Karl Marx als Kritiker des Kapitalismus

 

Ich möchte einige Aspekte aus dem Denken von Karl Marx zusammenfassen, die nicht vollständig und systematisch sein werden. Sie werden aber zu aktuellen Fragen führen, zu deren Bearbeitung ein tieferes Hineinschauen in Zusammenhänge und Begründungen notwendig ist.

An den Beginn stelle ich eine Typisierung geschichtlicher Epochen:

  1. Epoche: persönliche Abhängigkeitsverhältnisse bestimmen gesellschaftliche Strukturen
  2. Epoche: Auf Grundlage neuer sachlicher Abhängigkeiten entsteht persönliche Unabhängigkeit
  3. Epoche: Beendigung auch der sachlichen Abhängigkeit und Entstehung der "freie(n) Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens" (MEW Bd. 42, S. 91)

Marx analysierte die Gesellschaft in ihrer zweiten Epoche, um sie im Sinne der dritten zu kritisieren.

 

Bemerkung 1:

Marx schöpfte die grundsätzlichen Denkmuster aus der Hegelschen Dialektik: innere Widersprüche eines Zustands führen zu ihrer Auflösung in anderen, neuen Zuständen, die neue Widersprüche setzen usw. usf. In dieser Denkstruktur ist jeder Zustand als Vorform des Späteren ("Besseren") gerechtfertigt (historisch "notwendig").

Die zweite Epoche bringt eine Befreiung von den persönlichen (feudalen, asiatischen) Abhängigkeitsverhältnissen und setzt neue produktive Kräfte frei - dies bedingt aber neue, nämlich sachliche Abhängigkeitsverhältnisse (Kapitalverwertung als sich verselbständigende Macht). Sie kennzeichnet Marx als Gesellschaftsstruktur, die über die so erzwungene Entwicklung der produktiven Kräfte schließlich zur dritten Epoche führt.

Bemerkung 2:

Aus diesem Geschichtskonzept ergibt sich, daß die Analysen des Kapitalismus von Marx einerseits die "Logik" ihrer Entwicklung als vernünftig erklärbar nachweisen, andererseits aber immer auch als Kritik die inneren Widersprüche, die in einer neuen Gesellschaft ihre Auflösung suchen, in den Blick nehmen.

 

 

Die erste Epoche der menschlichen Geschichte umfaßt die vor- und nebenkapitalistischen Gemeinschaften und Gesellschaften. Sie wird im allgemeinen als Epoche von Elend und Not angesehen. Aus diesem Elend kann sich die Menschheit demnach nur herausarbeiten, wenn sie den Weg durch die zweite Epoche zur Entfesselung der produktiven Kräfte geht.

 

Bemerkung:

Seit 7 000 bis 8 000 Jahren kennt die Menschheit Ackerbau und Viehzucht - aber auch patriarchale und andere persönliche Machtverhältnisse. Diese haben sich, besonders in Europa, tendenziell auch gegenüber anderen, partnerschaftlichen Gemeinschaften durchgesetzt (Eisler 1993). Diese Verhältnisse führten tatsächlich zu jahrhundertelanger Not und Elend für die meisten Menschen. Die europäische Vergangenheit der letzten Jahrhunderte möchte sicher niemand in alle Ewigkeit verlängert sehen.

Im 14.-16. Jahrhundert sollen in England jedoch die Lebensbedingungen der Menschen noch wesentlich besser gewesen sein, als dann im 18. Jahrhundert (Marx, MEW 23, S. 707).

Andere Bedingungen gab es in Teilen Indien und Mittelamerikas. Hier gibt es bis jetzt gemeinschaftliche Lebensformen, die auch mit einfachen, nicht weiter forcierten produktiven Kräften ihre Bedürfnisse auf kulturell reiche Weise befriedigen können (z.B. Juchatán). Ihre Existenz und die Art und Weise ihrer Lebensformen verweisen darauf, daß das Opfern solcher Gemeinschaften "für den Fortschritt über die zweite Epoche" nicht einfach akzeptiert werden darf. Marx hätte dies auch nicht befürwortet - er antwortete einer russischen Revolutionären diesbezüglich auf eine Frage nach den russischen Dorfgemeinschaften: "Warum sollte es demselben Schicksal allein in Rußland entgehen? Ich antworte: Weil in Rußland, dank eines einzigartigen Zusammentreffens von Umständen die noch in nationalem Maßstab vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich umittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln kann....(Marx, 1881, S. 385).

 

In Europa jedoch führten die Prozesse zu einer starken persönlichen Abhängigkeitsstruktur - und zu ständigen Wandlungsprozessen.

Eine wichtige Änderung wurde bereits mit der Reformation eingeleitet: Sie veranlaßte eine Enteignung der Kirche und Klöster, "die den individuellen Enteignungs- und gesellschaftlichen Akkumulationsprozeß der modernen Wirtschaft ankurbelt(e)." (Ahrendt, S. 318; Marx MEW 23, S. 748)

Marx beschreibt ausführlich das sog. "Bauernlegen" in England. Hier hatte der Handel mit Wolle gegen importiere Güter solche Ausmaße genommen, daß die Wolleherstellung forciert wurde und dafür die Bauern von ihren Höfen vertrieben wurden.

Zweite Epoche:

Dies war die historische Voraussetzung dafür, daß die Menschen von den Grundlagen ihrer Lebensmittelproduktion (Subsistenz) getrennt wurden, sie "frei" wurden von der Abhängigkeit an ihre Region und von Personen. Allerdings mußten sie, um ihren Lebensunterhalt zu erarbeiten, ab jetzt ihre Arbeitskraft anderweitig "verkaufen". Sie mußten in einem scheinbar freien Vertrag ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen. Die Lohnarbeit setzte sich auf Grundlage dieser von Marx sog. "ursprünglichen Akkumulation" durch. Die Beschreibung dieser gewaltsamen Prozesse durch Marx im ersten Band des "Kapital" ist erschütternd... Sie muß aber heute fortgeschrieben werden als Geschichte der "Globalisierung".

Dabei ist zu vermerken, daß sich schon damals der Kapitalismus nicht als die "bessere" Gesellschaftsform in einem einfachen Konkurrenzkampf gegen die "schlechteren" anderen Gesellschaftsformen erwiesen hätte, sondern auf direkter Gewalt beruht. Noch am Anfang dieses Jahrhunderts mußten Tausenden von Handwebmeister(inne)n in Indien die Finger gebrochen werden, ehe sich mechanische Webstühle durchsetzen ließen...

 

 

Anmerkung:

Die "Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit" (MEW 23, S. 742) ist die Voraussetzung für das Kapitalverhältnis. Daraus erklärt sich auch der fortgeführte "Krieg gegen die Subsistenz" (I.Illich), der auch nach der eigenständigen Reproduktion des ursprünglich akkumulierten Kapitals (nach Erreichen der "kritischen Menge" für Selbstvermehrung) weiter fortgesetzt wurde.

 

Anmerkung zur Anmerkung:

Wenn man die Verhältnisse abschaffen will, muß man ihre Voraussetzungen zerstören/zurücknehmen. Solange die Menschen erpreßbar sind, weil sie sich nur innerhalb des Kapitalverhältnisses über Lohnarbeit oder andere Ausbeutungsformen selbst einigermaßen reproduzieren können, können sie auch keine wirklich wichtigen Forderungen durchsetzen. Deshalb forderte Marx zu einer revolutionären "Enteignung der Enteigner" auf (wobei die vorherige Enteignung sich auf die gewaltsame "ursprüngliche" Akkumulation, wie auch die Aneignung fremder, unbezahlter Arbeit bezieht). Während marxistische Interpretationen hier vorwiegend hochentwickelte PRODUKTIONsmittel im Auge haben, verweisen die Ökofeministinnen aus ihre Subsistenzperspektive heraus auf die einfache Notwendigkeit, wenigstens die eigenen LEBENsmittel selbst herstellen zu können.

Da die wichtigsten produktiven Kräfte in den Menschen selbst stecken (ihren Fähigkeiten, Können...), kommt es meiner Meinung nach tatsächlich nicht so sehr auf die Maschinen etc. an. Die können, falls benötigt, notfalls selbst wieder hergestellt werden. Aber die Subjekte der Hauptproduktivkraft, die Menschen, müssen wieder frei werden von ihrer Erpreßbarkeit, die sie bisher noch zwingt, diese Kräfte vorwiegend destruktiv einzusetzen (ökologiezerstörendes Wachstum...). (Arbeitsplatzssicherheit wird z.B. bisher erfolgreich gegen ökologische Argumente ausgespielt.)

 

Schließlich betonen die Ökofeministinnen ausdrücklich, daß der Kapitalismus mehr als das Lohnarbeitsverhältnis darstellt. Sie verdeutlichen die sog. "unsichtbare" Ökonomie:

 

Auch innerhalb dieser erweiterten Sichtweise kommt dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit eine große Bedeutung zu.

Wenn Ausbeutung "Aneignung fremder, unbezahlter Arbeit" bedeutet, so ist Lohnarbeit eine ihrer Formen.

Eine Verschleierungsform dafür ist, alles das, was fürs Kapital gratis sein soll, zur Natur zu erklären ("Naturalisierung") (Bennholdt-Thomsen, Mies)

 

Nebenbei:

Claudia v. Werlhof bezeichnet Lohnarbeit angesichts des Anwachsens der Anteile der unsichtbaren Ökonomie inzwischen als "privilegierte Form" der Ausbeutung... (Werlhof)

 

In der bürgerlichen Wirtschaftslehre wird einerseits so getan, als vollführten alle Austausche und Wechselwirkungen der Faktoren Arbeit, Natur(Boden) und Kapital sowie die in der Produktion entstehenden Güter und Dienstleistung immer nur ewige Kreisläufe (seit der Entdeckung des Blutkreislaufes wird der "wirtschaftliche Kreislauf" so dargestellt).

Andererseits ist bewußt, daß MEHR entsteht, als hineingesteckt wird.

Die Arbeit bekommt gegen ihren Einsatz den Lohn. Das Kapital bekommt sich zurück und ZUSÄTZLICH noch den Zins und der Boden erhält als Gegenwert für seine Abnutzung/Fruchtbarkeit die Bodenrente.

Marx wies nach, daß MEHRWERT nur durch die lebendige Arbeit entsteht und der Trick darin besteht, diesen Mehrwert dieser lebendigen Arbeit vorzuenthalten und einfach dem Kapital zuzuschreiben als sein "Verdienst".

"Der Arbeitsprozeß ist ein Prozeß zwischen Dingen, die der Kapitalist gekauft hat, zwischen ihm gehörigen Dingen. Das Produkt dieses Prozesses gehört ihm daher ganz ebensosehr als das Produkt des Gärungsprozesses in seinem Weinkeller." (MEW 23, S. 200)

 

 

Anmerkung:

Diese grundsätzliche Wahrheit trifft auch für den Bereich der unsichtbaren Ökonomie zu. Ein sinnvoller Überbegriff wäre deshalb "ausgebeutete Arbeit" - wobei offen bleibt, ob dies bezahlte, "unter-" oder gar nicht bezahlte lebendige Arbeit ist.

Andererseits unterscheidet Marx bewußt zwischen der Lohnarbeit, die als lebendige Arbeit direkt Kapital produziert (MEW 42, S. 375) und der Dienstleistungsarbeit, die gegen Revenueanteile geleistet wird, bei welcher der direkte Zweck nicht darin besteht, Kapital zu vermehren, sondern es zu erhalten. (MEW 42, S. 380).

 

In der "Reinform" erhält der ("privilegierte") Lohnarbeiter wenigstens den Gegenwert seiner Arbeit, den er zu seiner eigenen Reproduktion braucht - dies ist der Lohn. Der Arbeiter hatte seine Arbeitsfähigkeit zur Ware gemacht - er verkauft nicht die fertigen Produkte, sondern die Kraft für eine bestimmte Zeit gegen den Lohn, den sie zur Reproduktion braucht (im besten Falle).

Die Arbeitskraft hat aber die einmalige Fähigkeit, mehr zu erarbeiten, als ihre Reproduktion braucht.

 

Achtung:

Dies ist die Ursache, daß menschliches Leben nicht nur im Kreislauf biotischer Bedürfniserfüllung ablaufen muß.

H.Ahrendt unterscheidet zwischen "Arbeit", mit der sie die kreislaufförmige Subsistenz meint, und dem "Herstellen" von weiteren, den direkten Verzehr überdauernden Gütern.

Der Überschuß kann nun einerseits immer wieder "verfeiert" werden, wie in Juchatán (Bennholdt-Thomsen 1994) , oder zur weiteren Entfaltung produktiver Kräfte akkumuliert und erneut eingesetzt werden, wie es im Kapitalismus geschieht.

Marx meinte, wir müßten durch den Kapitalismus hindurch, bevor wir in der dritten Epoche (nach der "Vorgeschichte der Menschen") zu wahrem menschlichen Leben finden - die Ökofeministinnen kritisieren diese Fortschrittsgäubigkeit.

 

Der Arbeiter erhält als Lohn den Wert seiner Ware Arbeitskraft. Der dazu notwendige Arbeitsanteil wird "notwendige Arbeit" genannt. Da er aber längere Zeit arbeitet, bleibt Mehrarbeitszeit übrig, deren Anteil am insgesamt erzeugten Warenbestand der Profit ist.

 

 

 

Der Lohn erscheint bei den Produktionskosten als variables Kapital. Die bereits in Technik, Maschinen, Gebäuden, Geld vergegenständlichte Arbeit, die im Prozeß eingesetzt wird, ist "konstantes Kapital". Erscheint der Profit als Ergebnis der Summe von eingesetztem konstantem und variablen Kapital, so sagt die Profitrate nichts davon aus, wo der Mehrwert herkommt. Die Mehrwertrate mit dem direkten Verhältnis von Mehrwert zu variablem Kapital ist hier eindeutiger.

 

 

Bemerkung:

Man sollte Marx nicht vorwerfen, daß er die unsichtbare Ökonomie unterbewertete. Aber wenn sogar die privilegierte Arbeit, die ihren Reproduktionsgegenwert sogar erhält, systematisch ausgebeutet wird, ist das Wesen des Kapitalismus besser bloßgelegt. Ohne diese Analyse könnte man denken, die Rettung bestünde darin, alle Arbeit zur Lohnarbeit werden zu lassen, wie es das Kapital ja scheinbar gerne möchte für die jungen Frauen in den "Freien Produktionszonen" und die Frauen in der Dritten Welt, die statt für ihre und ihrer Kinder Subsistenz lieber Exportprodukte für unsere Supermärkte produzieren sollen (gegen Kredit...).

Auch der Schrei nach dem "Recht auf Arbeit", der sich leider prinzipiell mit solcher Lohnrbeit als höchstem der Gefühle zufriedenstellt, wird dadurch hinterfragbar!

Bemerkung 2:

Inzwischen werden neue Formen der Profitaneignung (vgl. Fleissner) immer wesentlicher, wie z.B. die Gewinnabschöpfung aus dem Geld-, Wertpapier- und Kreditsektor, die nicht nur "Luftblasen" sind, sondern denen Staatsverschuldung und Subsistenzzerstörung real entsprechen.

 

Marx nahm an, daß nach einer zur allgemeinen Durchsetzung der Lohnarbeit (nachdem Kapital "kritische Menge" zur Selbstvermehrung erreichte) ausreichenden Kapitalakkumulation der Mehrwert wesentlich aus der Übernahme aus dem Lohnarbeitsprozeß erfolgt und nicht mehr über direkte Enteignungen wie in der "ursprünglichen" Akkumulation.

Geld wirkt als Kapital, sobald die positive Rückkopplung des Geld(=Kapital)-Einsatzes von selbst immer wieder Kapital+Mehrwert reproduziert. Dies ist für Marx das WESEN des KAPITALismus. Dazu gehört also unhintergehbar ein Durchbrechen des Reproduktionskreislaufes - ein ständiges Ausweiten des Kreises.

Dieses Ausweiten speist sich nun nicht nur aus der Mehrarbeit der lebendigen Arbeit im Lohnarbeitsprozeß, wie Marx annahm, sondern auch aus dem nichtreproduzierten Verbrauch weiterer Existenzbedingungen, wie natürlicher Ressourcen, anderer Arbeitsformen, anderer vergegenständlichter Arbeitsergebnisse (Infrastruktur etc.) . In der Ökologiedebatte erscheinen einige dieser Faktoren als sog. "externalisierte" Kosten.

Daß dies nicht möglich sein wird, schrieb Marx in einigen eher belletristischen Absätzen - ist aber im Kern der Theorie nicht enthalten. (Oder?)

 

Wer sich für die Begrifflichkeit von Marx genauer interessiert, kann hier noch einiges angedeutet finden:

1. konstantes und variables Kapital sowie Mehrwert:

C

V

m

konstantes Kapital

variables Kapital

Mehrwert

vergegenständlichte Arbeit

lebendige Arbeit

Kostwert

Kostpreis: konstantes und variables Kapitals

(wird verbraucht)

 

(Wertschöpfung)

 

2. Arbeit, Wertbildung, Verwertung, Wertschöpfung

d.h.:

  • Im "Arbeitsprozeß" wird der Gebrauchswert durch konkrete Arbeit erzeugt; ("Werte" sind hier immer gesellschaftliche (qualitative) Verhältnisse, und keine an den Dingen klebende Zahlenwerte),
  • innerhalb der notwendigen Arbeitszeit wird der Wert des Warenteils erzeugt (Wertbildung), der für die Reproduktionskosten der Arbeitskraft verwendet wird; hier interessiert nur der (qualitätsuninteressierte) Tauschwert, deshalb wird auch von den Qualitätsunterschiede der konkreten Arbeit abstrahiert (deshalb "abstrakte Arbeit");
  • erst nach der notwendigen Arbeitszeit wird neuer Wert geschöpft (Wertschöpfung) und
  • dabei verwertet sich das eingesetzte Kapital (Verwertung)

Dadurch herrscht nicht mehr der Austausch der einfachen Warenproduktion:

Ware - Geld - Ware (Austausch von Waren über Geldvermittlung), sondern:

G - W - G“(mit G`= G + D G) (Austausch von waren zur Geldvermehrung : Geld wird Kapital) : Kapital - Ware - Kapital“.

Ein Gegenstand oder eine Dienstleistung wird nun überhaupt nur noch zur Ware, wenn er das eingesetzte Kapital erhöht, wie uns heutzutage am allgemeinen Zwang zur "Renditeerhöhung", "Shareholder-Value" überdeutlich klar gemacht wird.

Arbeit und Ware erhalten auf diese Weise einen Doppelcharakter. Zu betrachten ist nicht nur der materiellen Gegenstand/ der konkrete Nutzen, sondern in abstrakter Form seine Rolle im Verwertungsprozeß des Kapitals.

 

Diese verwirrenden Begriffe und der Doppelcharakter von Arbeit und Ware verdeutlichen die Situation, daß heutzutage eben i.a. gerade nicht mit dem Ziel der (konkreten) Bedürfnisbefriedigung produziert wird, sondern im Mittelpunkt die Verwertung des Kapitals steht.

 

Ergänzung:

Dies macht verständlich, warum das Kapital aus seiner "Dominanz" nicht einfach durch politisches Wollen zu verdrängen ist. Politische Regulierungen gelingen nur, insofern sie dem Kapital sogar neue Bereiche der Akkumulation eröffnen, wie das z.B. in der Zeit des Fordismus mit dem Sozialstaat gelang (Arbeiter als neue Konsumenten zur Ausweitung der Kapitalverwertungssphäre; vielleicht auch: Kommerzialisierung einiger ökologischer Dienste, sobald und nur solange sie Kapitalverwertung versprechen oder wenigstens nicht behindern...)

 

Diese Situation ist nun nicht nur eine quantitavive "Wegnahme" eines Teils der gebrachten Produktionsleistung, sondern bestimmt auch Zweck und Ziel der Produktion qualitativ in einer neuen Weise: Es entsteht eine "... Produktionsweise, worin der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandener Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reichtum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da ist." (Marx MEW 23, S. 652)

"Die Maschinen funktionieren nicht, um das Leben der Menschen zu ermöglichen; man findet sich damit ab, die Menschen zu ernähren, damit sie die Maschinen bedienen." (Weil 1975, S. 227)

 

"Der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise liegt darin, daß sich hier die gesellschaftlich handelnden Individuen von der Logik des Kapitals bestimmen und beherrschen lassen; das Kapital ist aber nichts anderes als aufgehäufte vergegenständlichte Arbeit, die für sich tot ist, und die ihre ganze Kraft und Beweglichkeit allein aus der Vereinnahmung und Manipulation lebendiger Arbeit bezieht; dem Selbstverständnis ihrer Bewegungs- und Entwicklungsgesetze nach verhält sich das Kapital jedoch so, als wäre es allein aus sich selbst heraus begründet und selber produktiv, und es betreibt gerade dadurch die fortgesetzte und fortschreitende Negation der lebendigen Arbeit - und damit der lebenden Individuen, die die eigentliche Daseinsgrundlage allen gesellschaftlichen Lebens sind." (Schmied-Kowarzik 1985, S. 17)

"Das Kapital" ist deshalb nicht etwa ein "böses Subjekt", das zu zähmen sei, sondern die Vergegenständlichung der Herrschaft versachlichter Verhältnisse über Individuen. Diese Gesellschaft bewegt sich tatsächlich in "naturgesetzlicher" Weise, spontan, nicht bewußt gestaltet. Wenn Marx dies so analysiert, dann kritisiert er es gleichzeitig!

 

 

Ich denke, der Kapitalismus war nicht unbedingt notwendig in der menschlichen Geschichte. Andere Entwicklungsformen wären sicher möglich gewesen. Trotzdem müssen wir mit unserer Geschichte und der Situation leben. Der Kapitalismus hat große Bereiche der Subsistenzwirtschaft zerstört - er hat aber auch neue produktive Kräfte entfesselt, die zur Disposition stehen - aber nie mehr ganz ausgelöscht werden können.

"Wo das Kapitalverhältnis also herkommt, läßt sich nicht sagen, aber wenn es einmal da ist, wird die Geschichte für einen Augenblick logisch... Die Existenz des Kapitals eröffnet die Möglichkeit, die Geschichte unter die Bestimmung der Vernunft zu setzten. Ob diese Möglichkeit von den Menschen wahrgenommen wird, ist dann allerdings keine logische, sondern eine praktische Frage." (Pohrt, S. 271)

Der Mehrwert erhöht sich nicht proportional zur Produktivkraftsteigerung, sondern in Abhängigkeit vom Mehrwert vor der Produktivkraftsteigerung. Je größer die bereits erreichte Mehrarbeit, desto geringer ist das Wachstum des Mehrwerts mit weiterer Produktivkraftsteigerung:

 

 

½ notwendige Zeit + ½ Mehrarbeitszeit

 

2/3 notwendige Zeit + 1/3 Mehrarbeitszeit

Verdopplung der Produktivkräfte

® Halbierung der notwendigen Arbeitszeit

 

® ¼ notw. Zeit + ¾ Mehrarbeitszeit

½ mal 2/3 = 1/3 notw. Zeit + 2/3 Mehrarb.-.z.

 

® ¼ Mehrarbeitszeit gewonnen

1/3 Mehrarbeitszeit gewonnen

 

® je größer Mehrarbeitsanteil bereits ist,

desto kleiner wird der Zugewinn bei steigender Produktivkraft.

 

Um trotzdem Mehrwerte zu realisieren, wird umso mehr versucht, die Produktivkräfte zu steigern.

Jetzt kombinieren sich zwei Prozesse:

  1. Dem primären Zweck der Kapitalvermehrung dienend koppeln sich diese Kräfte ab von der realen Bedürfnisbefriedigung von Menschen und dies tendenziell immer mehr, je mehr sie Lebensgrundlagen zerstören.
  2. Erzeugte Kräfte sind nicht "an sich" gut und positiv. Sie selbst enthalten immer verschiedene Möglichkeitsfelder. Die derzeit als "produktiv" definierten Kräfte dienen wesentlich der Kapitalakkumulation und sind nach jahrzehntelangen ständigen Richtungsentscheidungen (welche wissenschaftlichen Tendenzen und Technologien werden weiterentwickelt, welche nicht) qualitativ durch diese einseitige Zielsetzung gekennzeichnet. Kernfusion, genmanipulierte Lebensmittel und Baby- und altenpflegende Roboter (japanische DEPHI-Studie) befriedigen keine menschlichen (und andere) Bedürfnisse dauerhaft, sondern dienen nur der Erweiterung der Kapitalakkumulation (In-Wert-Setzung des letzten Restes Natur, Abhängigmachen aller Menschen davon).

Marx selbst sah es überhaupt nicht als Ziel der menschlichen Entwicklung und ihrer produktiven Kräfte an, immer mehr Bedürfnisse zu wecken, um sie mit immer "produktiveren" Mitteln befriedigen zu können. Auf der Grundlage erfüllter biotischer und kultureller Grundbedürfnisse sah er die von notwendiger Arbeit frei gewordene Zeit als größten Reichtum an (MEW 42, S. 312).

Heute ist eigentlich der Zeitpunkt schon überschritten, an dem die Kräfte "ausreichend" waren, einen anderen Entwicklungsweg einzuschreiten. Schon Marxens Schwiegersohn sah vor 90 Jahren die Zeit gekommen, ein "Recht auf Faulheit" einzufordern. Die armen Nadelherstellerinnen bekamen ihre nervtötende Arbeit endlich von Maschinen abgenommen! Ich bin manchmal versucht zu denken, daß wir vielleicht den jetzigen Übergang von der (nicht demokratisch zu organisierenden) Fließbandfabrik (Fordismus) zu neuen Produktionsmethoden (Dezentralisation, Vernetzung mit moderner Informationstechnologie, Gruppenarbeit etc.) als "materiell-technisch-organisatorische Basis" ganz gut brauchen können - denke aber nicht mehr, daß diese Notwendigkeit "objektiv notwendig" und alle früheren Revolutionen "objektiv verfrüht" gewesen seien.

Aber spätestens jetzt brauchen wir eigentlich überhaupt gar keine weiteren "produktiven Kräfte" zusätzlich, für die wir eine Zwischengesellschaft namens Sozialismus bräuchten.

 

Grenzen überwinden - Neues entwickeln

Angesichts der überproduktiven und destruktiv gewordenen Kräfte ist die historische Schwelle des sinnvollen Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsform längst überschritten. Wir brauchen dazu keine Bedürfnisse einschränken - wir brauchen lediglich keine neuen mehr marketingmäßig erzwingen.

Produktivität braucht kein Fetisch mehr zu sein - es ist spätestens jetzt möglich, entspannter zu leben und zu arbeiten. Wir brauchen keinen Arbeitszwang mehr (deshalb auch keine "Leistungsgesellschaft"), sondern nur die Arbeit, die Menschen aus ihrem natürlichen Tätigkeitsbedürfnis heraus freiwillig und deshalb wesentlich kreativer und effektiver erledigen, weil sie in einer "freien Assoziation" selbst über sich bestimmen. Wenn jede/r nur noch 6 Stunden, oder auch 16 Stunden notwendiger Reproduktionsarbeit zu erledigen hat, wird er dies bereitwilliger tun, als sich 42 Stunden in einer Fabrik einsperren zu lassen, wofür er dann natürlich Zwang oder Verlockung auf Konsum als Ausgleich braucht...

Um diese Anzahl notwendiger Arbeitsstunden zu verringern, brauchen wir natürlich auch technische Formen produktiver Kräfte - aber jeweils der konkreten Arbeitstätigkeit und dem Bedürfnis untergeordnet (das impliziert auch den Rückbau jetziger megamaschineller Industrie). Die Produktionsorganisation und ihre technischen Mittel brauchen nicht auf vorindustrielles Niveau heruntergeschraubt werden (obwohl genau dies die Subsistenzperspektivevertreterinnen anscheinend wollen), sondern ich stelle mir mehr das Erreichen einer "höheren Ebene" auf einer Spirale vor: Wir gehen "zurück" zu dezentralen, regional/lokal (in "freier Assoziation") koordinierten Lebens- und Wirtschaftsformen - nutzen aber zur Koordination dieser "Nester"/"Knoten" in einem Netzwerk moderner Informations- und Kommunikationsmittel. Diese sollten eine Kohärenz größerer Lebens- und Wirtschaftsgebiete ermöglichen, ohne neue persönliche oder sachliche Herrschaft zu benötigen. "Ordnung ohne Herrschaft" - "Selbstorganisation" sind Ausdrücke für diese neue Strukturierung von Gesellschaft.

Sie erzeugt strukturell die Bedingung, daß jede Region/Gruppierung von unten her selbstbestimmt ihre Tätigkeiten/Bedürfnisse entwickelt und der nutzbezogene, konkrete Bedarf an Kooperation Kombinationen erzeugt, die ihrer Bestimmbarkeit nicht entzogen werden. Sie bedeutet auch, daß nie ein Muster für alle vorzugeben, vorzuschlagen ist, sondern nur die Bedingungen zu erzeugen, daß alle Menschengruppen für sich die "freie Assoziation" entwickeln und keine eine andere irgendwie erpressen kann (z.B. durch Entzug der Subsistenzmittel o.ä.). Mit dieser Vision sind eigentlich auch bisher entgegenstehende Modelle gleichberechtigt möglich. Weite Landstriche mit reiner Subsistenzwirtschaft brauchen keine Mehrwertanteile nach außen abgeben, wenn sie dies nicht wünschen (z.B. für von anderen vielleicht gewollte Raumfahrtprojekte). Dafür können die Technikfetischisten nur das machen, was sie selbst in ihrer Region realisieren und verantworten können - ohne Beschädigung anderer Areale. Dafür müssen Sicherheiten geschaffen werden.

Eine notwendige Bedingung dafür ist die Rückgewinnung der Einheit von Menschen und ihren produktiven Kräften. Einerseits als Garantie der Subsistenz (auch gegen Erpreßbarkeit) und andererseits als Zusammenführung des Eigentums an anderen produktiven Mitteln und den arbeitenden Menschen, wie es Marx in den Mittelpunkt stellte.

 

Eine Überlegung zur dialektischen Methode:

Dialektik als "die begriffene Bewegung des Gegenstands selbst (Benno S.) folgt nun nicht einfach den Lehrsätzen von "Bestimmtes wird negiert und aufgehoben in Negation der Negation", sondern tritt real immer als Mischform auf, wobei gerade die Wechselwirkung verschiedener Strukturniveaus und Bereiche mit unterschiedlichen wesentlichen Zusammenhängen für Entwicklungsprozesse wesentlich ist. Ein verkürztes Verständnis von Dialektik als Schema führt zu einem eher stufenförmigen Entwicklungsbild - was scheinbar die "Zivilisierung" und "Modernisierung" für alle Menschen der Welt mit der Zwischenstufe Kapitalismus vorzuschreiben scheint. Hier jedoch ist Vorsicht angebracht - Marx untersuchte bewußt den englischen Kapitalismus in Reinkultur, um typische Entwicklungszusammenhänge aufzudenken. Aber in der politischen Anwendung wußte er durchaus die konkreten Bedingungsgefüge zu berücksichtigen (siehe Brief an V. Sassulitsch in MEW 19, S. 384ff.))...

Wichtig wäre die Einbeziehung neuer Erkenntnisse der Selbstorganisationskonzepte mit ihren Denkmustern der Variantenvielfalt möglicher Zukünfte, der Rolle des Einzelnen in Bifurkationspunkten, der Ko-Evolution unterschiedlicher Zustände...usw.

 

 

Für uns bedeutet diese neue Sicht, daß wir leider nicht mehr per Theorie hoffen können, den "richtigen" Gang der Geschichte zu verstehen und zu gestalten.

Auch der "richtige Moment" für den revolutionären Übergang zur dritten Epoche zeigt keine Wegmarke an. "Wann sind die Produktivkräfte reif?" könnte man objektivistisch fragen. Sie sind es, wenn die Hauptproduktivkräfte, die Menschen sind. Denn dann gestalten sie den "Rest" Technik mit ständigen Abwägen von sozialen, ökologischen und Mußebedürfnissen selbstbestimmt auf der jeweils gerade vorhandenen Grundlage. Wir brauchen auf keine "materiell technische Basis" aus dem Kapitalismus "warten", auf eine Produktivität, die "alle Bedürfnisse befriedigt" - denn dann warten wir ewig, bzw., bis die ökologischen Grundlagen unseres Lebens endgültig zusammengebrochen sind.

Es ist zu vermuten, daß angesichts des Überwiegens der Destruktivkräfte inzwischen mehrere Abzweigpunkte der Evolution schon verstrichen sind - und es ist zu befürchten, daß auf zukünftigen Wege immer mehr ökologische "Altlasten" das Leben nur noch mehr erschweren...

 

Literatur:

Ahrendt, H., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1997
Bennholdt-Thomsen, Mies, M.,: Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive, München 1997
Deppe, F., Jenseits der Systemkonkurrenz. Überlegungen zur neuen Weltordnung, Marburg 1991
Eisler, R., Kelch und Schwert, München 1993
Fleissner, P., Vom Glück und Ende der Arbeitswerttheorie, in: Weg und Ziel, Nr. 1, Februar 1995
Marx, K., Das Kapital, Erster Band, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 23 Berlin 1988
Marx, K., (1881), 1. Entwurf Brief an Sassulitsch, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 19
Marx, K., Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 42, Berlin 1983
Pohrt, W., Theorie des Gebrauchswerts, Berlin 1995
Schmied-Kowarzik, W., Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation, in: Die gegenwärtige Bedeutung des Marxschen Denkens. Marx-Symposium 1983 in Dubrovnik, Bochum 1985
Sprenger, B. am 45.4.1998 in der Mailinglist Dialektik, Internet
Weil, S., Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften, München 1975
Werlhof, C.v., Was haben die Hühner mit dem Dollar zu tun? München 1991

 


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