Welf Schröter
Das Prinzip der Delegation
Software-Agenten verändern das Wissensmanagement
In den Kontroversen über Chancen und Illusionen des betrieblichen oder gar überbetrieblichen Wissensmanagements, wie wir es im Unternehmensalltag kennen, wird nicht selten von der Annahme ausgegangen, dass dieses Bereitstellen und Auffinden von Wissen durch kluge technische Anwendungen "machbar" ist. Unterstellt wird ein Mensch, der gerne zum Wohle des Unternehmens sein Wissen teilt und selbiges freigiebig an andere abgibt. Unterstellt wird ein lernoffenes Individuum, das zum Wohle seines Auftrages bereit und in der Lage ist, täglich sein Wissen zu vermehren. Dieser relativ statischen Projektion wird das ebenso statische Bild einer Datenbank zugeordnet. Die Datenbank hat ihre feste innere Architektur und Struktur. In diese Ordnung des Wissens hat ein Wissender sein neues Wissen einzupflegen, damit ein anderer dasselbe dort an festgelegtem Platz auffinden kann.
Hier beginnt Wissensmanagement mit der Ordnung der Dinge, der Hierarchie der Begriffe, der Festlegung der Baumstruktur. Ihm folgen die Festlegungen der Zugangsrechte. Wer darf wann wo was ändern, eingeben oder gar löschen? Wissensmanagement dieses Typs hat zwei große Nachteile: Erstens stellt es lediglich ein Informations- und Faktenmanagement dar. Zweitens ist die Struktur des Wissens am Tag ihrer Inbetriebnahme bereits von Veralterung bedroht. Wissensmanagement auf diesem Wege ist nicht flexibel, in den seltensten Fällen aktuell und somit wenig nützlich.
Eine Ausnahme bilden befristete "Wissensspeicher", die von einem Arbeitsteam oder einer geschlossenen Community für sich selbst geschaffen werden. Hierbei werden gemeinsam erworbene Erfahrungen gemeinsam technisch abgebildet und gemeinsam "verwaltet". Das gesammelte Know-how bleibt im Verfügungsbereich des Teams oder der Community. Gruppen dieser Art greifen jedoch weniger auf komplexe Datenbanken zurück als vielmehr auf kleinere Lösungen.
Gegenüber einem derartigen Leitbild des Wissensmanagements (real: Informationsmanagement) durch vorherige Wissensordnung (real: Informationsordnung) tritt nun ein Modell auf, das die Kultur der Aufgeräumtheit und Übersichtlichkeit drastisch verletzt. Das alte Modell gibt der Nutzerin/dem Nutzer die Hoffnung, dass die vorgefundene Strukturiertheit des Informationsangebotes auch die Qualität der Antwort sicherstellt. Die Strukturiertheit gibt vor, eine Klarheit der Richtung, die Sicherheit der Perspektive und die Eindeutigkeit der Orientierung beschreiben zu können. Das sich entfaltende neue Modell dreht die Anforderung um. War früher der "Datenbank-Hausmeister" der zentrale "Wissensmanager" und somit der Informierteste, da er die Verästelungen des Wissens technisch verfeinert hatte, setzt das neue Modell nicht auf die Architektur des Angebots sondern auf die Architektur der Frage. Im alten Denken saß die Intelligenz in der Ordnung der Fakten, das neue Modell verlangt die Intelligenz in der Herangehensweise der Fragestellung. Das alte Modell fußte auf einer oder mehreren starren Datenbanken, der neue Ansatz nutzt flexible mobile Software-Agenten.
Der Ansatz einer agentenbasierten Informationslogistik als qualitativ neuem Typ des Informationsmanagements stellt nicht nur einen Technikwechsel dar. Dahinter verbirgt sich eine andere Philosophie der Informationszugänglichkeit, eine andere höhere Anforderung an die Nutzer und ein Loslassen des Gedankens, man könne die Virtualisierungsprozesse zähmen, in dem man ihnen Datenbanken als Heimat anbietet. War der Nutzer einer Datenbank lediglich Kunde bzw. Pfleger eines festen Informationswegeplans, so ist der Anwender des "Prinzips der Delegation" jedes Mal erneut Subjekt des Handelns, das bei jeder Transaktion Informationen frisch und flexibel strukturieren lässt.
Das "Prinzip der Delegation" verlangt vom Angebot an Informationen und Fakten nicht, dass dieses sich in einer fest gefügten Hülle befindet. Informationen müssen nur elektronisch verfügbar und zugänglich sein. Nicht die Ordnung ist das Leitmotiv, sondern die Zugänglichkeit. Dies kann vom fröhlichen Chaos bis zum unerfreulichen Durcheinander alles bedeuten. Erforderlich ist dabei auch nicht, die "Lagerung" der Daten in einem einzigen virtuellen "Heuschober". Das zu suchende, aufzubereitende und zu bewertende Datenmaterial kann im Netz verteilt, verstreut, chaotisch benannt und in den unterschiedlichsten technischen Formaten vorhanden sein. Entscheidend ist, dass es online auffindbar und zugänglich ist.
Die Aufbereitung des gesuchten "Contents" erfolgt nicht durch die Inhaltsarchitektur des Informationsangebots sondern durch die Formulierung der Fragestellung, durch die Kompetenz der präzisen Auftragserteilung, durch die Befähigung zur Delegation. Delegieren zu können bedeutet nun auch, zielgenau Fragen zu können. Instrumente der Durchführung sind die Software-Agenten. Subjekt des Vorgangs ist das Individuum, das die Delegation auslöst.
Das den Vorgang, die Transaktion auslösende Subjekt muss allerdings auf dieses neue Denken und Handeln vorbereitet werden. Es muss in anderer Weise kompetent und souverän werden. Es benötigt "Onlinekompetenz" und "Delegationskompetenz". Es muss ganzheitlich und selbstgesteuert agieren können. Der neue Ansatz bietet erhebliche Chancen zur Emanzipation und zugleich die Gefahren der Zugangsbarrieren wegen mangelnder Qualifikation oder zu geringem Abstraktionsvermögens.
Das "Prinzip der Delegation" ist allerdings nicht nur ein Technik- oder Bildungsthema. Die entscheidende Herausforderung liegt in ihrer Einbettung in das anwachsende Phänomen der "Electronic Mobility" und dem Entstehen der "nicht-personalen Mobilität"1. Dafür hat das F&E-Leitprojekt "MAP Multimedia-Arbeitsplatz der Zukunft"2 die Türen der Veränderung weit aufgemacht. Der andere Teil der Herausforderung lässt sich an der zunehmenden raum-zeitlichen Verschränkung des Lernens im Arbeitsvorgang, der aufgabenbezogenen Verknüpfung von Online-Arbeiten und Online-Lernen ablesen. Die große Chance der arbeitsprozessorientierten Weiterbildung (APO) und des "Just-in-Time-Lernens" wird zugleich die Verbreitung von "Electronic Mobility" und damit des "Prinzips der Delegation" beschleunigen helfen. Zum Dritten wird der Vorgang der Dezentralisierung und Enthierarchisierung von Informationsmanagement, wie er durch das "Prinzip der Delegation" vorangetrieben wird, Kontrollverluste und Führungskomplikationen beim mittleren und höheren Management auslösen. Wer Agenten nutzt, muss kein Nutzerrecht in der Datenbank erwerben, muss nicht die Gewährung des Zugangsrechtes "von oben" als Gunst genießen.
Die Komplexität dieses mindestens dreischichtigen Prozesses verlangt nach einer tieferen und akzeptableren Definition und Praxis von Wissensmanagement, denn "Electronic Mobility" und das "Prinzip der Delegation" werden elementare Bestandteile einer "next generation information society" sein.
Die Begriffe "Electronic Mobility" und "Delegation" sind Ergebnisse eines der größten Technologie-Leitprojekte des Bundeswirtschaftsministeriums in der Zeit von 2000 bis 2003. Forschung und Unternehmen haben unter Beteiligung der Gewerkschaften die Entwicklung mobiler Software-Agenten und ihre prototypischen Anwendungen forciert. Zu den zentralen Ergebnissen gehören unter anderem die technischen Innovationen einer (mobilen) Agentenplattform, hohe Datensicherheit, elektronisches Signieren und die Herstellung rechtsverbindlicher Telekommunikation mit transaktiven Agenten.
Ein in MAP entstandenes Szenario beschreibt die Möglichkeit, dass ein Mensch einzelne Arbeitsgänge an einen virtuellen Helfer im Netz einen sogenannten Softwareagenten delegieren kann und dieser in rechtsverbindlicher Weise autonom Transaktionen im Namen seines Auftraggebers durchführt. Nehmen wir an, dass sowohl die Fragen des sicheren Datentransfers wie auch des mehrseitigen Datenschutzes gewährleistet wären, so ließen sich in erheblichem Umfang Arbeitsabläufe neu strukturieren. Dem Beschäftigten träte ein "virtueller Teamkollege" zur Seite, der anfänglich Routinetätigkeiten erledigt, bis er als lernendes Modul das Profil seines Auftraggebers so gut kennengelernt hat, dass er komplexere Aufgabenstellungen abwickeln kann. Vervollständigen wir das Bild durch den Hinweis, dass der "Kollege Softwareagent" mobil ist und sich über das Netz standortungebunden bewegt, so fällt nun auf, dass damit das Potenzial entsteht, Arbeitspakete losgelöst vom auftraggebenden Menschen mobil werden zu lassen. Der Begriff der "mobilen Arbeitswelt" erhält mit der "Electronic Mobility" eine zweite Dimension.
Unter Electronic Mobility werden derzeit fünf unterschiedliche Formen netzgestützter oder IT-begleiteter Arbeit bzw. Arbeitsmodule als "personale" und "nicht-personale Mobilität" zusammengefaßt, die sich intelligenter Wege der Assistenz, der Delegation oder anderer agentenbasierter Hilfsmittel bedienen. Aus der Sicht von Electronic Mobility umfassen die erkennbaren neuen Mobilitäten von Arbeit:
Die Infrastrukturen neuer Kommunikationstechniken erlauben auf der Basis des Einsatzes von Software-Agenten die Mobilität von Arbeitsinhalten durch Assistenz und Delegation losgelöst von der Mobilität bzw. Immobilität des/der jeweils Beschäftigten. Während in der klassischen industriellen Arbeit mit dem Gedanken von durchlaufenden zentralen Maschinenzeiten die Ortsgebundenheit produktiver Arbeit bei gleichzeitiger Rotation der Arbeitenden bekräftigt wurde, erlaubt die Virtualisierung von Arbeitsschritten die dezentral-mobile Bereitstellung sowie mobile Verfügbarmachung von Arbeit. Arbeit wird personen-ungebunden mobil. Zugleich finden sich Formen der Mobilität der Arbeit, bei denen die Arbeit zusammen mit der Person mobil ist. Ein Paradigmenwechsel offenbart sich nun mit der zunehmenden Virtualisierung der Arbeit und der agentengestützten Delegationstechnik, womit die arbeitende Person zwar mobil oder immobil, die Arbeit bzw. Module davon selbst jedoch erstmalig im durchgreifenden Sinne mobil sein kann.
Im Leitprojekt MAP hat das "Forum Soziale Technikgestaltung" beim DGB Baden-Württemberg als Leitung der MAP-Stabsgruppe "arbeit 21" einen Dialog zu sozialen Gestaltung von "Electronic Mobility" initiiert. Neben der Frage nach den sozialen Standards und den Auswirkungen der neuen Techniken gilt das Potenzial der "Personalisierung" der Software-Agenten als besonders sensibel und zugleich chancenreich.
Die Agenten können auf den Nutzer bzw, Auftraggeber bezogen, also personalisiert werden. Der Agent "lernt" mit, in dem er Informationen und situative Kommunikationen sammelt. Die mobile Software-Einheit kann nach Bedarf des Delegierenden beauftragt werden, bestimmte Fakten zu suchen und zu ordnen. Der Agent kann regelmäßig als Monitoring-Funktion genutzt werden oder Dokumente themenbezogen zusammenstellen. Er kann für seine Nutzerin, für seinen Nutzer ein stetiges Informationsmanagement durchführen. Er stellt somit auch ein Profil zusammen. Der Agent wandert durch die Netze und kommuniziert mit Servern, Datenbanken oder anderen Agenten. Er kann wenn er dazu beauftragt wurde auch gebührenpflichtige Angebote ansteuern, Zugangsverträge unterzeichnen und mit Hilfe der elektronischen Signatur auf einem hohen Sicherheitsniveau digitalen Know-how-Transfer betreiben. Der Agent benötigt dafür kaum bzw. keine festen Architekturen der Informationsanbieter. Die gesuchten Daten müssen nur im Netz sein und zugänglich sein. Informationsmanagement kann somit auf die jeweilige Person flexibel angelegt, ihrem Qualifikationsprofil und Nutzungsprofil adäquat angepasst und sicherheitstechnisch nur durch sie zu öffnen sein. Wissensmanagement könnte durch personalisiertes agentengestütztes Informationsmanagement erleichtert werden. Informationslogistik rückt in den Vordergrund.
Die Personalisierung ermöglicht auch neue Impulse in der Weiterbildungsorganisation. MAP, Handwerk und Forum Soziale Technikgestaltung gehen einen gemeinsamen Weg: "Weiterbildung und insbesondere arbeitsprozessorientierte Lernformen bilden eine große Herausforderung für das Handwerk. Zugleich stellen sie ein eindeutiges Zukunftsszenario dar. Durch den hohen Innovationsdruck in den technisch ausgerichteten Gewerken, ist die Notwendigkeit anforderungsbezogenes und kontinuierliches Lernen zu unterstützen hoch. MAP kann mit seinem Modulbaukasten die Personalisierung der Weiterbildungsangebote und deren Zugänglichkeit vorantreiben. Beschäftigte des Handwerks erhalten 'ihren' persönlichen Assistenz-Agenten, der nur für sie einsehbar ist und der die Bildungsbiographie passgenau fortschreiben hilft."
Wissensmanagement setzt voraus, dass aus Informationen Wissen wird. Wie aus Informationen Wissen generiert wird, ist allerdings nicht primär ein Technikproblem. Wissen entsteht vor allem durch Erfahrungen und durch natürliche Kommunikation. In dem Maße wie der Prozess der Virtualisierung zunimmt muss der Grad der natürlichen Kommunikation proportional steigen. Software-Agenten können Vorgänge und Prozesse erleichtern und neue Dienstleistungen ermöglichen. Sie werden aber in der Kommunikation nicht an die Stelle von Menschen treten.
1 Welf Schröter, Soziale Gestaltung von "Electronic Mobility", arbeit 21 Personale und Nicht-Personale Mobilität, in: Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung, Forum Soziale Technikgestaltung (Hg.), Mobile Arbeitswelten Soziale Gestaltung von "Electronic Mobility", Mössingen 2002, S. 101-120.
2 Manfred Weiss, Christoph Busch, Welf Schröter (Hg.), Multimedia-Arbeitsplatz der Zukunft, Assistenz und Delegation mit mobilen Softwareagenten, Mössingen 2003.