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Morus Markard

We don't need no education! - Kann man zur Freiheit erzogen werden?

(unkorrigierte Vortragsfassung. Vortrag bei Verein "Gegenentwurf - für eine solidarische Gesellschaft e.V.", München, 21.07. 2003, 20h, Club Voltaire München, Theater im Fraunhofer. Mit Unterstützung des Kurt Eisner Vereins für politische Bildung in Bayern e.V.)
 

Inhalt:
1.Vorbemerkung
2.Vorbemerkung
3.Vorbemerkung
Erstes Resümee und ein (erstes) Grundproblem von Erziehung
Zweites Grundproblem von Erziehung: unterschiedliche "Werte"
Erziehung als besondere Beziehung: Perspektiven von Erziehern und Zöglingen
Subjektive Notwendigkeit individueller Vergesellschaftung
Das Paradox der Fremdgesetztheit von befreiend gemeinten Erziehungszielen

1. Vorbemerkung   INHALT

Kann man zur Freiheit erziehen? Muss man zu Freiheit erziehen? Man könnte allerdings auch fragen: Warum sollte man zu etwas erziehen, was ohnehin praktisch jeder und jede will?

Oder ist jemand hier, die/der sich grundsätzlich gegen Freiheit ausspricht?

Eine weitere Frage zur Erziehung zur Freiheit: Ist nicht, sieht man die Freiheits-Frage aus der Perspektive von Kindern, Freiheit das, worauf ihr Leben, ihre ganz kindliche Existenz, hinausläuft, auf Befreiung von Bevormundung, auf Befreiung von Schutz, der vielleicht immer auch Kontrolle ist? Mit dieser simplen Frage ist man übrigens erstaunlich nahe bei Kant, der Freiheit als Voraussetzung dafür fasste, von seiner Vernunft gegenüber Übergebenen Gebrauch zu machen. Wenn nun ein Kind in seiner Entwicklung zunehmend zu Verstand kommt, ist es dann nicht eher darum zu tun, dem Kind die Freiheit zu gewähren bzw. zu gewährleisten, seinen Verstand auch zu gebrauchen, statt es zur Freiheit zu erziehen.

Gewähren oder gewährleisten? Ein wesentlicher Unterschied: Gewähren heißt nämlich einräumen, was einem nicht per se zusteht. Gewährleisten dagegen heißt sichern, was einem zusteht. Was man gewährt, kann man nach Belieben entziehen. Es wird also im Folgenden auch darum gehen, wie Freiheit in Erziehungs- als Machtfragen vorkommt.

2. Vorbemerkung    INHALT

Ein zentrales Problem des Freiheitsgedankens ist das Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung bzw. von objektiver Bestimmtheit durch gesellschaftliche Verhältnisse und subjektiver Bestimmung in diesen Verhältnissen oder eben über diese Verhältnisse. Die Kritische Psychologie Klaus Holzkamps, meines akademischen Lehrers, fasst das Problem folgendermaßen: Objektive Bedingungen werden für uns relevant als Handlungsmöglichkeiten bzw. —behinderungen — und wie wir angesichts dessen handeln, hängt von unseren Lebensinteressen ab und ist darin begründet, welche Konsequenzen wir aus welchen Handlungen erwarten. In diesem Sinne, meint Holzkamp, ist, psychologisch gesehen, "subjektive ‚Freiheit’" nicht einfach "Beliebigkeit, ..., sondern auch die ‚freieste Entscheidung’ ist für das Individuum ‚begründet’" (1983, 349). Das heißt auch, sie ist auf ihre subjektive Funktion hin analysierbar und kann so intersubjektiv verständlich werden. Freiheit ist nicht nur Befreiung von Abhängigkeit, sondern bemisst sich wesentlich am Ausmaß der Verfügung über die eigenen und damit gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Auch das lässt sich am kindlichen Freiheitsstreben veranschaulichen: "Selber machen" ist Beides: Die Befreiung von der Abhängigkeit und eine Erweiterung eigener Verfügung, wie beschränkt auch immer sie noch sein mag.

Die Frage wäre dann aber wieder: Warum sollte man zu so gefasster Freiheit erziehen müssen?

3. Vorbemerkung   INHALT

Wenn sich Freiheit am Ausmaß der Verfügung über die eigenen und damit gesellschaftlichen Lebensbedingungen bemisst, wird die Frage interessant, welche Machtverhältnisse herrschen, bzw. inwieweit Freiheit und Entwicklung eingeschränkt werden. In den "Flüchtlingsgesprächen" von Brecht, auf die ich kürzlich durch Frigga Haugs Buch über Lernen aufmerksam wurde, heißt es: "Raus aus jedem Land, wo Sie einen starken Freiheitsdurst finden. In einem günstig gelegnen Land ist er überflüssig." (GW 14, 1444) Ist also, wo besonders viel von Freiheit die Rede ist, diese selber abwesend? Bestehen, wo Freiheit als Erziehungsziel definiert wird, gesellschaftliche Verhältnisse, in denen gesellschaftliche Befreiung noch Agenda ist, wie das heute so heißt — in Richtung auf Verhältnisse "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (MEW 4, 482).

Bis 2010 wird das allerdings wohl nichts werden, vor allem, wenn man bedenkt, dass die "Kommunisten ihre Theorie (die dieser Agenda zu Grunde liegt, M.M.) in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen" können, und zwar jenes Eigentums, das "auf der Ausbeutung der einen durch die andern beruht" (MEW 4, 475).

Erstes Resümee und ein (erstes) Grundproblem von Erziehung    INHALT

Ist, wäre nun erneut zu fragen, die Frage der Möglichkeit einer Erziehung zur Freiheit nur sinnvoll zu stellen in einer Gesellschaft, in der Freiheit als Verfügung über die eigenen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen Agenda ist? Und kann sie aber sinnvoll gestellt werden, wenn doch Freiheit in diesem Sinne allgemein subjektive Notwendigkeit ist? Oder muss Erziehung da nachhelfen, wo der von Brecht erwähnte Freiheitsdurst sich nicht mehr meldet?

Nähern wir uns den Fragen weiter an: In den erwähnten Flüchtlingsgesprächen wird ein Lehrer hervorgehoben, der den Schülern "alle Formen des Unterschleifs", also des Zurechtkommens in elenden Verhältnissen, beibrachte. "So bereitete er sie aus den Eintritt in eine Welt vor, wo ihnen gerade solche Leute wie er entgegentreten, verkrüppelte, beschädigte, mit allen Wassern gewaschene." Eine freundliche Schule würde die Kinder lebensuntüchtig machen: Das dort Gelernte müsste sie im Leben "zu den lächerlichsten Handlungen verleiten", sie würden "hilflos der Gesellschaft ausgeliefert sein" (1404). Wir können also schließlich — mit Adorno — fragen, ob die Möglichkeit "Erziehung zur Freiheit" nur die Illusion einer Erziehung zum richtigen Leben im falschen sei.

Ein allgemeines, nicht nur bezüglich des Erziehungsziel "Freiheit" bestehendes Erziehungsproblem ergibt sich demnach dann, wenn Werte, auf die hin erzogen werden soll, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse selber entwertet werden bzw. nur in Auflehnung gegen diese Verhältnisse zu realisieren bzw. zu entwickeln wären.

Zweites Grundproblem von Erziehung: unterschiedliche "Werte"    INHALT

Ein weiteres Grundproblem von Erziehung ergibt sich, wenn die Gesellschaft in unterschiedliche Kulturen und Subkulturen sich differenziert, die nicht ohne weiteres allgemein verbindliche Werte zulassen, auf die hin erzogen werden könnte, wenn es also verschiedene, konkurrierende Werte oder eben Erziehungsziele gibt, oder wenn bestimmte Normen und Werte ihre materielle Unterfütterung verlieren, wenn also das Versprechen, dass Leistung sich lohne, allein durch Massenarbeitslosigkeit oder unsichere Altersversorgung hohl wird.

Das scheint mir aber für Freiheit nicht richtig einschlägig zu sein. Hier geht es mehr um die Frage, was wer unter der allgemein als Wert anerkannten Freiheit versteht. Zwei Beispiele:
1. Das von Horkheimer theoretisch sezierte "sich frei fühlende, die gesellschaftlichen Tatsachen als notwendig anerkennende, die eigenen Interessen auf dem Boden der Wirklichkeit verfolgende Individuum" ist eine knochenbürgerlich Variante von Freiheitsverständnis, die hier vermutlich kaum Zustimmung findet, da sie nicht gerade ein Gegenentwurf zum Bestehenden ist, wie der schöne Name des veranstaltenden Vereins lautet.
2. Verbreitet ist auch, die Trias "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" aufzulösen und Freiheit gegen Gleichheit auszuspielen, Freiheit als Durchsetzung sozialer Selektion auszugeben. Interessant ist dabei der behauptete Zusammenhang von Selektion und Qualität. Emphatisch hieß es diesbezüglich schon 1992 bei der Adenauer-Stiftung: "Wer Qualität sagt, der muss ... Selektion hinzudenken." Das ist ausgesprochener reaktionärer Quatsch. Die Wahrheit ist nämlich: Wer Qualität sagt, muss Qualifizierungsprozesse verallgemeinern. Noelle-Neumann fordert von allen Menschen die Einsicht (1998, zit. nach F. Haug, 2003, 47), dass "Freiheit zu weniger Gleichheit führt". Natürlich: freie Entfaltung bedeutet auch Differenzierung und in diesem Sinne weniger Gleich-heit. Nur: die Pythia vom Bodensee meint etwas anderes: Die Ungleichheit sozialer Voraussetzungen. Deswegen beschimpft sie die, die unter Freiheit das Freisein von materiellen Sorgen verstehen. Für Noelle-Neumann bedeutet die freie Entwicklung eines jeden die blauen Flecken aller im gnadenlosen Konkurrenzkampf um Ressourcen.

Erziehung als besondere Beziehung: Perspektiven von Erziehern und Zöglingen    INHALT

Für meine weitere Argumentation muss ich die unterschiedlichen Perspektiven der an Erziehung Beteiligten, mindestens also die des Erziehers und die der Zöglings, berücksichtigen.

Das ist natürlich nicht grundsätzlich neu, wie schon die Struwwelpeter- oder Wilhelm-Busch-Geschichten zeigen. Aber in diesen Geschichten sind diese unterschiedlichen Perspektiven sozusagen rollentypisch. Es sind unterschiedliche Perspektivenklischees in einer beiderseitig als fest gedachten Ordnung — und die berühmten Kinderstreiche sind — als blind-blöder Widerstand — eigentlich die augenzwinkernde Bestätigung der Ordnung. Man kann sicher sein, dass Max und Moritz, wären sie nicht zermahlen worden, als Stützen der Gesellschaft geendet wären. Streiche sind — von der kurzen Phase abgesehen, in der Kinder die Bedeutung von Intentionalität und damit auch von Täuschung kapieren und diese Erkenntnis praktisch ausprobieren — in die Harmlosigkeit abgewürgter Widerstand. Streiche werden gespielt, Widerstand wird geleistet, das sagt uns schon die Alltagssprache. Streiche sind temporäre Befreiungen im Modus des Als-ob. Das Pendant zu Streichen der Kinder ist die Großzügigkeit der Erwachsenen: Beide sind Ausnahmen von der Regel der Macht, die sie damit bestätigen. Wer Rechte hat, bedarf keiner Großzügigkeit des Gegenübers: Rechte sind, wie eingangs gesagt, zu gewährleisten, nicht zu gewähren.

Zur unterschiedlichen Perspektive der an Erziehung Beteiligten will ich zunächst die Dyade Erzieher-Zögling darstellen, natürlich wohl wissend, dass es sich mindestens um die Triade Erzieher-Zögling-Gesellschaft-bzw.-Normen handelt. Dies werde ich aber in der Erzieher-Zögling-Dyade berücksichtigen.
Erziehung fasse ich (im Anschluss an ein von Holzkamp seinerzeit geleitetes Projekt, in dem ich mitgearbeitet habe) als den Sonderfall einer zwischenmenschlichen Beziehung, die durch folgende Voraussetzungen gekennzeichnet ist:

1. Der Erzieher vertritt Anforderungen und Ziele, die der der Zögling nicht erfüllen (wollen) kann oder die der Zögling anders als der Erzieher interpretiert: etwa Freiheit als Bauchfreiheit bei Klamotten, Nabelumgebung als textilfreie Zone mit der angenommenen potenziellen Implikation sexueller Verwirrung / Ablenkung des Lehrpersonals bzw. der Schülerschaft.

2. Erziehung besteht aus einschlägigen Maßnahmen (Lob, Tadel, Vorbild sein, verschiedene Erziehungsstile)

3. Erziehung bedeutet immer Machtausübung, die sich mit Erziehungserfolg reduzieren kann.

Zu den Erziehungszielen ist folgendes zu sagen:

1. Der Erzieher kennt und wählt sie aus.

2. Er versucht sie so zu vermitteln, dass sie dem Zögling einsichtig werden.

3. Soweit der Zögling dies bzw. diese Ziele noch nicht einzusehen vermag, setzt der Erzieher die Ziele verantwortlich und stellvertretend durch.- Wir treffen hier im Übrigen auf das allgemeinere Problem der Differenz zwischen Wunsch und Wohl eines Menschen.

Voraussetzung der bislang behandelten Aspekte von Erziehung ist die Vorstellung, dass man Kindern eine gewisse Gesellschaftlichkeit von außen aufprägen muss.

Subjektive Notwendigkeit individueller Vergesellschaftung    INHALT

Demgegenüber stehen aber Befunde und Annahmen, dass der Mensch von Natur aus gar nicht un- oder antigesellschaftlich ist. Wir haben insofern eine gesellschaftliche Natur, als wir grundsätzlich in der Lage sind, uns selber zu vergesellschaften, was subjektiv bedeutet, dass wir Verfügung über unsere Lebensumstände gewinnen, handlungsfähig und in diesem Sinne "frei" werden wollen. Damit taucht die gestellte Frage wieder auf, ob nicht eine Erziehung, die genau das fordert, die überflüssige und auch irgendwie verdächtige Verdoppelung einer subjektiven Notwendigkeit darstellt. Dieses Problem spitzt sich bei der Freiheit als Erziehungsziel besonders zu, weil die individuelle Befreiung des Kindes — zu unterschiedlichen Zeiten seiner Entwicklung unterschiedlich — in gewisser Weise auch die vom Erzieher ist.

Nun leugne ich natürlich nicht, dass es sog. "schwierige" Kinder gibt, ich leugne nicht, dass es faule Kinder gibt, dass es neben Wonneproppen auch Kotzbrocken gibt, dass Kinder und Jugendliche, wie erwähnt, Freiheitsvorstellungen haben oder realisieren, die Erzieher problematisieren, dass sie womöglich Gesellschaftsvorstellungen vertreten, die mit Freiheit überhaupt wenig zu tun haben. Nur: Wenn uns die Formen, in denen sich die subjektive Notwendigkeit der Vergesellschaftung von Kindern und Jugendlichen realisiert, nicht gefallen, müssen wir uns fragen, was sich Kinder gefallen lassen mussten, dass sie sich in für uns ungefälliger Weise vergesellschaften. Die Formen, unter denen Menschen, Kinder, Jugendliche Verfügung über ihre Lebensumstände zu erreichen, sich zu befreien versuchen, sind je nach gesellschaftlicher Lage, Situation und Geschlecht und deren subjektiver Interpretation sehr verschieden. Vergesellschaftungsprobleme von Menschen liegen aber nicht an deren Natur, sondern unserer Gesellschaft, und sie sind Probleme unterschiedlicher Definitionen und Interessen.

Das Paradox der Fremdgesetztheit von befreiend gemeinten Erziehungszielen    INHALT

Das Problem mit der Freiheit als Erziehungsziel lässt sich nun so fassen: Soweit es als Ziel fremdgesetzt ist, ist es mit der subjektiven Notwendigkeit der Verfügung des Kindes über das eigene Leben und dessen Umstände grundsätzlich unvereinbar, da man nicht Selbstbestimmung verfolgen kann, wenn man sie als Ziel anderer verfolgt. Das ist ein Paradoxon — ähnlich wie das kommunikationstheoretische Paradoxon: "Sei spontan" oder ähnlich der allgegenwärtigen Aufforderung, bitte "unaufgefordert, also freiwillig, den Ausweis vor(zu)zeigen".

Besonders prekär wird diese Situation gerade dann, wenn die Erziehungsanforderung dem Zögling einsichtig ist: Dann nämlich ist für den Zögling kaum noch entscheidbar, ob er in eigenem Interesse oder sich fügend und sich unterwerfend handelt. Wenn an diesem Gedanken etwas dran ist, folgen aus dieser Situation eine spezifische Lähmung oder ein spezifischer Widerstand — und zwar als Resultat eben jener Erziehung, die dann genau dies dann überwinden und brechen zu müssen meint.

Gleichwohl bleibt die Frage: Wissen Erzieher aber nicht eigentlich doch und tatsächlich mehr als die Kinder, z.B. auch, was "Freiheit" bedeutet. Mein Gegenargument ist — gerade bei der Freiheitsfrage — das folgende: Die Erziehungsform als spezielle Beziehung ist es, die uns daran hindert, dass wir unser Wissen, so wir es denn haben, bzw. unsere Haltung, tatsächlich nutzbringend einbringen können. Wie soll der Mächtige dem Abhängigen die Freiheit erklären, wie soll der Mächtige den Abhängigen die Freiheit lehren?

An dieser Stelle ist für mich weiter wesentlich, zwei miteinander vermischte Aspekte analytisch zu trennen:
· Bestimmte Lebenserfahrungen, die man gegenüber Kindern und Jugendlichen geltend machen zu können meint (Nutzen einer Ausbildung, Sinn eines Auslandsaufenthaltes),
· und unterschiedliche gesellschaftspolitische Auffassungen, etwa zum Freiheitsbegriff, aber auch zum Nutzen einer Ausbildung. Die mich hier interessierende Frage ist die, ob Erzieher meinen, eine Art Standortvorteil zu besitzen, ob sie dem Glauben erliegen, sie könnten gesellschaftspolitische Differenzen wie Entwicklungs- oder Reifeunterschiede behandeln.
Das Problem dieser Vermischung wird sich durch meine weiteren Ausführungen ziehen.

Zu fragen wäre also:

-Wie kann man Kinder fördern, unterstützen, sie kritisieren und mit ihnen zusammenleben, ohne sie zu erziehen, das heißt ohne in die Erziehungsform des Verhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen zu geraten?

-Anders: (Wie) ist es möglich, interpersonelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen zu realisieren (oder eben durchaus auch zwischen Erwachsenen), die nicht von Erziehungsförmigkeit formiert werden?

Dazu ist es erforderlich, sich radikal von der Auffassung zu verabschieden, dass die Erzieher tatsächlich besser wissen, was für die Kinder gut ist (unabhängig davon, welches umfassendere Weltwissen die Erwachsenen sonst haben mögen.) Denn in der Erziehungshaltung, wonach die Erwachsenen besser wissen, was für das Kind gut sei, ist die kindliche Subjektivität in ihrer Eigenheit ausgeklammert. (Dass manchmal Erwachsene — etwa als SozialarbeiterInnen — in die Situation gebracht sind, für Kinder entscheiden zu müssen, ist eine davon zu trennende Frage.)

Um die Vorstellung, dass der Erzieher nicht besser weiß, was für die Kinder gut ist, zu erläutern, muss ich kurz klären, wie — sehr allgemein — die kritisch-psychologische Grundvorstellung von Entwicklung aussieht, wobei ich auf die Überlegungen zur Verfügungserweiterung / Befreiung zurückgreifen kann: Danach ist Entwicklung die Änderung eines als problematisch empfundenen Zustandes in Richtung auf Verfügungserweiterung. Es müsste dann seitens der Erwachsenen also darum gehen, dazu beizutragen, gegebene Widersprüche zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit bei Kindern zu klären, mit dem Ziel, den subjektiv notwendig nächsten Schritt des Kindes herauszuarbeiten. Das würde im übrigen eben auch dem wissenschaftlich so intendierten Charakter kritisch-psychologischer Begriffe entsprechen, Konzepte in der Hand der Betroffenen zu sein.

Grundsätzlich: Aus der Außensicht kann man nicht wissen, was der subjektiv notwendige Schritt eines Kindes, allgemeiner eines anderen Menschen, ist: weder, wie er oder es Freiheit und Verstand gebrauchen will, noch wie der emotional subjektiv nächste Schritt ist: Ebenso zentral ist, dass Kinder (oder eben auch Erwachsene) sich womöglich selber darüber im unklaren sind bzw. sich erst darüber klar werden müssen. Die Psychologie hat ja eigentlich grundsätzlich damit zu tun, dass in kritischen Situationen Gründe und Konsequenzen unseres Handelns nicht auf der Hand liegen, sondern dass wir sie gegen Vordergründigkeiten, Selbsttäuschungen etc. erst herausarbeiten müssen. Das ist beileibe kein erziehungsspezifisches Problem. Aber es wird dort besonders gerne übersehen.

Erziehung und insbesondere Erziehungsziele gehören nach allem Gesagten offenkundig zur Lebensperspektive des Erziehers. Dahinter stehen letztlich (von diesem vertretene) Normen und Werte, wie ein Kind zu sein habe, und meine Problematisierung von Erziehung hatte ja auch mit dieser Normativität, zumal bei grundsätzlichen inhaltlichen Umstrittenheit von Normen / Werten (wie eben "Freiheit"), zu tun. Der Erzieher hat bei seiner Erziehung selber ein Interesse daran, mit den Normen, die er vertritt und denen er in gewisser Weise auch selber unterliegt, nicht in Konflikt zu geraten; er hat ein eigenes Interesse, mit der Produktion eines aus der Außensicht tadellosen Kindes auch seine eigene Tadellosigkeit, Bedeutung und Leistung als Erzieher zu beweisen.

Nebenbei bemerkt: Eine gewisse Bedenkenlosigkeit, seine eigene Perspektive zum Maßstab zu machen, eine gewissen Rücksichtslosigkeit der Erziehung gegenüber kindlichem Eigensinn, hat auch wohl auch damit zu tun, dass vielen die Kindheit nur als Vorphase des eigentlichen Lebens gilt, so dass eine gewisse Geringschätzung kindliche Glücks- und Lebensansprüche gegenüber dem späteren Leben sich daraus speist.

Ich spreche nicht dagegen, dass Erzieher Normen und Werte vertreten — nur dagegen, dass sie als aus ihrer Machtposition heraus als verbindlich erklären.

Bei Entwicklungen von Kindern (und anderen Menschen) können wir nach allem Gesagten über Entwicklung nicht einfach Gradlinigkeit erwarten. Entwicklungen können durchaus in Form ihres Gegenteils stattfinden. Freiheitsdrang von Kindern kann durchaus unangenehm für freiheitsorientierte Erzieher sein. Der Dandy-Philosoph Oscar Wilde hat in seiner Schrift "Der Sozialismus und die Seele des Menschen" geschrieben: "Die Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch die Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit." Das ist natürlich nicht gerade die Perspektive von Erziehern, zumindest nicht, wenn sie Ziel der Unbotmäßigkeit sind. Und es würde paradox sein, wenn dies ein Ziel, eine Norm von Erziehern würde.

Aber wer würde bestreiten, dass die Passage von Oscar Wilde irgendwie mit Befreiung und Freiheit zu tun hat? Es kann dabei um eine Lernverweigerung, aber auch um eine aus der Sicht des Erziehers problematische Freiheitsvorstellung gehen, etwa jene erwähnte schon erwähnte neoliberale Durchsetzung aller gegen alle, Vorstellungen, die dann nicht als Unreife zu analysieren wären, sondern als subjektive Probleme, ggf. politische Kontroversen in einer spezifischen Beziehung zwischen Zögling und Erzieher..

In den Lebens-Widersprüchen von Kindern diesen Unterstützung geben zu können, eigene Erfahrungen für Kinder tatsächlich nutzbar zu machen zu können, bedeutet, mit ihnen so zusammenzuleben, dass sie diesen Rat annehmen können. Ein Rat ist vor allem dadurch definiert, dass man ihn ablehnen kann. Wer Ratschläge erteilt, die man nicht ablehnen kann, sollte gleich Befehle erteilen.

Umgang von Erwachsenen mit Kindern hat also günstigenfalls mit Unterstützung zu tun. Das Problem ist aber in unserer, der bürgerlichen Gesellschaft, dass es eine reine Unterstützung zu Selbstbestimmung und Freiheit nicht geben kann, weil, wie anfänglich gesagt, ein selbstbestimmtes Leben in einer Welt von Zwängen und Fremdbestimmung gar nicht möglich ist. Jede Hilfe bei der Vorbereitung auf eine selbständige (nicht selbstbestimmte) Existenz ist immer auch Vorbereitung auf Verwertbarkeit, auf Anpassung, auf Unterwerfung, die dann möglicherweise als kindliches Interesse mystifiziert werden. Wer beispielsweise in der Schule gute Noten erhält, erhält sie auch deswegen, weil er oder sie nicht täuscht, indem er oder sie anderen unzulässige Hilfen gibt; in der Schule zurechtzukommen, bedeutet immer auch in Verhältnissen zurechtzukommen, die auch durch Selektion bestimmt sind.
Unterstützung bedeutet nach dem Gesagten auch nicht unbedingt, mit den Zöglingen / Kindern einer Meinung sein, wohl aber würde sie den Versuch bedeuten, sozusagen im Gespräch zu bleiben, sich für ihre Probleme zu interessieren.

Wir können den Widersprüchen in unserer Gesellschaft nicht einfach und bruchlos eine fortschrittliche Intention, Haltung oder Praxis, also auch keine bruchlose Unterstützung von Kindern entgegensetzen. Das wäre eben die erwähnte Illusion eines richtigen Lebens im falschen. Dies bedeutet aber nicht, dass es überhaupt nichts Richtiges oder Vernünftiges gibt. Fortschrittlichkeit, Vernunft und Humanität können allerdings nur darin bestehen, sich die Widersprüche der Gesellschaft, der eigenen Praxis und der der Kinder bewusst zu machen (und daraus Konsequenzen zu ziehen). Meine Kritik an Erziehung bedeutet eben nicht, Kinder allein zu lassen: "Laissez faire" als Konzept liefert die Kinder nur den Verhältnissen aus, es lässt sie mit den Problemen allein (das sie manchmal allein gelassen werden müssen und wollen, ist dagegen kein Einwand).

Die Kritische Psychologie, die ich vertrete, will und kann Menschen nicht sagen, wie sie zu sein oder zu leben haben. Das hängt das vor allem damit zusammen, dass Freiheit und Emanzipation nicht als fremdgesetzte Norm oder Normierung gedacht werden können. Der Standpunkt der Kritik der Kritischen Psychologie — als marxistischer Subjektwissenschaft — sind nicht perfekte Menschen in beliebigen Verhältnissen, sondern Verhältnisse, in denen — mit Marx — der Mensch kein verächtliches Wesen ist, und worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Sofern diese Perspektive — gedanklich oder real — verallgemeinerbar ist, steht sie einer normativen Fassung von Erziehung entgegen. Standpunkt der Kritischen Psychologie ist also eine spezifische Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse, nicht eine Norm für die, die darin leben.

Wenn die Perspektive der Veränderung die Perspektive der Veränderung und der Befreiung der Gesellschaft ist, dann kann Erziehung nur als von ihrer problematischen Form befreites Moment des Zugangs zur — komplizierter (und derzeit auch kälter) werdenden — Welt gedacht werden. Dagegen verschiebt die neue Erziehungsdebatte auf Erziehung und Erzieher (als delegierte Personalisierung), was eigentlich Problem gesellschaftlicher Widersprüche ist.

Die Analyse subjektiver Lebenswidersprüche und subjektiver Notwendigkeiten, wie am Beispiel der Erziehung skizziert, läuft nicht darauf hinaus, Menschen vorzuschreiben, was sie tun haben, sondern, dass diese ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten und —behinderungen zu begreifen. Dazu gehört zwar, vorfindliche Normen auf ihre jeweilige Funktion hin zu untersuchen, nicht aber, Normen zu setzen. Befreiung bedarf keiner geistig-moralischen Führung; sie ersetzt diese in solidarischem Handeln — auch zwischen Erziehern und Zöglingen. Unter dieser Perspektive löst sich m.E. Erziehung auf in gemeinsame Lern- und Veränderungsprozesse.
 
 

   
 
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