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SoZSozialistische Zeitung |
Die Macht der Religionen, die uns Linke seit einiger Zeit beunruhigt, zeigt
sich in drei Phänomenen: religiöser Fundamentalismus, politische Religion und religiös
motivierte Gewaltakte. Alle großen Religionen haben diese Machtausdrücke, schon seit langem. In
Indien führte der Sieg des militanten Islamismus schon 1947 zur Teilung des Landes und der
Gründung der Islamischen Republik Pakistan. Der anfänglich sozialistische (in Algerien) oder
halbsozialistische arabische Nationalismus ist längst vom radikalen Islamismus verdrängt worden.
Heute wird der arabische Kampf gegen den Imperialismus hauptsächlich von den militanten Islamisten
geführt. In Nordirland geht der »Dreißigjährige Krieg« unter den Christen weiter.
In den USA haben die fundamentalistischen Evangelikalen, die die ganze Welt christianisieren wollen, die
Macht erobert.
Nicht Aufregung, sondern tiefes, besorgtes
Nachdenken über diese Phänomene tut not. Denn sie stellen nicht nur eine zweite Niederlage des
Sozialismus dar. Sie bedeuten auch, dass die Aufklärung zunehmend an Boden verliert.
Viele von uns können nicht verstehen, dass überhaupt jemand an Gott und eine Religion glaubt.
Doch machen wir es uns nicht so leicht! Eine tiefe Wurzel der Religiosität liegt in der conditio
humana selbst. Wir wissen nicht alles. Was uns die Wissenschaft über die Entstehung des Universums und
des Lebens sagt, sind doch nur zurzeit mögliche intelligente Hypothesen! Außerdem bleiben mehrere
grundsätzliche Fragen unbeantwortet: Wozu ist all das entstanden? Was ist der Sinn von all dem, vom
Leben? Und was ist der Sinn des Menschenlebens? Woher haben wir unser Bewusstsein, unsere Intelligenz,
unsere Moral? Sind wir nur ein Zufallsprodukt der Evolution? Wenn ja, warum will ein solches Wesen, das nur
eine Spezies unter Millionen ist, überhaupt eine Moral haben? Katzen kümmern sich doch auch nicht
um die Natur oder die zukünftigen Generationen! Warum leiden einige Menschen und die anderen nicht?
Was ist Sterben?
Solche Fragen können schnurstracks zur
Gottgläubigkeit und Religion führen, oder, in einem günstigen Fall, zur harmlosen
Spiritualität. Insbesondere braucht ein geschundener Mensch oder einer, der am Boden liegt, eine
Troststelle. Wenn sie im Diesseits nicht zu finden ist, ist es verständlich, dass er sie im Jenseits
gefunden zu haben glaubt, wo ihn ein Gott angeblich bedingungslos liebt oder wo er endlich glücklich
sein würde. Bekanntlich begannen die Erkenntnissuche des jungen Buddha und sein Weg zur
Religiosität mit dem Anblick eines Schwerkranken, eines gebrechlichen Greisen und eines Toten. Nach
dem Kollaps der Sowjetunion strömten die verelendeten, vormals atheistischen Russen wieder in die neu
gegründeten Kirchen. Marx hatte schon erkannt, dass Religion »der Ausdruck des wirklichen
Elends«, »der Seufzer der bedrängten Kreatur« ist.
Religion ist nach Marx Opium. Er erkannte aber
auch, dass sie nicht immer nur Seufzer und Opium ist. Sie ist auch »die Protestation gegen das
wirkliche Elend«. Es ist besser zu sagen, dass sie auch das sein kann. In der Tat hat sie in der
Geschichte oft Menschen zum Protest angestachelt, in verschiedenen Formen, inklusive der
gewalttätigen. Thomas Müntzer, ein protestantischer Reformer, führte im 16.Jahrhundert eine
Bauernrevolte. Manche Marxisten sehen ihn als einen Vorläufer im Kampf für eine klassenlose
Gesellschaft. Luther führte die Revolte gegen die korrupte christlich-religiöse Hierarchie. Im
18.Jahrhundert führte in Ostindien eine Gruppe von Hindu Sannyasins eine Revolte gegen die
Fremdherrschaft. Im 19.Jahrhundert führte Muhammad Ahmad Ibn Abd Allah ein Sufi, der sich den
Titel »Mahdi« gab im Sudan eine Massenbewegung und eine revolutionäre Armee, um
sowohl den Islam zu reformieren als auch sein Land von der unterdrückerischen Fremdherrschaft der
Ägypter zu befreien.
Müntzer, die Sannyasins und der Mahdi
führten bewaffnete Kämpfe gegen eine weltliche Ordnung, die sie aus irgendeinem Grund für
unerträglich hielten. Und Luther war der geistliche Führer der Fürsten, die die
militärische Revolte gegen die Herrschaft des Papstes führten. Der Mahdi und seine Anhänger
wollten den Islam zur ursprünglichen Form zurückführen, in der der Prophet ihn praktiziert
hatte, waren also im heutigen Jargon Fundamentalisten. Was diese historischen Beispiele besagen, ist, dass
in der Menschheitsgeschichte oft militante, religiöse Fundamentalisten oder auch nur religiös
motivierte politische Kämpfer, die keine Fundamentalisten gewesen sein müssen, auf verschiedene
Weisen gegen irgendein wirkliches oder so empfundenes Unrecht oder irgendwelche Missstände
gekämpft haben.
Seit der Aufklärung und seit den verschiedenen Erklärungen der Menschenrechte, spätestens
aber seit der weltweiten Verbreitung der revolutionären sozialistischen Bewegung nach dem Zweiten
Weltkrieg hätte es keiner religiösen Motivation für solche Kämpfe bedürfen sollen.
Aber sowohl die Aufklärung als auch die Menschenrechte wie auch der Sozialismus wurden von denselben
Völkern verraten, die diese Ideale erfunden hatten, nämlich den euro-amerikanischen. Im Namen der
Bürde des weißen Mannes, seiner angeblichen zivilisatorischen Mission, wurden Kolonialkriege
geführt. Die Völker der eroberten Länder wurden nicht nur ausgebeutet, sondern auch
rassistisch behandelt. Der Sklavenhandel ging bis 1864 weiter. Frankreich führte bis 1968 Krieg, um
seine Kolonialherrschaft in Algerien aufrechtzuerhalten.
Schon der bewaffnete Kampf des Mahdi galt
nicht nur der ägyptischen Herrschaft in Sudan, sondern auch dem britischen Imperialismus, der die
Ägypter unterstützte. Der britische Oberst Gordon, der den Sudan für die Ägypter retten
sollte, wurde nach seiner Gefangennahme getötet. Aber warum musste der Mahdi ein religiöser
Fundamentalist sein? Es ist vielleicht ein Gesetz der Sozialgeschichte, dass immer, wenn einem Volk oder
einem Teil davon seine allgemeine Lage, auch ohne Fremdherrschaft, als miserabel erscheint, wenn es sich in
einem materiell desolaten oder moralisch dekadenten Zustand sieht, insbesondere wenn, in unserer Zeit, sich
die Versprechungen der Moderne als illusorisch erweisen, sich zumindest ein Teil dieses Volkes auf die
eigene religiös-kulturelle Tradition besinnt, und das vermeintlich goldene Zeitalter der eigenen
Geschichte, das nicht unbedingt im materiellen Sinne zu verstehen ist, wiederbeleben will.
Diese Rückbesinnung muss nicht immer als
Mittel zum Kampf um die weltliche Macht erscheinen. Sie kann auch in einem unabhängigen, aber in
irgendeiner Art von Krisenzustand befindlichen Land eine friedliche soziokulturelle Renaissance zum Ziel
haben. So gründeten in Indien die Hindus im 19.Jahrhundert die an den Veden orientierten Bewegungen
Aryasamaj und Brahmasamaj. 1928 entstand die »Muslimbruderschaft«, die für eine
Rückkehr zum Koran und den Hadithen als Leitlinien für eine gesunde, moderne islamische
Gesellschaft eintrat. Ähnliches beobachtet man heute unter den christlichen Fundamentalisten, die ob
des moralischen Verfalls der modernen westlichen Gesellschaften ein tiefes Unbehagen empfinden und darum
diese zurück zu den biblischen Werten führen wollen. Und im heutigen Indien haben viele Hindus
auf die moralische Verkommenheit ihrer Gesellschaft mit dem Traum reagiert, das Ramrajya, das
Königreich des Gott-Königs Rama, wiederzubeleben. Klar, viele Politiker instrumentalisieren diese
Empfindungen, Gedanken und Träume. Aber es gibt sie.
Die jüngere Geschichte Algeriens erscheint als lehrreichste. Nach einem erfolgreichen
Befreiungskampf wurde dort ein von Ölreichtum gesegneter sozialistischer Staat gegründet. Es gab
zwar einige rein ökonomische Gründe für die Krise des Landes. Aber die führende,
verwestlichte, frankofone Schicht der herrschenden FLN war auch moralisch degeneriert. Vor diesem
Hintergrund konnten die unterprivilegierten Schichten, insbesondere deren unter Massenarbeitslosigkeit
leidende Jugend, deren absolute Zahl sowie Anteil an der Bevölkerung rapide zunahmen, leicht von der
Islamischen Heilsfront (FIS) für ihre Politik gewonnen werden im Namen des Panarabismus und der
Wahrung der religiös-kulturellen Identität. Der Rest der Geschichte Bürgerkrieg und
gegenseitiges Massaker ist reichlich bekannt.
Bekanntlich kommen die islamistischen
Terroristen der Gegenwart im Allgemeinen nicht aus den armen Unterschichten, sondern mehrheitlich eher aus
der gebildeten Mittelschicht. Wenn sie an die Macht kämen, würden sie nicht die Ausbeutung der
unteren durch die oberen Schichten abschaffen. Hier machen manche westliche, auch linke, Beobachter einen
Denkfehler. Beim islamistischen Terror geht es nicht primär um die Verteilung der Reichtümer der
Welt oder des eigenen Landes, sondern um die Würde und um Hass und Rache als zwei Mittel zur
Wiederherstellung der Würde. Das Würdegefühl der arabisch/islamischen Völker,
eigentlich eines jeden Dritte-Welt-Volks, leidet ohnehin ständig an materieller Unterentwicklung. Es
wird seit langem von den westlichen, imperialistischen Ländern, zu denen auch Israel gehört,
verletzt. Wenn auch ein paar Bombenanschläge den Imperialismus nicht besiegen können, so
können sie das Rachebedürfnis der geschundenen Völker befriedigen. Das ist der wichtigere
Sinn der Anschläge der Islamisten gegen die Westler und die Israelis. Nur so kann man auch die
Ermordung von Theo van Gogh verstehen.
Die Motivation für die Erfüllung
dieser Art von Bedürfnissen kann nicht aus Idealen wie der Aufklärung und dem Sozialismus bezogen
werden, wohl aber aus den fundamentalistischen Interpretationen der großen Religionen sowie aus dem
Nationalismus. Die Motivation für den Kampf der Islamisten gegen den Westen und den der Tschetschenen
gegen die Russen wird aus beiden dieser Quellen gespeist.
Es ist nicht von ungefähr, dass man beim
Begriff »islamistischer Terrorist« kaum an einen Türken denkt, obwohl es auch in der
Türkei zwei von türkischen Islamisten verübte Bombenanschläge gegeben hat. Die
Türkei war nie eine Kolonie. Im Gegenteil, sie war selbst eine Kolonialmacht. Und heute ist sie OECD-
und NATO-Mitglied. Der türkische politische Islam kann daher eine milde Form annehmen. Das beweist,
dass erst die Kombination von Muslim-Sein und Dritte-Welt-Mensch-Sein besonders anfällig macht
für den militanten Islamismus.
Die FIS konnte die religiös-kulturelle
Identität »arabisch-islamisch« so erfolgreich ausnutzen, weil die von den Linken bevorzugte
Identität »Arbeiter« den algerischen Unterschichten in ihrem Kampf gegen die FLN-Bonzen und
die Oberschichten, die sich als Sozialisten verkauften, wenig genutzt hätte zumal auch
innerhalb der Arbeiterklasse Klassendifferenzen existierten. Auch im Kampf gegen den Imperialismus nutzt
die Identität »Arbeiter« wenig, da ja auch euro-amerikanische Arbeiter objektiv
Nutznießer des imperialistischen Systems sind. So erstarkten die Islamisten. Mit Hilfe der
Identität »islamisch« können sie auch die Klassenprobleme in den eigenen Reihen unter
den Teppich kehren. Es ist eine Schwäche der euro-amerikanischen Linken, dass sie den objektiv
existierenden Interessenkonflikt zwischen der Arbeiterklasse des Zentrums und der der Peripherie nicht
wahrhaben wollen.
Wie sollen wir uns diesen Phänomenen gegenüber verhalten? Die große Mehrheit der
Gläubigen nimmt ihre heiligen Bücher nicht allzu ernst. Das sind realistische Menschen. Leben und
Leben lassen, das ist ihre Haltung Andersgläubigen gegenüber. Wenn auch wir ihr Gläubig-Sein
tolerieren, dann ist eine politische Zusammenarbeit möglich.
Die Massen, die die anfängliche
sozialistische Politik der FLN unterstützten, waren gläubige Muslime. Und die Christen haben ihre
Befreiungstheologie und die Christen für den Sozialismus. Wir können die Wichtigkeit der
Glaubensfrage verneinen, eine agnostische Position beziehen, sagen, dass wir nicht wissen, ob es einen Gott
gibt, und die rhetorische Frage hinzufügen: was kann man mit einem Gott anfangen, der uns nicht helfen
kann?
Wir müssen aber auch differenzieren. Die
Fundamentalisten, die die Worte des Koran, der Sharia oder der Bibel als die Gesetze des gesellschaftlichen
Lebens durchsetzen wollen, die müssen wir bekämpfen. Denen jedoch, die für ihren Kampf gegen
die vielen Übel in dieser Welt keine andere Quelle der Kraft und Inspiration finden als ihre Religion,
müssen wir eine andere Quelle bieten. Der niederländische Journalist Joost Kircz klagte:
»Die Linke kann den jungen, islamisch beeinflussten Menschen keine Alternativen bieten … Es gibt
auch keine vergleichbaren heroischen Kämpfe gegen die herrschenden Verhältnisse, an denen diese
Jugend einen neuen emanzipativen Sinn erlernen und erproben könnte« (SoZ 12/04). Dieses Defizit
von uns muss bald aufgehoben werden.
Saral Sarkar
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Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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