EINLEITUNG zum Buch:
ISBN 3-85115-228-X
Wien 1996, Döcker Verlag (vormals Verlag für Gesellschaftskritik) 196 Seiten
Hintzerstrasse 11, A-1030 Wien. Der Verlag ist leider im Konkurs.
Diese Arbeit ist das Ergebnis einer längeren Beschäftigung mit der Freudschen Psychoanalyse, die mich immer fasziniert und herausgefordert hat. Sie ist das Resultat eines Perspektivwechsels: ursprünglich wollte ich eine Interpretation der Freudschen Texte vorlegen, wie ich sie in meinem Artikel "Perspektiven der Freudrezeption". skizziert hatte; mit dieser Arbeit versuche ich eine Kritik an ihr. Anfänglich meinte ich die Freudsche Psychoanalyse, ausgehend vom Begriff des "Imaginären", neu interpretieren zu können. Ich stützte mich vor allem auf Arbeiten des Psychoanalytikers und Philosophen Cornelius Castoriadis, der den Begriff des Imaginären, entgegen den traditionellen Vorstellungen, auf neue und kreative Weise definiert hat. Ich wollte also für ein neues Verständnis des Freudschen Denkens plädieren. Das Spiel, mit Freud gegen Freud denken, hat eine gewisse Tradition in der Philosophie. Methodisch sollte meine Arbeit ähnlich angelegt sein wie die wichtige Rezeption von Jürgen Habermas, der den Ausdruck des szientistischen Selbstmißverständnisses geprägt hat. Inhaltlich wollte ich allerdings andere Wege gehen.
Freud - so meine ursprüngliche These - hat seine eigenen Entdeckungen halbherzig interpretiert. Er stieß auf die psychische Imagination, doch, befangen in traditionellen Auffassungen über die Vorstellung, verkannte er das schöpferische (Ein)Bildungsvermögen der Psyche. Er mißdeutete die Vorstellung als mangelhafte Reproduktion der Wahrnehmung. Diese Perspektive mündete also bald in einer Sackgasse. Ich kam nicht nur rasch in die Situation, das zu wiederholen, was Castoriadis in seinen Arbeiten bereits formuliert hatte. Je intensiver ich mich mit den Freudschen Texten beschäftigte, desto klarer wurde mir, daß man nicht theoretische Schnitte durch die psychoanalytische Lehre legen kann, ohne sie zu zerstören. Ich erkannt auch sehr bald, daß Castoriadis keine Neuinterpretation der Psychoanalyse vorschlägt, sondern der Freudschen Lehre eine alternative Theorie der menschlichen Psyche entgegensetzt. Ebenso Habermas. Beide Theorien sind sehr interessant und wert, rezipiert zu werden - aber sie führen vom eigentlichen Gegenstand, der Freudschen Psychoanalyse, weg. Wollte ich meinem Thema und meinem Erkenntnisinteresse treu bleiben, mußte ich andere Wege beschreiten. Bei meiner Beschäftigung mit den Freudschen Texten stieß ich auf eine ganze Reihe von Widersprüchen und ungelösten Problemen, die ich anfänglich nicht oder nur zum Teil erkannt hatte. Statt einer Interpretation sah ich die Notwendigkeit einer Kritik, die sich aus einem "inneren" Zugang zum Freudschen Werk ergibt. Was verstehe ich darunter?
Die unterschiedlichen Aussagen und Theorien der Freudschen Psychoanalyse besitzen unterschiedlichen Stellenwert, unterschiedliche Bedeutung. Freuds Antiamerikanismus steht nicht auf der selben Stufe wie die Triebtheorie, seine ästhetischen Urteile über literarische Werke sind nicht mit der Lehre von der Existenz des Unbewußten vergleichbar. Ähnlich verhält es sich mit den zahlreichen Weiterentwicklungen, Änderungen und Reinterpretationen, die Freud vorgenommen hat. Hier ist die Entscheidung, was man als grundlegend bezeichnen muß, und was nicht, nicht mehr so einfach wie bei den oben gewählten Beispielen. Kommt der Revision der "Verführungstheorie" mehr Gewicht zu als der Einführung der "Massenpsyche" in den späteren sozialpsychologischen Werken? Muß die Entwicklung der zweiten Topik (Es, Ich, Über-Ich) als tiefgreifende Veränderung der psychoanalytischen Theorie angesehen werden oder setzt sie nur andere Akzente?
Ich meine, daß das Freudsche Lehrgebäude durchaus eine darstellbare und kritisierbare "Architektonik" (um beim Bild vom "Gebäude" zu bleiben) besitzt. Gegenstand der Kritik sind die "tragenden Mauern" der Psychoanalyse. Bei manchen Themen hielt ich es für angebracht, Freuds endgültige Meinung darzustellen, und Änderungen nur in den Fußnoten anzumerken (z.B. beim Konstanzprinzip). Bei anderen, wie bei der Aufgabe der "Verführungstheorie", konnte seine Position klarer durch ihre zeitliche Entwicklung verdeutlicht werden. Bei der Frage nach dem Wesentlichen konnte ich mich oft von den Freudschen Aussagen leiten lassen, so beim Ödipuskomplex, dem "Kernkomplex der Neurosen". Seine Anerkennung scheidet die Anhänger von den Gegnern, dies hat Freud unmißverständlich festgestellt. Andere Elemente, wie das "Konstanzprinzip", habe ich durch den Nachweis der weitreichenden Konsequenzen als wesentliche Bausteine begründet.
Ich erhebe hier nicht den Anspruch, alle Elemente zu rekonstruieren, sondern nur jene - es sind nicht wenige -, die mir als besonders problematisch und diskussionswürdig erscheinen. Dies sind vor allem die Metapsychologie, die Definition von Sexualität und die Lehre vom Ödipuskomplex, die dem Freudschen Begriff des Unbewußten Inhalt und Dynamik verleihen. Die Themen der Kritik ergeben sich aus den Texten selbst. Ich versuche Probleme aufzugreifen, die sich aus der psychoanalytischen Theoriebildung selbst ergeben, und ohne die sie, zumindest in dieser Form, nicht existieren würde. Dazu zwei Beispiele: Freud unterscheidet zwischen Trieb und Triebrepräsentanz, also zwischen den Metaphern der Energie und den affektiv besetzten Vorstellungen. Das Problem - die Verbindung dieser beiden Sprachen - resultiert aus diesem Konzept selbst. Freud meinte offenbar, es gelöst zu haben. Ich hingegen versuche zu zeigen, daß die Verbindung nicht geglückt ist und auch nicht plausibel gemacht werden kann. Wieder gestützt auf seine Aussagen will ich zeigen, daß den Trieben keine Vorstellungen zugeordnet werden können, die Eros und Todestrieb genuin repräsentieren - der Orgasmus ist bilderlos und die eigene Nichtexistenz ist nicht vorstellbar. Weiters, die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Ödipuskomplexes muß buchstäblich verstanden werden. Die Geltung der ödipalen Phantasmen ist universal. Sie bestimmen nicht nur das Schicksal des Einzelnen, sie bestimmen auch das Schicksal der sozialen Ordnung und der Kultur. Freuds Arbeiten über die Religion, den Totemismus und die Rechtsordnung der Gesellschaft führen notwendigerweise zu einem prekären Monismus, der Geltungsbereich der psychoanalytischen Begriffe kann kaum eingegrenzt werden. Wieder ist es Freuds eigene Themenstellung, die Fragen provoziert. Welche individuellen und sozialen Phänomene können nicht oder nur teilweise mit der Triebtheorie und dem Ödipuskomplex analysiert werden - diese Frage kann die orthodoxe Psychoanalyse meiner Auffassung nach nicht beantworten. Jeder Versuch, die Psychoanalyse durch eine eigenständige Theorie der Gesellschaft, die auch eine Theorie des Einzelnen sein muß, zu ergänzen, stößt auf den inflationären Anspruch ihrer Begriffe; ich führe im Text einige Beispiele dafür an.
Um meinen Zugang weiter zu verdeutlichen, möchte ich ihn gegen andere Möglichkeiten, sich mit der Psychoanalyse zu beschäftigen, abgrenzen. Ich zitiere Freud nicht als Kronzeugen für eine bestimmte Theorie. (Mein ursprünglicher Arbeitsplan wäre ein wenig in diese Richtung gegangen.) Exemplarisch für eine derartige Herangehensweise ist die poststrukturalistische Szene. Die Psychoanalyse "zeige", so werden wir belehrt, die Unhaltbarkeit des selbstgewissen Cartesianischen und Kantschen Subjekts. Doch diese selbstgewisse Darstellung ist natürlich auch nur eine Interpretation, die sich weniger am ursprünglichen Ziel der Analyse, "Wo Es war, soll Ich werden", sondern vielmehr an der Übersetzung der französischen Meisterdenker, "Wo Ich war, soll Es auftauchen", orientiert.
Als Beispiel für einen äußeren Zugang möchte ich auf die erkenntnistheoretische Kritik hinweisen. Jaspers, Popper und Grünbaum haben in unterschiedlicher Weise zu zeigen versucht, daß die Psychoanalyse wissenschaftlichen Kriterien nicht standhält. Selbst wenn man dieser Kritik zustimmt, folgt daraus für mich keineswegs, daß sie widerlegt und ihre Wertlosigkeit erwiesen ist. Muß nicht das jeweilige Wissenschaftsverständnis selbst zum Gegenstand kritischer Überlegungen gemacht werden? Zeigen sich nicht gerade an der Psychoanalyse die Verkürzungen und Reduktionen der empiristisch, positivistischen Wissenschaftstradition? Nicht nur die Psychoanalyse ist an der Wissenschaft zu messen, auch die Wissenschaft muß - gemessen an der Psychoanalyse - neu bewertet und ihre Kompetenz neu bestimmt werden. Eine Untersuchung, die diese Fragen aufgreift, ist sicher sinnvoll und notwendig. Aber auch sie hätte mich von der Freudschen Theorie weggeführt.
Ich möchte nun einige wichtige Ergebnisse dieser Arbeit anführen. Da ich hier auf eine Begründung, ja eine erläuternde Darstellung verzichten muß, werden die hier aufgelisteten Punkte für manche noch unverständlich sein - die Lektüre des Buches soll diese offenen Fragen klären. Ich habe versucht, eine einfache und klare Sprache zu verwenden.
- Freud verwendet zwei Sprachen, die Sprache der Energie, der Kraft einerseits und die Sprache der Vorstellung, des Sinnes und des Wunsches andererseits. Das Verhältnis zwischen diesen Sprachen ist theoretisch ungelöst.
- Das Konstanzprinzip ist das primäre Bewegungsprinzip der Psyche. Alle psychisch relevanten Leistungen werden energetisch definiert. Die Psyche wird daher als mechanischer Apparat interpretiert. Dies impliziert eine weitreichende anthropologische Definition des Menschen. Der Mensch (Mann) ist ein nach Abfuhr strebendes Wesen.
- Vorstellung, Wahrnehmung und Urteilsbildung werden funktionalistisch und mechanistisch auf die Energieverteilung rückgeführt. Das schöpferische Vermögen der Psyche ist mit psychoanalytischen Begriffen nicht formulierbar.
- Die Sexualität soll die Kluft zwischen Kraft und Vorstellung schließen. Ihre Definition ist vollkommen überfrachtet, jedes angenehme Gefühl, jede Lustempfindung ist im Kern sexuell.
- Nach der Aufgabe der "Verführungstheorie" werden alle psychischen Probleme als gehemmte Entwicklung interpretiert. Dies impliziert eine normative Auffassung von psychischer Gesundheit.
- Die Dominanz der energetischen Sprache führt zu einem Subjekt - Objekt Modell der menschlichen Sozialbeziehung. Die Interaktion wird in ihrer Bedeutung herabgesetzt.
- Freuds These, wir erkennen die Triebe durch ihre Triebrepräsentanzen, ist unstimmig. Weder Eros noch Todestrieb können durch Vorstellungen genuin repräsentiert werden.
- Die Freudsche Psychoanalyse ist vollständig dem Konfliktmodell verpflichtet. Dies ergibt sich aus der energetischen Definition des Lustprinzips. Das Defizitmodell (Kohut) ist ebenso ausgeschlossen wie das Problem der sozialen Identitätsfindung als psychisches Problem.
- Die Lehre vom Ödipuskomplex entwertet das konkrete Erleben weitgehend. Der Ödipuskomplex wird als apriorisches, daher universal gültiges und notwendiges Schema verstanden. Ein weiterer Versuch, die menschliche Imagination zu funktionalisieren.
- Die Freudsche Theorie ist der Versuch, ein konkretes Apriori zu begründen. Ihre zwei wichtigsten Elemente sind: das Konstanzprinzip, der Ödipuskomplex.
- Die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Ödipuskomplexes gilt für alle Zeiten und Kulturen. Er bestimmt die Ontogenese ebenso wie die Phylogenese.
- Das Soziale wird durch individualpsychologische Begriffe aufgelöst. Diese Aussage kann auch umgekehrt gelesen werden. Die Begriffe der Individualpsychologie sind immer schon soziale Begriffe. Die Psychoanalyse ist monistisch: die Gesetze der individuellen Imagination sind die Gesetze der Sozialordnung und umgekehrt.
- Der Monismus führt zu einer verkürzten Definition von Kultur, Religion, Wissenschaft und Kunst. Sie sind das Resultat der Triebunterdrückung und der Sublimation.
- Die Psychoanalyse kennt nur eine Quelle der individuellen und sozialen Wirklichkeit, die psychischen Schemata. Alles wird auf das Spiel der primären Triebe zurückgeführt.
- Die Geschichte der Sozialordnung wird ausschließlich durch den Konflikt zwischen verbietender Instanz und Triebimpuls interpretiert. Die Freudsche Sozialphilosophie erklärt den historischen Wandel der verbietenden Instanz: Totem - Gott - Über-Ich. Kollektive Emanzipation und Demokratie sind mit psychoanalytischen Begriffen nicht faßbar.
- Die Frau ist ein defizienter Modus des Mannes. Die Anatomie bestimmt das Imaginieren und die Kulturfähigkeit.
- Die Psychoanalyse ist einer unumkehrbaren Denkrichtung verpflichtet, von der Physis zur Psyche.
Mit dieser neuen, viel kritischeren Sichtweise auf Freud, veränderte sich auch meine Position zur Geschichte der Psychoanalyse. Vor Beginn dieser Arbeit vertrat ich die "klassische" These der Kritischen Theorie, wie sie von Erich Fromm und Herbert Marcuse formuliert wurde. Auf den Punkt gebracht läuft diese Argumentation folgendermaßen: Die Psychoanalyse begann als kritisches, emanzipatorisches Unternehmen. Sie war immer mehr als eine Methode zur Behebung seelischer Störungen. Im Kern eine kritische Theorie der Kultur, denunzierte sie die Deformationen des Einzelnen durch die kapitalistische Gesellschaft. Sie offenbarte das seelische Leid, das die Zivilisation erfordere und zeigte die unbewußten und unbewußt machenden Mechanismen der repressiven Herrschaft. Psychoanalytische Erkenntnis könne die Frage beantworten, warum der Repression nicht mit Rebellion begegnet werde, warum der Einzelne die Herrschaft internalisiere und sich mit dem Mächtigen identifiziere anstatt sich zu wehren. Die Medizinalisierung der Psychoanalyse, so läuft das Argument weiter, verrate dieses kritische Potential. Die heute praktizierte Psychoanalyse wolle von Gesellschaft und Kultur nichts mehr wissen. Sie verkomme zu einer Therapieform unter anderen, aus dem dynamischen Mittwochkreis Freuds sei eine simple Standesvertretung geworden, die sich von der Taxiinnung und dem Architektenverband durch nichts mehr unterscheide. Die Mehrzahl der Therapeuten und Therapeutinnen praktiziere Analyse in einer sehr pragmatischen Art und Weise.
Wie Morris Eagle in einer unlängst erschienen Arbeit aufzeigt, geht die Tendenz eindeutig weg von der Triebtheorie, weg vom Ödipus als primäres Erklärungsmuster für seelische Störungen, weg vom Konzept des "einsamen Kindes". Wichtige Erkenntnisse Freuds spielen in der heutigen analytischen Praxis kaum mehr eine Rolle, sie werden mehr oder minder offen aufgegeben. Die These der Medizinalisierung der Psychoanalyse ist zweifellos berechtigt, aber welche Konsequenz folgt daraus? Zurück zu Freud? Zurück zur Orthodoxie?
Wohl kaum. Auch das Spiel, Freud durch einen besseren Freud zu ersetzen, hieße er nun Reich, Groddegg, Groß, Bernfeld oder Fenichel hat wenig Anziehungskraft auf mich. Ich hoffe, daß die folgenden Kapitel verständlich machen, warum ich diesen Weg heute für ungangbar halte. Meine Solidarität gilt jenen, die den Untergang des kämpferisch, kritischen Geistes der Psychoanalyse der Gründerjahre miterlebt oder mitempfunden haben. Aber ebenso wie die Gesellschaft hat sich die Psychoanalyse gewandelt. Keine Theorie besitzt ein emanzipatorisches Potential, das unabhängig von der geschichtlichen und kulturellen Situation an sich existiert. Der ahistorische Dogmatismus der Freudianischen Therapeuten, Philosophen und Ethnologen kann keine Alternative zur medizinalisierten Psychoanalyse darstellen. Es wäre für mich ein großer Erfolg, wenn ich meinen Lesern die Berechtigung folgender Frage plausibel machen kann: Wenn die Triebtheorie revidiert werden muß, wenn das ödipale Schema nicht mehr als das Erklärungsmuster für Ontogenese und Phylogenese akzeptiert werden kann, wenn die Freudsche Denkbewegung von der physis zur Psyche fraglich wird, was bleibt dann noch von der Freudschen Psychoanalyse?