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Dieser Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung der Schweizer Strassenzeitung Surprise.
und der Autorin Lioba Schneemann

aus: Surprise – Strassenmagazin (Basel), Nr. 75 (16.2. bis 7.3.2004), S. 12 – 13

 

Lioba Schneemann (02/2004)

 

Prostituierte: Die Müllgrube der Gesellschaft

 

Das Leben von Sexworkerinnen ist oft von Illegalität, Isolation, Stress und Angstzuständen geprägt. Diverse Beratungsstellen haben sich zum Ziel gesetzt, die Lebensqualität der Prostituierten zu erhöhen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.

Wer kennt sie nicht, die adrette Irma la Douce, die Pariser Superhure im knallgrünen Kleid und mit Yorkshire-Terrier, die so manch unmögliches Abenteuer erlebt? Der Film ist ein Meisterwerk Billy Wilders, doch das wahre Leben einer Hure beschreibt er nicht. Aber was weiss Mann oder Frau wirklich vom Leben einer Sexworkerin? Vermutlich wenig, denn Prostituierte «outen» sich normalerweise nicht. Domenica Nienhoff, einst bekannteste Hure Deutschlands hatte es getan – und gesagt: «Prostituierte sind die Mülldeponie der Gesellschaft.»

Die Vorstellungen über das älteste Gewerbe der Welt haben sich glücklicherweise geändert. Das Vorurteil, Huren seien sowieso promisk oder geldgeil, ist nicht mehr so häufig zu hören. Eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2002 in Frankreich ergab, dass fast 70 Prozent die Armut für eine der Hauptursachen der Prostitution halten. Auch ist man der Ansicht, dass «Prostituierte durch die Umstände gezwungen würden, ihren Körper zu verkaufen.»

Jeder siebte Schweizer geht zu einer Prostituierten. Täglich sind es hierzulande 7000 Männer. Diese sind oft der einzige "Kontakt", den diese Frauen innerhalb des Milieus haben. Sie sind Einzelkämpferinnen, die Konkurrenz ist gross. Ausserhalb des Milieus leben sie ebenfalls meist isoliert und werden gesellschaftlich ausgegrenzt, selbst wenn sie einen Partner und Kinder haben. «Zu uns kommen viele allein erziehende Mütter», sagt Monse Ortego Viethen von «Maria Magdalena», der Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe in St. Gallen. «Grundsätzlich bieten wir den Frauen vor allem Hilfe zur Selbsthilfe an. Wir wollen die Selbstständigkeit fördern und das Selbstbewusstsein stärken. Wir unterstützen die Frauen, ihre Lebensqualität zu verbessern, indem wir ihre Ressourcen stärken und diese fördern. Das ist ein zentrales Ziel der Gesundheitsförderung und Prävention unserer Beratungsstelle.» Die Beratungsstelle Maria Magdalena gibt es seit Oktober 2000, sie wird vom Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen getragen. Maria Magdalena arbeitet im ganzen Kanton und steht den Frauen beratend zur Seite, die in Saunas, Nachtclubs, Bars, Salons oder Begleitagenturen arbeiten. Die Klientinnen dort arbeiten zu einem Grossteil schon seit vielen Jahren selbstständig. «Viele Frauen sehen dies als normalen Beruf an. Sie können das aber nicht öffentlich sagen, so dass viele keine Biographie haben,» sagt Ortego. Das sei eine schwierige Situation in einer Gesellschaft, in der sich alle über ihren Beruf definieren. Unangenehm sei das aber auch für die Kinder, die in der Schule nicht sagen könnten, womit ihre Mutter ihr Geld verdient. «Sexarbeit ist kein anerkannter Beruf, vieles ist gesetzlich ‚gummig’ und in der Regel wird sofort moralisch gewertet.» Die Prostitution öffentlich als normalen Beruf anzuerkennen würde helfen, den Frauen eine berufliche Identität zu verschaffen.

Obwohl die Frauen Ausdauer haben und zu wahren Überlebenskünstlerinnen geworden sind, ist Beratung enorm wichtig. Fragen zu Recht, Informationen über Gesundheit und Prävention, soziale und persönliche Themen stehen im Mittelpunkt. So werden Eheprobleme, Trennungen oder Schwangerschaftsabbrüche zusammen besprochen. Monse Ortego Viethen und ihre beiden Mitarbeiterinnen beraten die Frauen meist am Arbeitsort oder bei ihnen zu Hause. Monse Ortego Viethen: «Viele Frauen befinden sich in einer schwierigen Lebenssituation und kennen ihre Rechte nicht oder nur ungenügend. Und sie haben die soziale Verachtung schon so verinnerlicht, dass sie kaum für sich selber einstehen können.» Verinnerlicht heisst, dass sie sich mit der Gesellschaft identifizieren, von der sie abgelehnt werden. Deshalb können sie auch nicht für ihre Rechte kämpfen. Diese Situation wird von vielen Leuten schamlos ausgenützt, indem sie überhöhte Mietpreise, Zusatzverträge oder Schwarzgeldforderungen stellen und sich so an den Frauen bereichern. Die meisten Nachtclub-Tänzerinnen werden gezwungen, oft schäbige Zimmer im Nachtclub zu mieten. Nicht selten ist es der Ehemann oder der Partner, der die Frau finanziell ausbeutet.

Migrantinnen sind von dieser Ausbeutung weit mehr betroffen als einheimische Sexarbeiterinnen. Einige Beratungsstellen, wie etwa «Isla Victoria», das Fraueninformationszentrum für Frauen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa (FIZ) in Zürich, «Aliena» in Basel oder «Xenia» in Bern nehmen sich deshalb besonders diesen Frauen an. Dabei geht es oft um das nackte Überleben.

So wie bei Anna. Sie ist eine Klientin von «Aliena», der Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe, die seit November 2001 Frauen in Kleinbasel berät und unterstützt. Die dreissigjährige Nigerianerin war in ihrer Heimat Lehrerin, aber das ist schon einige Jahre her. Ihre beiden Kinder, fünfzehn und achtzehn, hat sie in Nigeria bei einer Tante zurückgelassen. Seit zwei Monaten ist Anna erst hier in Basel, und nächste Woche geht es weiter, vielleicht zurück zu ihrem Mann nach Barcelona. Der habe auch ihren Pass. Sie nippt an ihrer Cola und lacht leicht gequält auf die Frage, ob sie die Schweizer Männer möge. Nein, sie möge eigentlich keine Männer, sagt sie. Im «Moulin Rouge» arbeitet sie, als Animierdame, wie viele andere «exotische» Frauen aus dem Ausland. Anna wendet sich bei Problemen an «Aliena». Die Frauen der Beratungsstelle bieten telefonische und persönliche Beratung an, begleiten die Sexarbeiterinnen zu Ärztinnen und Ärzten oder anderen Stellen und besuchen sie an ihrem Arbeits- und Wohnort. Jeden zweiten Donnerstag gibt es einen Mittagstisch, wo zusammen gekocht und geplaudert wird. Und Deutschkurse werden organisiert, die tagsüber stattfinden, denn die normalen Angebote sind wegen den Arbeitszeiten im Sexgewerbe ungeeignet.

Aliena heisst «die Fremde», denn wie Anna sind die meisten Frauen Fremde in diesem Land und vor allem in diesem Beruf, der jegliche Integration verhindert. «Die meisten Frauen haben den Traum, in der Schweiz ein Leben in Freiheit und Menschenwürde zu verbringen», sagt Viky Eberhard, Leiterin der Beratungsstelle. «Doch die Realität ist wie ein Albtraum und geprägt durch Rechtlosigkeit, Ausgrenzung und Diskriminierung.» Die meisten Migrantinnen im Sexgewerbe arbeiten als Animierdamen, als Cabaret-Tänzerinnen oder in den Kleinbasler Salons. Diejenigen, die als Tänzerinnen arbeiten, seien die «Privilegierten», weil sie eine Aufenthaltsbewilligung für acht Monate haben. Die anderen Frauen sind meist mit einem Touristenvisum hier, das heisst, sie müssen nach drei Monaten wieder ausreisen. Bleiben sie trotzdem hier, rutschen sie ab in die Illegalität.

In den letzten Jahren hat die Zahl ausländischer Prostituierter stark zugenommen. Die Aids-Hilfe Schweiz geht in einer neueren Studie von rund 5000 einheimischen und mindestens doppelt so vielen, meist illegalen Sexworkerinnen aus. Sie kommen aus Osteuropa, Lateinamerika, Afrika oder Asien. Wenn sie legal arbeiten möchten, bleibt diesen Frauen eigentlich nur die Möglichkeit, als Cabaret-Tänzerinnen in einem der rund 80 Nachtclubs in der Schweiz zu arbeiten oder einen Schweizer zu heiraten. Normalerweise arbeiten sie jeden Monat an einem anderen Ort, denn der Kunde will «frisches Fleisch». Da die Nachfrage nach ausländischen Tänzerinnen gross ist, wurden Aufenthaltsregelungen und Arbeitsbewilligungen geschaffen. Mehr als 1200 Frauen aus Nicht-EU oder EFTA-Staaten (Stand 2003) erhalten jährlich die Aufenthaltsbewilligung L, die es ihnen erlaubt, während acht Monaten in Nachtclubs aufzutreten. Geregelt wird alles in einem Musterarbeitsvertrag, der von den zuständigen Bundesämtern genehmigt wurde. Er umfasst Regelungen zu Arbeits- und Ruhezeiten, Arbeitsleistungen, Brutto- und Nettolohn inklusive Sozialversicherungsabzügen, Agenturprovision, Mietkosten und Steuern. Seit Januar 2004 ist ein revidierter Vertrag gültig, in dem zum Beispiel die Arbeitstage bei gleichbleibendem Lohn von 26 auf 23 reduziert wurden. Zudem ist eine bessere zeitliche Kompensation der Nachtarbeitsstunden vorgesehen.

Alles in Butter? Weit gefehlt. Wie es hinter den Kulissen des Cabaret-Geschäftes aussieht, zeigte ProKoRe (Prostitution Kollektiv Relexion), das Schweizer Netz von Organisationen, Projekten und Personen, das die Interessen der SexarbeiterInnen vertritt, Mitte Januar 2004 an einer Pressekonferenz in Zürich auf. «Missbräuche und Unkorrektheiten sind an der Tagesordnung und viele Probleme bleiben bestehen», schreibt ProKoRe.

Was die Russin Svetlana darüber berichtet, die einige Jahre als Cabaret-Tänzerin arbeitete, ist keine Ausnahme, eher die Regel: «Am meisten belastete mich, dass ich mit Kunden schlafen musste. Als ich einen Freund hatte und ich keine Kunden aufs Zimmer nehmen wollte, hat der damalige Chef mich bei der Fremdenpolizei wegen Prostitution angezeigt. Das war seine Rache. Ich verlor meine Bewilligung, mir hat man nicht geglaubt, obwohl ich beweisen konnte, dass ich zu dem Zeitpunkt krank war und bei meinem Freund wohnte.» (Zitat aus Rundbrief 30 der FIZ).

Laut Vertrag ist das Anbieten einer sexuellen Dienstleistung verboten. Sie wird aber von fast allen Nachtclubbesitzern verlangt. Obwohl es vertraglich verboten ist, wird die Cabaret-Tänzerin in erster Linie dafür bezahlt, die Gäste zum Konsum von Champagner zu motivieren und selber zu konsumieren. Der Kauf einer Champagnerflasche für 500 Franken heisst im Grunde, so schreibt ProKoRe, dass der Gast damit den Anspruch auf Sex erwirbt, denn die eigentliche Verdienstquelle des Cabarets ist der Verkauf von Champagner.

Svetlana: «Einige Cabarets verlangen, dass du mindestens 10 000 Franken (im Monat) umsetzen musst, sonst bekommst du überhaupt nichts, andere beteiligen dich mit acht bis zehn Prozent. Wie auch immer, mit Alkoholkonsum und Tanzen verdienst du zu wenig, du musst Kunden auf das Zimmer nehmen.» Die Liste der Vertragsverletzungen liesse sich mühelos verlängern. Druckmittel gibt es genug, damit die Frauen sich nicht wehren. So wird zum Beispiel gedroht, alles der Familie zu erzählen, die meist nicht weiss, woher das Geld stammt, das die Frauen nach Hause senden. Denn im Allgemeinen sind die ausländischen Frauen aus wirtschaftlichen Gründen hier. Physische und psychische Gewalt sind an der Tagesordnung. Eine Frau, die das Umsatzziel nicht erreicht, riskiert, ihre Anstellung zu verlieren. Und traut sich nicht, sich zu wehren.

Diese Missstände treiben viele Frauen in die Alkoholabhängigkeit und ruinieren ihre Gesundheit. "Bei der Beratung stehen Gesundheitsfragen ganz vorne," sagt Viky Eberhard von Aliena. Anstrengend sind auch die Arbeitszeiten, Schlafstörungen sind ein häufiges Problem. Die Frauen leiden unter Kopf- und Magenschmerzen, Essstörungen, Angstzuständen und Depressionen. Oft erzählen Frauen, dass sie ihren Körper nicht mehr spüren. Der natürliche Bezug zum Körper geht verloren, da er ihr Arbeitsinstrument ist. Die Gespräche mit den Frauen der Beratungsstellen bedingen ein gegenseitiges Vertrauen, das langsam aufgebaut werden muss. "Wir sind oft der einzige sichere Platz, wo die Frauen hingehen können und wo sie Menschen finden, denen sie vertrauen können."

 

Informationen und nützliche Adressen:

Maria Magdalena
Sternackerstr. 10a, 9000 St. Gallen
info@gd-mariamagdalena.sg.ch

Aliena
Webergasse 15, 4085 Basel
aliena@tiscalinet.ch

Fraueninformationszentrum für Frauen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa (FIZ)
Badenerstr. 134, 8004 Zürich
fiz-mail@access.ch

ProKoRe (Prostitution Kollektiv Reflexion)
procore@tiscali.ch

Kontaktinstitutionen:
ASPASIE Genf oder Verein Xenia, Langmauerweg 1, 3011 Bern
xenia@smile.ch