http://www.kommunismus.de/cgi-bin/showcontent.asp?ThemaID=19 WebButler Inhalt

Speech-in
und der Senator, äh, Großvater erzählt von anno 68


Von Walter Gerlach

Opa, erzähl von 68!
(Opa streicht über die Glatze und nimmt einen
großen Schluck aus der Malzbierflasche.)
68 ? Mmm . . .
(Opa entrollt eine schwarze Fahne und legt "Born to
be wild" auf.)
68 ? Das ganze Jahr 1968 war 68! Mußte dir mal vorstellen!
Ist doch auch heute so, Opa: Ganz 98 ist 98, ganz 97 war 97,
ganz 96 war 96. 98! 97! 96! Das zieht sich doch alles wie
Kaugummi! Klebrig, zäh, Kohl, Kinkel, Karl Moik. Nullnummern,
tote Hose, kalter Kaffee. Aber 68!: Du gingst durch die Straßen
- jede zweite Wohnung eine WG oder Kommune! -, und aus den
geöffneten Fenstern drangen abwechselnd Lebensweisheiten
und Orgasmusschreie: "Schwarz, Weiß, Gelb und Rot, schlagt
den Krieg mit Liebe tot!" "Der Stein bestimmt das Bewußtsein!"
"Die DKP ist die Vorhaut der Arbeiterklasse, wenn's ernst wird,
zieht sie sich zurück!" Wer war denn die DKP? Vergiß es.
Jedenfalls: Die Luft vibrierte, die Revolution war zu riechen!
Und in Samen und Ei war noch Power! 67/68 wurden Boris Becker
und Oliver Bierhoff gezeugt! Und Mario Basler! Während das
Bonner Kabinett zitternd im Regierungsschutzbunker in der Eifel saß,
kochte das Pflaster und bebten die Betten!
Und du mittendrin?
Und ich mittendrin! Als Cohn-Bendit in Paris vor 10 Millionen Studenten
"L'état c'est moi!" rief, mußte er nach Frankfurt emigrieren, und ich
hielt zur Begrüßung dem Posaunisten des Linksradikalen
Blasorchesters den Notenständer! Ich stand neben Joschka Fischer
bei Opel in Rüsselsheim am Fließband, als die Internationale angestimmt
wurde und alle Arbeiter schraubenschlüsselschwingend mitsangen!
Ich trug die Stimmzettelbox, als Eva Demski und Matthias Beltz 68
basisdemokratisch zur Frankfurter Karnevalsprinzessin und zum Frankfurter
Karnevalsprinzen gewählt wurden!
Eva Demski war Karnevalsprinzessin und Beltz war Prinz?
Und Adorno und Horkheimer im Elferrat! Wir hatten die Pappnasen und
Kappen unterwandert. In der ganzen Republik: He-he-helau-Chi-Minh!
Cool! Und das ging 12 Monate so?
12 Monate? 10, 11, 12 Jahre! Du mußt dir die 60er als langen Beischlaf
mit 68 als Höhepunkt vorstellen. 68 begann doch im Grunde schon 59
mit Godards "Außer Atem". 1960 widmete Armin Hary bei der Olympiade
in Rom seine Goldmedaille im 100-m-Lauf Che Guevara! Auf den
Kanzeln lasen die Pfarrer aus der Mao-Bibel! Mitte der Sechziger eroberte
Udo Jürgen Bockelmann alias Udo Jürgens mit revolutionären Schlagern -
"Amis raus aus USA, Winnetou ist wieder da" - die deutschen Charts.
Ein Jahrzehnt der heißen Herzen und glühenden Hosen!
Morgens Teach-ins, mittags Sit-ins, abends Love-ins! Die Stones! The Who!
Jimi Hendrix! Und auch 69 war noch 68! Die Mondlandung mit Astronaut
Armstrongs legendärem "Don't walk on the grass. Smoke it!" Beatniks,
Hippies, Provos, Drop-outs! Und am 17. August 1969: Woodstock!
Du mittendrin?
Ich mittendrin! Hab heute noch das Autogramm von Janis Joplin
und die leere Bierdose von Joe Cocker! (Opa deutet auf eine zerbeulte
Dose im Buchregal.) 
Gab's in Woodstock Binding-Bier?
Aber voller Eimer! Binding hatte sich exklusiv die Ausschankrechte unter
den Nagel gerissen.
Kein Scheiß?
Ich schwör's! Beim Barte des Proleten! Wir pichelten und
schunkelten bis zum Anschlag. High sein, frei sein, Opa muß
dabeisein.
Genau! Klaus Trebes, der spätere "Gargantua"-Wirt in Frankfurt,
kochte 68 drei Wochen lang Spaghettis, und die wurden mit
vier Tonnen Ketchup und Gips durchmischt. Da kam in der
Nacht der Barrikaden keiner durch! Kein Bulle, keine "Bild"!
Ungelogen?
Ich schwör's! Bei der Mutti von Durruti! Das war 68! Und zur
Strafe wurdet ihr von nun an Achtundsechziger genannt.
Das kam später, nach dem Marsch durch die Institutionen.
Wann begann denn der?
Am 11. 11. 1969 formierten wir uns am Gambacher Dreieck. Eine
sechzig Kilometer lange Schlange! Vorneweg Gerhard "Lenin" Schröder
und Karl "Danton" Dall.
Dall war Achtundsechziger?
Genau wie Eberhard "Metternich" Diepgen!
D i e p g e n ?
Jede Revolte erzeugt eine Konterrevolution! Diepgen,
Möllemann, Kanther! Auch Zimmermanns "Aktenzeichen XY
ungelöst" begann am 20. Oktober 1967! Und was ist aus den
meisten Achtundsechzigern geworden?! Anlagenberater,
Werbemanager, Staatssekretäre! Lauter verkrachte Existenzen!
Und warum bist du in einer Lottoannahmestelle gelandet?
(Opa äfft den Enkel nach):  Und warum bist du in einer
Lottoannahmestelle gelandet?? Weil ich mich dem Glück des
Mannes und der Frau an der Basis verpflichtet fühle - damals wie
heute! Guck dir doch den Diepgen an! Das ist die Pfeife, die
ich hätte werden können! Verstehst du?! Es war verdammt
harte Arbeit, erfolglos zu bleiben!

Hast du einen Tip für den Samstag abend?
Einen heißen: 1, 6, 8, 9, 14, 30.
Der Lottoschein bestimmt das Bewußtsein.

(Opa zieht die Wärmflasche höher, ballt die Faust und hebt den Arm):
Venceremos!



Mit freundlicher Genehmigung des Autors.