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> Zumutbarkeit - Aus dem Leitfaden für Arbeitslose, Juristische Gegenwehr ...
milo
Geschrieben: 16.05.2004, 20:23:35
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"Leitfaden für Arbeitslose", Fachhochschulverlag Frankfurt/Main, 21. Auflage 2004, S. 140 ff.

Kap. D Zumutbarkeit
Abschn. III
1 Entwertung der beruflichen Qualifikation


Schon zu AFG-Zeiten gab es in der Arbeitslosenversicherung keinen dauerhaften "Berufsschutz"; immerhin wurde aber die Qualifikation des Arbeitslosen dadurch geschützt, dass die AA erst nach einer gewissen Zeit dem Arbeitslosen eine Arbeit auf der nächstniedrigeren von fünf Qualifikationsstufen zumuten konnten. Eine Möglichkeit, die die AA erfreulicherweise nur selten nutzten.

Das sollte mit dem SGB III geändert werden. Ausgehend von dem § 121 Abs. 1 SGB III aufegenommenen Grundsatz "Einem Arbeitslosen sind alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar", bestimmt § 121 Abs. 5 SGB III jetzt:

Ein Hohn für die Qualifikation

"Eine Beschäftigung ist nicht schon deshalb unzumutbar, weil sie ... nicht zum Kreis der Beschäftigungen gehört, für die der Arbeitnehmer ausgebildet ist oder die er bisher ausgeübt hat."

Damit soll die sofortige Dequalifizierung Arbeitsloser möglich werden. Mit § 121 Abs. 5 SGB III fällt der Gesetzgeber hinter das AVAVG (Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung) von 1927 zurück. Nach § 90 Abs. 3 AVAVG konnte ein arbeitsloser immerhin neun Wochen lang eine Arbeit ablehnen, "weil sie Ihm nach seiner Vorbildung oder seiner früheren Tätigkeit nicht zugemutet werden kann".

Arbeitsmarktpolitische Kritik

Die umstandslose Dequalifizierung wird selbst von der BA kritisiert. Sie hält die Regelung aus folgenden Gründen für verfehlt (vgl. zu den Einwänden der BA "Härtere Zumutbarkeitskriterien entlasten den Arbeitsmarkt nicht", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.1.1996; Präsident a.D. Jagoda und stellvertrentende DGB-Vorsitzende Engelen-Kefer, BT-Drs. 13/5936):

- nicht die fehlende Motivation des Arbeitslosen, sondern fehlende Stellen sind das Problem;
- § 121 Abs. 5 SGB III schafft keine neuen Stellen;
- minderqualifizierte Bewerber werden durch qualifiziertere Bewerber verdrängt;
- die Bereitschaft der Arbeitgeber, Arbeitslose mit höherer Qualifikation auf geringer bewerteten Arbeitsplätzen einzustellen, ist wegen der Demotivierung der Qualifizierten und deren Wunsch, sich schnell auf bessere Arbeitsstellen zu bewerben, gering.

Juristische Gegenwehr

Sollten trotz der guten Einwände der früheren Spitze der BA die AA-Mitarbeiter qualifiziertere Arbeitslose in unterqualifizierte Beschäftigungen drücken wollen, Ihnen gar Sperrzeit bei Ablehnung einer Arbeit auf niedrigerer Qualifikationsstufe aufbrummen, so könnten folgende juristische Argumente hilfreich sein:


- § 121 Abs. 5 SGB III steht - würde er uneingeschränkt angewendet - im Widerspruch zu einem Grundprinzip des Sozialgesetzbuches. Nach § 1 Abs 1 Satz 2 SGB I soll das SGB "dazu beitragen, den Erwerb des Lebensunterhaltes durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen". § 121 Abs. 5 SGB III ist im Lichte dieses Grundprinzips auszulegen. § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I verbietet jede vorschnelle Herabqualifizierung.

- Nach § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB III hat die AA bei der Vermittlung die Neigung, Eignung und Leistungsfähigkeit des arbeitslosen zu berücksichtigen. Diese Vermittlungsgrundsätze wirken sich auf die Zumutbarkeit von Beschäftigungen aus (so auch Ute Winkler, info also 2001, Heft 2 S. 73 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 30.11.1973 - 7 RAr 43/73, DBlR Nr. 1790a zu § 119 AFG).

- Da § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I und § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB III zudem "Ausführungsbestimmungen" der in Art. 12 GG garantierten Grundrechte auf Berufswahlfreiheit und freie Wahl des Arbeitsplatzes sind, wäre eine umstandslose, vorschnelle Herabstufung von Arbeitslosen auch verfassungswidrig. Zwar garantiert Art. 12 GG keinen Berufs- und Arbeitsplatzschutz; er lässt vielmehr unter strengen Voraussetzungen Eingriffe zu, z.B. im Interesse der Versichertengemeinschaft. Die Beitragszahler haben aber - wie die Einwände der BA zeigen - kein Interesse an der Herabqualifizierung: insbesondere werden kaum Leistungen gespart; der verdrängte Arbeitslose aus der niedrigeren Qualifikationsstufe bleibt weiter im Leistungsbezug. Möglicherweise kostet er wegen günstiger Leistungsgruppe oder wegen "Kinderzuschläge" sogar mehr!

-Zudem wird die Qualifikation des herabgestuften Arbeitslosen entwertet. Das, ist nicht nur arbeitsmarktpolitisch unsinnig. Das widerspricht auch einem mit dem Job-AQTIV-Gesetz ausdrücklich ins Gesetz aufgenommenen Ziel der Arbeitsförderung "unterwertiger Beschäftigung entgegenzuwirken". Dieses Ziel würde durch ein vorschnelles, umstandsloses Runterdrücken Arbeitsloser ins Gegenteil verkehrt.

Will die AA die Vermittlungsgrundsätze nach § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB III respektieren und nicht einen Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I, § 1 Abs. 2 Nr. 4 SGB III und gegen Art. 12 GG riskieren, darf es § 121 Abs. 5 SGB III nur sehr zurückhaltend einsetzen (zur Bedeutung des Rechts auf Berufsfreiheit nach Art. 12 GG bei der Anwendung von § 121 SGB III eingehend Horst Steinmeyer, in: Gagel, SGB III Kommentar; RandNrn. 27-40, 46-48).

Den rechten Weg weist der alte RdErl. 100/82 der BA, der übrigens auf Druck der damaligen Bundesregierung erlassen wurde. Danach durfte eine Vermittlung auf einer niedrigen Qualifikationsstufe nur erfolgen, wenn

- alle Vermittlungsbemühungen auf der Qualifikationsstufe der Arbeitslosen ausgeschöpft waren und

- für die Stelle der niedrigeren Qualifikationsstufe trotz angemessener Vermittlungsbemühungen in einer Frist von in der Regel drei Wochen kein arbeitsloser der entsprechenden Qualifikationsstufe vermittelt werden kann.

Allein dieses stufenweise Vorgehen entspricht dem Zweck des § 121 SGB III, den die Bundesregierung wie folgt beschreibt:

"Die Neuregelung der Zumutbarkeitsvorschriften (...) soll vielmehr dazu beitragen, (...) offene Arbeitsstellen, die sonst nicht besetzt werden können, (...) zu besetzen.! (BT-Drs. 13/5730, S. 2.)

Solange die AA nicht nachweist, dass eine freie Stelle nicht mit einem minderqualifizierten Arbeitslosen besetzt werden kann, entfällt der von der Bundesregierung genannte Grund für eine Herabstufung höher Qualifizierter: Wir raten deshalb allen Arbeitslosen, sich gegen die auf § 121 Abs. 5 SGB III gestützte voreilige Zumutung niederqualifizierter Arbeit mit Widerspruch und Klage (siehe S. 532 ff. Leitfaden) zu wehren.


Der Beitrag wurde bearbeitet von Tech-Admin am 17.05.2004, 18:13:22
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