home                    Martin Gerhard Bongards, Marburg                        bongards@gmx.net                                       


"Neue" Naturreligion

Etwas verändert erschien dieser Text auch in NOVO 61/62

Seit ca. 20 Jahren drängt sich die Esoterik in all ihren Spielarten, inhaltliche Schwerpunkte bilden die Bereiche Medizin und Natur, mit unschöner Regelmäßigkeit als Thema auf. Erschreckend die heutige Ausbreitung: Keltische und germanische Mythen, selbsternannte Hexen, ein immer wieder brandneues Zeitalter (New Age), Homöopathie, magische Steine und magische Heiler sind mehr als nur gesellschaftsfähig, sind Alltagsanschauungen von Millionen - also auch Ideologie. Man muss gar nicht erst nach Gemeinsamkeiten suchen; diese drängen sich von ganz alleine auf. Ungefragt wird in allen Spielarten sehr schnell ein besonderer Bezug zu "der Natur" hergestellt. Genauso automatisch wird eben diese als anbetungswürdig, als ewig sprudelnder Quell von Kraft und Weisheit dagestellt - und ihre heutige Nutzung als frevelhaft. Dies ist das allgegenwärtige und immer zentrale Element jeder Esoterik. Auch wird, historisch korrekt, auf die lange Tradition solcher Vorstellungen hingewiesen. Alle Erscheinungsformen der Esoterik weisen also, im beginnenden 21. Jh., einen expliziten Bezug zu alten Naturreligionen auf, können also als naturreligiöse Vorstellungen charakterisiert werden.

Auf der Suche nach einem Antidot begegnet man, ebenfalls seit vielen Jahren, immer wieder den Autor/innen Peter Kratz und ausgerechnet Jutta Ditfurth. Den Bezug aller Esoterik zu Natur und Naturreligion definiert sie als übergreifendes ideologisches Muster, als Biozentrismus. Dessen zentraler Gehalt ist die Gleichsetzung des Menschen mit Bestandteilen der Natur. Letzteren werden ohne Zögern eigenes Interesse und eigener Wert zugeschrieben, denn "Existenz ist das einzige Kriterium für den Wert von Teilen der Natur." Der Homo sapiens nur ein Teil, meist ein Störenfried, im Gesamtmechanismus - eine radikalere Entwertung des Menschen ist kaum vorstellbar. Dabei unterschlägt Ditfurth den zentralen Begriff, das englische "deep ecology", all dieser Ideologien. Das muss sie auch, denn an der Verbreitung des "ökologischen Denkens", so die deutsche Übersetzung, wirkt sie bis heute mit.

Wer Skrupel hat, diese direkte Linie zu ziehen, wer sich scheut, "ökologisches Denken" als Esoterik darzustellen, der wird von der profanen Realität wie von einer Walze überrollt. Es waren die politischen Vertreter dieses Denkens, welche z.B. immer wieder dafür gesorgt haben, dass entsprechende Ideologien ("ganzheitliches Denken") in Schulen gelehrt und obskurste Naturheiler von den Medien hofiert und von der Krankenkasse bezahlt werden. Eigentlich ist es keine direkte Linie - es ist ein identisches Milieu. Doch gibt es von dieser Denkungsart auch eine radikalisierte Fassung - meist New Age genannt. Wer sich einmal darüber gewundert hat, wie z.B. Rudolf Bahro in die rechtsradikale Ecke abdriften konnte, der wird von Peter Kratz darüber aufgeklärt, wie dies in seinen Ideen angelegt war.

Die Übertragung von Naturvorbildern auf die Gesellschaft nennt Peter Kratz Organizismus. Dieser "dient dazu, den biologischen Organismus mit seinen von Verschiedenheit geprägten Gliedern (...) als einzig gültiges Vorbild für alles Geschehen in der Welt zu postulieren." Darin hat alles "seinen Platz" in einer "natürlichen" Ordnung. Anhand einer erdrückenden Fülle von Belegen kommt er zu dem Schluss, "dass New Age und Faschismus in wesentlichen ideologischen Komponenten identisch sind." Und genau hier beginnt die seit Jahren immer gleiche Diskussion mit den immer gleichen Warnungen der Autor/innen.

Esoterik - harmlose Spinnerei oder gefährliche Ideologie?
Ohne Zweifel werden alte Indianer so besonders gern zitiert, um der grundsätzlichen Ablehnung moderner Zivilisation Ausdruck zu verleihen - aber deshalb gleich ein wirklicher Zivilisationsbruch, ein Ökofaschismus? Sicher, das dritte Fernsehprogramm ärgert mit biologistischen Erklärungsversuchen für soziale Phänomene, den Quacksalber gibt es längst auf Krankenschein und im Stadtmagazin kommt fast die Hälfte der Kleinanzeigen aus der Esoterikszene - aber eine neue Welle faschistischer Ideologien auf allen Kanälen?


"Wir haben den Fluss in ein Korsett gezwängt, aus dem will er nun ausbrechen."
"Die Natur schlägt zurück."
"Wir haben die Natur so geärgert, dass sie sich nun wehrt."
"Ein grundsätzliches Umdenken ist notwendig."
"Wir müssen im Einklang mit der Natur leben."
"Es geht so nicht mehr weiter"

Stattdessen kam im August 2002 nicht nur eine Welle, ein Hochwasser, sondern eine wahre Flut, eben dessen mediale Verarbeitung. Nachdem im Jahr 2002 die Wasserpegel fielen, wurde überall der ölige Schlamm weggeschippt, der in den Köpfen hielt sich ein Weilchen. Und recht genau ein Jahr danach wiederholte sich das Ganze aus Anlass einiger Wochen mit recht heißem Sommerwetter. Auffällig war die glatte Wiederholung der allgegenwärtigen Erklärungsversuche.

In einer einzigen großen Dauersendung, auf sämtlichen Kanälen, in allen Blättern kamen einem die kursiv gesetzten Zitate entgegen, fast immer als eine Art Überschrift zu den immer gleichen obskuren Betrachtungen, unmöglich sie einzelnen Beiträgen zuzuordnen.

"Wir haben den Fluss in ein Korsett gezwängt, aus dem will er nun ausbrechen."

Dem hohen Pegel im Jahr 2003 folgte, was oft bei übermäßig starken Hochwassern seit dem späten Mittelalter geschehen ist: die ufernahen Dämme brachen und weite Flussniederungen wurden überspült. Die vorhergehenden sehr hohen Niederschlagsmengen wurden, wie die Hitze im folgenden Jahr, auf die allgemeine Erwärmung zurückgeführt. Diese hat, was gern unterschlagen wird, zuallererst natürliche Ursachen.

Errichtet wurden die Flussdämme seit ca. dem 14. Jh. zur Gewinnung der sehr fruchtbaren, aber auch immer sehr gefährdeten Flussauen als landwirtschaftliche Nutzfläche. Ihre regelmäßige Überflutung ist eine seit Jahrhunderten bekannte und einkalkulierte Nutzungseinschränkung. Der Ertragsvorteil in einer Landwirtschaft ohne künstliche Düngung war immer größer. Zuletzt erneuert wurden diese Flussdämme in den 50er und 60er Jahren, ausschlaggebend war die Erinnerung an den Nahrungsmittelmangel nach dem II. Weltkrieg. Seither aber wird diese landwirtschaftliche Nutzfläche zur Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gebraucht und wandelt sich zur reinen Subventionsfläche. Die Dämme einen Kilometer zurück zu verlegen ist die entsprechende Maßnahme, wird in den Niederlanden bereits praktiziert, und stellt keine besondere Herausforderung dar. Hierzulande wurde stattdessen die Elbe als Wesenheit mit quasi eigenem Willen halluziniert, den man eben zu nichts zwingen dürfe. Flut und Hitze als Strafe. Generell steht dahinter die Vorstellung von der

"Rache der Natur." "Die Natur schlägt zurück." "Wir haben die Natur so gequält, dass sie sich nun wehrt."

Natur ist also in der Vorstellung vieler Zeitgenossen etwas grundsätzlich anderes als das Vorhandensein stofflicher Qualitäten wie Wiesen, Wälder, Flüsse etc.. Deren Nutzung verursacht mitunter komplexe Wirkungen, diese werden nun soweit verdichtet, dass der gewöhnliche Homo sapiens als unfähig angesehen wird, dies zu durchschauen. Der aufklärbare Zusammenhang von Ursache und Wirkung wird negiert, sinnvolle Wertungen und Abschätzungen werden unmöglich, Irrationalismus macht sich breit. "Die Natur" wird als Einheit, als vielgliedriges Wesen halluziniert, als Gesamtorganismus angesehen. Zudem hat dieses vielgliedrige Wesen "Natur" auch ihr eigenes Recht, sie darf, ja sie muss geradezu "zurückschlagen". Kennzeichnend dafür ist die Vorstellung von einem "ökologischen Gleichgewicht", welches fast immer, eine Art Erbsünde, durch menschliches Handeln gestört ist und aus unerfindlichen Gründen wiederhergestellt werden muss.

"Ein grundsätzliches Umdenken ist notwendig."

Dieser geflügelte Satz jedes Ökologen in der Nachrichtensendung ist nichts weiter als die Aufforderung zum Konvertieren, deshalb werden auch keine konkreten Maßnahmen aufgezählt. Wie jede Religion definiert sie ihre Nichtbeachtung, d.h. ihre Negation, als Frevel. Die Nutzung stofflicher Qualitäten, der Wunsch und das Streben nach einem reichen Leben gelten als generell verdächtig, als inakzeptabel und soll nicht mehr das Ziel der Wissenschaften sein. Der Natur wird Subjektcharakter zugeschrieben, sie wird als heilig definiert. Menschen dürfen nur noch ein kleiner Teil von ihr sein. Das ist klarster "Biozentrismus", deutlichste Entwertung des Menschen. Die eigenen Artgenossen mit ihren Bedürfnissen zentral zu stellen, und die lieben Mitgeschöpfe allenfalls gebraten zu goutieren, gilt der Naturreligion als die zentrale Anmaßung. Anmaßend (und größenwahnsinnig) sind allerdings die Gläubigen selber, sie sehen sich als die neue Internationale des prinzipiell Guten, welche weltumspannend definiert, was für den Gesamtorganismus gut ist - und was nicht. Damit einhergehend wird die Nichtbeachtung der Glaubensgrundsätze, ihre Negation, zur Vorstellung einer Apokalypse vom ökologischen Zusammenbruch verdichtet. Auch steht dahinter die Vorstellung einer Reinigung vom Übel - und natürlich vom Ökologen als einzig möglichem Erretter.

"Es geht so nicht mehr weiter"

meint explizit die Beherrschung der Natur und wird manchmal, mit einem Großaufgebot an soziologischem Vokabular, als Ausbeutung, als Herrschaft definiert. Auch diese "Esoterik von links" prognostiziert, nachdem sie heillose Verwirrung gestiftet hat, ein baldiges, ein "gerechtes" Ende. Wieder die apokalyptische Vorstellung, deutet dies aber eine der Quellen dieser Geisteshaltung an, denn bei der heutigen Ausbreitung kann es sich nicht um eine je individuelle Sinnkrise handeln. Vertreter beschriebener Anschauungen sind vor allem Journalisten, Pädagogen und Betreuer aller Art, Psychologen, Studenten, Sozialarbeiter, Mediziner und solche, die sich dafür halten; kurzum jener Teil der Mittelschichten, die heute als Produzenten und/oder Multiplikatoren alltäglicher Ideologien tätig sind, oder sich darauf vorbereiten. Gerade das früher manchmal kritische Potential der Mittelschichten wendet sich mit besonderer Hingabe der Esoterik, dem Irrationalismus zu und will offensichtlich vergessen.

Dies ist sicher auch das depressive Ergebnis völliger Orientierungslosigkeit, simple geistige Regression, der Geist des geistlosen Heute, frei von allen intellektuellen und moralischen Ansprüchen - die bedrängte Kreatur sucht Entlastung. Dem Irrationalismus der durchkapitalisierten Welt wird der Irrationalismus der Esoterik entgegengesetzt. Das "ganzheitliche Denken" als idiotische Antwort auf die Zerstückelung des Subjekts. Das Opium des Volkes in postmoderner Fassung. Niemand muss mehr den ganzen Kram kaufen, Angebotshäppchen ganz nach Bedarf. Die enorme Ausbreitung der Esoterik, ausgewählt aus einem pluralistischen Angebot an Ideologien, muss aber weitere Gründe haben. Ideologie ist eine Form des Sichbewusstwerderns der Gesellschaft, ist gesellschaftliche Selbsterkenntnis innerhalb bestimmter Verhältnisse. Esoterik erklärt aber selber nichts, bietet weder Erkenntnis noch Reflexion, verunmöglicht beides, dient also als gezielte "Nichterklärung" gesellschaftlicher Probleme, ist der demonstrierte Unwille rationale Erklärungen und Lösungen auch nur zu suchen. Esoterik als gezielter Abbruch des Erkenntnisprozesses, naturreligiös verbrämt und damit überhöht. Ideologie ist weiterhin ein Mittel des sozialen Bewusstseins und Vorbereitung zukünftiger Praxis. Ersteres, Selbstreflexion also, wird zielgerichtet ausgeschaltet. Generell zielt jede Esoterik gegen wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung und bestreitet deren Möglichkeit. Eine wirkliche gesellschaftliche/ politische Praxis ist allerdings kaum erkennbar - Esoterik also doch nur ein harmloser Spleen?

In allen Erscheinungsformen wird der Natur Subjektcharakter zugewiesen, ihren einzelnen Bestandteilen ein unveräußerlicher Wert. Natur ist aber nichts weiter als eine Sammelkategorie, diese kann beliebig mit Inhalt gefüllt werden - der kürzeste Weg auch zum explizit mörderischen Programm. Allen Erscheinungsformen gemeinsam ist hingegen die generelle Entwertung des Menschen, eine grundsätzliche Ignoranz, eine unausgesprochene (Selbst)Verachtung. Und die ist immer spürbar, jedes Mal, wenn in mehreren tausend Kilometern Entfernung ein Naturschutzgebiet gegen Nahrungsmittelproduzenten "verteidigt" werden muss. Sie richtet sich, wie sehr das auch immer bestritten wird, generell gegen Habenichtse - wo immer diese auch leben.