http://www.proletarische-briefe.de/artikel?id=13 Proletarische Briefe: Der humanitäre Kapitalismus

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Der humanitäre Kapitalismus

Kaum hatten die westlichen Streitkräfte ihre Friedensmission im Kosovo angeblasen, da fahndeten die Gegner der Nato nach den mehr oder minder verborgenen Motiven für die Bluttaten, weil man nicht glauben mochte, daß die Nato zur Verbreitung der Zehn Gebote über Jugoslawien unterwegs war. Das eigentliche Vorhaben der Weltordnungsmächte sollte noch viel fürchterlicher sein als die Bomben auf Belgrad und sonstworauf.

Für die Opfer der Luftangriffe ist es ganz egal, ob der Westen scharf ist auf die Ölvorkommen im Kaukasus, ob gerade kein besser geeigneter Truppenübungsplatz zur Verfügung gestanden hat, ob einige Produktionskapazitäten zur Eindämmung von Überproduktion und Preisverfall vernichtet werden mußten, ob lediglich ein Konjunkturprogramm notwendig geworden war, ob geostrategische Interessen den Ausschlag gegeben haben oder ob nur ein Schritt in Richtung neue Weltordnung gegangen werden sollte.

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Alle möglichen Gründe werden ihre Rolle gespielt haben. Wenn ein Krieg geführt wird, dann mangelt es nicht an Interessen, wenn auch aus Gründen der Schlauheit nicht alle öffentlich ausgesprochen werden.

Warum die Nato angegriffen hat, ist die eine Frage. Wie es der Nato möglich war, diesen Angriff durchzuführen, ist die weniger Beachtung findende andere Frage. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß auch dieser Krieg ohne den - manchmal skeptischen - Beifall der öffentlichen Meinung nicht stattgefunden hätte. Viel bedrückender als jedes geheime Motiv ist daher das, auf das sich alle einigen konnten und das die Nato öffentlich zu Protokoll gegeben hat. Denn die komplette soziale Macht der westlichen Wertegemeinschaft ist darin zusammengefaßt: humanitäre Hilfe! Wer konnte gegen die notfalls gewaltsame Beendigung des entsetzlichen Gemetzels auf dem Balkan sein, wenn er nicht dahinter bei der Nato menschenfeindliche Beweggründe vermutete? Mußten die Gegner des Angriffs einen verborgenen Grund finden, weil sie den offiziellen teilten oder wußten, daß er mehrheitlich geteilt wurde? Wenn dieser Grund gewissen Kreisen auch nur als Vorwand gedient haben wird, dann scheint doch dieser Vorwand gewaltiger als die dahinter liegenden dunklen Absichten zu sein.

Es waren beileibe nicht nur die ausdrücklichen Befürworter der imperialistischen Weltordnung, die für die Operation waren. Und sie wurde auch nicht nur von den professionellen Menschenrechtsfreunden unterstützt, die weltweit auf den Gehaltslisten der humanitären Nichtregierungsorganisationen oder der amtlichen Menschenrechtsverbände stehen. Es waren auch nicht nur normale Bürger, die jeden Krieg als ein naturgesetzliches Ereignis akzeptieren. Selbst ehemalige Menschenkettenglieder wollten sich im Balkankrieg von der Nützlichkeit von Tarnkappenbombern gegen ihnen unbekannte Erdenbürger überzeugen. Vielen von ihnen war gleichgültig, wenn es der Nato nicht darum ging, den Menschenrechtsverletzungen im Kosovo Einhalt zu gebieten, sondern um ganz andere Zwecke. Hauptsache war doch die Hilfe für die leidenden Kosovo-Albaner.

Gerade die verbissensten Friedensfanatiker haben tapfer für das von der Nato durchgeführte Heilverfahren im Kosovo gekämpft und zur Schädigung der Leute aufgerufen, die zu überzeugen sie offenbar außerstande waren. Kein Segen eines Militärpfarrers hätte bewirken können, was sie bewirkt haben. Von ihnen erhielten die verantwortlichen Befehlshaber das, was ihnen vor allem die berufsmäßigen Kriegstreiber niemals hätten geben können: moralische Unterstützung. Sie waren nicht nur passive Werkzeuge ihrer Regierungen, sondern Aktivisten. Für die künftigen inneren Mobilmachungen bei allen möglichen Gelegenheiten werden die von der inneren Zerrissenheit verursachten Höllenqualen der Friedfertigen und Gerechten eine nicht mehr wegzudenkende Rolle spielen. Denn kaum etwas ist für die Kriegführung demokratischer Staaten so wichtig wie die Moral des Volkes und die seiner schießenden und bombenden Einheiten.

Als die friedlichen Legionen der westlichen Welt aus ihren Redaktions- und Wohnstuben punktgenau wie aus einem Halse "kreuzigt ihn" brüllten, da verlangten sie von ihrer Obrigkeit unmißverständlich allerdings nicht nur eine Handlung gegen einen grausamen Serbenführer, sondern die Herstellung der soliden politischen Ordnung auch auf dem Balkan, der sie selbst unterworfen sind. Für bloße "humanitäre Hilfe" hat ihre Phantasie nicht gereicht. Die Humanität, die sie verlangten, war die des Menschenrechts, d.h. die Unterdrückung aller Lebensansprüche, die sich nicht mit der Ideologie des marktwirtschaftlichen Weltbeglückungsprogramms vertragen. Wenn angesichts der Greueltaten im Kosovo an die Friedensorgane der westlichen Welt der von den Entscheidungsträgern eingeforderte Auftrag ergangen ist, militärische Überzeugungsarbeit zu leisten, dann drückt sich darin die Vorstellung aus, in der besten aller möglichen Welten zu leben: Alternativlosigkeit.

Die Empörung über die Massaker war das direkte Gegenteil einer Empörung über die Lebensverhältnisse, die solche Massaker ermöglichen. "Humanitäre Hilfe" war daher den Propagandisten der kapitalistischen Produktionsweise ein willkommenes Vehikel zur Verbreitung der Menschenrechtsillusionen.

Professor Habermas, einer der Cheftheoretiker der imperialistischen Vernunft, hat in der ZEIT (Nr.18/1999) instinktsicher die blutigen Auseinandersetzungen auf dem Balkan genutzt, um für die Bedingungen zu werben, die sie hervorbringen. Er feuerte die Nato an, das Völkerrecht in ein "Weltbürgerrecht" zu transformieren:

"Erst wenn die Menschenrechte in einer weltweiten demokratischen Rechtsordnung in ähnlicher Weise ihren "Sitz" gefunden haben wie die Grundrechte in unseren nationalen Verfassungen, werden wir auch auf globaler Ebene davon ausgehen dürfen, daß sich die Adressaten dieser Rechte zugleich als deren Autoren verstehen".

Ob die "Adressaten" wirklich die "Autoren" sind, spielt keine Rolle! Sie sollen sich als solche "verstehen"! Habermas wird eine Ahnung davon haben, warum nur Bomberpiloten die Menschen in manchen Weltgegenden zu einem Verständnis der demokratischen Rechtsordnung befähigen können. Wenn die Deklassierten in eine noch ungünstigere Lage versetzt worden sind, so kalkulieren die Menschenrechtsfreunde, dann werden sie sich dem "Weltbürgerrecht" fügen. Ob diese Kalkulation dauerhaft aufgehen kann, ist eine ganz andere Frage. Denn es ist naheliegend, daß die Menschen um das kämpfen, auf was zu verzichten ihnen die Macht fehlt. Und der Verzicht auf Lebensbedingungen ist die unübersehbare Forderung, die die bürgerlichen Welt an immer mehr Menschen richtet.

Ein demokratischer Polizeiwissenschaftler hat ein recht unkompliziertes Weltbild, daran konnte auch die Aufklärung nichts ändern. Der Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise, in der selten Reichtum geschaffen wird ohne Elend, in der aber Reichtumsproduktion Programm ist, ist nichts, was seine Aufmerksamkeit erregen könnte. Den vermeintlichen Widersprüchen der Menschennatur gilt seine Sorge eher schon: Es gibt für ihn die Bösen und die Guten, die Bösen sind Verbrecher und die Guten Pazifisten, mögen sie auch einen Krieg führen. Mehr braucht man nicht, um als kritischer Theoretiker eine staatliche Pension zu erhalten. Für den Krieg der Serben macht Habermas unterirdische Gründe verantwortlich, für den gegen die Serben himmlische. Irdische Gründe kommen nicht vor. Die Serben wurden angetrieben von einem "mörderischen Ethnonationalismus", die Nato-Pazifisten dagegen von den Menschenrechten. Sagt er wirklich. Die gemeinsamen Voraussetzungen dieser Triebkräfte interessieren ihn nicht.

Ihm will nicht aufgefallen sein, daß sich die brutalen Übergriffe der Serben einer Ordnung der Dinge verdanken, die er und die Nato verteidigen? Er will übersehen haben, daß die Leute in Jugoslawien Opfer der "Standortkonkurrenz" geworden sind, gegen deren Betreiber nirgendwo ein internationaler Strafgerichtshof einschreitet? Auszuschließen ist das nicht. Jedenfalls weiß der Mann, daß seine "kritische Theorie" Legitimationsideologie für die herrschenden Klassen zu sein hat. Sonst könnte er kaum bedauern, daß "man nicht überall eingreifen kann..., aber wenigstens vor der eigenen Haustür auf dem zerrissenen Balkan".

Das wird Dialektik sein: A ist mal gleich B und mal eben nicht. Diese Haustürphilosophie macht unmißverständlich klar, daß es um Menschenrechte im Sinne von Hilfe für Menschen in Not überhaupt nicht geht, denn über "Hilfsleistungen" wird fallweise entschieden, und zwar nicht nach menschenfreundlichen Erwägungen, sondern nach Eigentümerinteressen. Randale vor "unserer" Haustür stört unsere Ruhe ganz entsetzlich. Hier haben "wir" ein unabweisbares Selbstbestimmungsrecht. Sollten demnächst die Betreiber des großen imperialistischen Freudenhauses sich im Kaukasus einen neuen Eingang einbauen, dann werden sie vor ihrer dortigen neuen Haustür eben jede Menge Friedenshilfe zu leisten haben. Die hochtrabende Lehre von den Menschenrechten endet als krude Nützlichkeitstheorie. Und das großartige Weltbürgerrecht erweist sich als eine Art Weltwillkürherrschaft: Was die westliche Wertegemeinschaft anpackt - das ist Recht.

Nehmen wir an, in Jugoslawien wären die Leute in der Lage gewesen, sich durch ihre Arbeit ihre Unterhaltsmittel zu beschaffen; nehmen wir an, sie hätten daher hinreichend Gelegenheit gehabt, ihre Zukunft nach ihren Wünschen und Kräften zu gestalten. Hätten sie sich wechselseitig die Gurgel durchgeschnitten?

Wären und hätten. Wir leben im Kapitalismus, und ein solches Leben ist unter Bedingungen gestellt. Daraus ergeben sich alle ihre wirklichen Rechte im Unterschied zu den bloßen Illusionen, die in den endlosen Menschenrechtserklärungen festgehalten worden sind. Vor rund 200 Jahren formulierte Thomas Robert Malthus sein "System der Verzweiflung, das alle jenen schönen Redensarten von Menschenliebe und Weltbürgertum zu Boden schlug" (Friedrich Engels), indem es den von Habermas verlangten und in den heimtückischen Phrasen des Menschenrechtskatalogs eingepackten brutalen Inhalt des Weltbürgerrechts klar und brutal zur Sprache brachte: "Ein Mensch, der in eine bereits in Besitz genommene Welt geboren wird, und keinen Unterhalt erhält von seinen Eltern, an die er berechtigte Forderungen hat, und dessen Arbeit die Gesellschaft nicht will, hat kein Recht, die kleinste Menge Nahrung zu beanspruchen, und in der Tat keine Veranlassung da zu sein, wo er ist. An der ungeheuren Festtafel der Natur ist für ihn nicht gedeckt" (Thomas Robert Malthus).

Es ist ganz unnötig, hier den wirtschaftlichen Niedergang Jugoslawiens weitläufig zu skizzieren, der dem Gemetzel auf dem Balkan vorangegangenen ist. Er begann schon zu den Zeiten des Marschall Tito und war stets begleitet von separatistischen Tendenzen und sogenannten ethnischen Konflikten. Es ist deshalb unnötig, weil der Bankrott auch auf anderen Wegen sich hätte entwickeln können. Bürgerliche Beobachter haben mit Recht immer wieder auf die ineffiziente Wirtschaftsführung hingewiesen. Keine Frage. Das Resultat zeigt, daß Jugoslawien den weltmarktlichen Maßstäben nicht Genüge tun konnte. Alle Anstrengungen halfen nichts. Was man nach den Spielregeln der "Marktwirtschaft" zustande gebracht hat, kann sich nicht sehen lassen. Ein schöner Grund zum Sterben.

Nicht anders als in anderen Weltgegenden waren auch im Nachkriegsjugoslawien die Gebieter und ihr arbeitendes Volkes von der Hoffnung befallen, durch die rasche Industrialisierung des Landes zügig in den Verein der erfolgreichen Nationen des Weltmarktes aufzusteigen. Die rasanten Anfangserfolge bei der beschleunigten Proletarisierung der Einwohner ermutigten bereits in den 60er Jahren zur weitreichenden Liberalisierung des Außenhandels und daher auch zur Aufnahme ausländischen Kapitals mit dem Resultat einer Auslandsverschuldung Jugoslawiens von rd. 15 Mrd. Dollar schon im Jahre 1980.

Man bewarb sich um die Gunst des weltweiten Geldkapitals und akquirierte erfolgreich umfängliche Kredite in der frohen Erwartung, nach erfolgter Einrichtung hochmoderner Produktionsstätten schließlich durch den Verkauf der produzierten Waren die Schulden zurückzuzahlen und den Aufstieg geschafft zu haben. Man paßte also das produktive Treiben der jugoslawischen Bevölkerung mehr und mehr ein in den Kreislauf des Kapitals und unterwarf sich damit den unerbittlichen Gesetzen der kapitalistischen Überschußwirtschaft. Weder waren es kriminelle Finanzdienstleister, die die Kredite angeboten, noch waren es verwirrte Opfer, die sie angenommen haben. Es waren stinknormale Leute, die bloß um ihres Vorteils willen miteinander Handel trieben. Das war in Jugoslawien nicht anders als irgendwo.

Und es kommt immer wieder etwas anderes heraus als ein Vorteil für alle. Überall auf der Welt hoffen daher auch die Schuldner bald nach der ersten Droge auf weitere Kredite und das Wunder der Marktwirtschaft. Ob Rohstoffpreise oder die Preise der übrigen Waren rauf oder runter gehen, immer wird das eine oder andere Land zurückgeworfen, weil es die notwendigen Importe nicht mehr bezahlen kann oder weil aus den Exporterlösen der Kapitaldienst nicht aufzubringen ist. Die regelmäßige Folge sind Umschuldungen und neue Hoffnungen.

Da die auch von den Jugoslawen erhofften Erfolge ausblieben, trat im Laufe der 80er Jahre schließlich ein, was kaum ausbleiben konnte. Die Bedienung der Kredite mißriet zum "Problem". Kredite wurden jetzt zunehmend gebraucht, um Kredite zu bedienen und weniger zum Einkauf der Produktionsbedingungen. Als Jugoslawien den Schuldendienst nicht mehr bringen konnte, also die Märkte keine Preise mehr hergaben, mit denen die Kosten gedeckt und daher auch das Fremdkapital bedient werden konnte, war die große Stunde des IWF gekommen. Es gab keinen Weg vorwärts und auch keinen zurück.

Zum Ende der 80er Jahre war das Land dermaßen pleite, daß schon bei den letzten Rettungsversuchen Gläubigern und Schuldnern nichts sonst mehr möglich schien als die spektakuläre Verschlechterung der Lebensumstände natürlich der Reichtumsproduzenten. Denen wurde ohne viel Drumrum klargemacht, daß der Zweck der kapitalistischen Produktion nicht die Lebensbedingungen für die Arbeiter sind, sondern die Bereicherung der Nichtarbeiter. Die Aushandlung einer Lohnkürzung von bis zu 30% bei gleichzeitiger Verteuerung von Strom, Benzin, Kohle und Postdienste um rund ein Drittel im Mai 1988 deutete bereits das Ausmaß der Katastrophe für die jugoslawischen Lohnarbeiter an, die noch zwei Jahrzehnte zuvor daran gedacht hatten, mit einem Arbeiterselbstverwaltungsmodell ihre entfremdete Daseinsweise für alle Zeiten abzuschaffen. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Unter der sachkundigen Aufsicht von IWF und Weltbank wurde die Totalsanierung der jugoslawischen Wirtschaft eingeleitet. Michel Chossudovsky hat die Konsequenzen der Hilfsprogramme für Jugoslawien bilanziert:

"Die Weltbank schätzte im September 1990 die Zahl der "Verlust erwirtschaftenden Betriebe" immer noch auf 2435, bei einer verbliebenen Gesamtzahl von 7531. In andern Worten, diese 2435 Firmen, mit einer Gesamtbelegschaft von 1,3 Millionen, wurden als "zahlungsunfähig" kategorisiert, und dadurch dem sofortigen Beginn von Konkursverfahren unterworfen. Wenn man bedenkt, daß 600 000 Arbeiter vor September 1990 von bankrotten Firmen bereits entlassen worden waren, bedeuten diese Zahlen, daß 1,9 von insgesamt 2,7 Millionen Arbeitern für schlicht und ergreifend "überflüssig" erklärt wurden."

In weniger als drei Jahren wurde also die große Masse des Industrieproletariats in Jugoslawien, das bereits in den 80er Jahren zunehmend in Bedrängnis geraten war, auf ein nihilistisches Niveau katapultiert. Welche Gründe braucht es noch, um die Mißachtung der "Menschenrechte" in diesem Lande zu erklären? Die internationale Geschäftswelt hatte die weitgehende Deindustrialisierung des Landes entschieden und durch ihre Agenturen verkünden lassen, daß von heute auf morgen jugoslawische Lohnarbeiter massenhaft ins Gras zu beißen hatten.

Die direkte Folge dieser Entscheidung war die entsprechende Steigerung der "ethnischen Konflikte", d.h. die Verschärfung der Verteilungskämpfe um die verbliebenen Lebens- und Beschäftigungsmittel. Es dauerte nicht lange, und die Leute, die das Recht verloren hatten, "da zu sein, wo sie waren", verloren auch noch ihren Verstand. Die gerechte Verteilung der Lasten wurde die beinahe zwangsläufige Forderung aller Beteiligten und der Bürgerkrieg das Ergebnis ihrer unterschiedlichen Vorstellungen darüber. Wer sollte welche Opfer bringen? Die Sache ist nicht einfach zu entscheiden, da sich Unterschiede der Betroffenen ja auch nicht gerade aufdrängten. Es ist daher kein Wunder, wenn, verbunden mit den entsprechenden Schuldzuweisungen für die Misere, immer wieder "kulturelle Grenzen" entdeckt werden: "Ethnien". Entlang von historischen, also längst vergangenen Lebensbedingungen werden die Leute ein- und aussortiert. Diese nicht auf dem Balkan erfundene Verfahrensweise bewirkt ganz von selbst, daß die so Ausgegrenzten selber sich als besondere Menschenexemplare verstehen - und nach einer eigenen Schutzmacht suchen. Bis zu ihrem Separatismus und daher zum Willen zur neuen Staatsgründung ist es folglich nur ein kleiner Schritt. All diejenigen, die sich schon immer von einem Alleingang einen größeren Vorteil versprochen haben, erhalten nun mächtigen Anhang. Andrerseits versuchen diejenigen die Teilung zu verhindern oder wenigstens ihre Lage durch eine günstige Teilung der Verluste zu verbessern, für die die Bestrebungen der anderen Partei notwendigerweise schädlich sind.

Die Raserei auf dem Balkan verdankt sich also keineswegs den "ethnischen Unterschieden", die vielmehr nur bemüht und herbeiphantasiert worden sind, um die von Markt und Machern angeordneten Verluste zu verteilen.

Es ist nicht bekannt geworden, daß die kriegtreibenden Menschenrechtsliebhaber anläßlich der an Jugoslawien praktizierten Schocktherapie unter Berufung etwa auf Artikel 6 des sogenannten "Sozialpakts" ("Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" vom 19. Dezember 1966) eine vergleichbare Aufregung an den Tag gelegt hätten wie angesichts der blutig-bescheuerten Konsequenzen dieser beliebten Menschenrechtsverletzung. Der Artikel lautet:

"Die Vertragsparteien erkennen das Recht auf Arbeit an, welches das Recht jedes einzelnen auf die Möglichkeit (!), seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte und angenommene Arbeit zu verdienen, umfaßt, und unternehmen geeignete Schritte zum Schutze dieses Rechts".

Natürlich sind von keiner Seite geeignete Schritte unternommen worden, um dieses "Recht auf die Möglichkeit" zu schützen. Denn dieses Menschenrecht, wollte man es denn als "Recht auf Arbeit und Leben" interpretieren, widerspricht gründlich einem offenbar deutlich höheren Recht, das daher auch nicht ausdrücklich in den Menschenrechtsverzeichnissen aufgenommen werden muß: Das Recht auf die Arbeit der Lohnarbeiter, z.B. in Form des Zinses, thront über allen rhetorischen Rechtsperlen. Und zur Behauptung dieses obersten Menschenrechts aller Menschenrechte, um das sich alles in der kapitalistischen Produktionsordnung dreht, hatte ja der IWF gerade seine Hilfsprogramme aufgelegt und legt er sie ständig auf. Immer geht es um eine funktionierende Überschußproduktion, um die Produktion des kapitalistischen Gemeinwohls, zu dem jugoslawische Lohnarbeiter, aus welchen Gründen auch immer, nicht genügend haben beitragen können.

Der Überschuß kommt zustande durch die Mehrarbeit, die Lohnarbeiter über die für ihre Reproduktion notwendige Arbeit hinaus abliefern müssen. Mittel zur methodischen Schöpfung dieses Überschusses ist die Steigerung der Produktivkraft ihrer Arbeit, und diese Steigerung ist gleichbedeutend mit der Vermehrung des Kapitalteils, der für Maschinerie und Rohstoffe ausgegeben wird, und der entsprechenden Verminderung des Teils, der für die Lohnarbeiter noch übrig bleibt. Die gewohnte Folge bei der Schöpfung des Überschusses ist daher die Freisetzung von Arbeitskräften. Bei der Verwandlung der produzierten Waren in Geldüberschuß sieht es für die Leute nicht besser aus. Denn alle kapitalistischen Warenproduzenten produzieren unabhängig voneinander in der Hoffnung auf Gewinn, so viel ihr Kapital hergibt. Die Folgen ihrer blinden Produktionswut sind die regelmäßige Überfüllung der Märkte, der Verfall von Preisen und Gewinnen und die schließliche Entlassung der Lohnarbeiter. Die systematische Verdrängung der Lohnarbeiter durch die Maschinerie wird also ergänzt durch ihre periodische Aussperrung infolge der Überproduktion von Waren. Diese Tatsachen sind so sinnfällig und so allgemein, daß kein zurechnungsfähiger Beobachter mehr auf die Idee kommt, sie zu bestreiten, wenngleich viele berufen sind, sie zu vernebeln und zu relativieren.

In Jugoslawien ist das in konzentrierter Form eingetreten, was die kapitalistische Produktionsweise gesetzmäßig für ihre Reichtumsproduzenten vorsieht: Sie dürfen ihre notwendige Arbeit nicht mehr verrichten, wenn sie für die Überschußwirtschaft nicht mehr gebraucht werden. Mit diesem vernichtenden Urteil sollten sie sich abfinden und weiterhin in ihren Menschenrechten Trost und Freude suchen. Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Sicherheit für einen Lohnarbeiter, der seinen Job verloren hat und jede Aussicht auf einen neuen?

Die Freiheit des Lohnarbeiters besteht bekanntlich darin, daß er keinen persönlichen Herrn hat und kein Eigentum an Produktionsmitteln zur Verwirklichung seiner als sein Eigentum behandelten Arbeitskraft. Der ungehinderte Handel mit dieser Arbeitskraft ist das, was als sein Streben nach Glück die Bewunderung aller Menschenrechtslehrer erfährt. Im Falle der Unverkäuflichkeit seiner Arbeitskraft hat er mit seinem Eigentum die reelle Grundlage seiner Gleichheitsillusion eingebüßt, und seine Unsicherheit ist dann in der Weise vollendet, daß er nun gänzlich der Willkür und der Gnade anderer Leute ausgeliefert ist. Humanitäre Hilfe ist also in der Tat das, was aus den Menschenrechten folgt, jedenfalls folgen kann, so oder so. Im Falle Jugoslawien ist diese Hilfe zunächst ausgeblieben und später dann in Form von Luftangriffen nachgereicht worden. Das läßt einiges befürchten.

Solange Menschenkräfte Handelsartikel sind, ist ihre regelmäßige Überproduktion nicht nur ebenso unvermeidlich wie die regelmäßige Überproduktion irgendwelcher anderen Handelsartikel. Marx hat gut begründet, daß auch das Ausmaß der Überbevölkerung stets Schritt hält mit dem Fortgang der kapitalistischen Akkumulation und daß ferner die Überbevölkerung eine Lebensbedingung eben dieser Akkumulationsform ist. Die Wirkungsweise des von ihm formulierten "absoluten Gesetzes" scheint in dem Maße verheerender zu werden, in dem die Zufluchtsstätten der Überzähligen abnehmen. Und die Erde ist rund.

Selbst der Mangel an kapitalistischen Verwendungsmöglichkeiten hätte in Jugoslawien die Gemetzel kaum bewirkt, wenn die Leute hätten emigrieren können. Wäre heute noch die Einwanderung nach Amerika möglich oder könnte man etwa in Deutschland noch Wanderarbeiter profitlich ausnutzen wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dann wären wohl die medienträchtigen Massengräber nicht entdeckt worden.

Auch nach dem 2. Weltkrieg gab es in Deutschland bekanntlich kein Volk mehr ohne Raum, sondern einen Raum ohne Volk. Die Vertriebenen und Flüchtlinge aus den Ostgebieten reichten nicht für genug. Man mußte Arbeitskräfte importieren. Deutsche Menschen waren schließlich so knapp geworden, daß man die berühmten Arbeitsgäste aus Italien, Türkei, Portugal oder Jugoslawien von professionellen Vermittlern anwerben ließ. Mit bilateralen Abkommen regelten die beteiligten Staaten die Verpflanzung der Arbeitskräfte detailliert. Der Erfolg blieb nicht aus, und bald wurde dem einmillionsten Wirtschaftsasylanten ein Motorrad zur Begrüßung geschenkt.

Den Zuzug der Arbeitskräfte verlangten die "Arbeitgeber" im Lande so nachhaltig, daß sich in Deutschland (früheres Bundesgebiet) die ausländische Wohnbevölkerung von 1,2% (686.000) 1961 auf 10,2% (6.931.000) 1995 vermehrte. Infolge dieser Erfogsstory hatte sich die Lage bald abermals geändert, und die Obrigkeit sah sich veranlaßt, bereits zum 1.12.1983 ein "Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern" in Kraft zu setzen, wenn auch ohne großen Erfolg. Seit die Anzahl der deutschen Menschen wieder in einem gesunden Gleichgewicht zu den verfügbaren Arbeitsplätzen steht, sind auch die Gastgeschenke seltener. Asylsuchende gab es 1971 in Deutschland erst 5.289 und 1992 bereits 438.191, wovon stolze 9.189 statt eines Motorrads lediglich einen Asylberechtigungsschein erhielten und die übrigen nichts. Dank solcher maßvollen humanitären Hilfen war die Plage bald erfolgreich eingedämmt, so daß 1995 lediglich noch 127.937 Leute auf diesem Wege Gastfreundschaft verlangten.

Über Arbeitskräfteknappheit klagen in Deutschland seit Jahren nur noch wenige, teils weil infolge der Produktivkraftsteigerung der zur Beschäftigung von Lohnarbeit verwendete Anteil des Kapitals immer geringer wird, teils weil zur Beschränkung der Löhne in den "Aufnahmeländern" in Zeiten der Liberalisierung des Welthandels Einwanderungen immer weniger erforderlich sind, da das Kapital leichter auswandern kann als jemals zuvor. Je kürzer die Umschlagszeit des fixen Kapitals, je offener die Grenzen für die Kapitalbewegungen und je umfassender die Menschenrechte des kapitalistischen Eigentums in allen Weltgegenden zur Norm geworden sind, desto rascher werden Arbeitsplätze im Falle hoher Löhne ausgelagert. Containerschiffe bringen nun binnen kürzester Frist alle möglichen Waren von Kontinent zu Kontinent, und die modernen Kommunikationstechnologien bringen nicht weniger schnell die irgendwo ansässigen Lohnarbeiter auf die Gehaltslisten unternehmenslustiger Kapitale - wenn sie denn gebraucht werden.

Im 19. Jahrhundert wurde Europas Überbevölkerung von der amerikanischen Freiheitsstatue empfangen: "Gebt mir eure Müden, eure Armen ... den elenden Abfall eurer überschwellenden Ufer". Die Fackel der Hoffnung lenkte die elende Überbevölkerung Europas in die amerikanischen Prärien. Sie wurden weder als Armutsmigranten abgewiesen noch als Wirtschafts- und Arbeitsasylanten stigmatisiert. Die "endlosen Weiten Amerikas" waren jedoch nicht ganz unbesiedelt, und es wurde nötig, die eingeborene Population in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Dieses Massaker war den angeborenen Menschenrechten keineswegs abträglich, sondern bekanntlich ihre naturgemäße Voraussetzung, ebenso wie die Sklaverei. Die Geschichte ist bekannt.

Der Überschuß kam gruppenweise und in Massen. Etwa 50 Millionen Menschen sind von 1820 bis 1985 in die USA eingewandert, davon rund 30 Millionen aus Europa. Allein aus Deutschland setzten sich in den 100 Jahren von 1816 bis 1914 etwa 5,5 Millionen Leute nach Nordamerika ab, weil Staat und Kapital ihnen das Leben unerträglich machten. Dieser Bevölkerungsabfluß war zur Verhinderung von Revolution oder Gemetzel nicht minder wichtig als die Erfindung des Sozialstaates. Ein solcher Export der "sozialen Frage" scheint unmöglich geworden, seit die neue Welt in Besitz genommen ist und alle Zufluchtswege daher zu.

Hegel hat irgendwo bemerkt, daß die Französische Revolution nicht in die Welt gekommen wäre, wenn die Wälder Germaniens noch existiert hätten. So könnte es gewesen sein. Aber die Französische Revolution mit ihrer vielbejammerten Schreckensherrschaft hätte nicht stattgefunden, wenn sich die Elenden gegenseitig ausgerottet hätten. Sie haben es nicht getan, sondern ihre Welt neu geordnet. Und die Grenzen dieser Ordnung zeigen sich gegenwärtig wieder einmal nachdrücklich nicht nur auf dem Balkan. Sie zeigen sich nicht nur in Afrika, Asien und Lateinamerika. Auch in den Ländern, in denen nun immerzu Friedenstruppen ausgehoben werden, ist die Überbevölkerung unter den Titeln "Arbeitslosigkeit", "Rentnerberg", "Asylantenflut" etc. dauernder Verhandlungsgegenstand.

Mit "ethnischen Säuberungen" lassen sich Revolutionen verhindern. Das ist mathematisch nachweisbar. Die Überzähligen schlachten sich wechselseitig ab, statt ihren Status als Überzählige durch die Aneignung der Produktionsbedingungen abzuschaffen. Sie verfehlen nicht nur die Einsichten der Französischen Revolution, sondern auch die der Maschinenstümer des 19. Jahrhunderts. Letztere hatten immerhin in ihrer Solidarität ihre Chance erahnt, während die modernen Opfer der Profitproduktion den Veranstaltern ihres mißlungenen Lebens jede gewünschte Disposition ermöglichen. Die Selbstvernichtung der Überzähligen ist das letzte Wort der Lohnarbeiterkonkurrenz.

In den erfolgreichen kapitalistischen Nationen ist die Lage zur Zeit noch wenig dramatisch. Die Erörterung der Vorsorgeprogramme gibt allerdings Aufschluß über die Befürchtungen der zuständigen Kaste, was ja auch kein Wunder ist, denn die Erhaltung der entbehrlichen Armen belastet die Einkommen aller Klassen. Hierzulande etwa diskutiert sie z.B. über die Einrichtung eines "3. Sektors". Ein Armenhaus hier bisher ungeahnten Ausmaßes soll eingerichtet werden, um die erwarteten Elendsgestalten künftig in Schach zu halten. Kasernierung statt Vertreibung. Die diskutierenden Parteien streiten lediglich über die Architektur, aber nicht mehr über die Notwendigkeit eines solchen Instituts. Mehr oder weniger fürsorgliche Bewachung und Arbeitsdienst für die Mittellosen, dazu wollen sie keine Alternative sehen - schöne Menschenrechte!

Noch viel harmloser stellt sich die Behandlung des Themas dar, wo die Schadensbegrenzung auf die Landesgrenzen abstellt. Die Klagen über den "Verlust der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland" sind ebenso wie die entsprechenden Dementis niedliche Umschreibungen der Rücksichtslosigkeit, mit der die Last der Überzähligen möglichst anderen auf den Hals geschoben werden soll. Deutschland soll international wettbewerbsfähig sein oder werden durch Kosteneinsparung, Flexibilität und Innovation. Wenn die nationalen Anführer seit Jahren etwa Lohnkostensenkung und Steuerermäßigungen für Investoren verlangen sowie eine Qualifikationsoffensive des Ausbildungswesens, dann fordern sie offen und ohne jede Zurückhaltung die Abwälzung der antizipierten Nachteile auf Figuren jenseits der Grenzen. Sollen die doch sehen, wie sie mit den Verlusten fertig werden! Als Bündnis bezeichnet man in der Feldherrenkunst eine Verabredung zweier oder mehrerer Parteien zum gegenseitigen Beistand für den Fall eines feindlichen Übergriffs oder den Fall eines gemeinschaftlichen Übergriffs auf Feindesland. Wenn Sozialpartner ein Bündnis schmieden, dann fragt niemand, wer die bedrohlichen oder bedrohten Feinde sind, weil alle es wissen. Soweit es nicht die vom Bündnispartner Gewerkschaften betreuten Leute sind, sind es alle, die an anderen Standorten dasselbe treiben. Und wenn irgendwelche davon dann in den Ruin getrieben worden sind, dann jaulen alle gemeinsam über menschenverachtende Umgangsformen und verlangen harte Strafen und bessere Erziehung für die Verlierer. Daran wird sich vorläufig wohl nichts ändern.

Es ist nicht abzusehen, wie die gewaltsame Vertreibung und schließliche Vernichtung der Überzähligen ohne eine neue Ordnung der Dinge künftig zu verhindern wäre. Im Gegenteil. In Anbetracht der zunehmenden Mißerfolge auf dem Weltmarkt wird sich die Völkergemeinschaft vor Hilferufen nicht retten können, und es wird unausgesetzt Gelegenheit geben, bei denen menschenrechtsbegeisterte Wichtigtuer sich in Szene setzen können.

Wo die Leute nicht aus eigener Kraft leben können, werden sie zum Leben einen anderen Anspruch geltend machen. Das ist bekannt auch als das Prinzip des Sozialstaates. Wenn die Mittel nicht für die Ansprüche aller Anspruchsteller hinreichend sind, dann wird eine Auswahl getroffen und es werden diejenigen aussortiert, für die in letzter Instanz das Nichts genügend sein muß. Zwischen gleichberechtigten Ansprüchen wird immer wieder die Gewalt entscheiden.

Vertreibungen und die mit ihnen verbundenen Exzesse sind keine Unfälle der kapitalistischen Art des Produzierens, sondern ein zwangsläufiges Ergebnis. Ihre Bedingungen werden systematisch durch die kapitalistische Überschußwirtschaft hervorgebracht. Umwegig wird die methodische Barbarei von den Ideologen auch immerzu eingestanden. Im Unterschied zu früheren Produktionsepochen, die ja auch ihre Vertreibungen kannten, ist die Entfesselung der freien Konkurrenz eine überall gefeierte Systemeigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise. Und da die Leute nicht um Medaillen konkurrieren, sondern um ihre Existenzbedingungen, handelt es sich schließlich um eine Angelegenheit von Leben und Tod.

Ein "Weltflüchtlingsproblem" kennt man nicht erst seit Ruanda, Somalia und Jugoslawien und Osttimor. Seit den 70er Jahren sind weltweit zunehmend ungeheure Menschenmassen unterwegs, die nicht wissen wohin. Die Ereignisse auf dem Balkan sind nur Beispiel für das, was Tag für Tag geschieht und notwendig in zunehmenden Maße geschehen wird, wenn die Enteigneten den Verlust ihrer Lebensgrundlagen als unabwendbares Schicksal hinnehmen. Verhindern können sie es aber nur, indem sie ihre Konkurrenz untereinander aufgeben. Denn das Kapital, das die verheerenden Wirkungen für sie fabriziert, ist nur möglich durch die Lohnarbeiterkonkurrenz. Die Aufhebung der Lohnarbeiterkonkurrenz und daher des Kapitals und nicht die Verwirklichung der Menschenrechtsillusionen ist die wirkliche Lebensbedingung von immer mehr Menschen überall auf dem Globus.

1970 zählte die UNO weltweit noch rund 2,5 Mio. Flüchtlinge, die grenzüberschreitend in Bewegung waren, 1997 dagegen waren es bereits über 22 Mio. Menschen. Die Binnenflüchtlinge, die es auf eine entsprechende Anzahl bringen, sind hier nicht mitgezählt. Welches immer die konkrete Ursache der "Wanderungen" sein mag, stets haben die Menschen ihre Existenzbedingungen verloren, wurden außerstande gesetzt, ihr Leben durch ihre Arbeit hinzubekommen. Sie hausen in den widerlichsten Elendsquartieren und haben nicht nur ihre Reproduktionsquellen eingebüßt, sondern auch die geringste Aussicht auf eine Besserung ihrer Lage. Sie sind unmittelbar unbrauchbar für irgendwelche Anwender und haben auch keine Chance zur Kolonisation. Das Wachstum der "Wanderungen" ist ein Gradmesser für die Erfolge der kapitalistischen Produktion bei Enteignung des arbeitenden Volks. Wo diese entwurzelten Gestalten auch immer ankommen, werden sie von den bereits vorhandenen Leuten als eine Gefahr behandelt, die sie auch sind. Und die offiziellen Beobachter entdecken "ethnoterritoriale Konflikte" und "humanitäre Krisen", verkehren also die kapitalistische Barbarei komplett, indem sie immerzu das Werk von mißratenen Menschenexemplaren begutachten wollen und nicht die offenkundigen Gründe ihres Treibens. Sie sehen in der Vertierung der Menschen einen Rückfall in den Naturzustand und nicht einen Normalzustand der kapitalistischen Menschennatur, die um ihre Lebensbedingungen konkurrieren muß bei Strafe ihres Untergangs.

Der Kapitalismus ist in diesem Sinne in der Tat eine höchst humanitäre Veranstaltung. Ungeheure Anstrengungen sind erforderlich, um seine Ergebnisse aushalten zu können. Indem er haufenweise Elend schafft, schafft er das Betätigungsfeld für haufenweise Elendsbetreuer, Soldaten eingeschlossen, die ihren Lebensunterhalt mit Hilfslieferungen und Mitgefühlspropaganda verdienen. Wenn sie ihre moralische Überlegenheit gegenüber den mordbrennenden Vandalen in allen Weltgegenden ausstellen, dann machen sie sich verdient um die Grundlagen, deren sichere Konsequenzen sie geißeln. Und wer sich darum nicht verdient macht, verdient auch nichts daran. Voltaire bemerkte einmal, daß dort weniger Soldaten benötigt werden, wo genügend Mönche sind. Ohne die vielen Mönche wäre selbst die Nato machtlos.

Autor: David Tiger
zuerst erschienen in: Kalaschnikow - Das Politmagazin
Ausgabe 13, Heft 2/99, S. 67ff.

Horst Schulz

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