Minister Scharping und Fischer gegen deren Rhetorik während des Kosovo-Kriegs ausgesprochen hatten: „Gegen eine neue Art der Auschwitzlüge“: „Wir Überlebenden von Auschwitz und anderen Massenvernichtungslagern verurteilen den Mißbrauch, den Sie und andere Politiker mit den Toten von Auschwitz, mit dem von Hitlerfaschisten im Namen der deutschen Herrenmenschen vorbereiteten und begangenen Völkermord an Juden, Sinti und Roma und Slawen betreiben. Was sie tun, ist eine aus Argumentationsnot für ihre verhängnisvolle Politik geborene Verharmlosung des in der bisherigen Mensch- heitsgeschichte einmaligen Verbrechens. ... Sich als Begründung für einen solchen Krieg auf Auschwitz zu berufen, ist infam.“ Der Brief wurde am 23.4.1999 in der Frankfurter Rundschau als Anzeige veröffentlicht. 

[60] Adorno, Theodor W.: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ in: „Eingriffe“, Frankfurt 1963, S.126-127