Höflich?
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Gedanken zur Höflichlickeit
oder: ist man unhöflich, wenn man nicht höflich ist?
er Mensch unterscheidet sich von den Tieren
vor allem durch seine herausragenden kognitiven Fähigkeiten: Sapiens bedeutet vernunftbegabt. Er hat den Vorteil, sich
bei der Beurteilung seiner Umwelt nicht ausschließlich auf seinen Instinkt oder seine Emotionen verlassen zu
müssen, sondern kann seine Gefühle und Empfindungen verstandesmäßig hinterfragen. Und
wenngleich es ihm wohl nie gelingen wird, sein soziales Umfeld unvoreingenommen zu betrachten, so kann und sollte
er sich zumindest bemühen, einer objektiven Wahrnehmung möglichst nahe zu kommen.
Tun wir das einmal an ein paar kleinen Beispielen in Sachen Höflichkeit:
- Sicher ist es höflich, einer Dame die Tür aufzuhalten.
Aber ist es auch unhöflich dies nicht zu tun, wenn man beide Hände voll hat?
- Sicher ist es höflich, ein Kleidungsstück vor dem Kauf anzuprobieren.
Aber ist auch unhöflich, ein nichtpassendes Kleidungsstück umzutauschen?
- Sicher ist es höflich, jemanden an der Kasse vorzulassen.
Aber ist es auch unhöflich, dies nicht zu tun, wenn man es selbst eilig hat?
- Sicher ist es höflich, dem Kellner Trinkgeld zu geben.
Aber ist es auch unhöflich, keines zu geben, wenn man selbst knapp bei Kasse ist?
- Sicher ist es höflich, auf die eigene Vorfahrt zu verzichten.
Aber ist es auch unhöflich, sie in Anspruch zu nehmen?
ann man also wirklich sagen, daß die Offenbarung
der Identität ein Ausdruck von Höflichkeit ist? Oder daß das Verschweigen der Identität dort, wo sie nicht
vonnöten ist unhöflich ist? Wäre es demnach höflich, sich ein Namensschild um den Hals zu hängen,
wenn man das Haus verläßt nur weil es zweifellos Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die ihre Anonymität
ausnutzen, um unerkannt Verbrechen zu begehen?
Nichts anderes vermittelt die Netiquette ja, wenn sie die Angabe des real name empfiehlt,
weil es Leute gegeben hat und zweifellos noch immer gibt, die ihre Anonymität dazu nutzen, sich unerkannt daneben zu
benehmen. Wird sie aber damit jenen Menschen gerecht, die ihre Namenlosigkeit nicht ausnutzen?
Formuliert, kultiviert und verbreitet sie damit nicht in rekursiver Weise das Vorurteil, vor dem sie eigentlich warnt?
(Siehe auch: Realname & Netiquette)
as Dilemma ist, daß die Netiquette in allen ihren
Punkten Verhaltensregeln empfiehlt, die sowohl dem Sender als auch dem Empfänger von Newsbeiträgen nutzen.
Einzig der Punkt 14 der NQ stellt eine Ausnahme dar und empfiehlt den real name ausschließlich zum Vorteil des
Absenders einer News. Sie empfiehlt ihn, um nicht wegen des fehlenden Namens in den Verdacht zu geraten, zu jenen
Menschen zu gehören, die ihre Anonymität zu destruktiven Zwecken mißbrauchen. Keineswegs empfiehlt
sie ihn zum Nutzen des Lesers, denn der hat weder einen rechtlichen, noch einen moralischen
Anspruch auf die Identifizierung des Abesenders. Und im Gegensatz zu allen anderen Netiquettemißachtungen schadet der
fehlende real name dem Leser nicht, belästigt und beleidigt ihn nicht und macht einen Newsbeitrag auch nicht
schwerer lesbar.
Leider scheint es so zu sein, daß sich die Sonderstellung dieses Punktes 14 der NQ nicht auf den ersten Blick erschließt
und die Einhaltung der NQ in ihrer Gesamtheit, einschließlich der Angabe des real name, als höflich erachtet wid.
Ein Irrtum, denn da die Anonymität in unserer Gesellschaft Normalität ist, sie im Falle des Usenet sogar ausdrücklich
vom Gesetzgeber unterstützt wird und sie niemandem schadet oder dessen Religions- oder Ehrgefühl verletzt,
kann sie auch nicht unhöflich sein.
Mag man also noch aufgrund einer mißverständlichen Formulierung der
Netiquette davon sprechen, daß ihre vollumfängliche Einhaltung
einschließlich der Angabe des real name als höflich angesehen werden darf, so verbietet sich doch der
Umkehrschluß, daß die Nichtangabe des real name automatisch unhöflich sei. Siehe einleitende Beispiele auf dieser Seite.
öflichkeit ist realtiv. Man darf zu ihrer Beurteilung
nicht nur die Ansprüche des Empfängers heranziehen, sondern muß auch die Umstände des Abesenders
berücksichtigen und umgekehrt. So kann der pseudonym schreibende Autor gute Gründe
dafür zu haben, seinen Namen nicht zu nennen. Gründe, die nur er selbst kennt und die - zumindest aus seiner Sicht -
wichtiger sind und schwerer wiegen, als das Höflichkeitsempfinden im Netz.
(vgl. Faq Frage 17)
Die Nichtnennung des Namens in offenen Netzwerken ist kein Ausdruck des persönlichen Mißtrauens
gegenüber den einzelnen Kommunikationspartnern, sondern ein berechtigtes Mißtrauen gegenüber
der anonymen Öffentlichkeit und damit keineswegs unhöflich.
Wer sich mit dem Ziel, seinen Mitmenschen den Realname abzuverlangen, trotz dieser Erkenntnis noch
immer lieber auf seinen Bauch statt auf seinen Verstand verläßt und ihnen wider besseren Wissens
Unhöflichkeit vorwirft, der blendet seinen Verstand absichtlich aus und fällt wissentlich
irrationale Urteile. Ein solch emotionales Urteil ist jedoch kein gutes Argument und sicher nicht
die geeignete Grundlage, anderen Menschen eine Verhaltensänderung abzuverlangen.
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