Von der Seifenoper zum Dschungel-TV
Mal wieder ein neues TV-Format, mal wieder der allseits beklagte Verfall der Sitten. Ist das ausgelagerte Promotion, oder echte Besorgnis angesichts von Millionen, die sich an recht ekelhaften Szenen ergötzen? Und warum sehen diese Millionen sich das bloß an? Weil sie etwas davon haben! Weil diese Formate Ihnen "nützen"!
Die Kritik an neuen TV-Formaten, nicht zu verwechseln mit einer grundsätzlichen Kritik am Fernsehen, begann in der ersten Hälfte der 80er Jahre mit dem Erscheinen der ersten großen Seifenopern ("Dallas", "Denver") und wiederholt sich seither in regelmäßigen Abständen.
Übersehen wurde in der Kritik dabei immer wieder die erkennbaren Funktionen solcher Unterhaltung für ihre Konsumenten. Dieses Missverständnis beruht auf der Vorstellung von Unterhaltung überhaupt - ihr wird keine wirkliche Bedeutung beigemessen. Doch gerade die Fiktion, und nicht die Fakten der Nachrichten, prägen ganz wesentlich das alltägliche Verständnis der Welt. So erfüllte die frühe amerikanische Soap (Familienserie) wichtige Funktionen.
Zuerst war sie Knigge für das moderne Leben. Was trägt man zur Beerdigung, zur Hochzeit, zum Buffet im Hotel? Wie verhält man sich dort? Wen grüßt man, wen nicht? Wie hat ein Krankenhausbesuch auszusehen? Wie eine Familienfeier? "Benimm Dich" in der 80ern: Wie hat eine moderne Familie auszusehen? Was ist überhaupt die Institution Familie? Wie funktioniert sie? Welches sind die Aufgaben einer Mutter, eines Vaters? Rechte und Pflichten, nur nicht aus der Rolle fallen!
Lieber reich und schön als arm und hässlich. Die Familie im Fernsehen ist heilig, jeder hat darin seinen Platz, sie ist der natürliche Bezugspunkt. Familienideologie während die Familie unweigerlich zerfällt. Was aus den Kindern wird, liegt einzig an ihren Eltern - und ganz besonders an Dir, lieber Zuschauer. Nimm Dir ein Vorbild an den erfolgreichen Menschen, sei wie sie. Und keine Ausreden bitte: jeder ist seines Glückes Schmied!
In den späten 80ern und frühen 90ern brach dann das, was im Sinne der Soap öffentlich ist, eben "die Gesellschaft" im allgemeinen Verständnis, in die "Lindenstraße" ein. Probleme wurden verhandelt. Jugendliche Dissidenz, der erste Sex, Berufsfindung, Religion in der heutigen Zeit, Veränderungen traditioneller Rollenmuster bei Beibehaltung ihrer Funktion; all dies wurde in unerträgliche Dialoge verpackt und brühwarm serviert.
Jugendlicher Drang bitte nur so, dass das den Chef nicht stört; was aus Dir beruflich wird, liegt an Dir selber. Aberglaube hat großen Wert und muss immer besonders respektiert werden. Und immer wieder in allen Soaps die Dauerbrenner: ungewollt schwanger, der Fremde, der Farbige, der Homo. Wer dazu ein einziges Mal einen dieser unerträglichen Dialoge z.B. von Witta Pohl anhörte, der behält - so oder so - einen bleibenden Schaden. Es handelt sich um die Bildung alltäglicher Ideologien, verpackt in abgestandene Dialoge, in nicht zu überbietender Plattheit - und nach Zielgruppen sortiert.
Der erfolgreiche Fiesling, der smarte Betrüger mit seiner Falschheit, die ausgenutzte Mütterliche, der grundehrliche Arbeiter mit seiner kernigen Art, die geile Schlange im aufreizenden Kleid, der aufbegehrende Teenie, der traditionsbewusste Handwerker mit seiner sozialen Verantwortung und viele, viele mehr; alle wurden sie so unsagbar stereotyp, so unerträglich durchsichtig konstruiert.
Die jeweiligen Schauspieler repräsentieren dabei unmittelbar "Typen" sozialen Verhaltens; bei den "Problemen" wurde meist, wie unsinnig dies auch immer begründet wurde, die goldene Mitte empfohlen. Die gesellschaftliche Mitte wurde ausgependelt. Und schon wussten diejenigen, die zu Widerspruch und Analyse nicht willens oder fähig waren, was sie zu den oben genannten Fragen zu denken und zu äußern hatten. Die Zuschauer, echte Realisten, die nichts als Anpassung wollen, nahmen und nehmen es bis heute dankbar auf.
Mit der Daily-soap erschien dann das Stützkorsett für die völlig vereinzelten, atomisierten Zuschauer, denen erklärt werden muss, wie einfachste Dinge funktionieren. Was ist eine Freundschaft? Und wie verhält sich das eigene und das andere Geschlecht (jeweils korrekt)?
Alle Angebote zur Identifikation und Interpretation sind unmittelbar und direkt, es gibt darin nichts zu verstehen, außer den Text im Verhältnis eins zu eins. Keine Reflexion, die nicht vorgegeben wurde, keine Distanz zu den Akteuren soll die unmittelbare Vermittlung der Inhaltshäppchen stören. Es wird in eigentlichen Sinne keine Geschichte, mit einer, letztlich der Interpretation des Zuschauers überlassenen Schlussfolgerung erzählt. Wer an letzteres gewöhnt ist, verzweifelt an diesem Format. Alle anderen haben sich an diese platte und brachiale Art, an diese so penetrant durchsichtige Struktur gewöhnt.
Widerspruch ist zwecklos! "Wer nicht will, kann ausschalten." "Es wird niemand gezwungen, sich das anzusehen." Die Soap stand oft in der Kritik, und ihre Macher akzeptierten diese nie wirklich, stellten sich gern außerhalb derselben, am besten außerhalb jeder Diskussion überhaupt. Kritik war nur gut, wenn sie nützlich war und die Quote hochtrieb. Dies (und weiteres) verbindet die Soap mit dem späteren Reality-TV.
Reality-TV
War die Verbreitung der Soaps in den 80ern ein wichtiger Einschnitt, der auch überall registriert wurde, zeichnete sich, neben vielen kleineren Veränderungen, gegen Ende der 90er mit dem Erscheinen des Reality-TV ein weiterer Bruch ab. Und mit der ersten Sendung von "Big-brother" teilte sich wieder die Fernsehgemeinde in zwei Teile, von denen der eine stöhnte: "Warum sehen die sich das bloß an?" Weil es etwas zu lernen gab!
Sicher gab und gibt es für Zuschauer auch beim alten "Tatort" viel zu lernen. Seit Jahrzehnten wird dort die gültige Interpretation der Gesetze an je aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen festgemacht. Begründung und Legitimation des Rechts und staatlicher Macht am praktischen Beispiel pünktlich bis 21.45 Uhr.
Doch Soaps und Reality-TV gehören herausgehoben und gesondert behandelt, weil sie sich eben von anderen Formaten deutlich unterscheiden. Zuerst wurden und werden Themenfelder neu und anders besetzt. Sie erzählen beide keine eigentliche Geschichte und weisen mit dieser völligen Eindimensionalität ein gemeinsames Strukturmerkmal auf. Jetzt wurde aber, Tabubruch macht Quote, die Immunisierung gegen Kritik noch weiter vorangetrieben.
Es wird niemand gezwungen, sich trällernd auf der Showbühne lächerlich zu machen. Es wird niemand gezwungen, in den Container zu gehen. Genau dort fanden sich dann immer wieder Gruppen mehr oder minder arbeitsloser Verlierer zusammen. Für kleines Geld ließen sie sich ganztägig überwachen, legten jede Scham ab und begaben sich in eine Situation, in der bisherige Rechtsnormen kaum noch Gültigkeit besaßen.
Wer sich das nicht ansehen wollte, konnten davon angewidert auf einem anderen Kanal den unmittelbaren Bezug zur Realität, zum Arbeitsleben (genauer: den Einstieg in dasselbe) entdecken. Just parallel zur Überwachungsshow wurde über die Einstellungspraxis bei der Fa. Heidelberger Druckmaschinen berichtet. Diese schwäbische Firma verlangt von jedem Bewerber um einen ganz normalen Job, noch vor dem Vorstellungsgespräch, einen Drogentest in einem Labor ihres Vertrauens. Auf Nachfrage erläuterte der Firmensprecher, alle Tests würden selbstverständlich auf freiwilliger Basis durchgeführt. Wer verweigert, hätte ja nur keine Chance auf Einstellung.
Nun findet man mit solchen Tests, gewisses Geschick vorausgesetzt, keinen Gelegenheitskonsumenten, sondern allenfalls einen Junkie. Für den braucht man aber den Test nicht, jeder Betriebsarzt erkennt das. Auch waren die von der Firmenleitung angeführten Begründungen lächerlich, aber eben so dargeboten, das dies garantiert jedem auffiel. Sicher, damit kann man allgemeine Gesundheitstests erzwingen, doch der Sinn und Zweck war ganz offensichtlich ein anderer.
Verlangt wurde nichts anderes als Unterwerfung; verlangt wurde der Verzicht auf bisher garantierte Rechte. Die Konditionen, die Regeln wurden neu definiert. Hinter dem Firmentor gilt das Gesetz der Firma - und nichts anderes. Wer darauf angewiesen ist, durch den Verkauf seiner Arbeitskraft seinen Lebensunterhalt zu verdienen, für den gibt es "Freiwilligkeit" nur noch auf eine sehr spezielle Art.
So auch bei "Big-brother", wo diese neuen Regeln exemplarisch durchexerziert wurden. Die neue Rechtlosigkeit, "oder Du gehst", war dabei die Grundvoraussetzung für alle weiteren Drangsalierungen. Neben dem Wegfall jeder Schamgrenze, schließlich leben wir in der Postmoderne, fiel vor allem der Ton unangenehm auf. "Hier, das müssen wir jetzt gemeinsam lösen." Wenn drei andere das wollen, musst Du dich in Selbstkasteiung üben. Quietschvergnügt bildeten sich immer neue Bündnisse für die Hackordnung - aber bitte die Form wahren!
Niemand war als Individuum vor den anderen sicher, völlige Distanzlosigkeit Vorschrift. Das kennt man, von der Teamsitzung, vom Qualitätszirkel, von der Gruppenarbeit. Die Habenichtse terrorisieren sich gegenseitig - und entwickeln die Dialoge besser als jeder Autor, sprechen sie präziser als jeder Schauspieler. Fernsehen als Versuchslabor. Zielvorgaben, wie unsinnig auch immer, sind Naturgesetz, Kritik daran führt zum sofortigen Ausschluss. Unabhängigkeit ist untersagt, Individualität nur innerhalb der aufgezwungenen Regeln denkbar.
Dem Publikum wurden die neuen Regeln gründlich eingebläut. Gruppenspielchen, Aufgaben genannt, waren dabei die Höhepunkte. Deren Lösung wurde besonders genau beobachtet - ein lupenreiner Assessment-Center. Diejenigen, denen damit vor allem gedroht wird, die Jüngeren, reagierten nun auffällig. Statt Protest Affirmation, statt Ablehnung emphatische Beteiligung. Wer nach solchen neuen Regeln des Arbeitslebens "bewertet" wird, gierte danach, dies einmal selber zu tun. Sie wollten nicht kritisieren, sie wollten sich anpassen, wollten lernen. Sie wollen dabei sein.
Dazu hatten sie dann auch Gelegenheit, denn die Entwicklung im Reality-TV ging dann hin zur lupenreinen Casting-show. Tausende junger Menschen ohne echte Perspektive bewarben sich darum, auf einer Showbühne trällernd der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden. Sie hatten auch schon vorher keine Hemmungen, sie dürfen keine haben, das wissen sie auch. Alles was gefällt. Der Kampf um die letzten Chancen (Jobs) wurde (wird) als Medienereignis inszeniert.
Tagelöhner im Mediengewerbe, immer auf Probe, immer geködert mit der Aussicht, eines fernen Tages vielleicht doch einen halbwegs passablen Vertrag zu bekommen. Und darum genötigt, gleichzeitig so etwas zu sein wie ein Freiberufler (Unternehmer seiner Arbeitskraft). Die Quote, die Kunden, die musst Du schon mitbringen. Wer am Markt nicht ankommt muss weg. Der miese Job als Belohnung. Wenn der Markt Dich will, bist Du ein Superstar. Und er will Dich ganz, er ist der Sinn und der Zweck. Du sollst keine Götter haben neben ihm.
Arbeit, Leistung und auch Kreativität wurden völlig neu definiert. "Kreativität" besteht nun einzig darin, zum vorgegeben Playback altbekannte Melodien zu trällern und dabei besonders effektiv zu zappeln. Der Kontrast könnte nicht größer sein; früher lernte ein Teil der Jugend z.B. das Spiel der lauten E-Gitarre. Meist im Streit mit den Nachbarn, oft am Rande der Lächerlichkeit, war dies immer eine existenzielle Tröstung. Die wurde nun gestrichen, Trostlosigkeit endgültig Programm. Nicht mal mehr ein noch so hohles Glücksversprechen ist geblieben.
Doch diese Trostlosigkeit, in anderen Medien oft bemerkt, war nicht die einzige Neuerung; der wesentliche Punkt wurde komplett übersehen. Grundprinzip der Casting-shows, und ihres Vorläufers "Big-brother" ist der offene Wettkampf, letztlich der jeder gegen jeden, auch beim gemeinsamen arbeiten - völlig im Gegensatz zum realen Casting. Damit unterscheidet sich der propagierte Leistungsbegriff deutlich von bisher im gewöhnlichen Arbeitsleben üblichen.
Leistung besteht demnach nicht mehr darin, in möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Menge an Wirtschaftsgütern zu produzieren. Leistung besteht nun auch nicht mehr darin, mit kalkulierbarem Aufwand eine notwendige Aufgabe zu lösen; und schon gar nicht hat Leistung heute irgend etwas mit eigenen Ideen zu tun. Nein, Leistung im postmodernen Sinne besteht darin, möglichst viele Konkurrenten unter Wasser zu drücken und deren Angriffe zu überleben. Nur noch permanenter Kampf und die dazugehörigen richtigen Ansichten, eben der Sozialdarwinismus, werden akzeptiert.
Die Show findet nicht nur auf der Bühne statt; und die nächste Kürzungsrunde kommt bestimmt. Genau deshalb wurde sie im Fernsehen institutionalisiert und dem Markt, also den Zuschauern, überlassen. Klarste Ideologie, gekürzt wird ja immer nur, weil der Markt das so will. Gut wenn man vorgesorgt hat und dem Konkurrenten vorsichtshalber schon mal eins verpasste. Dient dies dem Betriebsziel, heißt es Leistungsbereitschaft; stört dieses Verhalten die Vermarktung, wird es Mobbing genannt.
In allen relevanten neuen Formaten, hier auch wieder die Brücke zur großen Familiensaga, wird das ganze Leben als einziger großer Kampf um die eigene Existenz dargestellt. Dies präzise herauszuarbeiten bemühte sich der Regisseur Christoph Schlingensief in seiner satirisch gemeinten Adaption von "Big-brother". Dort durften die Zuschauer per Telefonabstimmung einen "Asylanten" aus dem Container abschieben.
Dies an Widerwärtigkeit zu überbieten hat RTL nun seine Dschungelshow ins Rennen geschickt. In dieser durfte das Publikum wie gehabt per Telefon die neue Kürzungsrunde durchführen. Allerdings wurde ein wirklich besonderer "Gag" hinzugefügt. Das Publikum durfte fast täglich entscheiden, wer sogenannte "Abenteuer" zu bestehen hat, kurzum, wer gequält wird. Besser kann man die Dienstbotengesellschaft nicht beschreiben. Der Kunde ist König und hat somit das Recht zu quälen. Zu seiner genehmen Verfügung wurden ausdrücklich Medienprofis ausgesucht die dringend Geld brauchten.
Als besonders mutig, also empfehlenswert, galt das Verhalten eines Teilnehmers, der sich auch noch darum bemühte, gequält zu werden. So hat der zukünftige Arbeitnehmer auszusehen; der Markt will das. Und die allgemeine Akzeptanz ist jetzt getestet, auch für wirklich widerliche Drangsalierungen mit hohem Symbolwert. Einer hatte Ungeziefer im Mund; man darf Menschen mit ekelhaften oder gefährlichen Tieren quälen. Die Beteiligung an den Telefonabstimmungen war riesig; die Gebühren sind ein zentraler Teil des Geschäfts.
Wer da nicht mitmacht, ist von gestern, für den heutigen Markt nicht zu gebrauchen. Als Sender nicht, und als Arbeitnehmer schon gar nicht. Nur ist auch der Protest gegen diese neuen Formate genauso ein Teil des Geschäfts. Es war Helmut Thoma, der ehemalige Chef von RTL, der sehr klar nachzeichnete, wie dieser als Werbung dient. Zudem verwies er auf das Eigeninteresse der Protestierer aus Politik und Kirche, die - so Thoma - lediglich eine besonders günstige Gelegenheit für Eigenwerbung nutzten.
Die bisherigen Diskussionen um die neuen Formate waren also Teil des Ganzen. Aber nicht nur als ausgelagerte Werbung, viel wichtiger ist die gültige Absicherung und Grenzziehung. Wie weit darf man gehen? Diese Frage ist fürs erste neu beantwortet. Sie ist beantwortet, weil Millionen sich daran beteiligt haben und anschließend sogenannte gesellschaftliche Eliten ihre Duldung signalisierten. Greifen die (vor allem jüngeren) Zuschauer bei derartigen Gelegenheiten auch weiterhin zum Telefon, akzeptieren und bejahen sie die Drangsalierungen, denen sie (in anderer Form) demnächst selber ausgesetzt sein werden? Oder sind sie es schon und reagieren sich dabei ab?
Das führt zur Frage der Entstehung solcher Formate, oft Übernahmen aus anderen Ländern. Wer denkt sich so etwas aus? Medienleute, besonders die ohne irgendein überflüssiges theoretisches Fundament, haben ein besonderes Gespür für das, was man den Zeitgeist nennt. Nun leben wir nicht im australischen Dschungel, aber fast allen kam schon der Gedanke, dass unsere Gesellschaft dem manchmal schon recht nahe kommt. Alles basiert auf Erfahrungen, verhandelt solche, verfremdet sie, macht gemeinsame Erfahrungen öffentlich und wird genau deshalb nachgefragt. Es scheint sich um einen, von keiner echten Kritik behelligten, Formierungsprozess zu handeln.