http://www.gegenstandpunkt.de/radio/2005/ga050704.htm DER SPIEGEL erklärt dem Publikum die soziale Frage und verrät die schlichte Wahrheit: Erfolgreicher Kapitalismus geht nicht ohne massenhafte Armut!

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Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora München vom 4. Juli 2005


"Der Spiegel" erklärt dem Publikum die soziale Frage und verrät die schlichte Wahrheit:
Erfolgreicher Kapitalismus geht nicht ohne massenhafte Armut!

Heutzutage werden die Menschen mit ökonomischen Wahrheiten zugeschüttet, dass einem schlecht werden könnte. Die Frechheit, mit der Magazine und Features davon künden, dass die Wirtschaft nur funktionieren kann, wenn die Löhne gegen 1 € tendieren, verrät vor allem eines: Öffentliche Meinungsmacher haben keine Scheu, eine Wahrheit auszuplaudern, die eigentlich das stärkste Argument gegen die famose freie Marktwirtschaft ist. Sie erläutern ihrem Publikum fröhlich die Unverträglichkeit seiner Lebensbedürfnisse mit den Erfolgsbedingungen des Kapitalwachstums und geben sich dabei nicht die geringste Mühe, ihm zu erklären, warum es sich vom Standpunkt seiner Interessen aus für dieses Wachstum hergeben sollte. Die Volksbelehrungen argumentieren mit den Erfordernissen des Kapitalerfolgs – und verlangen von ihren Adressaten, diesen Erfordernissen die eigenen zu opfern. Demokratische Journalisten erinnern schlicht daran, dass der Normalbürger nun einmal vom Kapital abhängt, und dabei haben sie keine Sorge, dass jemand diese Unvereinbarkeitsbotschaft einmal als Auskunft über ein System verstehen könnte, das ein anständiges Leben für ihn weder vorsieht noch verträgt.

Der Spiegel begeistert sich im Rahmen seiner Serie "Kapitalismus total global" (Nr. 20, 14.5.05.) über die neuen "Kleinen Tiger" im Osten Europas und findet ein "Wirtschaftswunder" in Osteuropa. Dort, so meinen die kritischen Hamburger, passen Lebens- und Anspruchsniveau der Bevölkerung noch richtig gut zum Akkumulationsbedarf des Kapitals: Dort ist also die Welt noch in Ordnung.

"In den Beitrittsländern geben fulminante Wachstumsraten den Ton der Debatte an – ein bisweilen unter den Schmerzen radikaler Reformen von Arbeitsmarkt bis Gesundheitswesen geborener Erfolg. Die EU-Novizen brillieren durch Eifer und hungrigen Nachholbedarf. Während in Deutschland knapp fünf Millionen Menschen Arbeit suchen [...], entstehen dort, wo noch vor wenigen Jahren unrentable Planwirtschaften vor sich hinmurksten, Tag für Tag neue Jobs."

Ein jugendlicher slowakischer Finanzjongleur prahlt vor dem deutschen Reporter:

"Wir haben den Kommunismus abgeschafft, die Wirtschaft privatisiert und jetzt 6 Prozent Wachstum. Was sollen wir von euch noch lernen? Wir sind Spitze!'"

Und der Mann vom Spiegel stellt voll Neid das Vorhandensein jener gesunden Rahmenbedingungen fest, unter denen "Menschen" endlich tun, was sie im Sozialismus immer nicht durften: Fleißig schuften und nichts dafür verlangen. Komisch: Sollte das gleiche Argument nicht damals schwer gegen die sozialistischen Staaten und für das hiesige System sprechen, dass die im Osten ihre Leute schwer rannehmen und ihnen dann die Konsumfreiheit verweigern und sie vor leeren Regalen stehen lassen? – Egal, was kümmert den Spiegel seine Hetze von gestern! Nach der Abschaffung der Planwirtschaft hat es jedenfalls ein hartes Jahrzehnt wachsender Not gebraucht, bis die Leute nichts mehr zu verlieren hatten und sich einen "radikal-liberalen Wirtschaftskurs" widerstandslos verordnen lassen. So sieht das Klima aus, in dem der Kapitalismus gedeiht: Wo mehr als 20  0er Arbeitsbevölkerung arbeitslos sind, wo die glücklichen Arbeitsplatzbesitzer für 4 € die Stunde arbeiten, und immer noch doppelt so viel verdienen wie drei Jahre zuvor, wo das Nationalprodukt pro Kopf zwischen einem Viertel und der Hälfte des deutschen liegt – da kommen traumhafte Renditen und Wachstumsraten zusammen.

Aber Vorsicht! Es darf nicht der Fehler gemacht werden, ein schönes Wirtschaftswachstum fürs Wohlergehen des niederen Volks zu missbrauchen. Niemand darf den steilen Aufschwung der Geschäfte als Bedingung für einen nachfolgenden Aufschwung der Einkommen missverstehen. Dass ein größerer Teil der Bewohner überhaupt vom Kapital benutzt und bezahlt wird – egal zu welchem Lohn und unter welchen Arbeitsbedingungen –, ist schon das äußerste, was Lohnarbeitern zugebilligt wird.

Die Opfer des grandiosen Aufstiegs der gewendeten Ostnationen verschweigt Der Spiegel selbstverständlich nicht. Interessant zu sehen, dass er zu den Opfern noch nicht einmal die Leute zählt, die mit Billiglöhnen und langen Arbeitszeiten das Wachstum der Kapitalvermögen schaffen – die haben ja Arbeit! Als "Verlierer im großen Monopoly" lässt er nur hungernde Rentner gelten, Kleinbauern, die in Blechhütten vegetieren, und Wanderarbeiter, die im Ausland die Drecksjobs erledigen. Trotzdem: diese Opfer sind durch den vorbildlichen Aufschwung ihrer Vaterländer allemal gerechtfertigt.

Das Antimodell dazu heißt Deutschland – auch einmal ein Wirtschaftswunderland, wie uns Der Spiegel in Erinnerung ruft. Da lief alles prima, solange die Menschen nach dem Krieg für 50 Pfennige die Stunde und 48 Stunden die Woche arbeiteten, kaum je krank und im Alter anständig arm waren. Aber dann hat schon der erste Bundestag die Axt an die Wurzeln des deutschen Wohlstands gelegt, indem er eine Rente stiftete, die an die Lohnentwicklung und damit an die Einnahmen der Rentenkasse gekoppelt war. Das konnte ja nicht gut gehen – und man merkt es auch kaum 40 Jahre später. Das war der erste Sündenfall, und deutsche Politiker haben laut Spiegel allesamt dem Volk unverantwortliche Geschenke gemacht, obwohl sich doch von einem Wirtschaftswunder niemand etwas versprechen darf, als eben die Wirtschaft selbst, sonst geht das Wunder kaputt. Beim Anschluss der DDR wurde dann schließlich die wirtschaftliche Vernunft endgültig verraten: Anstatt das Kapital und seine Renditeansprüche darüber entscheiden zu lassen, was die DDR samt Insassen eigentlich wert ist, hat der Kanzler der Einheit deren sozialistisches Falschgeld gegen die gute Westmark getauscht und die Angleichung der Löhne an das Westniveau in Aussicht gestellt.

"Dank der Hilfe vom großen Bruden im Westen ist den neuen Bundesbürgern manches in den Schoß gefallen, was sich die Nachbarn hart erarbeiten mussten. Das ist den Ostdeutschen nicht gut bekommen." (Spiegel Nr.20)

Merke: Wer den Bürgern auch nur die kleinsten Härten des Kapitalismus ersparen will, der leistet ihnen einen Bärendienst. Hätte man den wendetrunkenen Zonis doch gleich Lebensmittel- und Warenpreise auf westdeutschem und Löhne auf polnischem Niveau zugemutet, dann wäre heute vielleicht Frankfurt/Oder die bewunderte Boomtown und nicht die polnische Nachbarstadt – und die geilen Hungerlöhne würden in Deutschland verdient!

Aber auf so viel wirtschaftspolitische Vernunft mag Der Spiegel gar nicht mehr hoffen. Reihenweise lässt er in seiner Abrechnung mit der deutschen Wirtschaftsgeschichte Politiker auftreten, die bekennen, in ihrer Regierungszeit unverzeihliche Rücksicht auf die Opfer ihrer Politik geübt zu haben, und die gleichzeitig darauf bestehen, dass aus Gründen des inneren Friedens und ihrer Wiederwahl gar nichts anderes möglich gewesen sei. Politiker, so die Botschaft, die sich immer wieder wählen lassen müssen, haben einfach nicht die Statur, zugunsten der Interessen der Nation mit der erforderlichen Konsequenz gegen die Interessen der Bevölkerung zu regieren: Die Demokratie verhindere also die nötige Diktatur der Wirtschaftsinteressen.

Solche sozial-nationalistischen Einlassungen über die Vernunft des Kapitals, über die segensreichen Wirkungen der Armut und die kontraproduktiven Wirkungen aller Versuche, sie abzumildern, machen genau die deutschen Löhne, die deutschen Kapitalisten in früheren Jahren gerade recht waren, und ihre sozialpolitischen Begleitumstände für die Wachstumsschwäche des Standorts verantwortlich. Kein Wunder, dass die politisch Verantwortlichen von der verhängnisvollen Fehlentwicklung an der Lohnfront nichts merkten, solange das Wirtschaftswachstum stimmte. Wenn das Kapital hingegen jetzt nicht mehr wächst, dann ist natürlich der zu hohe Lohn schuld! – Man mag Leute, die so freimütig und feindselig den Gegensatz von Kapital und Arbeit beschwören, gar nicht daran erinnern, dass das "kranke" Deutschland immer noch eine ökonomische und politische Weltmacht ist, das vorbildliche Polen hingegen ein armes Land? – Der internationale Vergleich von Arbeitslöhnen und Wachstumsraten leistet die Klarstellung, was in diesem Land gilt und was nicht: Die Armut hat gar kein Recht, der Reichtum jedes. Von seinem Erfolg und Wachstum ist im Land alles abhängig, also steht es ihm auch zu, alles an seinen Renditeansprüchen zu messen. Die politische Organisation der verbliebenen Reste des Sozialstaats gibt schon längst dem Interesse des Kapitals an billiger Arbeit Recht und verleiht ihm dadurch den Schein eines über allen Interessen und Parteien stehenden Sachzwangs. Und die Gewerkschaften opfern seit Jahren Lohn und Arbeitsbedingungen, um das Interesse der Unternehmer an der Benutzung ihrer Belegschaften zu erhalten oder zu stimulieren. Damit "es" weitergeht, bieten sie – sozusagen als Preis für den Arbeitsplatz – Lohn und Freizeit ihrer Mitglieder an, genau das also, wofür diese überhaupt einen Arbeitsplatz brauchen.

Und die Gelackmeierten dieser konzertierten Aktion des Klassenkampfs von oben? – Je unerbittlicher die Politik ihr Reformwerk als Verarmungsprogramm für die breiten Massen vorantreibt; je konsequenter die Kapitalseite ihr Interesse gegen die "Besitzstände" der Lohnabhängigen geltend macht und mit dem Einverständnis der Gewerkschaften durchsetzt; je unverkennbarer also die herrschende Klasse darauf besteht, dass im Kapitalismus das Lohnarbeiterinteresse nur Platz hat, wenn es sich freiwillig aufgibt, desto unerschütterlicher besteht der deutsche Lohnarbeiter als mündiger Staatsbürger und Wähler darauf, dass er dann zumindest das Recht auf eine handlungsfähige Führung verdient hat, die ihm Opfer auferlegt, um damit deutsche Erfolge gegen den Rest der Welt durchzusetzen. Da macht das Regieren Spaß!


© GegenStandpunkt Verlag 2005