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Karl
Reitter Repräsentation und Multitude - ein Bericht Dienstag
19. März 2002. Die SPÖ Ottakring hat zu einer Diskussionsveranstaltung über
das Sozialstaatsvolksbegehren in ein bekanntes Wirtshaus im 16. Bezirk
eingeladen. Der Gastraum ist ziemlich voll, am Podium VertreterInnen des unabhängigen
Personenkomitees und zwar: die Theaterdirektorin Emmy Werner, der Ökonom Stefan
Schulmeister und der Präsident des Jugendgerichtshofes Udo Jesionek. Die
Vorsitzende der SPÖ Ottakring hofiert die erschienenen Komitee-ProponentInnen
und erhofft sich eine anregende Diskussion. Nach einem rituellen Austausch von Höflichkeiten
beginnen die Referate. Die Rollen sind klar verteilt: Emmy Werner übernimmt den
Part der Spaßmacherin, der Herr Präsident ist mehr für hemdsärmelige
Argumente zuständig, Stefan Schulmeister für das Intellektuelle. Nach und nach
verstärkt sich bei mir der Eindruck, dass ich bei keiner Diskussionsrunde zu
Fragen des Sozialstaates gelandet bin, sondern auf einer reinen
Werbeveranstaltung für ein bestimmtes Produkt, ein Produkt, das den Namen
"Sozialstaatsvolksbegehren" trägt. Alles ist bereits fix und fertig.
Die Flugblätter und Werbeschriften ebenso wie die Argumente, selbst die
eingestreuten auflockernden Scherze wirken einstudiert. Oft kippt der Vortrag in
reine Argumentationsschulung. Wie beantwortet man den Einwand des
Sozialschmarotzertums? Dann Publikumsdiskussion. Ich melde mich zu Wort und
versuche höflich und zurückhaltend, einige Einwände und präzise Vorschläge
zu formulieren. Dabei werde ich das Gefühl nicht los, dass es völlig egal ist,
was ich hier nun sage. Ich hätte genauso eine Seite aus dem Telephonbuch
vorlesen können, die Wirkung wäre dieselbe gewesen, nämlich gleich null. Alle
Facetten der Kampagne sind bereits ausgearbeitet und durchgeplant. Und zwar von
Anbeginn an. Schon auf dem ersten Treffen - ich war persönlich nicht anwesend,
mir wurde aber darüber berichtet - gab es nicht einen Schimmer von offenen
Fragen, von irgendeinem Spielraum, den man/frau für eine mögliche Debatte hätte
nützen können. Wie im Theater ging der Vorhang auf und die Anwesenden wurden
mit einer durchgeplanten Abfolge von Beiträgen zugeschüttet. Und nach diesem
Muster wird auch dieser Abend gestaltet. Die Anwesenden sind im Grunde reine
Objekte, keine Spur davon, dass hier versucht wird, ausgehend von den
verschiedenen Erfahrungen, Ansichten und Bedürfnissen eine gemeinsame Aktion zu
kreieren. Spannend wird es nochmals kurz vor Ende. In einer geradezu verblüffenden
Offenheit und Unbefangenheit erzählt Schulmeister so im Plauderton, warum es
diese Veranstaltung überhaupt gibt. Ursprünglich, so Schulmeister, sei man
davon ausgegangen, dass die Medien teils kritisch, teils positiv, letztlich aber
in der Mehrzahl eher negativ reagieren würden. Über diesen Konflikt, so dachte
man, sei die nötige Wahrnehmung herstellbar. Damit hätte man ein Feld
gefunden, das Volksbegehren zu propagieren und die entsprechenden Argumente zu
lancieren. Aber leider, die Medien hätten gelernt; statt Kritik sei
Totschweigen angesagt. Also war man gezwungen, andere Wege zu gehen. Man hätte
16 verschiedene Felder, in denen Sozialstaatlichkeit relevant sei, analysiert
und vorhandene Organisationen und Strukturen, die in diesen Feldern arbeiten,
als Multiplikatoren ausgewählt. Nun
war es also auf dem Tisch. Da das geplante Pingpong-Spiel zwischen der linken
Elite und den Medien nicht funktioniert hatte, blieb also nichts anderes übrig,
als den mühsameren Weg zu gehen und Veranstaltungen wie die eben beschriebene
zu organisieren. Ich bin mir bis heute nicht im Klaren darüber, ob ich die
Selbstsicherheit bewundern, oder mich über die Präpotenz ärgern soll, mit der
ich und alle Anwesenden zu bloßen Propagandamitteln degradiert werden sollten,
zu bloßen Sprachrohren und Flugblattverteilern für politische Inhalte, auf die
wir alle nicht den geringsten Einfluss hatten und haben. Für
mich war diese Veranstaltung geradezu ein Lehrstück in Sachen Repräsentationspolitik.
Und gleichzeitig wurde mir einmal mehr die Bedeutung, oder vorsichtiger
formuliert, eine mögliche Bedeutung des Begriffes "Multitude" und
ihrer Nicht-Repräsentierbarkeit, klar. Natürlich muss man Negri/Hardt in ihrer
überschwenglichen Formulierung, die Multitude treibe das Kapital vor sich her,
nicht folgen. Aber selbst wenn man diesen Anspruch um zwei Stufen zurückstutzt,
so sind diese Begriffe nützlich, genau das sichtbar zu machen, was Repräsentationspolitik
immer verleugnen und verdecken muss. Multitude hat zumindest zwei Seiten, zwei
Aspekte, die zwar eng miteinander verknüpft sind, aber doch nicht völlig
zusammenhängen. Einerseits verweist der Begriff auf Kompetenzen, Fähigkeiten
und Bedürfnisse im Arbeitsprozess, einem Arbeitsprozeß, der nur mehr teilweise
die Form der klassischen Lohnarbeit annimmt, andererseits verweist Multitude auf
den Aspekt nicht repräsentierbaren politischen Handelns. Paradebeispiel für
den ersten Aspekt sind die inzwischen viel zitierten neuen Arbeitsformen,
Paradebeispiel für den zweiten sind Genua, Argentinien oder hierzulande die
Donnerstagsdemos. Immer zielt dieser Begriff auf Prozesse ab, die gewissermaßen
unterirdisch, in den Poren des Alltags, verstreut und oft versteckt, ablaufen,
aber doch indirekt große Wirkung haben. Ich möchte nun den mehr direkt
politischen Aspekt beleuchten, um danach wieder auf die Politik der Repräsentation
zurückzukommen. Politische
Formen der Multitude sind von niemandem beherrschbar, von niemandem für sich
reklamierbar, sie fließen unkontrolliert und unberechenbar. Das politische
System muss einerseits, da es in Kategorien der Repräsentation denken muss (und
will), immer nach Repräsentationen suchen. Gibt es diese nicht, so werden sie
willkürlich konstruiert. Als die Donnerstagsdemos begannen, wurde eine gewisse
Person von den Medien als Drahtzieher und "Chef" auserkoren, bis
selbst dem dümmsten Journalisten und der dümmsten Journalistin klar wurde,
dass K.W. diese Rolle nicht spielt. Foltin weist in seinem Artikel auf die willkürliche
Konstruktion des Schwarzen Blocks hin, den es auch nicht gibt, aber an den zu
glauben inzwischen Pflicht der aufrechten StaatsbürgerInnen ist. Nach dem 11.
September musste der Feind sofort Gesicht und Ort bekommen, ungeachtet der
Tatsache, dass keine Beweise gegen Bin Laden vorlagen und die Geldgeber für
rechtsfundamentalistische Kreise viel mehr in Saudi-Arabien zuhause sind, denn
in Afghanistan. Die
Nicht-Repräsentierbarkeit, die Negri/Hardt als geradezu ontologische
Eigenschaft der Multitude ausmachen, wiederholt und bekräftigt in neuer Form,
einen, ja DEN Aspekt, den im Grunde jede politische Strömung herausstellt. Ob
man es Klassenkampf, Emanzipation, Rebellion, Widerstand, Befreiung oder Revolte
nenne mag, immer zielen diese Begriffe auf Prozesse ab, die am, im und durch das
Subjekt selbst stattfinden müssen. Genauso wenig, wie ein anderer für mich
essen und trinken kann, genauso wenig ist, und hier müsste ich die Reihe der
soeben genannten Begriffe wiederholen, (nennen wir es jetzt) politisches Handeln
delegierbar. Es ist kein Zufall, dass in den dummen Trivialfilmen der große
Held die anderen befreit. In Wirklichkeit kann es genau das nicht geben. Und
alle, alle haben dies auch ausgesprochen. Von Marx zu Marcuse, von Castoriadis
bis zu Negri/Hardt, trotz aller (oft gewaltigen Unterschiede): In diesem Punkt
herrscht zu Recht Übereinstimmung. Castoriadis schreibt sinngemäß, dass repräsentative
Demokratie glatter Widerspruch ist. Ebensowenig wie ich andere Dinge tun lassen
kann, die ich selbst machen muss (Ich habe Essen und Trinken erwähnt, jedeR
wird genug Phantasie besitzen, diese Liste endlos fortzusetzen.) kann Herrschaft
(Demokratie, wörtlich: Herrschaft des demos) delegiert werden. Das
"Sprechen im Namen der anderen" muss diese anderen zu bloßen Objekten
herabwürdigen. Repräsentationspolitik
bedeutet immer und automatisch Politik einer Elite. Die Elite selbst hat kein
Interesse, sich mit den Massen zu vermischen, sie fürchtet wie der Teufel das
Weihwasser, in der Anonymität aufzugehen und darin zu versinken. Sie will
Massen organisieren, aber nicht auf dieselbe Stufe der Anonymität herabsinken.
Auch wenn Hunderttausende, wie beim Lichtermeer, demonstrieren, die Elite muss
sichtbar bleiben. Ein wichtiges Moment für die Mobilisierung der Massen sind
die Prominenten. Die Prominenten, die sich für das politische Projekt der Elite
engagieren, müssen, ja sollen gar nicht aus dem engen Kreis der initiierenden
Elite selbst stammen. Gleichzeitig sind Prominente auch der Schlüssel für die
so notwendige mediale Aufmerksamkeit. Repräsentation kann nicht einfach im Akt
einer Selbstzuschreibung gesetzt werden. Sie muss durch mediale Wahrnehmung bestätigt
werden. Die sich engagierende Prominenz hebt im Grunde das eigene Engagement
wieder auf. Je mehr symbolisches Kapital eine Person angehäuft hat, desto
unwesentlicher ist es, was sie tatsächlich nun sagt. Bei Spitzenprominenten genügt
oft schon eine belanglose Grußadresse, eine Beteuerung, man würde die gute
Sache unterstützen. Die, ich spreche jetzt natürlich vorrangig von der linken,
oppositionellen Politik der Repräsentation, bewegt sich also im Dreieck
Elite/Prominente - Massen - Medien. Die Massen sind Staffage, Zahlen. Zahlen,
die möglichst groß sein sollen. Die Elite plant, organisiert, konzipiert und
leitet die politische Aktion, die Medien (in denen oft sympathisierende Teile
der Elite arbeiten und die dadurch die Kampagne von innen her unterstützen können)
sind das erste und vorrangige Ziel. Kommt man in den Medien gut durch, so
erhofft man sich den gewünschten politischen Druck.
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