http://www.t0.or.at/~oliver
Im folgenden werden unter postmarxistischen Theorien solche verstanden, die mit bestimmten zentralen Partien des "klassischen" Marxismus (z.B. der zweiten und dritten Internationale) brechen und doch dem marxistischen Projekt in anderen Punkten verbunden bleiben. Auf diese Weise ist es möglich, ex-marxistische Theorien von postmarxistischen zu unterscheiden.
Bezüglich ihres Bruchs mit dem Marxismus weisen die meisten Postmarxismen folgende gemeinsame Merkmale auf:
- Kritik des marxistischen Reduktionismus (bzw. Essentialismus) und seiner Spielformen: ökonomistischer Determinismus und Klassenreduktionismus.
- Kritik des marxistischen Totalitätskonzepts.
- Kritik des marxistischen Revolutionskonzepts.
Letzteres wurde zum Beispiel aus der Sicht der Dekonstruktion von Jakob Rogozinski angegriffen. Dekonstruktion muß die arche-teleologische Vorstellung eines radikalen Bruchs zurückweisen, ja zieht ihre Existenzberechtigung geradezu aus der Unmöglichkeit eines solchen Bruchs. Revolution ist aus dieser Sicht ein Konzept der abendländischen Metaphysik, das nicht in eine aktuelle Politik übernommen werden sollte. Die marxistischen Spielarten des Determinismus wurden von Nicos P. Mouzelis in "Post-Marxist Alternatives" einer systematischen Kritik unterzogen. Mouzelis unterscheidet in seiner Untersuchung zwei Typen des Reduktionismus, die in der Geschichte des Marxismus zu finden sind. Als voluntaristische Reduktionismen klassifiziert er Theorien, in denen einzelne Gruppen/Klassen oder sogar einzelne Personen, sogenannte "mega-actors" (Medien-Tycoone), entweder die Aktionen anderer Gruppen (etwa der Politiker) oder ganzer Strukturen (politischer Institutionen) bestimmen.. In voluntaristischen Reduktionismen werden die ökonomischen und politischen Instanzen also nach Mouzelis durch bestimmte Aktionen, Strategien und Praktiken einzelner Gruppen oder Akteure determiniert. Diese Form des Reduktionismus scheint Mouzelis allerdings seit dem strukturalistischen Marxismus Althussers aus der Mode gekommen und abgelöst durch strukturalistische Reduktionismen. Hier bilden die determinierende Instanz nicht mehr Gruppen, sondern systemische Konzepte, etwa funktionale Erfordernisse zur Sicherung der Reproduktion. Mouzelis führt die These an, der interventionistische Staat wäre gewissermaßen Teil der Basis und so strukturiert, daß er den Reproduktionserfordernissen der kapitalistischen Produktionsweise gerecht werden würde. Mouzelis zieht aus all den Varianten des marxistischen Reduktionismus den Schluß "daß trotz ritueller Statements bezüglich der relativen Autonomie oder Spezifität des `Politischen' oder `Ideologischen', der Marxismus keine Konzepte bietet, die helfen könnten, die spezifische Dynamik und `Geschichte' nicht-ökonomischer Bereiche in Rechnung zu ziehen. Oder anders gesagt, es gibt keine Theorien der Politik und Kultur, die zugleich marxistisch und nicht-reduktionistisch sind." (Mouzelis 1990, 174)
Abseits dieser antireduktionistischen Kritik verschiebt der Postmarxismus sein Terrain gegenüber dem klassischen Marxismus von der Ökonomie zur Politik und vom Begriff der "Gesellschaft" zu den Begriffen des "Politischen" und des Diskurses. Methodisch enspricht dieser Verschiebung die Rezeption des Poststrukturalismus, eine Bewegung, die der englische Marxist Terry Eagleton polemisch den langen Weg von Saussure zur Sozialdemokratie nannte. Der Postmarxismus informiert sich auf diesem Weg großenteils durch die Thesen von Jacques Lacan, Jacques Derrida und Michel Foucault.
Das Werk von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ist dabei in mehrfacher Hinsicht exemplarisch. Ihre Reduktionismuskritik und ihr Diskursbegriff ist aus lacanschen, derridaschen und foucaultschen Theoremen gewonnen, die in den Bereich des Marxismus und der Politischen Philosophie überführt werden. Die von Laclau und Mouffe angestrebte Dekonstruktion des Gesellschaftsbegriffs des Marxismus findet in einem doppelten Modus statt. Destruktion: die Totalitäts- und Determinationsvorstellung des Marxismus wird kritisiert. Konstruktion: das Soziale und die Politik werden neu als Diskurs konzeptualisiert und einer hegemonialen Artikulation aufgeschlossen. Laclau und Mouffe betonen diese Doppelgesichtigkeit schon mit dem Namen, den sie für ihr Projekt gewählt haben: "Wenn jedoch unser intellektuelles Projekt in diesem Buch post-marxistisch ist, dann ist es augenscheinlich ebenso post-marxistisch." (Laclau/Mouffe 1991, 37). Diese Zwischenposition unterscheidet Post-Marxisten von Ex-Marxisten und ähnelt dem Ausgangspunkt von Nicos P. Mouzelis, der in "Post-marxist Alternatives" festhält, daß Marx definitiv nicht tot sei, doch genausowenig sei er lebendig.
Im politisch-historischen Teil von "Hegemony and Socialist Strategy" kritisieren Laclau und Mouffe aus ihrer post-marxistischen Position am Marxismus - vor allem an jenem der zweiten und dritten Internationale - dessen Totalitätsanspruch, Klassenreduktionismus, Revolutionismus, sowie dessen historischen und ökonomistischen Determinismus. Alle ordnen sich unter den Begriff Reduktionismus ein und sind dem poststrukturalistischen Paradigma entgegengesetzt, da sie jeder Identität sowohl Geschlossenheit als auch ein Zentrum zuschreiben. Der Marxismus erhebt also den Anspruch, die Totalität der gesellschaftlichen Phänomene erklären zu können, indem er sie auf die ökonomischen Basisprozesse zurückführt (ökonomischer Determinismus) und einer historischen Teleologie einschreibt ("Gesetze der Geschichte"), in der eine bestimmte Klasse (Klassenreduktionismus) dazu bestimmt ist, die Menschheit qua Revolution von Ausbeutung zu befreien. Jener marxistische Essentialismus, der für Laclau und Mouffe am dringendsten dekonstruiert werden muß, ist der marxistische Ökonomismus. Für den Marxismus war die Ökonomie die allesbeherrschende Instanz. In der starken Version wurden "Überbauphänomene" - und damit auch das Politische - als reine Widerspiegelungen ökonomischer Interessen gemäß der Stellung der Akteure im Produktionsprozeß gedeutet. Laclau und Mouffe nennen diese Form des Reduktionismus Epiphänomenalismus. In der schwachen, moderneren Version der Theorie Louis Althussers ist die Ökonomie nur mehr insofern Determinante, als sie einer bestimmten möglicherweise außerökonomischen Instanz die Funktion der Dominante zuweist. Obwohl Althussers Theorie als Kritik des klassischen Ökonomismus und der Hegelschen expressiven Kausalität auftritt, bricht sie mit dieser Verschiebung der Determination ins zweite Glied noch nicht vollständig mit reduktionistischen Vorstellungen.
Die privilegierte Rolle der Ökonomie im Marxismus dekonstruieren nun Laclau und Mouffe, indem sie die Ökonomie auf einen Schnittpunkt von einer Vielzahl von Diskursen reduzieren: Rechnungs-Diskursen, Informations-Diskursen, Autoritäts-Diskursen, technischen Diskursen. Diese Diskurse öffnen die Ökonomie politischer und mithin hegemonialer Artikulation. Das bedeutet für Laclau und Mouffe nicht, daß in einer bestimmten Konjunktur nicht tatsächlich die Politik durch die Ökonomie bestimmt sein kann, nur ist das nach Laclau und Mouffe nicht Thema einer allgemeinen Theorie des Sozialen bzw. Politischen, sondern Thema einer konkreten Studie einer konkreten Konjunktur. Es geht Laclau und Mouffe - wie Mouzelis - vielmehr darum, die essentialistische Auffassung zu bekämpfen, die Determination in letzter Instanz läge in der "Natur" der Gesellschaft oder der Geschichte.
Im zweiten und post-marxistischen Teil ihres Buches retten Laclau und Mouffe einige Konzepte der marxistischen Theoriegeschichte für ihr Projekt, insbesondere den Begriff der Hegemonie. Laclau und Mouffe verfolgen den Hegemonie-Begriff über die russische Sozialdemokratie zu Gramsci und adaptieren ihn. Mit Hegemonie als Logik des Politischen verschieben sie die marxistische Prävalenz der ökonomischen Basis postmarxistisch auf das Feld des Politischen, das nun alle Bereiche der Zivilgesellschaft und des Ökonomischen umfaßt. Alle Relationen sind damit einer möglichen diskursiven hegemonialen Artikulation geöffnet - Gesellschaft als Totalität im marxistischen Sinne dagegen existiert nicht.
Der Postmarxismus Laclau und Mouffes erwies seine Relevanz nicht nur für die politische Theorie, sondern auch für die Staatstheorie. Wenn keine Identität vollständig konstituiert werden kann, wie der Poststrukturalismus behauptet, wenn das Soziale keine Essenz hat, wenn Gesellschaften um eine fundamentale Asymmetrie konstruiert sind und aus all diesen Gründen Gesellschaft keine Prämisse einer Analyse mehr sein kann, dann wird auch der Komplementärbegriff des Staates fragwürdig. Dieser Schritt wurde für die Staatstheorie von Bob Jessop und seiner Schülerin Citlali Rovirosa Madrazo vollzogen. In direktem Anschluß an Laclau und Mouffes Postulat der Unmöglichkeit von Gesellschaft stellen sie für den Staat die Fragen, ob nicht auch vom diesem - wie von der Gesellschaft - gesagt werden müsse, daß er keine Essenz besitzt, keine in sich geschlossene Totalität darstellt und mithin nicht so weit konstituiert ist, daß er "existiert".
Poststrukturalismus und Diskurstheorie wurden im angloamerikanischen Sprachraum insbesondere in den literature und cultural studies mit marxistischen Ansätzen verknüpft. Stuart Hall und die sogenannte Birmingham School gewannen mit ihren von Gramsci inspirierten Kulturstudien Einfluß und wurden in den Vereinigten Staaten insbesondere von John Fiske rezipiert. Über den Bereich der Literaturkritik und des Feminismus hinaus wurde vor allem Gayatri Chakravorty Spivak mit ihrem dekonstruktiven Marxismus - ein Projekt, das sie mit Michael Ryan teilt - bekannt. Sie geht über die essentialistische Vorstellung der Ökonomie hinaus, indem sie auf deren Textualität besteht. Wenn die Ökonomie wie ein Text strukturiert ist, dann lassen sich dieselben dekonstruktiven Verfahren auf sie anwenden, wie auf jeden anderen Text - selbst wenn Spivak die Spezifität des ökonomischen Textes einräumt. Einen Ansatz zur Verknüpfung der Chaostheorie mit dem Marxismus Althussers bietet Tom Lewis. Lewis schlägt vor, Geschichte als non-lineares System zu verstehen und damit deren Unverhersagbarkeit in Rechnung zu stellen. Doch obwohl die Entwicklung non-linearer System unvorhersagbar ist, sind sie doch in reduziertem Sinn determiniert, da sie auf ihren initialen Bedingungen basieren. Überdetermination bedeutet hier, daß Geschichte als chaotisches dynamisches System - wie das Wetter - zugleich determiniert und unentscheidbar ist. Unlängst ist auch Jacques Derrida mit einem seit langem angekündigten Buch zu Marx hervorgetreten. Derrida verfolgt darin Marxens Geister und Gespenster betreffende Obsession (wie es im Kommunistischen Manifest heißt: "Ein Gespenst geht um in Europa") und vertritt die Ansicht, die Verkündung des Todes des Marxismus sei ein Versuch, den uns immer noch verfolgenden Geist Marxens zu exorzieren.
(aus: W. Malachov, u.a. (Hrsg.): Russisches Lexikon zur westlichen Philosophie der Gegenwart, Moskau)
Literatur:
Barrett, Michele (1991): The Politics of Truth. From Marx to Foucault, Cambridge
Derrida, Jacques (1993): Spectres de Marx, Paris
Geras, Norman (1987): Post-Marxism?, in New Left Review 163, Mai/Juni
Jessop, Bob (1990): State Theory. Putting Capitalist States in their Place, Cambridge
Laclau, Ernesto, Mouffe, Chantal (1987): Post-Marxism without Apologies, in: New Left Review 166 (November/Dezember)
Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal (1985): Hegemony and Socialist Strategy, London/New York, dt: (1991) Hegemonie und radikale Demokratie, Wien
Lechte, John (1994): Post-Marxism, in: (ders.): Fifty key contemporary thinkers, London/New York
Lewis, Tom (1993): The Marxist Thing, in: Ann Kaplan/Michael Sprinker (ed.): The Althusserian Legacy, London/New York
Mouzelis, Nicos P. (1990): Post-Marxist Alternatives, London
Rogozinski, Jakob (1981): Deconstruire la revolution, in: Les fins de l'homme: A partir du travail de Jacques Derrida, Paris
Ryan, Michael (1982): Marxism and Deconstruction: A Critical Articulation, Baltimore
Spivak, Gayatri Chakravorty (1987): Speculations on reading Marx: after reading
Derrida, in: Derek Attridge/Geoff Bennington/Robert Young: Post-Structuralism
and the question of history, Cambridge