Jungle World 44 - 20. Oktober 2004
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»Es geht gar nicht um Leistung«

Spitzenkarrieren sind von der Herkunft abhängig. Der Soziologe michael hartmann über den Mythos von der Chancengleichheit

Geschlossene Gesellschaft! Für Spitzenkarrieren in Deutschland ist die soziale Herkunft noch immer wichtiger als die individuelle Leistung. Michael Hartmann, Professor für Soziologie an der TH Darmstadt, hat für seine Studie »Der Mythos von der Leistungselite« die Berufsverläufe von Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern untersucht und festgestellt, dass die Promotion noch lange nicht den Weg zur Top-Position in der Wirtschaft ebnet. Die größten Chancen haben Promovierte, die aus dem gehobenen oder dem Großbürgertum stammen. Die soziale Öffnung des deutschen Bildungswesens hat bislang nicht zur sozialen Öffnung der Eliten geführt. Gerade ist im Campus-Verlag sein Buch »Elitesoziologie« erschienen, das sich mit der Rekrutierung von Eliten in den fünf größten Industriestaaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan und USA) beschäftigt.


Sie behaupten, dass Spitzenkarrieren in Deutschland an die soziale Herkunft gekoppelt seien. Es gibt prominente Gegenbeispiele: Gerhard Schröder kommt aus einer Arbeiterfamilie, Horst Köhlers Vater war Bauer, Joschka Fischer ist ein Metzgersohn. Wen bezeichnen Sie denn als Elite?

Der Begriff beinhaltet durchaus auch die Spitzenpolitiker. Bei Eliten handelt es sich um Personen, die in Positionen sitzen, von denen aus sie die Entwicklung in der Gesellschaft maßgeblich beeinflussen können, also Spitzenpositionen in der Wirtschaft, in der Politik, in der Verwaltung, in der Justiz, zum Teil in der Wissenschaft.

Wie erklären Sie den Aufstieg von Politikern wie Gerhard Schröder?

Es gibt in Deutschland eine Besonderheit, die Kleinbürgerlichkeit der Politik. Das erklärt die Phänomene Schröder, Fischer, Köhler. Wenn man sich die deutschen Bundeskanzler seit 1945 anguckt – Adenauer muss man dabei ausklammern, weil dessen Herkunft in ein anderes Jahrhundert fällt –, dann kamen sie wie Schröder oder Brandt entweder aus Arbeiterfamilien oder wie die meisten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, also kleine Selbständige, mittlere und gehobene Beamte, so wie etwa im Fall von Helmut Kohl. Es gab nur einen Bürgersohn, nämlich Helmut Schmidt. Das merkt man dem auch an. Dessen Vater war Studienrat in den zwanziger Jahren.

Was sind die Gründe für diese deutsche Besonderheit?

Das hat mit der Struktur der Parteienlandschaft zu tun. Wir haben hier zwei dominierende Volksparteien, während es etwa in Frankreich keine Partei gibt, die mehr als 100 000 Mitglieder hat. Die SPD hatte einmal über eine Million! Diese neue bürgerliche Partei, die Chirac praktisch für sich gegründet hat, ist so eine typische bürgerliche Honoratiorenpartei, wie es sie in Deutschland auch gegeben hat in den zwanziger Jahren und im Kaiserreich, aber nicht mehr nach 1945. Der Einfluss relativ weiter, besonders kleinbürgerlicher Kreise auf die Rekrutierungswege war und ist immer noch sehr groß. Man muss im Grunde im Ortsverein anfangen und dann die lange Ochsentour machen. Das bedeutet, man muss von seinem Habitus her eine Nähe oder Ähnlichkeit haben zu denen, die diese Parteikarrieren maßgeblich beeinflussen. Und das sind Leute aus einem eher kleinbürgerlichen Milieu, oder in der SPD in den fünfziger und sechziger Jahren auch aus dem Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieu. Das hat dazu beigetragen, dass in der Spitze der Parteien lange Zeit Leute mit solch einer sozialen Herkunft dominiert haben.

Ist das heute immer noch so?

Da zeichnet sich eine Veränderung ab, parallel zur Erosion der großen Parteien. Die verlieren ja nicht nur Wähler, sondern auch Mitglieder und vor allem aktive Mitglieder. Es zeichnet sich ein Trend ab zur Verbürgerlichung. Politikerdynastien hat es in Deutschland früher nicht gegeben, aber jetzt ist zum Beispiel die Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht in Niedersachsen im Kabinett, die Tochter von Strauß im bayerischen. Auch der Vater von Roland Koch war schon Minister. Es findet eine Annäherung an die internationalen Verhältnisse statt.

Die Wirtschaft ist Ihren Untersuchungen zufolge der undurchlässigste Bereich.

Die Wirtschaft ist fast gar nicht durchlässig. Es gibt einzelne Ausnahmen. Aber in der Wirtschaft sind die Mechanismen so hermetisch, weil es erstens keine demokratische Beteiligung gibt, nicht einmal eine so begrenzte wie bei den heutigen Parteien. Wenn sich in der Wirtschaft ein paar wenige Personen einig sind, derjenige passt zu uns, dann ist die Personalfrage damit entschieden. Wir haben in der Wirtschaft auch keine formalisierten Verfahren für eine Karriere wie in der Verwaltung oder Justiz. Je kleiner die Kreise und je informeller die Kriterien, desto geringer sind die Chancen für Leute aufzusteigen.

Welche Ausschlussmechanismen werden da wirksam?

Die Entscheidung, ob jemand in den Vorstand oder die Geschäftsführung kommt, treffen seine zukünftigen Kollegen und vielleicht der Aufsichtsratsvorsitzende oder der Inhaber, also ein sehr kleiner Kreis von Personen. In den Untersuchungen, die ich gemacht habe, hat sich herauskristallisiert, dass die Entscheidung letztlich aus dem Bauch getroffen wird. Wie bei ganz vielen Dingen. Die Chemie muss stimmen, wie man so schön sagt. Das umschreibt ja nur, dass man jemanden sucht, der in diesen Kreis passt. Und es passt in der Regel jemand, der von seinem Verhalten, von seinen Einstellungen, seinen Vorlieben her denen ähnelt, die da schon sitzen. Man signalisiert in seinem Verhalten, dass man das Milieu, in dem man sich dort bewegt, kennt. Dementsprechend geht man mit den Codes und ähnlichem um. Pierre Bourdieu hat das am Beispiel Frankreichs ja ausführlich geschildert. Das kann man hier genauso wiederfinden. Es ist der Habitus, an dem man sich erkennt, der Vertrauen schafft, weshalb jemand als zugehörig empfunden wird.

Hat der Boom der New Economy und der IT-Branche in den Neunzigern daran etwas ändern können, in der Art, dass auch in der Unternehmensführung plötzlich Kriterien wie Jugendlichkeit, Kreativität, Flexibilität und die Nähe zu den Zielgruppen wichtiger werden? Wurde das geforderte habituelle Repertoire durch das Auftauchen eines neuen Unternehmertypus also durch Leute wie Bill Gates in den USA nicht auch in Deutschland erheblich verändert?

Es sah mal kurzzeitig so aus. Aber die meisten Unternehmen der New Economy sind ja wieder vom Markt verschwunden. Wenn man sich die großen anguckt, die sich gehalten haben, dann sind da doch weit überproportional viele bekannte Namen zu finden, deren Väter zum Kern der Wirtschaftselite gehört haben, ob das der Sohn vom Mohn ist, von Deutsch-Banker Cartellieri oder von Bohlen aus der Krupp-Familie. Das lässt mich vermuten, dass nach einer ersten Phase, wo noch vieles möglich ist, die üblichen Kriterien Einzug halten. Bei der New Economy ging es schnell darum, wer ist noch kreditwürdig, wer hat die entsprechenden Beziehungen wie der Mohn von Lycos Europe, hinter wem steht ein Vater, der die eventuellen Verluste abdeckt oder eine Firma wie Bertelsmann, die die entsprechenden Aufträge garantiert.

Was ist das eigentlich Problematische an dieser Elitenreproduktion? Kritisieren Sie die Macht, die eine Elite auf sich konzentriert, oder die Ausschlusskriterien, die die Elite produziert?

Es geht mir nicht darum, dass mehr Arbeiter und Kleinbürger in die Chefetagen der Wirtschaft sollen. Es geht um den Schein, der in dieser Gesellschaft gepflegt wird, jeder könne es schaffen und die Besten seien oben. Es stimmt nicht, dass es sich um eine Leistungsgesellschaft handelt. Und wenn das so ist, dass es nicht um Leistung geht, sondern um die Reproduktion von Macht und Klassenverhältnissen, dann ist es zwingend notwendig, diejenigen, die in diesen Positionen sind, zu kontrollieren. Sei es durch öffentliche Kontrolle, durch Gewerkschaften, teilweise auch durch parlamentarische Verfahren und Gesetze. Wenn Sie ernsthaft über das Gesamtproblem diskutieren wollen, dann müssten Sie sagen: An diesen Mechanismen ändert sich erst etwas, wenn sich die Verhältnisse grundlegend ändern. Das war schon früher so. Die Bürger haben den Zugang zu den Spitzenpositionen des Staates erst erhalten, nachdem sie den Adel entmachtet hatten.

In den siebziger Jahren gab es ein Bewusstsein, ein Misstrauen gegen die Elite. Hat sich heute die Idee von der Leistungselite durchgesetzt und sind die Eliten damit akzeptiert?

Es gibt einen Teil der Gesellschaft, der vehement darauf pocht, dass die Gesellschaft Eliten braucht, und dass diese Eliten auch das Recht haben, die gesellschaftlichen Führungsprinzipien zu formulieren. Auf der anderen Seite gibt es immer noch ein weit verbreitetes Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber dem, was als Elite etikettiert wird, weil man nicht zu Unrecht vermutet, dass es da weniger um Leistung als um Privilegien und Macht geht. Aber die mediale Dauerberieselung mit Elite-Hochschulen usw. hat dazu geführt, dass bei Umfragen die Zahl der Leute, die diesem Elitebegriff positiv gegenüber stehen, langsam aber stetig zunimmt. Nach den letzten mir bekannten Zahlen liegt das Verhältnis von positiver und negativer Einstellung bei 39 zu 55. Die Mehrheit steht dem Begriff jedoch weiterhin skeptisch gegenüber.

Die Hoffnungen der Bildungsreformer der sechziger Jahre auf einen tiefer greifenden Wandel in der Gesellschaft haben sich nicht erfüllt. Was ist falsch gelaufen?

Nicht alle Hoffnungen sind enttäuscht worden. Falsch gelegen haben die Reformer mit der Einschätzung, durch Bildungspolitik ließen sich gesellschaftliche Machtverhältnisse verändern. Unterhalb dieser Ebene aber ist in den sechziger und siebziger Jahren viel passiert, danach allerdings nicht mehr. Der Anteil von Arbeiterkindern, die es an die Universitäten geschafft haben, ist in diesen zwei Jahrzehnten deutlich angestiegen. In meinem Jahrgang hat es nur jeder Zehnte zum Abi geschafft, heute sind es fast 40 Prozent. Das liegt aber nicht nur an der Bildungspolitik, sondern auch an veränderten Berufsstrukturen.

Wie könnte denn mehr Chancengerechtigkeit erreicht werden?

Man müsste zum Beispiel endlich ernst machen mit der Aufhebung des dreigliedrigen Schulsystems. Ganztagsschulen einführen, das wäre ebenfalls ganz entscheidend. Aber das sind nur einzelne Schritte, die an den Machtstrukturen nichts ändern, die aber dennoch eine Verbesserung der Lebenschancen beinhalten. In Ansätzen wurde das in den späten Sechzigern und den frühen Siebzigern, als genug Geld da war und das gesamtgesellschaftliche Klima solche Bewegungen unterstützt hat, umgesetzt. Seit den Achtzigern ist die Entwicklung eher rückläufig und die großen politischen Kontroversen im Bildungsbereich laufen jetzt genau entlang der Frage, ob man weiterhin ein dreigliedriges System haben und die Eliten fördern will oder ob wir noch einmal einen ernsthaften Versuch unternehmen wollen, das, was in den Sechzigern und Siebzigern angefangen wurde, wieder aufzugreifen und vielleicht diesmal etwas weiter zu treiben.

In den USA gibt es das berühmte Ideal des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär, die deutsche Mentalität lässt sich eher mit dem Sprichwort »Schuster, bleib bei deinen Leisten« umschreiben. Welche Rolle spielen mentalitätsbedingte Ideale und das Erziehungssystem in Deutschland?

Solche Mentalitäten tragen dazu bei, die Dreigliedrigkeit zu zementieren. Man glaubt, man müsse Leistungshomogenität schaffen, um hohe Leistungen zu erhalten. Die Meinung, dass man frühzeitig selektieren muss, ist auch bei vielen Lehrern sowie in Teilen der Bevölkerung relativ fest verankert. Da müsste man ansetzen. Es stimmt, dass dies in den USA anders ist. Man muss allerdings sehen, dass man dort zwar keine Dreigliedrigkeit hat, es andererseits aber umso wichtiger ist, in welchem Stadtteil man geboren wird. Ob man in eine Highschool in der Bronx geht oder im Greenwich Village oder gar irgendwo in einem Nobelvorort, das macht einen riesigen Unterschied. In Deutschland hat sich die Vorstellung, dass man es durch Leistung nach Oben bringen kann, nach dem Krieg peu a peu durchgesetzt. Die Wirklichkeit war es ja oberflächlich betrachtet auch so, gerade in den sechziger und siebziger Jahren. Eine kritischere Sicht der Gesellschaft hat sich eigentlich erst wieder ab Ende der Neunziger stärker durchgesetzt, mit den Problemen in den neuen Bundesländern, mit der Verschärfung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft. Da wird die Frage, ob wirklich jeder gleiche Chancen hat, virulent und es gibt neue politische Konflikte.

Kann eine demokratische Alltagskultur neue Werte setzen, so dass die Vorbildfunktion des eigenen Elternhauses und des Milieus, in das man hineingeboren wird, zumindest ein Regulativ hat?

Da bin ich skeptisch. Es gibt eher eine gegenläufige Entwicklung gerade im Bereich der Breitenkultur. Etwa, dass die Grenzen zwischen denen, die zu den besseren Kreisen gehören und dem Rest durch die Medien schärfer gezogen werden. Ganz platt zugespitzt gesagt: Die einen gucken eben RTL oder RTL II und die anderen im Extremfall Arte und 3Sat. Früher gab es nur das Erste und das Zweite. Schon von den bevorzugten Sendern her hat man eine Bündelung verschiedener Merkmale. Und das bekommt man familiär transportiert, je nachdem, was Zuhause geschaut wird. Auch die Auswahl der Zeitungen wird sehr stark durch das Milieu bestimmt. Wenn man das genau untersucht, sieht man, wie stark immer noch die familiäre Herkunft Einstellungen, Vorlieben und ähnliches prägt.

Wenn die Bildungspolitik von Eliteschulen spricht, meint sie eigentlich die Klassengesellschaft?

Selbstverständlich. Es geht bei den sozialen Auseinandersetzungen im Augenblick darum, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern zählen wird. Die Eliteschulen und Elite-Universitäten haben dabei eine wichtige soziale Funktion. Sie schotten die besseren Kreise der Gesellschaft im Bildungssystem noch stärker nach unten ab. In Bayern spart man gerade bei der Förderung von Studierenden etliche Millionen ein, auf der anderen Seite fließt ein fast gleich hoher Betrag von rund neun Millionen Euro in die Förderung von Eliten. Das verbessert im Bildungssystem die Chancen für diejenigen, die ohnehin die besseren Ausgangsbedingungen haben. Es wird auf Dauer dazu führen, dass man in Zukunft schon anhand des Hochschulabschlusses erkennen wird, aus welchen sozialen Kreisen jemand stammt und ob er für eine Position in Frage kommt. So werden Klassenverhältnisse reproduziert.

interview: heike runge