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Anschaffen gehen wegen der Stromrechnung: Die neue Armutsprostitution

Reportage bei Monitor in der ARD
Bericht: Peter Schran


Sonia Mikich:

"Jetzt ein Sprung weg von den Superreichen und Mächtigen. Über Arbeitslosigkeit und ihre sozialen, aber auch ganz persönlichen Folgen für die Menschen hat diese Sendung oft und engagiert berichtet. Nun hat uns eine weitere Entwicklung aufgeschreckt. In Deutschland gehen immer mehr Frauen neuerdings anschaffen. Sozialarbeiter, die den Strich beobachten, berichten, wie Frauen wegen einer Stromrechnung oder wegen Mietrückständen sich prostituieren. Eine Zeitlang nur, und voller Scham, entdeckt zu werden. Die Armutsprostitution hat Konjunktur. Peter Schran war im Dortmunder Norden."




Straßenstrich Dortmund-Nord, eine ganz legale Zone, regelmäßig von den Behörden kontrolliert. Doch was lange Zeit vor allem ein Revier drogenabhängiger Mädchen war, hat inzwischen radikal sein Gesicht gewandelt: Frauen in Armut, aus verschiedenen sozialen Schichten, machen den Vollprofis heftig Konkurrenz.

Prostituierte: "Mütter, Hausfrauen, sie kommen spazieren, und sie fragen: Wie geht das? Welchen Preis, was kann man nehmen? Sie kommen so eine Stund so, und sie wollen ein bisschen Geld machen. Und viele natürlich ich hab gefragt: Was machst du hier? Ja, ich hab kein Geld, weißt du. Wie geht das? Und wie macht man die Gäste. Ist immer mehr."
Reporter: "Also, es sind dann so Hausfrauen, oder so nebenher?"
Prostituierte: "Ja, Büroangestellte, viele Studenten auch, ganz junge Mädchen, sie kommen hier und sie machen ein paar Mark zur Mietbezahlung alles und so, immer mehr, oder Studium bezahlen und so, ist immer mehr."


Um über 60 Prozent - so Sozialarbeiter - stieg in den letzten beiden Jahren die Zahl der Frauen, die sich hier für 20, 25 Euro anbieten. Manche machen es nur ein, zwei Monate, andere bleiben länger: weil sie tief in Schulden stecken oder vor dem existentiellen Aus stehen. So wie Dara, die sich manchmal an der nah gelegenen Tankstelle mit warmen Getränken versorgt. Mit Kreditkarten-Verträgen begann bei ihr die Abwärtsspirale. Dara ist hier, um Geld für die fällige Stromrechnung zu beschaffen.

Reporter: "Haben Sie Kinder?"
Dara: "Einen Sohn."
Reporter: "Weiß der, was Sie machen?"
Dara: "Nein. Möchte ich auch nicht, dass er das hört. Solange er es nicht weiß, möchte ich das nicht."
Reporter: "Und der lebt zuhause mit Ihnen?"
Dara: "Der lebt zuhause bei mir. Nur zur Zeit durch meinen Strom, leider, lebt er bei Oma. Weil ich keinen Strom habe."
Reporter: "Der Strom ist abgeschaltet worden bei Ihnen?"
Dara: "Von der DEW Dortmund, ja."


Ein paar Meter weiter arbeitet Melanie gelegentlich - eine junge Verkäuferin, von einer Supermarktkette neulich aussortiert.

Reporter: "Wie alt sind Sie jetzt?"
Melanie: "22."
Reporter: "Und Sie haben schon Ihre Arbeit verloren?"
Melanie: "Ja. Weil der Betrieb, der lief nicht mehr so gut, und die mussten Stellen abbauen. Da ich die Jüngste war, haben sie mich entlassen."
Reporter: "Kam das so ganz schlagartig, so von jetzt auf gleich, oder ..."
Melanie: "Das kam ganz schlagartig, von jetzt auf gleich, von einem Monat auf den andern."
Reporter: "Was haben Sie dann gemacht danach? Sind Sie dann gleich hierher gegangen, oder ..."
Melanie: "Nein, ich war zwei Monate zuhause, aber ich bin mit dem Geld nicht hingekommen, immer mehr Rechnungen offen, und dann habe ich damit angefangen."
Reporter: "Wie groß sind denn Ihre Chancen, in den normalen Arbeitsmarkt zurückzukehren?"
Melanie: "Ich sehe, ich denke eher gering. Weil es gibt ja immer weniger Arbeitsplätze, und es gibt immer mehr Leute, die Arbeit suchen. Da muss man schon großes Glück haben, um eine Arbeitsstelle zu bekommen."
Reporter: "Wollen Sie das versuchen?"
Melanie: "Ich möcht's auf jeden Fall versuchen."
Reporter: "Also ist das normale Arbeiten doch angenehmer als das hier?"
Melanie: "Ja, natürlich ist es angenehmer. Sicherer. Man weiß ja nie, wo man hier einsteigt."
Reporter: "Ekelt Sie manchmal Ihr Job?"
Melanie: "Manchmal schon. Aber was will man machen? Irgendwo muss das Geld ja herkommen."


Erfahrene Mitarbeiterinnen vom "Sozialdienst katholischer Frauen" (SKF) kümmern sich regelmäßig um altbekannte, aber auch um die vielen neuartigen Schicksale auf der Straße.

[Im Gespräch mit Dara: Brigitte Smolka-Zimpel, Sozialdienst katholischer Frauen (SKF)]

Smolka-Zimpel: "Hi. Na, wie ist die Lage?"
Dara: "Nicht so gut."
Smolka-Zimpel: "Ja? Hast noch keine Tour gehabt?"
Dara: "Nein, bis jetzt noch nicht."
Smolka-Zimpel: "Wie lange stehst Du schon?"
Dara: "Ne Stunde."


Eine Sorge der Sozialarbeiterinnen: Wer hier längere Zeit anschafft, wird schnell zur Beute von Zuhältern und deren Versprechungen, z. B. finanzielle Probleme der Frauen zu lösen.

Smolka-Zimpel "Die überwiegende Zahl, schätze ich mal, 80%, sind verschuldet. Und das sind in der Regel dann auch so, tja, so typische Konsumschulden. Aber auch Mietschulden."
Reporter: "Handy?"
Smolka-Zimpel: "Handy, klar."


Der Dortmunder Norden bei Tag. Viele der neuen Frauen vom Straßenstrich wohnen hier zwischen Borsigplatz und Nordpark - stets noch schlimmeren Abstieg vor Augen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 20 Prozent. Und die Zahl der Haushalte, denen Strom, Wasser und Gas gesperrt wurde, stieg zuletzt um fast 20 Prozent. Die Menschen regen sich auf, sehen kaum noch Auswege aus der Misere.

Passant: "Das wird immer schlimmer, sozial ist hier gar nichts mehr, das hat irgendwie schon vor, sag ich mal, zehn Jahren aufgehört."
Reporter: "Und wie drückt sich hier der Unmut aus der Leute? Oder drückt der sich gar nicht aus?"
Passant: "Ja, Zerstörung. Mutwillige Zerstörung, Hass gegen, was weiß ich, gegen alles, was besser ist, teurer ist, was man sich eben nicht leisten kann."


Wer hier einmal den Halt verliert, für den gibt es nur noch wenig Hoffnung. Mitten im Brennpunkt, direkt am Nordpark, liegt "Kober", eine Beratungsstelle des SKF für Frauen in besonderen Notlagen. Dara ist ratlos. Die anhaltende Geldnot könnte sie schon bald obdachlos machen. Ihr 9-jähriges Kind müsste dann ins Heim.

Smolka-Zimpel: "Und wie ist jetzt deine momentane Situation? Deswegen bist du ja eigentlich auch hierhin gekommen."
Dara: "Sehr, sehr schlecht, da sie mir ja zur Zeit den Strom abgestellt haben. Und jetzt weiß ich nicht weiter, wie ich das bezahlen soll. Bin mit den Nerven am Ende. Nur am Weinen, und mein Sohn leidet auch sehr, sehr darunter."


Elke Rehpöhler, Sozialdienst katholischer Frauen (SKF): "Das dringend benötigte Geld zum Lebensunterhalt verdienen die Frauen dann auf der Straße, obwohl das Risiko natürlich, auf der Straße zu arbeiten, am größten ist, aber das wird in Kauf genommen, weil das Geld so dringend benötigt wird, um die Familie zu ernähren, um die Wohnung zu halten, um Schulden abzubezahlen."

Irgendwo in der Nähe des Nordparks, im 4. Stock eines Sozialbaus, liegt Daras kalte Wohnung. Eigentlich träumt Dara vom kleinbürgerlichen Glück. Doch die anhaltende Arbeitslosigkeit hat alles kaputt gemacht. Den 9-jährigen Sohn hat die Mutter seit der Stromsperrung ausquartiert. Auch die Miete ist noch nicht bezahlt - zusätzliche Schulden von 1.400,- Euro sind für einen Haushalt wie diesen eine totale Katastrophe.

Dara: "Also bei Miete geht's um 1400,- Euro noch."
Reporter: "Und die kriegen sie nicht zusammen?"
Dara: "Ich versuch mir das von Bekannten zu leihen oder so, das versuche ich halt. Nur wenn man Geld braucht so, und durch die Lage ist es halt sehr, sehr schwer geworden. Weil die Leute selber kein Geld haben."


Auch in den Bereich illegaler Kneipenprostitution drängen immer mehr neue Frauen. Gisela Zohren, von der "Mitternachtsmission e. V." betreut sie, rund um den Nordpark und in der ganzen Stadt. Die Nähe zu Menschenhändlerringen und die völlige Illegalität macht die Arbeit von Frauen hier besonders gefährlich.

Heute ist nicht viel los. Doch immer wieder trifft Gisela Zohren hier auf Hausfrauen, Mütter, die sich fürs Nettsein mal bezahlen lassen. Ein Trend, den sie als sehr bedrohlich empfindet.

Gisela Zohren, Mitternachtsmission e. V.: "Ich weiß nicht, wohin das führen soll. Entweder werden wir ganz mit Prostituierten überzogen, ich weiß nicht, wie das weitergehen soll, ich möchte das nicht so hinnehmen. Ich versuche auch, in meiner Arbeit darauf hinzuweisen, warum und weshalb, dass das so nicht gehen kann. Dass es Möglichkeiten geben muss, gerade für Frauen, ihnen eine berufliche Chance zu geben, und dass sie sich auch in ihrem Beruf behaupten können und nicht diesen Weg gehen müssen. Das ist kein guter Weg." Die neue Armut und die wachsende Zahl neuer Anbieterinnen bringen Dumpinglöhne auf den Strich. Standen früher hier nur 20, 25 Frauen, sind es jetzt an manchen Tagen 60. Daraus ergeben sich immer längere Wartezeiten, Zeiten, in denen man gesehen werden kann, von den falschen Leuten oder gar der eigenen Familie.

Nadja: "Alle Leute kennen dich, du wohnst selbst in Dortmund, und alle Leute fahren hier vorbei. Das ist schon oft, wenn du in ein Auto einsteigst, das ist auch ein komisches Gefühl."
Reporter: "Könnte dein Nachbar sein, ne?"
Nadja: "Genau. Könnte dein Nachbar sein oder irgendjemand anders, der dich sehr, sehr gut kennt."


Nadja kommt zwar aus so genanntem "gutem Hause". Aber sie schaffte die Schule nicht, tröstete sich mit Konsum, machte Schulden.

Nadja: "Ich hab gar nichts, also, ich habe keine Ausbildung, keinen Abschluss, kein gar nichts."
Reporter: "Würden Sie denn gerne so was nachholen?"
Nadja: "Ja, sicher würde ich, ich würde auch sofort direkt irgendwo anfangen oder so, das wär kein Thema."


Auch oder gerade auf dem Strich, stirbt sie zuletzt: die Hoffnung. Dass alles besser wird. Dass sie aus der Armutsfalle wieder herauskommen.

Nadja: "Ich weiß das auch, wenn die Schulden bezahlt sind, dass ich das nie wieder tun werde."
Reporter: "Ja?"
Nadja: "Ja. So ist meine Einstellung. Ich werde irgendwas tun auf jeden Fall, dass ich anders Geld verdiene, nicht mehr so."


Es ist kurz nach Mitternacht. Melanie wartet jetzt auf ihre zweite Tour. Noch einmal checken die Sozialarbeiterinnen die Lage.

Reporter: "Was erwarten Sie für die Zukunft?"
Smolka-Zimpel: "Also ich denke mal, dass es noch zunehmen wird. Das hat natürlich auch was damit zu tun, dass viele Menschen eigentlich bestimmte Jobs auch nicht mehr finden, die wichtig wären. Also das heißt Jobs, für die man keine hohe Qualifikation braucht, und diese Frauen haben wir ja hier. Wir haben ja häufig Frauen ohne Schulabschlüsse, wir haben Frauen, die Verkäuferinnen, Friseurinnen sind, genau diese Arbeitsplätze fehlen uns, die Arbeitsplätze, wo Menschen eigentlich nach einer Lehre dann auch entsprechend dann einsteigen können auch und vernünftig verdienen können."


Quelle: Monitor



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