http://gegenstandpunkt.com/gs/09/1/gs20091047h1.html
In der Stunde der Not hat das kapitalistische Gemeinwesen viele Anhänger; nicht nur die, die das Wirtschaftssystem retten und dem Kapital wieder auf die Sprünge helfen wollen. Von links meldet sich eine Fraktion, die das Gemeinwesen vor der Entgleisung des Kapitalismus retten möchte. Eine Absage an den Laden ist das nicht, sondern eine linke Sorge darum, dass „es“ weitergehen und „die Wirtschaft“ wieder als Lebensgrundlage der Volksmassen funktionieren möge. Ein Standpunkt jedenfalls, der sich weder geistig noch praktisch für die Rettung der Banken engagiert, kommt einem Weltverbesserer von attac „völlig verantwortungslos“ vor (Pedram Shahyar, Nürnberg 15.11.08). Im Fall des Falles bekennt sich der Mann, der stets predigt, eine andere Welt sei möglich, zu der ökonomischen Welt, die es gibt.
Linke Wortmeldungen zum Thema unterscheiden sich von bürgerlichen in einem: Sie bestehen auf der Notwendigkeit der Krise – und daher ihrer periodischen Wiederkehr – als einer Konsequenz des kapitalistischen Systems. Die Entschuldigung „Betriebsunfall“ lassen sie ebenso wenig gelten wie die beliebten Krisengründe „Gier“ und „individuelles Fehlverhalten“.
„Realität ist, dass die Ursachen für die Krise nicht im ‚Fehlverhalten‘ von Bankern, Vorständen oder gar im Versagen der Bankaufsicht liegen. Erstere haben nur die Realitäten und die Möglichkeiten des Systems genutzt, wenn Finanzspekulationen immer mehr ausgeweitet wurden. Der Kapitalismus hat die verheerenden Auswirkungen dieser Krise erzeugt ... Krisen gehören zum kapitalistischen System.“ (Erklärung der DKP, in: kapital & krise, Beilage der Jungen Welt, 29.10.08)
Noch ein Beispiel für viele:
„Die aktuelle Krise ist eben nicht nur das Werk unkontrollierter Spekulanten und geldgieriger Investmentbanker, die durch eine bessere Regulierung wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen wären. Der endlose Finanzschaum speist sich aus Reservoirs, die sehr viel tiefer liegen. Er quillt aus den Lebensadern eines Wirtschaftssystems, das nur produziert und investiert, wenn die Rendite für die Kapitalgeber stimmt, und für das daher Löhne, Sozialabgaben oder auch Unternehmenssteuern nichts als lästige Kostenfaktoren sind, deren man sich nach Möglichkeit zu entledigen hat. In dieser Fixierung auf Profit statt Bedarf liegt die letzte Ursache aller Ungleichgewichte, Instabilitäten und Krisen, die selbst ein besser regulierter Kapitalismus immer wieder erzeugen wird, von einem ungezügelten und enthemmten nicht zu reden.“ (Wagenknecht, Wahnsinn mit Methode, Berlin 2008, S. 188)
Wenn Autoren aus dem Spektrum von Jusos und Attac bis Linkspartei und DKP dann aber erläutern, wie das System die Finanz- und Wirtschaftskrise erzeugt, gerät ihnen das zur halben Rücknahme ihrer Behauptung und zur ganzen Rücknahme des Antikapitalismus, der immerhin anklingt in dem Vorwurf, dieses Wirtschaftssystem behandle Menschen als lästige Kostenfaktoren. Die Autoren legen systemkritische Bekenntnisse ab, berufen sich heftig auf Marx, um dann mehr oder weniger bei Steinbrück und den Alternativen staatlicher Bankenrettung zu landen. Für Sahra Wagenknecht, Vorsitzende der kommunistischen Plattform in der Partei Die Linke, für Joachim Bischoff, Die Linke, und Elmar Altvater, marxistischer Politologe, sind Kritik des Kapitalismus und Verbesserungsvorschläge für eine krisenfestere Geldwirtschaft offenbar ein und dasselbe.
„Woher rühren die Wucht und die Dauer der Finanzkrise? Wir sind nicht einfach mit den Folgen von etwas größeren spekulativen Transaktionen konfrontiert. Vielmehr hat sich das Finanzsystem seit längerem von dem realen Verwertungsprozess des Kapitals entkoppelt.“ (Joachim Bischoff, Jahrhundertkrise des Kapitalismus in: Sozialismus, Nov. 2008)
Mit „Entkoppelung“ haben Bischoff und andere ihre Formel zur Charakterisierung und Kritik der finanzkapitalistischen Akkumulation gefunden. Einerseits nehmen sie damit zur Kenntnis, dass das Gewinnemachen bei Banken und Investmenthäusern anders läuft als dort, wo es sich des Produzierens und Verkaufens von Waren bedient. Zugleich bestreiten sie die Eigenart und Emanzipation des Finanzgeschäfts mit ihrem Verdikt, es habe sich von seiner Basis, der realen Wertschöpfung entkoppelt, von der es überhaupt nicht entkoppelt werden könne. Sie geben die paradoxe Auskunft, dass das Wachstum des Finanzkapitals einerseits überhaupt nichts (mehr) mit der sogenannten Realwirtschaft zu tun habe, andererseits aber gerade dadurch furchtbar auf diese zurückschlagen müsse. Dabei ist ihnen das Verhältnis der Finanzakkumulation zur übrigen Wirtschaft, das es gibt, gar nicht unbekannt: Geldanleger an Börsen spekulieren auf den Erfolg ihrer Investitionsobjekte, auf Aktien von Industrieunternehmen ebenso gut wie von anderen Banken und Versicherungen; Konstrukteure von Kreditverbriefungen setzen auf den kontinuierlichen Zinsfluss aus Krediten, wenn sie darauf immer neue Wertpapiere und Derivate gründen. Bischoff und Konsorten wissen also, dass das Konstruieren, Verkaufen und Kaufen von Wertpapieren eine Spekulation auf die Zukunft der Geschäfte ist, die an deren aktuellen Umsätzen und Erträgen selbstverständlich nicht ihr Maß hat. Dennoch messen sie den ganzen Sektor daran und bezichtigen ihn, soweit er darüber hinausgeht, der Irrealität: Sahra Wagenknecht unterrichtet detailliert über Techniken finanzkapitalistischer Profitmacherei; das aber durchweg in dem Ton, dass die letztlich gar nicht möglich, dass sie Illusion sei, auf Schwindel, Betrug und Selbstbetrug beruhe.
„Wo also stand die Geldmaschine, die es den Banken gestattete, solche irrwitzigen Beträge unter die Leute zu streuen?... Das Modell funktioniert vielmehr nur, wenn irgendwer bereit ist, ihnen die verbrieften Kredite am Ende auch abzukaufen...Verantwortlich dafür, dass selbst die zweifelhaftesten Hausdarlehen und Firmenkredite sich, gebündelt und verbrieft, auf dem freien Markt begeisterter Nachfrage erfreuten, waren einige gelobte Finanzinnovationen, die es scheinbar ermöglichten, aus Dreck Gold zu machen, oder den Dreck zumindest wie Gold aussehen zu lassen.“
„Der Kern der gefeierten Finanzinnovationen bestand somit darin, hochriskante Kredite in eine scheinbar sichere Anlageform zu transformieren, dadurch völlig neue Gruppen von Geldgebern zu erschließen und so für einen möglichst unerschöpflichen Strom an Liquidität zu sorgen.“
„Die Zweckgesellschaften waren den Banken dabei in doppelter Hinsicht von Vorteil: Sie wurden ihre Kredite los und konnten neue vergeben, ohne zusätzliches Eigenkapital zu binden, und sie profitierten über das Conduit trotzdem weiterhin von den aus den Krediten stammenden Zinseinnahmen. Es war so gesehen nicht erstaunlich, dass immer mehr Banken dazu übergingen, sich solche Wunderwaffen zuzulegen, manche gleich mehrere.“
„Für viele Investoren war die erwartete Wertsteigerung der CDOs und damit der Gewinn, der sich aus ihrem Weiterverkauf ziehen ließ, wahrscheinlich sogar das primäre Motiv, Geld in diese windigen Produkte zu versenken. Denn völlig unabhängig von der Höhe der langfristigen Einnahmen, die sie versprachen oder nicht versprachen: Solange es immer noch einen gab, an den man die erworbene CDO-Tranche zu einem höheren Preis weitergeben konnte, als man selbst gezahlt hatte, lohnte sich die Investition ... Wichtig ist nur die Aussicht, dass es immer noch einen größeren Trottel gibt, der einem das Zeug zu einem höheren Preis abkauft, als man selbst gezahlt hat.“ (Wagenknecht, Wahnsinn mit Methode, S. 31-54)
So ähnlich wird das schon gehen mit Verbriefungen, Zweckgesellschaften und CDO-Papieren. Wagenknecht hat für das ganze Geschäftsfeld aber nur Prädikate übrig wie „irrwitzig“, „aus Dreck Gold machen“, „hochriskante Kredite in eine scheinbar sichere Anlageform transformieren“, „Wunderwaffen“, „Trottel“. Plausibel ist dies einzig aufgrund eines Umstands: Inzwischen ist zuerst dieser Teil des Finanzmarkts und dann der ganze Finanzmarkt zusammengebrochen. Jetzt, aber auch erst jetzt, steht der Käufer solcher Papiere als Trottel da, und das scheinbare Gold ist Dreck geworden. Die Linken, die ja schon immer geunkt haben, dass dieser Finanzhype nicht gut gehen konnte, sehen sich in ihrem Urteil – Wagenknecht redet von „Finanzmonopoly, der schönen Scheinwelt fiktiver Finanzeinkommen“ (ebd. S. 222) – durch den Zusammenbruch des Finanzmarkts bestärkt. Schön und gut, aber was war bis zum Crash? Bis dahin waren diese Einkommen nicht fiktiv, sondern sehr real und haben manche Leute ziemlich reich gemacht. Immerhin datieren die genannten Autoren den Beginn dieses finanzkapitalistischen Aufschwungs auf die Aussetzung der Goldbindung des Dollar und das Ende des Währungssystems von Bretton Woods (1971), wahlweise auch auf den Beginn der Ära Reagan und Thatcher (ab 1979); die „fiktive“ Bereicherung hat über mancherlei Auf und Ab bald ein halbes Jahrhundert lang echte Reiche und echte Vermögenswerte erzeugt, mit denen sich alles machen ließ, was sich mit Geld machen lässt. Diese Macht des Geldes zur Selbstverwertung hätte man zu erklären, anstatt sie zu einer – merkwürdig wirksamen – Einbildung zu erklären.
„Marx’ Analysen des so genannten ‚fiktiven Kapitals‘ aus dem 19. Jahrhundert werden auch durch die Finanzkrisen des 21. Jahrhunderts bestätigt: Jede Forderung, ob sie solide oder windig ist, wird zur Grundlage eines neuen Wertpapiers, das als Aktivum eine neue Verbriefung von Forderungen auslöst, bis diese Pyramide fiktiven Kapitals ihren fiktiven Charakter zeigt – wenn sie zusammenbricht.“ (Elmar Altvater: Nicht tot zu kriegen, Karl Marx’ Analyse des so genannten „fiktiven Kapitals“. In: Freitag, 20.3.2008)
Der Zusammenbruch liefert Altvater eine erste Definition dessen, was das Finanzkapital ist und immer war: eine Fiktion.[ 1 ] Wohlweislich wendet er diese Gedankenfigur nicht auf die geschätzte Realwirtschaft an, die gerade in nie da gewesenem Tempo zusammenbricht. Beweist die Vernichtung „realer Werte“ auch, dass es schon vorher keine Ausbeutung, keinen Gewinn und keine Realwirtschaft gegeben hat? Egal, der Zusammenbruch im Finanzsektor beweist für Altvater jedenfalls, dass hier nichts zusammenbricht außer haltlosen Einbildungen.
„Dabei scheinen die globalen Finanzmärkte von der Produktion entkoppelt. Die ökonomischen Gesetze gelten, so glauben viele, nur in der Produktion. Globale Finanzmarktrenditen von mehr als 20 Prozent lassen die einstelligen Profitraten der realen Ökonomie weit hinter sich. Sie übersteigen auch die realwirtschaftlichen Wachstumsraten um ein Vielfaches.
Doch die oft angenommene Entkoppelung der monetären von der realen Ökonomie ist eine große Illusion, dem Fetischismus von Geld und Kredit geschuldet, dem blendenden Schein – als ob die hohen Renditen aus den Finanzbeziehungen selbst stammten, aus den Banktresoren geholt werden könnten und nicht in der realen Wirtschaft produziert werden müssten.“ (Ebd.)
Daraus folgt eine zweite Definition des Finanzkapitals:
„Wertpapiere kann man nicht essen. Alle diese Produkte haben einen harten Kern: Ihre Eigentümer haben einen Anspruch (in Form von Zinsen) auf die Ergebnisse der wirtschaftlichen Gesamtleistung. Die Formen des leistungslosen Einkommens hatten ein Mehrfaches der verteilbaren jährlichen Resultate der Realökonomie erreicht. Vor dem Beginn des Crashs im Frühsommer 2007 war der Finanzüberbau, dieses artifizielle Kunstwerk über der globalen Realökonomie, wertmäßig knapp viermal zu groß. Es war überfällig: Die Pyramide von Ansprüchen bricht vor unseren Augen zusammen. Die aktuellen Korrekturen an den Börsen laufen auf eine Redimensionierung oder Vernichtung von Eigentumstiteln (= Ansprüchen auf Teile des gesellschaftlichen Reichtums) hinaus.“ (Bischoff, Jahrhundertkrise des Kapitalismus, l.c.)
Bischoff erklärt die höchsten Formen spekulativer Wertschöpfung nach dem Muster des einfachen Leihkapitals – und wenn er auf den Unterschied stößt, lastet er ihn dem Gegenstand an, anstatt den Fehler seiner Identifikation zu bemerken. Wertpapiere, gleich welcher Machart, hält er für Anspruchstitel auf Zins, der aus den „verteilbaren Resultaten der Realökonomie“ bezahlt werden muss – und bei der Masse der zirkulierenden Wertpapiere daraus nicht bezahlt werden kann. Es gibt ja „Ansprüche in Form von Zinsen“ gegenüber industriellen und merkantilen Unternehmen, aber eben nur, wenn der „Finanzüberbau“ ihnen vorher einen Kredit gegeben hat, den sie im Interesse der Ausweitung ihrer Geschäfte oder der Steigerung ihrer Konkurrenzfähigkeit nutzen. Wenn sie mithilfe des Kredits mehr Arbeiter ausbeuten, mehr lohnende Ware auf den Markt bringen, mehr Profit machen, können sie ihr Plus auch mit der Bank in Form des Zinses teilen. Wo aber Finanzinstitutionen Aktien oder verbriefte Kredite aneinander verkaufen, dabei Kursgewinne erzielen oder mit immer weniger Eigenkapital immer größere Kreditsummen bewegen und so ihre Rendite steigern, schöpfen sie ihr Plus aus sich selbst, zahlen einander steigende Preise für ihre „Assets“ und setzen sich dadurch auch instand, in teurer werdende Papiere zu investieren. Diese Zuwächse werden der „Realwirtschaft“ nie als Anspruchstitel auf Zins präsentiert, den sie aus ihrem Profit bezahlen müsste.[ 2 ] Davon geht Bischoff sogar selbst aus, wenn er vorrechnet, dass die „Formen leistungslosen Einkommens“ – ausgerechnet die Bereicherung ohne eigene Arbeit soll ein Spezifikum des Finanzkapitals im Gegensatz zum Realkapital sein! – vor dem Crash „ein Mehrfaches der verteilbaren jährlichen Resultate der Realökonomie erreicht“ haben, also offenbar bezahlt wurden, obwohl sie daraus auch damals schon nicht bezahlt werden konnten. Wenn das ging, warum konnte es nicht weitergehen? Warum soll der Crash „überfällig“ gewesen sein? Als Grund dafür zieht Bischoff ein Gesetz der Proportionalität zwischen der realen und der uneigentlichen Ökonomie aus dem Hut, mit dem er ein noch einmal anderes Maß beider Abteilungen des Kapitalismus einführt. Jetzt ist nicht mehr von – unbezahlbaren – Zinsansprüchen die Rede, sondern von der Gesamtgröße der produzierten, über die Jahre angesammelten Werte in Relation zum „artifiziellen Finanzüberbau“: Der ist um den Faktor vier größer als der reale Wert – und das ist, Bischoff zufolge, einfach zu viel.
Was haben diese Größen überhaupt miteinander zu tun, so dass sich in ihrem Verhältnis ein Missverhältnis ausdrücken könnte? Bischoff kennt da eine tiefe Wahrheit: „Wertpapiere kann man nicht essen!“ – und legt nahe, dies sei auch ihr Mangel und Widerspruch. Tatsächlich aber will sie, nicht nur im lächerlichen Wortsinn, auch niemand essen; allenfalls Rentner und kleine Sparer verwandeln Wertpapiere zurück in Konsumartikel. Echte Investoren denken nicht daran, ihr Kapital zu verspachteln. Sogar jetzt, wo Finanzvermögen in Billionenhöhe vernichtet werden, wollen sie ihre Assets nicht gegen produzierte Waren tauschen. Sie scheitern vielmehr beim Versuch, ihre Vermögen als Kapital-Vermögen zu retten, d.h. sie aus unsicheren Formen der Kapitalanlage zu lösen und in sichere zu transferieren. Ihr Zweck ist nicht Konsum, sondern der Besitz von Kapital, Aneignungsmittel und Quelle von zukünftigem Reichtum. Die Stelle, wo Finanzwerte mit dem produzierten Warenwert konfrontiert und an ihm blamiert würden, gibt es nicht – und das nicht etwa, weil beide Sorten Wert in getrennten Welten zirkulieren würden. Investoren vergleichen beständig die Realwirtschaft mit dem Finanzsektor nach Rendite und Sicherheit als alternative Formen der Kapitalanlage – und nicht daran, wessen Erzeugnisse man essen kann. Nur Bischoff macht das Gedankenexperiment, das gesamte Finanzvermögen in Warenprodukt umzutauschen, um zu demonstrieren, dass es nicht geht. Als ob das ein Geheimnis wäre: Von Aktien weiß jedermann, dass sie nichts mehr wert sind, wenn alle Aktionäre auf einmal aussteigen und verkaufen wollen. Diese Titel sind nur Vermögen, sofern derjenige, der sein Kapital in Geld zurückverwandeln will, einen anderen findet, der Geld in Kapital verwandeln und an die Stelle des anderen als Aktionär treten will. Das hindert Aktien nicht, die Form zu sein, in der die großen Vermögen dieser Gesellschaft existierten.
Diese Vermögen haben die Mission, mehr zu werden; sie messen sich nicht daran, wie viel gestern erzeugter Warenwert schon auf dem Markt ist; und wenn sie, wie jetzt, kollabieren und sich entwerten, dann nicht, weil sie dem gegenwärtigen Wertprodukt voraus sind. Ganz unpassend ist Bischoffs Vorstellung, in der Krise würden Finanzwerte am Quantum real geschaffener Werte gemessen und auf das durch sie gerechtfertigte Maß – heilsam sozusagen – „redimensioniert“. Umgekehrt verhält es sich: In der Krisenkonkurrenz um die Rettung des jeweiligen Kapitalvermögens, um die Erhaltung der Macht des Eigentums über die Ressourcen des Reichtums, wird vielmehr der materielle Reichtum seinem kapitalistischen Zweck geopfert, werden die hochgeschätzten „realen Werte“ entwertet. Unverkäufliche Waren werden verschleudert und brachgelegte Produktionsanlagen billig abgestoßen – einzig um Geldvermögen und Kapitalmacht zu retten.
Insgesamt finden Bischoff und seine Freunde Finanzvermögen in ebenso falscher Weise „fiktiv“, wie sie dem industriellen und merkantilen Kapital und seinen durch die Ausbeutung von Arbeit erzeugten Werten verkehrterweise bescheinigen, „real“ zu sein. Der Macht des Finanzsektors zur Selbstverwertung, seiner Fähigkeit, Kapitalvorschuss zu kreieren und damit über alle Potenzen der Wertschöpfung zu gebieten, sprechen sie Realität ab; dem produzierten Warenwert halten sie dagegen zugute, vergegenständlichte Arbeit und ein handfestes Ding zu sein. Dabei vergessen sie, dass es ökonomisch nicht um den Gebrauchswert geht, sondern um den Wert – und der ist kein natürliches Ding, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, das auf Gewalt beruht: Wert ist das Quantum Privateigentum, das in einem Produkt steckt, die staatlich geschützte, ausschließliche Verfügungsmacht über das Arbeitsprodukt und dadurch die Zugriffsmacht auf das Produkt fremder Arbeit. Als Werte sind Waren nicht Produkt der nützlichen, sondern der abstrakten Arbeit: Die am Produkt erzeugten nützlichen Eigenschaften sind nur Grundlage, nicht aber das Maß seiner ökonomischen Geltung. Die richtet sich danach, wie viel Arbeit für die Herstellung einer Ware verausgabt werden muss, und zwar nicht wie viel wirkliche, individuelle Arbeit, sondern Arbeit, wie sie im gesellschaftlichen Durchschnitt für eine Ware dieser Art verausgabt werden muss. Der wirkliche, private verrichtete Arbeitsaufwand muss – durch den gelungenen Verkauf des Produkts – erst noch den Beweis antreten, ob er überhaupt und in welchem Maß er gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeit darstellt. Der vom Käufer gezahlte Preis bescheinigt diesem Aufwand, quantitativ bemessen, seine gesellschaftliche Notwendigkeit. Der „reale“ Wert ist daher nichts Festes: Können andere Hersteller eine Ware mit weniger Arbeitsaufwand erzeugen, oder gibt es zu viele Hersteller in einer Branche, so dass insgesamt zu viel Arbeit auf eine Warenart verausgabt wird, oder schrumpft das zahlungsfähige Bedürfnis der Gesellschaft, dann sinkt der Wert auch der schon produzierten Waren. Erst recht nichts Festes ist der Wert, wenn er sich als Kapital betätigt, verausgabt und vorgestreckt wird, um vermehrt zurückzukommen. Gelingt diese Operation nicht, ist der Wert des investierten Kapitals vernichtet, mögen auch Produktionsanlagen, Gebäude und Maschinen dinglich unbeschädigt fortbestehen. Den Gegensatz des „irrealen“ Finanzkapitals zum ach so realen, durch Arbeit geschaffenen Wert bekommt Bischoff nur hin, indem er den Wert – ausgerechnet – mit dem Gebrauchswert identifiziert. Dagegen gilt: Nicht nur Wertpapiere, auch Warenwerte kann man nicht essen!
Die Macht von Finanzvermögen beruht auf derselben Setzung der Staatsgewalt wie der Wertcharakter der Arbeitsprodukte: auf der Garantie der Verfügungsmacht des Eigentümers über sein Eigentum. Das gesamte Finanzgeschäft beruht auf einer Fortschreibung des Eigentums- zum Schuldrecht: Die Macht des Gläubigers über den Schuldner gründet ganz auf nichts als der Gewalt der Obrigkeit, die Zahlungsversprechen Geltung verschafft und sie zur Not gegen den Schuldner vollstreckt. Nur auf dieser Basis können Schulden als Kapital, versprochene zukünftige Zahlung als aktuell verwendbares Vermögen wirken.
Bischoffs nach beiden Seiten verkehrte Abgrenzung verrät, wie viel er der produktiven Profitmacherei im Gegensatz zum Finanzkapital zugutehält: Ähnlich wie seine bürgerlichen Gegner hält er den Konsum in diesem System dann doch für den letzten Zweck des Wirtschaftens und die Summe des Warenprodukts für den ganzen und wahren Reichtum. Finanzwerte sind bei ihm Warengutscheine, die sich als nicht einlösbar erweisen, sobald sie eingelöst werden sollen.
Wo Bischoff mehr das Fiktive finanzkapitalistischer Ansprüche betont, das sich blamieren muss, warnt Altvater vor dem unberechtigten Zugriff, den diese Fiktionen auf reale Werte ausüben.
„Wären die Renditen nur Teil einer immateriellen, virtuellen Ökonomie, könnten sie uns so egal sein wie dem Finanzmarkt-Zocker die Frage, wo seine Gewinne eigentlich herstammen. Denn seine Vorstellung ist: Das Finanzsystem ist selbstreferenziell, die Geldrendite stammt aus dem Geld, Geld erzeugt mehr Geld. ‚G – Glsquo; nannte Marx die ‚begriffslose‘ Zirkulationsfigur des Geldkapitals.“ (Altvater, Nicht tot zu kriegen, in Freitag 20.3.2008)
Altvater stößt, wie alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, auf die harte Nuss, die die finanzkapitalistische Akkumulation dem Verstand zu knacken gibt. Er konstatiert das schwer zu begreifende Faktum, dass das Finanzsystem aus Renditen neues Kapital schöpft und aus dem selbst geschaffenen Geldkapital Renditen erzeugt. Intellektuell fertig wird er mit dieser Herausforderung, indem er die zu erklärende Sache bestreitet; von Marx will er gelernt haben, dass es das alles nirgendwo gibt, außer in der irrigen Vorstellung der Finanzmarkt-Zocker. Mit ihrer Einbildung, sie könnten durch pure Finanzoperationen aus Geld mehr Geld machen, werden sie aber gefährlich: Ihre hochfliegenden, von der Realökonomie abgelösten Ertragswünsche entwickeln nämlich Macht: Sie können sich aneignen, was sie beanspruchen, so dass der armen Realwirtschaft von ihrem Wertprodukt selbst gar nichts mehr übrig bleibt. Das ist die dritte Definition des Finanzkapitals: Eingebildeter Reichtum, der sich am wirklichen vergeht.
„Banken und Fonds schraubten so die auf Finanzanlagen erzielbaren Erträge im Vergleich zu realen Gewinnen bedenkenlos in die Höhe. Die Konkurrenz verlangte es. Die inzwischen weithin beklagte, um sich greifende Gier von Managern war kein psychischer Defekt, sondern hatte systemische Ursachen. Der Kapitalismus verwandelte sich in den ‚finanzgetriebenen‘ Kapitalismus. Die Profitrate auf industrielles Kapital sank in den vergangenen Jahrzehnten, wie alle empirischen Studien zeigen, und die Rendite der Finanzanlagen war hoch. Wer weniger als 20 Prozent auf das Eigenkapital aus Investitionen herausholte, galt bis zum Ausbruch der derzeitigen Krise als Versager.“
„Finanzanlagen sind Forderungen (claims), die bedient werden müssen, und je höher die Renditen und je umfangreicher die Forderungen, auf die sie zu zahlen sind, desto mehr Erträge müssen aus dem global produzierten Sozialprodukt zum Finanzsektor fließen. In dessen Zentrum liegt die Wallstreet oder – wie manche heute sagen – ‚Fraudstreet‘ (Straße der Abzocker), in der immer neue Anlagestrategien entwickelt, komplex strukturierte Papiere erfunden und bisher nicht gekannte Institutionen (wie Zweckgesellschaften) gegründet wurden, um stets neue Kunden in ihren Finanzbann zu ziehen und mit immer neuen Methoden möglichst hohe Renditen in den Finanzsektor zu lenken. Woher? Aus der realen Wirtschaft. Doch deren Überschüsse – man kann es an den realen Wachstumsraten erkennen – reichten an die hohen Renditen nicht heran und daher zur Befriedigung der ‚Gier‘ nicht aus. Denn es werden mit den vom Bankensektor finanzierten Investitionen keine neuen Werte (wie in Omas Nähmaschinenkapitalismus) geschaffen, sondern bereits erzeugte Werte mit Hilfe der strukturierten Finanzprodukte zum Finanzsektor umverteilt ... Irgendwann aber reicht die Substanz nicht mehr zur Befriedigung der immer größer werdenden claims auf den globalen Finanzmärkten.“ (Altvater, Der amerikanische Patient, in Freitag 40, 3.10.2008)
Altvater wird selbst nicht sagen können, wie man mit einem ABS-Papier in der Realwirtschaft „erzeugte Werte“ in den Finanzsektor umlenkt. Will er auch gar nicht. Ihm genügt es, ein Bild zu zeichnen von einem Sektor des Kapitals, der keine Werte erzeugt, sich aber anderswo erzeugte Wertschöpfung unbefugt und ohne Gegenleistung aneignet. Dazu betrachtet er den ganzen Finanzsektor mit seinen Aktien, Wertpapieren und Derivaten, wie wenn seine Vermögen nichts als Zinsforderungen an die Realwirtschaft und alle seine Erträge von dort überwiesene Zinsen wären – zugleich aber ohne dass vorher ein Kredit geflossen und die Potenz zum Kapitalvorschuss in die Hände von Kreditnehmern übergegangen wäre; also ohne dass überhaupt Zinsforderungen gegen die Realwirtschaft entstanden sind. Wie immer man sich das Unrecht im einzelnen vorstellen soll, das da geschieht; dass es ein Unrecht und Systemfehler ist, will Altvater herausstellen: Mitten im Kapitalismus unterscheidet er den verdienten und sozial vertretbaren Profit der industriellen Ausbeuter – leicht ironisch „Omas Nähmaschinenkapitalismus“ genannt – von dessen unproduktiver und leistungsloser Aneignung durch Spekulanten.
Wagenknecht lenkt die Aufmerksamkeit auf eine andere Seite des finanzkapitalistischen Unrechts: Nicht nur erfüllen die Profite dieses Sektors den Tatbestand der Ausbeutung des Realkapitals. Wagenknecht sieht das ganze in ihm engagierte Kapital auf der Flucht vor seiner wahren Aufgabe, erklärt es rundweg zum Abzug vom realen. Alles Wachstum im Finanzbereich ist – nach diesem Gesetz der kommunizierenden Röhren – entweder Ausdruck fehlender Wachstumsgelegenheiten in der Realwirtschaft [ 3 ] oder die Ursache fehlenden Wachstums.
„In dieser Situation (Lohnsenkung auf breiter Front, d.V.) war zur Steigerung der Rendite nicht Kapazitätserweiterung, sondern Kapitalzerstörung angesagt. Dem dienten die zahllosen Unternehmensübernahmen und Fusionen, die immer zur Folge hatten, dass vorhandene Kapazitäten stillgelegt sowie Beschäftigte entlassen wurden und am Ende Unternehmen mit geringeren Fixkosten und weniger Konkurrenzdruck einen größeren Markt abdecken konnten.“ „Es versteht sich, dass die Anreize, die ein solches System setzt, zutiefst produktions- und innovationsfeindlich sind. Denn in Unternehmen, in denen immer größere Teile der – sei es aus Gewinn oder Kreditaufnahme – verfügbaren Mittel für völlig unproduktive Zwecke wie den Aufkauf fremder oder den Rückkauf eigener Aktien vergeudet werden, bleibt in der Regel nicht nur für die Erweiterung von Kapazitäten, sondern auch für Investitionen in technische Neuerungen oder Forschung und Entwicklung immer weniger übrig.“
„Die Börsen brummten, während real immer weniger investiert wurde ... Kehrseite und Konsequenz dieser Unternehmensstrategie ist somit ein immer höheres Kartenhaus fiktiver Werte, das sich über einer stagnierenden oder sogar schrumpfenden Produktionsbasis auftürmt.“ (Wagenknecht, l.c. S. 217-220)
Die Vorstellung von Kapitalknappheit passt schlecht zu Wagenknechts eigener Auskunft, das Finanzkapital besitze die Eigenschaft, „aus eigener Kraft und in nahezu unbegrenztem Umfang Einkommen und Vermögen zu erzeugen“; Vermögen, die sich überall investieren lassen, wo eine Rendite winkt. Aber soll man eine Frau noch an theoretische Missgriffe erinnern, die so konsequent Partei für „die Produktion“ ergreift, von der sie ein paar Seiten vorher sagt, die sei nur Mittel des Profits und würde die Arbeitskräfte als zu minimierende Kostenfaktoren behandeln? Gnadenlos optiert sie für „Innovation“, die sie sonst als „Rationalisierung“ kennt. Bei der wird arbeitssparende Technik eingesetzt, nicht um den Arbeitskräften Arbeit, sondern um dem Betrieb Lohn zu ersparen, und die Firma dadurch reicher zu machen, dass die Arbeitskräfte einen kleineren Teil ihres Produkts als Lohn nach Hause tragen. In diesem Fall ignoriert Wagenknecht großzügig den ökonomischen Zweck und freut sich über „technische Neuerungen“, die „die Gesellschaft auf irgendeine Art reicher machen“ (l.c., S. 184). Sobald ihr wieder einfällt, dass dieses „Reicher-Machen“ die Kapitalrendite und nicht die Zahl der Arbeitsplätze vergrößert, zögert sie nicht, Konsequenzen und Mittel dieser Innovation – Kapitalkonzentration samt Schließung von Produktionsstätten – eine „Kapitalvernichtung“ zu nennen. Finanzkapitalistische Unternehmensstrategien, deren Konkurrenznutzen ihr durchaus geläufig ist – Fusion durch Erwerb der Aktienmehrheit eines Übernahmekandidaten oder Vergrößerung der eigenen Börsenkapitalisierung durch Aktien-Rückkauf –, erklärt sie zur sinnlosen Vergeudung guten Geldes, das dann für „Sinnvolles“, wie Produktion und Arbeit fehlt.
Unisono erklären an Marx geschulte Linke die „Realwirtschaft“ zum Opfer des Finanzkapitals und zum Sorgeobjekt, dem ihre Sympathie gilt. Es zählt nicht, dass der ökonomische Zweck der Realwirtschaft sich von dem der geschmähten Finanzgeier in nichts unterscheidet: Auch beim Produzieren und Verkaufen geht es darum, aus Geld mehr Geld zu machen. Die Produktion von Kühlschränken, Medikamenten, Haferflocken – alles sind gleichwertige Alternativen, Geld anzulegen, sofern gleiche Profite auf den Kapitalvorschuss zu erzielen sind. Die Güter werden erzeugt, wenn es sich lohnt, und ihre Erzeugung wird eingestellt, sobald sich ein rentableres Betätigungsfeld für das schöne Geld findet. Der Wechsel der Kapitale zwischen Produkten und Branchen beweist, wie vorurteilslos Kapitalisten die Produktion als Mittel ihrer Geldvermehrung beurteilen. Und wenn sie Arbeit für die Herstellung gewinnträchtiger Waren anwenden, dann so, dass auch Gewinn herauskommt: Knapp kalkulierte Löhne, lange Arbeitsstunden und eine hohe Arbeitsdichte sorgen für die Differenz zwischen Kosten und Verkaufspreisen, auf die es ankommt.
Das alles ist vergeben und vergessen, sobald diese Linken einen Gegensatz zwischen der Finanz- und der produktiven Branche zu entdecken meinen. Dann wissen diese praktischen Leute, auf welcher Seite sie stehen. Da der Sozialismus immer noch nicht oder endgültig nicht mehr auf der Tagesordnung der Geschichte steht, optieren sie für das Nächstbeste und verteidigen den realen Kapitalismus gegen den irrealen Finanzschwindel. Die kritischen Attribute des Kapitals, die sie einmal gelernt haben, reservieren sie für diese Kapitalfraktion: Die folgt einem maßlosen Wachstumswahn und Bereicherungstrieb, die eignet sich die Früchte fremder Leistung ohne eigene Leistung an, die ist rücksichtslos gegen die Leistungskraft ihrer Quellen. Das Realkapital, das „echte Werte“ erzeugt, bekommt durch den Kontrast lauter positive Eigenschaften: Dass es für seinen Profit Produkte herstellt und verkauft, dass es dafür Lohnarbeiter ausnutzt, sich den materiellen Lebensprozess der Gesellschaft unterwirft und ihn vom Gelingen seiner Bereicherung abhängig macht, – das alles verkehren seine Liebhaber in einen Dienst des Realkapitals am Leben der Gesellschaft: Es erzeugt Nützliches und schafft Arbeitsplätze.
Dabei irritiert es sie auch nicht, dass die liebe Realwirtschaft vom Zusammenbruch der Finanzspekulation nur deshalb betroffen ist, weil sie ihr Geschäft selbst auf Kredit gründet. Das Faktum ist ihren Verteidigern bekannt, sie halten es für ebenso selbstverständlich wie vernünftig. Wissen sie nicht, dass die Benutzung von Kredit Zeugnis genau desselben maßlosen Bereicherungstriebs ist, den sie den Finanzhaien zum Vorwurf machen? Jedem Unternehmer ist das Kapital zu klein, mit dem er wirtschaftet; jeder will mehr Kapital anwenden und vermehren, als er besitzt, d.h. durch den Erfolg früherer Ausbeutung schon erworben hat. Jede Firma beschleunigt mit Hilfe des Kredits ihren Kapitalumschlag und wartet nicht, bis ihr Vorschuss durch den Verkauf der produzierten Waren wieder zurückfließt; jede nimmt den erfolgreichen Verkauf vorweg – auf den sie somit spekuliert –, und benutzt ihr Kapital schon wieder für eine neue Runde von Produktion und Ausbeutung, noch ehe es seinen Kreislauf vollendet hat.
In verkehrter Weise lasten die linken Kritiker daher den Crash dem einen – unsoliden und unberechtigten – Sektor an, von dem der Schaden dann auf die andere, gesunde, Realabteilung der Wirtschaft übergegriffen haben soll.[ 4 ] Die Krise deckt ja auf, dass das Betriebskapital von Industrie und Handel selbst aus allen möglichen Formen des Kredits; also nicht nur in dem von der Hausbank gestellten Leihkapital, sondern ebenso in selbst emittierten Anleihen sowie im Besitz eines ansehnlichen Börsenwerts. Jede bessere Firma hat die Vorzüge der Spekulation entdeckt, sich als Aktiengesellschaft organisiert und Aktien auf sich verkauft. Manche gliedert sich obendrein noch eine Bank an. Ehrbare Produktionsunternehmen bieten sich der Gemeinde der Geldanleger als Spekulationsobjekt an und tun alles für deren Vertrauen in die Zukunft ihres Geschäfts, um sich die Finanzkraft zu Kapitalvorschüssen in jeder benötigten Größe zu sichern. Den Konzernen erschienen ihre realwirtschaftlichen Einkommen ungenutzt und vergeudet, wenn sie sie nicht zur Grundlage einer Spekulation machen und dadurch vervielfältigen würden. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte ist also zugleich der Ruin der Realwirtschaft, weil deren Kapitalmacht selbst Produkt der Spekulation ist.
Wenn die zitierten Autoren „die Produktion“ hochhalten, die reale Werte schafft, und ihr die „leistungslosen Einkommen“ der „Finanzmarkt-Zocker“ gegenüberstellen, die anderswo geschaffeneWerte in ihre Tresore „umverteilen“, fällt ihnen der Berührungspunkt mit einer gewissen historisch diskreditierten Kritik am Finanzkapital auf, von der sie sich abgrenzen: Mit der Unterscheidung zwischen dem „schaffenden Kapital“, das das Volk ernährt, und dem „raffenden Kapital“, das es aussaugt, darf ihre Entgegensetzung der Sektoren nicht verwechselt werden. Das geschieht allerdings leicht, denn der Unterschied zur faschistischen Kritik am raffenden Kapital hat keinen ökonomischen Gehalt: Hie gutes Kapital, weil es Produkte erzeugt, da unverdienter Profit, weil ohne Leistung – darin sind Rechts und Links einig. Sie unterscheiden sich im politischen Bezugspunkt der Kritik: Die Linken sehen vom Renditestreben der Geldkapitalisten die sozialen Interessen des kleinen Volks im Kapitalismus beschädigt: Seine Möglichkeiten des Lohnerwerbs, die Arbeitsplätze, die Industrie- und Handelskapital glücklicherweise zur Verfügung stellen, werden durch Finanzspekulation gefährdet oder vernichtet. Die Rechten sehen eben dadurch das Volk als Ganzes geschädigt, die Nation, d.h. die Ansprüche des Staates, der sie verwaltet. Auch in diesem politischen Weltbild hat der Arbeiterstand seinen Platz; nicht wie bei den Linken als der vermeintlich letzte Zweck von Staat und Wirtschaft, sondern als Träger des Staates und Quelle seiner Potenzen, der leben können muss, um seinen Dienst am Staat zu versehen. Der Unterscheid zwischen dem „kleinen Volk“ und dem Volk mag unbedeutend erscheinen, er ist es aber nicht: Er definiert die entgegengesetzten Extreme der Politik im kapitalistischen Staat und dreht sich darum, ob die systematisch ausgenutzte Klasse auf ihren Interessen besteht, um die Gesellschaft, auch wenn das gar nicht geht, zu ihrem Mittel zu machen; oder ob proletarische und andere Staatsbürger überzeugt sind, nur leben zu können, wenn die Obrigkeit sich alle Klassen radikal zu ihrem Mittel macht und zum Dienst am Staat zwingt.[ 5 ]
Ökonomisch nicht so anders wie ihre Gegner von ganz rechts wollen die linken Kritiker die Ausbeutung der „Produktion“ durch die „leistungslosen“ Einkommen des Finanzkapitals nicht dadurch beenden, dass sie es abschaffen, sondern – viel bescheidener – dadurch, dass sie das verloren gegangene, gesunde Verhältnis der beiden Sektoren des Kapitalismus wieder in Ordnung bringen, das das System nicht von selbst in Ordnung hält. Ihnen fällt nämlich der Segen ein, den das böse Kapital als Finanzier „der Produktion“ zu stiften vermag, und die vielen sozialen Vorteile, die mit kreditfinanziertem Wachstum möglich werden könnten. Kritikwürdig finden sie das Finanzgeschäft einzig, weil es – wie jedes Geschäft im Kapitalismus – im Dienst an seinem Kunden, dem Realkapital, nicht sein Genügen hat, sondern die Realwirtschaft für sich benutzt, und, statt zu dienen, herrscht.
„Wo ist eigentlich der Kern des ökonomischen Systems, mit dem wir es zu tun haben? Und da würde ich in alter marxistischer Tradition sagen, der Kern – das ist eigentlich die Produktionswirtschaft, das sind nicht die Finanzmärkte, die haben ökonomisch funktional gesehen eine dienende Funktion. Sie sollen Industrie, Dienstleistungen und so weiter – mehr oder weniger – finanzieren. Das hat sich enorm verschoben, weil die Finanzmärkte immer stärker die Produktionswirtschaft beherrschen, ja terrorisieren.“ (Rudolf Hickel, Wenn der Himmel zusammenbricht, Interview in Freitag Nr. 39, 26.9.08)
Ausgerechnet von Marx will er gelernt haben, dass die Produktion von nützlichen Dingen Kern des kapitalistischen Wirtschaftens wäre, und die Finanzbranche der „Produktionswirtschaft“ dabei zu helfen hätte. Wahrscheinlich hat Hickel von Marx auch gelernt, dass der Kredit bei der Arbeit hilft. Tatsächlich ist „Finanzierung“ gar kein Produktions- oder Arbeitsmittel, wohl aber die Ressource des Kapitals: Im Kredit wird die Kommandomacht des Geldes über die Arbeit und andere produktive Potenzen zur Ware, die sich der kreditnehmende Kapitalist kauft. Diese Seite des Finanzkapitals mögen seine Kritiker. Kredit ans Realkapital finden sie nützlich – nicht in dem Sinn, in dem er wirklich nützlich ist: für die Bereicherung des akkumulierenden Kapitalisten, sondern im Sinn des sozialen Ganzen. Sie schätzen den Kredit, den Banken dem Realkapital geben, nicht aber deren Geschäfte mit den Schulden, die sie dadurch erwerben. Sie fordern die Finanzierung des Wachstums und verdammen die Re-Finanzierung vergebener Kredite, durch die Banken ihr eigenes Wachstum betreiben; und das letztlich nur, weil ein autonomes, aus dem Dienst am Realkapital emanzipiertes Wachstum nicht dauerhaft durchzuhalten und jetzt eben zusammengebrochen ist: Erst im Crash bleibt der Sektor seinen Dienst so richtig schuldig. Die wahre Kritik der finanzkapitalistischen Höhenflüge ist ihre Krisenanfälligkeit.
„Die Krisenanfälligkeit der heutigen Finanzmärkte ist nicht deshalb ein Problem, weil Krisen das Vermögen einiger Milliardäre vernichten können. Sie ist ein Problem, weil ein funktionstüchtiges und stabiles Finanzsystem zu den Grundbedingungen einer stabilen Wirtschaft gehört. Die Finanzmärkte unserer Tage tun genau das nicht, was ihre Aufgabe wäre: die Ersparnisse der Gesellschaft in jene Investitionen zu lenken, die die Wirtschaft produktiver, umweltverträglicher oder auf irgendeine andere Art reicher machen. Stattdessen leiten sie tausende Milliarden in die Finanzierung aberwitziger Finanzwetten und hochspekulative Investmentvehikel, die volkswirtschaftlich so überflüssig sind wie der Wiener Opernball.
Und die hyperliquiden Anlagemonster sind nicht nur überflüssig, sie richten Schaden an. Sie erzwingen die Ausrichtung der realen Wirtschaft an ihrem eigenen, extrem kurzfristigen Zeithorizont und setzen Unternehmer unter Druck, die Löhne zu kürzen und Investitionen in Forschung und Innovationen zurückzufahren, und die Ausschüttung an die Aktionäre zu erhöhen und so die Vermögensblase weiter zu vergrößern. Das heutige Finanzsystem ist – im Wortsinn – gemeingefährlich.“ (Wagenknecht, l.c. S. 184)
Altvater definiert die Grenze zwischen dem funktionstüchtigen und stabilen Finanzsystem, das wir alle brauchen, und dem gemeingefährlichen Anlagemonster, das uns ruiniert. Der Umschlag von gut zu böse entscheidet sich an der Höhe des Zinses.
„Marx ging wie selbstverständlich davon aus, dass der produzierte Mehrwert für alle Kapitale – industrielles, merkantiles, und zinstragendes Kapital – ausreichend sei ... Im Prinzip sind die industriellen Profite ausreichend, um auch die monetären Ansprüche an das produzierte Wertprodukt zu befriedigen ... Die Zinsen müssen unter der Profitrate bleiben. So bleibt der Kapitalismus in Form, denn alle können in einem Positivsummenspiel gewinnen: Die Unternehmer Profit, die Geldvermögensbesitzer Zinsen, die Arbeiterinnen und Arbeiter Beschäftigung und Lohneinkommen, die öffentliche Hand Steuereinnahmen.
Aber: Das positive Verhältnis von Profiten und Zinsen war immer fragil ... Ende der 80er kam ein struktureller Anstieg der Realzinsen, ... es blieb nur Profit übrig, wenn der Mehrwert auf Kosten der Löhne gesteigert werden konnte ... der monetäre Schuldendienst überfordert die reale Ökonomie.“ (Elmar Altvater, Globalisierung der Unsicherheit, Münster 2002, S. 174f)
Wir verstehen schon richtig: Solange die Zinsen unter der Profitrate bleiben, ist der Kapitalismus ein „Positivsummenspiel“, in dem alle gewinnen. Ohne jede Scheu bekennt sich der marxistische Professor zu der kapitalistischen Idylle, in der jeder bekommt, was ihm zusteht: Den Reichen der Profit, den Couponschneidern der Zins, dem Staat die Steuern und den Armen Arbeit und Lohn. Dieses Verteilungssystem wird zerstört durch einen Zinsanstieg und plötzlich kommt in das harmonische Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ein Gegensatz: Profit geht nun auf Kosten des Lohns – und die schöne Wirtschaft des ganzen Volkes geht in die Knie, weil sie von unverantwortlichen Kräften, die das offenbar können, überfordert wird.
Die System- und Kapitalismuskritik, zu der sich die zitierten Autoren eingangs so kräftig bekannt haben, ist mit all dem nicht widerrufen; sondern präzisiert. Sie galt eben nicht dem Umstand, dass es in diesem Wirtschaftssystem nicht um die möglichst aufwandsarme Herstellung der Lebensmittel für alle geht, sondern um das immer weiter fortschreitende Wachstum des Kapitals, also um die beständige Vermehrung der Verfügungsmacht der Eigentümer über die Arbeit. Diese Kritiker finden es nicht verkehrt, dass die arbeitende Menschheit der Kapitalakkumulation subsumiert wird, und daher für ihren Lebensunterhalt lange arbeiten muss und doch immer arm bleibt. Schlimm finden sie allerdings, dass das Zusammenwirken des Realkapitals mit seinen Arbeitskräften durch den ausbeuterischen Zugriff des Finanzkapitals periodisch ins Stocken und aus den Fugen gerät. Eigentlich kritikwürdig am Kapitalismus finden sie seine Krisen, in denen sich das Ausbeuten nicht mehr lohnt; die Phasen, in denen sich Firmen dadurch retten, dass sie das Produzieren zurückfahren oder einstellen, massenhaft Arbeitskräfte brachlegen und den Lebensprozess des Gemeinwesens abwürgen. Dass der Kapitalismus nicht zuverlässig funktioniert, ist allerdings kein Zufall, sondern ein Strickfehler des ansonsten ganz effizienten und innovativen Systems: Es verteilt wirtschaftliche Macht ungerecht, erlaubt ein Übergewicht der Eigentümer, besonders der großen Geldmacht, über die anderen am Wirtschaftsprozess beteiligten Interessen. Weil sich die Geldmacht holen kann, was sie will, tendiert das System dazu, sich von seiner realen Basis zu entfernen und mehr zu verteilen, als produziert worden ist. Das aber – da kennen sich die Verehrer des realen Werts aus – geht letztlich nicht. Von sich aus ist die kapitalistische Wirtschaft also ungerecht und daher instabil; oder umgekehrt: instabil und daher unsozial.
Wenn die Protagonisten der linken Meinung lange genug das System mit seiner fatalen Neigung, sich von seiner realen Reichtumsbasis zu entfernen, für die Finanz- und Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht haben, laden sie dieselbe Schuld noch einmal bei der neoliberalen Wirtschaftspolitik ab. Sie heben mit „systemischen Ursachen“ an und enden bei der Anklage wirtschaftspolitischer Fehler.
„Entscheidend aber ist, dass die Neocons die Ökonomie grandios in die schwerste Finanzkrise seit 100 Jahren geführt haben, in einen Abgrund, der heute tief und breit klafft ... Sie gingen daran, machtvoll die Finanzmärkte zu deregulieren, um die private Rendite in astronomische Höhen zu jagen ... Das neoliberale Zeitalter hatte Margret Thatcher mit dem ‚big bang‘, der Liberalisierung der Finanzmärkte, triumphal eingeleitet. Nun lag auch die Bildung der Zinsen und Renditen auf Finanzanlagen in der Hand von privaten Konzernen. Regierungen und Zentralbanken verloren die ‚Zinssouveränität‘, die so wichtig ist für eine unabhängige und beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik. (Altvater, Der amerikanische Patient, Freitag Nr. 40, 3.10.08)
„Die Instabilität von Finanzmärkten ist ein inhärentes Merkmal des Kapitalismus im Allgemeinen und des neoliberalen Kapitalismus im Besonderen.“ (Bischoff, Globale Finanzkrise, VSA, 2008, S. 89) „Nach der großen Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg ist die Expansion der Eigentumstitel und damit der Ansprüche auf den jährlich produzierten gesellschaftlichen Reichtum durch steuerliche und sonstige Regulierung stark unterbunden worden. Mit der Politik der Deregulierung oder Entfesselung des Kapitals setzt erneut eine beschleunigte Akkumulation des Geld- und Kreditkapitals ein. In den letzten Jahrzehnten sind neue Formen (Derivate, Verbriefungen) und neue Akteure (Finanzinvestoren) hervorgebracht worden, die letztlich der kapitalistischen Ökonomie insgesamt ein neues Gesicht aufgeprägt haben. (ebd. S. 42)
Was nun, möchte man fragen: Ist das System von Übel oder sind es bloß schlechte wirtschaftspolitische Konzepte? Gehört der Kapitalismus abgeschafft oder besser verwaltet? Man fragt da aber die Falschen. Vom Standpunkt dieser Autoren aus existiert der Widerspruch nicht. Der Fehler, den sie dem System nachsagen, besteht ja in nichts anderem als seiner Korrektur- und Regulationsbedürftigkeit: Sie lassen die kapitalistische Mehrwert-Produktion als notwendige und effektive „Realwirtschaft“ hochleben, die die Grundlagen für die allgemeine Wohlfahrt legt, und monieren, dass deren schöne Möglichkeiten durch eine ungerechte Verteilung verspielt werden; so sehr, dass darüber sogar Kontinuität und Stabilität der Produktion Schaden nehmen. Derartige Systemkritik ist ein einziger Ruf nach der korrigierenden Staatsmacht, die die guten Seiten der Produktionsweise gegen ihre immanente Selbstgefährdung abzuschotten und dem asozialen Konkurrenzsystem Gemeinnützigkeit und Haltbarkeit abzuringen hat.
Der Kapitalismus selbst interessiert die Linken nicht. Es gibt ihn nun einmal, seine Mängel sind ein alter Hut – es kommt darauf an, was die Politik daraus macht. Interessant finden sie dagegen „Entwicklungstypen“ und „Regulationsmodelle“[ 6 ] des Kapitalismus, den sie selten ohne spezifizierendes Beiwort im Mund führen: Sie verdammen den „reinen“, „entfesselten“, „ungezügelten“, „finanzgetriebenen“, „Kasino-“ und „Turbo-“Kapitalismus, und grenzen ihn von dem „gezähmten“, „sozialen“, „rheinischen“ Kapitalismus ab, den sie im Rückblick ganz akzeptabel finden. Aller Unterschied, der sie interessiert, fällt in alternative Strategien der Staatsmacht, ihren Kapitalismus zum Blühen zu bringen. In diesen Alternativen engagieren sie sich, an ihnen entscheidet sich für sie, ob üble Ausbeutung vorliegt oder ein passabler Klassenkompromiss. Regulierung ist links. Feind der Linken ist eine Politik, die das auch nach linker Meinung erforderliche Kapitalwachstum dadurch anzukurbeln strebt, dass sie den Kapitalisten zu Lasten der Löhne, der sozialen Sicherungssysteme und des Steueraufkommens erweiterte Freiheiten einräumt und Gewinnchancen eröffnet. Diese Regulierung nennen sie, nicht ganz zu Recht, aber im Einklang mit ihren neoliberalen Gegnern: „Deregulierung“.
Die sozialen Anklagen, die sie an die neoliberalen Wirtschaftspolitiker richten – Verelendung der Arbeitslosen, sinkende Löhne, Entstehung einer Schicht von „working poor“ –, finden seit Jahren kein Gehör bei den staatstragenden Parteien, die das Land in der internationalen Standortkonkurrenz voranbringen und dafür die Verarmung der arbeitenden Klasse als ihren eigentlichen Trumpf ausspielen. Durch die Krise fühlt sich die Linke nun aber bestätigt: Der sozial kalte Neoliberalismus schädigt nicht nur die armen Schichten, in deren Namen sie spricht, sondern die ganze kapitalistische Nation; er hat die immanente Krisenhaftigkeit unseres problematischen Systems verstärkt, statt sie zu dämpfen. Die Kapitalisten in ihrer Maßlosigkeit brauchen Zügel, sonst schaden sie allen – und nicht zuletzt sich selbst. Die sozialen Opfer des „entfesselten Kapitals“ haben als Einwand gegen die dafür verantwortliche Politik nicht viel ausgerichtet; der Einsicht aber, dass das „ungezügelte Kapital“ auf lange Sicht seinen eigenen Erfolg untergräbt, wird sich kein Wähler oder Politiker mehr verschließen können. Wenn das soziale Argument nicht sticht, dann umso sicherer das nationale! Jetzt muss man auf die Linken hören, die sich als Experten für Funktionsmängel des Kapitalismus anbieten.
„Die bisherige neoliberale Ausrichtung staatlicher Wirtschaftsregulierung mit ihrer Deregulierung und Liberalisierung der Märkte sowie einer großangelegten Privatisierung öffentlicher Güter hat die Kapitalverwertung wesentlich verbessert, aber gleichzeitig damit auch die Voraussetzungen für eine riesige Spekulationsblase geschaffen ... Der Staat ist mit dieser Form der staatlichen Regulierung, der vielgepriesenen neoliberalen Politik, auch als Vertreter der Interessen des Großkapitals für das jetzige Debakel in der Finanzwelt mitverantwortlich. Das hat dazu beigetragen, dass der Finanzbereich als wesentliche Funktionsbedingung der Wirtschaft zur Drehscheibe einer unkontrollierten Kapitalmacht mit undurchsichtigen Geschäften und zügellosen Kreditvergaben geworden ist.
In der Tat, wir haben es heute mit einem bedeutenden Einschnitt in der Entwicklung des Kapitalismus, mit einer großen Instabilität des gesamten Systems zu tun. Die Zeit ist reif für eine neue Regulationsweise des Wirtschafts- und Finanzsystems ... Die Linken ... sollten mit Nachdruck in der Öffentlichkeit auf einen radikalen Kurswechsel zu einer staatlichen Regulierung drängen, in der nicht die mächtigsten Konzerne die Richtung bestimmen und die nicht auf der alten, überholten finanzkapitalistischen Grundlage beruht.“ (Gretchen Binus, Junge Welt, 17.10.08)
Die Professorin für politische Ökonomie des Kapitalismus billigt den Neoliberalen eine Leistung zu: Die „wesentliche Verbesserung der Kapitalverwertung“ will sie nicht bestreiten, rechnet aber einen größeren Negativposten dagegen: die geplatzte Spekulationsblase. Angesichts ihres nationalökonomischen Misserfolgs erweist sich die neoliberale Regulierung als historisch überholt. Die Linke muss gar nicht mehr sozial und idealistisch fordern, „die Zeit“ selbst verlangt nach Alternativen. Linke Regulation wird alles besser und den Kapitalismus stabiler machen, weil sie nicht auf die blamierten Banken und Konzerne hört, sondern auf die gewerkschaftliche Vertretung der Konzern-Beschäftigten, die auf den Erfolg ihrer Firma in der Konkurrenz und auf den Erfolg Deutschlands auf dem Weltmarkt setzen.
Sahra Wagenknecht lässt für einen Zeitungsbeitrag alle finanzökonomischen Komplikationen weg und reduziert ihre Krisentheorie auf einen leicht kommunizierbaren Kern: Staatlich geförderte Raffgier und soziale Rücksichtslosigkeit verursachen eine national-ökonomische Katastrophe.
„Letztlich ist die aktuelle Finanzkrise nichts anderes als das Resultat neoliberaler Umverteilung: Durch die Senkung von Unternehmens-, Vermögens- und Spitzensteuersätzen sowie eine Politik des Lohn- und Sozialdumpings sind jene Rekordgewinne entstanden, die anschließend auf den Finanzmärkten auf der Suche nach immer höheren Renditen verspekuliert wurden.“ (Junge Welt, 15.10.08)
Die unsoziale Umverteilung bringt den Kapitalisten Rekordgewinne. Das ist ungerecht. Mindestens genauso schlimm aber ist, dass sie in ihrer Gier mit ihrem Reichtum nichts Besseres anzufangen wissen, als ihn zu verzocken, und dadurch das Gemeinwesen – und sich selbst! – schädigen. Selbstverstümmelung darf der Staat nicht zulassen; zumal Abhilfe so nahe liegt:
„Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Umverteilung zugunsten der Beschäftigten, der Rentnerinnen und Rentner sowie der Arbeitslosen auch das beste Mittel ist, um zukünftigen Finanzkrisen vorzubeugen.“ (ebd.)
Das ist mal ein überzeugendes kommunistisches Argument für eine bessere Entlohnung der arbeitsamen Armen: Sie bewahrt das Finanzkapital vor Überspekulation, glättet die Konjunktur und befördert die Stabilität unserer Ordnung. Die Jungle World bietet diesen schönen Gedanken noch einmal ganz kindgerecht:
„Wird den Kapitalisten zu viel Freiheit gelassen, untergraben sie die Grundlagen ihres Wirtschaftssystems. Sie verhalten sich wie kleine Kinder vor einem Eisstand. Ein Vierjähriger will unbedingt alle Kugeln probieren und von seiner Lieblingssorte gleich fünf Kugeln essen. Wird ihm der Wunsch gewährt, verdirbt er sich den Magen. Kommt er ein paar Tage später noch einmal an den Eisstand, erinnert er sich zwar an die Bauchschmerzen, aber da ist das viele Eis, und schon will er wieder alle Kugeln haben. Jemand muss dafür sorgen, dass er nur drei Kugeln bekommt. Das Kind mault, insgeheim aber ist es sogar dankbar, denn es ahnt, dass es sich selbst nicht vor den Bauchschmerzen bewahren könnte ... Die Kapitalisten würden maulen, wären aber insgeheim sogar ein bisschen dankbar, denn sie ahnen, dass sie als Klasse mit unbeschränkten Freiheiten unfähig sind, die Wirtschaft zu stabilisieren.“ (Jörn Schulz, Jungle World, 39/2008)
„Auf kurze Sicht haben die Lohnabhängigen von einem Zusammenbruch des Finanzsystems nichts zu gewinnen, denn das würde das Ende des Kredits bedeuten. Und das Ende des Kredits bedeutet die Unmöglichkeit, die realen Aktivitäten der Produktion von Gütern und von Dienstleistungen zu finanzieren, also eine dramatische Beschleunigung der sozialen Krise. Es gibt daher keinen prinzipiellen Grund, sich der Rettung der Banken zu widersetzen.“ (Cédric Durand, Ligue Communiste Révolutionaire, in Junge Welt, 29.10.08)
So ist das mit den revolutionären Kommunisten: Sie sehen sich als Vertreter der gar nicht revolutionären Lohnabhängigen. Und „Lohnabhängige“, die es bleiben wollen, haben vom Zusammenbruch des Finanzsystems nichts zu erwarten als Krise und Arbeitslosigkeit. Also richtet ihr politischer Fürsprecher vor allem an andere Linke die Botschaft, dass die Rettung der Banken auf kurze Sicht ein echtes Arbeiterbedürfnis ist. Er behauptet dabei nicht, dass Arbeiter und Angestellte an den Erfolgen der Banken beteiligt, Nutznießer vergebener Kredite oder Teilhaber der Erträge der „Realwirtschaft“ wären, die bei ihm Güterproduktion heißt. Der Erfolg der übergeordneten Interessen geht die Lohnabhängigen nichts an, deren Misserfolg aber bekommen sie zu spüren. Und wegen dieser negativen Abhängigkeit macht sich der Linke aus Frankreich für die Genesung der Banken stark. Erster Programmpunkt seiner Revolution ist die Wiederherstellung der kapitalistischen Normalität.
Die Gemeinsamkeit des revolutionären Anliegens mit Merkel und Steinbrück hat freilich Grenzen. Schon wird ein „‚Bündnis gegen Bankenmacht‘ aus Mitgliedern von attac, GEW, IG Metall, Die Linke, Frankfurter Sozialbündnis, Antinazikoordination, DKP und anderen“ geschmiedet, das den Mächtigen auf die Finger schaut. Denn die blamierten neoliberalen Eliten, die jetzt heuchlerisch die Parolen der Linken – Regulierung, Kontrolle, „größere Rolle des Staates in der Wirtschaft“ – übernehmen, sind schon wieder dabei, mit der zweifellos nötigen Rettung der Banken auch ihre Privilegien und die des Groß- und Finanzkapitals zu retten. Dabei hat es jetzt um die Rettung des Kapitalismus im Interesse der Armen zu gehen, nicht im Interesse der Kapitalisten.
Die üblen Absichten der Regierungen erkennt die Linke schon daran, wie viel Geld diese über Nacht für die Banken mobilisieren, während sie bei Sozialhilfeempfängern jeden Cent einsparen und behaupten, leere Staatskassen würden das verlangen.
„Regierungen der EU konnten über 1.600 Milliarden Euro für die Banken locker machen, dabei fehlt seit Jahren zur Lösung existenzieller Krisen das Geld (Armut, Hunger, ökologische Katastrophe).“ (attac Flugblatt, 30.10.08)
Die existenziellen Krisen, die ihnen am Herzen liegen, nehmen die EU-Regierungen nicht ernst, aber für Banken tun sie alles! Die Linke traut der politischen Macht die Freiheit und die Pflicht zu einer gerechten Zuteilung der Ressourcen zu und sieht diese Pflicht durch die Bevorzugung der Banken verletzt. Den Unsummen, die die Regierungen einsetzen, entnimmt sie nicht, wie existenziell die Krise des Kapitalismus, die sie selbst beschwört, für seine politischen Hüter ist und wie alternativlos seine Rettung. Umgekehrt beweist ihnen der hohe Einsatz, dass das Geld, von dem die Mächtigen immer behaupten, es sei nicht da, die ganze Zeit da gewesen ist und für bessere Ziele hätte ausgegeben werden können. „Ohnehin wird deutlich, dass die ganzen Behauptungen, für Soziales wäre kein Geld da, nicht glaubwürdig waren.“ (Die Linke, Flugblatt, 19.10.08)
Tatsächlich war das Geld nie da und ist auch jetzt nicht einfach „da“. Die Regierungen stiften den Banken frisches Kapital und übernehmen Bürgschaften, die, wenn sie dafür eintreten und zahlen müssen, jeden Staatshaushalt sprengen und die Staatsverschuldung auf ganz neue Niveaus heben. Die Euro-Staaten opfern die Solidität ihrer Haushaltsführung, setzen ihre ganze Finanzkraft und die Wucht ihres Gemeinschaftsgelds ein, weil sie eine Systemkrise abzuwenden haben. Das lässt sich von den existenziellen Krisen der Hartz-IV-Empfänger eben nicht sagen; deren Armut schafft und braucht das System, sie gefährdet es nicht. Das linke Urteilsvermögen, das unerschütterlich in Kategorien der Verteilungsgerechtigkeit denkt, verkennt die Systemfrage als Frage einer – politisch falsch gesetzten – Priorität bei der Verteilung frei verfügbarer staatlicher Mittel. Die Bankenrettung belehrt es denn auch nicht über die Unverträglichkeit der Erfordernisse dieser Ordnung mit den Interessen der arbeitenden und arbeitslosen Mehrheit, sondern umgekehrt: Soziale Härten wären in dieser Gesellschaft eigentlich unnötig, in der es von dem schönen Geld übergenug gibt, das man wohltätiger Verwendung zuführen könnte.
In diesem Sinn, man glaubt es kaum, entwickelt die Linke politische Fantasie, Vorstellungen und Vorschläge, wie auch noch die Sanierung des Finanzkapitals sozial, gerecht, demokratisch abzuwickeln wäre; z.B. folgenden harmonischen und eleganten Weg aus der Finanzkrise, der den Banken und zugleich ihren Opfern, den bankrotten Hypothekenschuldnern, gut bekäme.
„Es gibt Alternativen zu diesem (amerikanischen) Rettungsplan. Etwa, indem man darauf verzichtet, den Banken, die unverantwortlich spekuliert haben, die faulen Kredite abzukaufen. Der Staat sollte vielmehr denjenigen, die auch nach einer solchen Aktion noch in der Bredouille wären, unter die Arme greifen – nämlich den hoch verschuldeten Häuslebauern. Wenn die subventioniert würden, könnten sie ihre Kredite bezahlen und ihr Haus behalten.“ (Junge Welt, 1.10.08)
Das ist der Königsweg: Die überschuldeten Häuslebauer werden vom Staat in Stand gesetzt, ihre Schulden zu bedienen. Dann dürfen sie in ihren Behausungen bleiben, die Banken bekommen indirekt doch das Geld, das der Staat ausschüttet, und wenn die Schulden wieder bedient werden, kann sich vielleicht auch das gewaltige ABS-Kredit-Gebäude erholen, das auf ihrer Basis errichtet wurde. Hätte Bushs Finanzminister sich mal deutsche Linke in den Beraterstab geholt. Die hätten ihm noch mehr Gründe sagen können, warum er den Banken das Geld nicht einfach so geben darf:
„Das US-Beispiel zeigt, warum die Billionenhilfe vergebens war: Die Banken nutzen die Staatszuschüsse zum Stopfen ihrer Bilanzlöcher, anstatt damit Kredite an Privatleute und Unternehmen zu vergeben.“ (Jürgen Elsässer, Neues Deutschland, 24.10.08,)
Man muss die Banken zwingen, ihre Löcher ungestopft, fällige Zahlungen unbezahlt zu lassen und stattdessen reichlich neuen Kredit zu vergeben. Das ist linke Staatskunst.
Die sorgt zudem für Gerechtigkeit, indem sie die Kosten der Bankenrettung auf alle Schultern verteilt und auch die Reichen in die Pflicht nimmt. Das Mindeste ist eine „sofortige Belastung der Millionäre durch eine Millionärssteuer“. An ihrer Höhe entscheidet sich linke Radikalität: Soll der Staat 1,5, 2,5, 5 oder 10 % vom Vermögen wegnehmen? Da heißt es kalkulieren: Gerät die Forderung zu hoch, blamiert sie sich als unrealistisch; ist sie zu niedrig, wird sie womöglich vom Bundeskabinett links überholt. Auch ein moralischer Ausgleich ist den Reichen abzuverlangen. Der wird bestimmt das Finanzwesen retten, und wenn nicht, wenigstens den Gemeinsinn. „Mindestens ein Jahr lang sollten sie unter den Bedingungen von Hartz IV leben. Dann würden sie am eigenen Leib spüren, wie es ist, wenn man vor der Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung überlegen muss, ob man sich die Straßenbahnfahrt dorthin leisten kann.“ (G. Lang, Bündnis gegen Bankenmacht, 1.11.08)
„Weil es seit Mitte der achtziger Jahre kaum noch offensive Klassenkämpfe gab, konnten die Konzerne sich einen immer größeren Teil des Mehrwerts aneignen, wussten aber nicht, was sie mit dem vielen Geld anfangen sollten. Es folgten verschiedene Anlagehypes, mittlerweile ist der Finanzmarkt so komplex geworden, dass viele Banker zugeben, selbst nicht mehr durchzublicken.“ (Jörn Schulz, jungle-world, 39/08)
Sieh mal an: Mit offensiverem Klassenkampf hätte man den Machern des Systems eine Menge Probleme erspart. Warum ist nicht längst jemand darauf gekommen, dass bei den Armen und den Arbeitskräften das Geld kapitalistisch funktionell besser aufgehoben wäre. Sie könnten sich der überschüssigen Geldfluten in einer Weise annehmen, dass die nicht noch einmal zu Überschwemmungen führen.
„Maßnahme Nr. 1 für diese notwendige Umkehr ist der Kampf der Gewerkschaften für eine kräftige Steigerung der Löhne und Gehälter. Auch weitere Forderungen zur Hebung des Einkommensniveaus vor allem der armen Schichten ... und zur höheren steuerlichen Belastung von Profiten, hohen Einkommen und Vermögen berühren stets auch die Frage der monetären Verfügensmasse von Kapital und Reichen und sind geeignet, einen Teil der überschüssigen Geldfluten trocken zu legen.“ (Conrad Schuhler, 9/08, Entwaffnet die Märkte)
Gesellschaftliche Kontrolle ist das Zauberwort, mit dem sich alles Schlechte des Kapitalismus zum Guten wenden lässt. Bankkrise und Fehlspekulation hätte es nie geben können, wenn ehrliche Geschäfte unter dem wachsamen Auge der Gesellschaft abgewickelt worden wären. Wie weit die gesellschaftliche Kontrolle reicht und wer „die Gesellschaft“ vertritt, die das Mandat zur Kontrolle hat, darin unterscheiden sich die linken Ideen wieder. Forderungen von Rudolf Hickel, der gerne in den Sachverständigenrat der Bundesregierung aufrücken würde, liegen realistisch nahe bei deren Projekten. Immerhin findet er für die Regulierung der Rating-Agenturen, die Merkel will, eine überaus volkstümliche Formulierung:
„Wir brauchen eine strenge Regulierung. Für Finanzprodukte selbst sollte gelten: Wer als Bank diese Hypotheken basierten Wertpapiere auflegt und weltweit verkauft, muss davon mindestens 20 % selber halten. Da dürften viele sehr vorsichtig werden. Schließlich: wir brauchen einen TÜV. Warum werden Nahrungsmittel kontrolliert, marode Finanztitel aber nicht?“ (R. Hickel, Freitag, 26.9.08)
„Wir“, dieses nationale Gesamtkollektiv, wir brauchen einfach Finanzprodukte mit der TÜV-Plakette; dann geht’s uns besser. Schön, es geht auch radikaler: Die Linkspartei fordert zusätzlich zum TÜV eine Kontrolle des Investmentbanking und zwar eine strenge.
„Gewährleistung ausreichender und zinsgünstiger Kreditversorgung ... speziell für kleine und mittelständische Unternehmen; weitgehende Beschränkung der Aktivität von Banken auf das Einlagen- und Kreditgeschäft; harte Spielregeln; dauerhaftes Verbot von Leerverkäufen; Zurückdrängung und strenge Kontrolle des Investmentbankings, öffentliche Aufsicht von Ratingagenturen, Finanz-TÜV.“ (Die Linke, Parteivorstandsbeschluss, 29.9.08)
Öffentliche Ratings, die diejenigen Finanzgeschäfte mit AAA als superzuverlässig ausweisen, die „wir“ Linken haben wollen – zum Beispiel Kredite an mittelständische Kapitalisten. Das wär’s doch! Nein, sagt die noch radikalere DKP. Sie sieht „die Aussagen des 2006 beschlossenen Parteiprogramms in dramatischer Weise bestätigt“ und sich durch den Ernst der Lage zu umstürzenden Reformen aufgerufen: Als Sofortmaßnahme will sie den Status quo erhalten: „Sicherung der Sparkassen, öffentlichen Banken und des Gemeinschaftswesens vor Privatisierung.“ (Erklärung der DKP, 29.10.08) Sodann peilt sie die Vergesellschaftung der Privatbanken an. Banken in Volkes Hand! Zins- und Spekulationsgeschäfte im Interesse der Arbeiterklasse! Mein Gott, das ist Kommunismus!
[ 1 ] Altvater und Bischoff berufen sich auf die ökonomische Kategorie ‚fiktives Kapital‘, die bei Marx allerdings keineswegs Einbildung im Gegensatz zu wirklichem Vermögen bedeutet, sondern eine bestimmte Sorte Kapital charakterisiert. Bei diesem wirft nicht eine gegebene, für Produktion und Handel ausgelegte Geldsumme durch die Ausbeutung der Lohnarbeit einen Zuwachs ab; beim ‚fiktiven Kapital‘ entsteht umgekehrt die Stammsumme aus einer Hochrechnung oder ‚Kapitalisierung‘ erwarteter Erträge, aus welcher Quelle diese Erträge auch immer stammen mögen. Derartige Rechtstitel auf Zuwachs werden im Finanzsektor zur Ware gemacht, gehandelt und bekommen dabei einen Preis. So ergibt sich der Kurswert einer Aktie aus der Konkurrenz der Käufer und Verkäufer um den Besitz des Anrechtsscheins auf eine – ungewisse – zukünftige Dividende; der Kurswert eines festverzinslichen Wertpapiers ergibt sich aus seiner geschätzten Sicherheit sowie der Höhe des Zinses im Vergleich zu anderen Geldanlagen. In der Welt des Finanzkapitals sind zukünftig einzulösende Verwertungsversprechen oder Anrechtstitel auf einen Teil zukünftig auszuschüttender Gewinne aktuelles Vermögen, Schulden sind da Kapital. Fiktiv ist dieses Kapital insofern, als es nur in der Form des Preises eines Wertpapiers existiert: Die Aktie z. B. gilt zwar als Eigentumstitel auf eine Firma, hat mit dem in der Firma investierten und sich dort verwertenden Kapital aber nichts zu tun, sondern existiert selbstständig neben ihm und führt getrennt von der Firma ihr Eigenleben; der Wert aller Aktien einer Firma – ihre Börsenkapitalisierung –, hat nichts zu tun mit dem Wert des in ihr engagierten Kapitals. Das fiktive Kapital ist eine spekulative Größe, schließlich werden erwartete, keineswegs sichere Erträge als Zins betrachtet, aus dem man das Kapital hochrechnet, das ihn abwirft. Sein Wachstum kommt daher unter der stets skeptischen Prüfung der Zuverlässigkeit und Haltbarkeit der Renditeversprechen zustande; Wertpapiere werden an den Börsen täglich neu bewertet, sind also von schwankendem Wert. Der Geldwert aber, der durch ihren Verkauf erlöst oder auf ihren Besitz hin geborgt wird, ist so „echt“, wie er nur echt sein kann. Und wenn er in der Krise zerstört wird, weil sich das Geldkapital in problematische Schulden zurückverwandelt, in die keiner mehr investieren will, die vielmehr auf einmal zurückbezahlt werden müssen und nicht zurückbezahlt werden können, dann geht kapitalistischer Reichtum und wirkliche Geldmacht kaputt. Das immerhin steht bei Marx zu lesen: „Dies fiktive Geldkapital ist in Krisen enorm vermindert und damit die Macht seiner Eigner, Geld darauf im Markt aufzunehmen. Die Verminderung der Geldnamen dieser Wertpapiere im Kurszettel hat jedoch nichts zu tun mit dem wirklichen Kapital, das sie vorstellen, dagegen sehr viel mit der Zahlungsfähigkeit seiner Eigner.“ (Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, S. 510)
[ 2 ] Sarah Wagenknecht macht diese Gleichsetzung von Finanzerträgen mit Zinsansprüchen an die übrige Wirtschaft übrigens nicht mit und unterscheidet zwischen „realen und fiktiven Finanzeinkommen“, deren jeweilige Quellen sie bestimmt: „Reale Finanzeinkommen beruhen auf der Umverteilung realer Wertschöpfung, also auf Werten, die außerhalb des Finanzsektors entstanden sind.“ Sie erwähnt von Industrie und Handel gezahlte Zinsen und Dividenden. „Im Gegensatz zu den realen liegen den fiktiven Finanzeinkommen keinerlei realwirtschaftliche Vorgänge zugrunde, sie entstehen vielmehr durch spekulative Finanztransaktionen oder reine Luftbuchungen ... Tatsächlich war ein derart explosives Wachstum des Finanzsektors und der Finanzvermögen nur möglich, weil die heutigen Finanzmärkte die Eigenschaft besitzen, aus eigener Kraft und in nahezu unbegrenztem Umfang Einkommen und Vermögen zu erzeugen, denen keinerlei Käufe und Verkäufe realer Güter zugrunde liegen, sondern, genau besehen, reine Luftbuchungen.“ (l.c. S. 127 ff.) Die Unterscheidung hilft aber gar nichts, wenn bei den finanzkapitalistischen Einkommen und Vermögen dann doch nur an Fiktion, Luftnummer und Blase gedacht wird, die nicht anders kann als platzen; und nicht an die Macht dieses Sektors, seine „Luftbuchungen“ als Geldkapital wirken und zirkulieren zu lassen.
[ 3 ] Gretchen Binus drückt mehr auf diese Seite des Missverhältnisses. Sie bescheinigt der jahrzehntelangen Politik der Lohnsenkung und der Liberalisierung des Arbeitsmarkts kontraproduktiv gewesen zu sein. Die Politik der Verarmung breiter Schichten habe zwar die Renditen der Unternehmen gesteigert – und darum geht es ja wohl im Kapitalismus –, aber auf eine Weise, die die Produktion von Massengütern weniger rentabel gemacht und dadurch das Wachstum der Produktion beschädigt habe – als ob die Produktion Zweck der kapitalistischen Wirtschaft wäre. „In der Konsequenz bot die dadurch beschränkte kaufkräftige Nachfrage für die gestiegenen Gewinne der Konzerne in der Realwirtschaft keine profitablen Aussichten mehr. Es kam zu einer Überakkumulation von Geldkapital. Riesige Geldmengen vagabundierten auf den Finanzmärkten.“ (Gretchen Binus, Weichen umstellen!, Junge Welt 17.10.08)
[ 4 ] Neben und mitten hinein in die Philippika gegen das Finanzkapital, das mit seinen Renditeansprüchen die reale Wertschöpfung überfordere und schwäche, setzt Altvater die entgegensetzte und so ebenfalls verkehrte Behauptung: Krisen haben ihre Ursache stets in realer Überproduktion! Er hält diesen Satz wohl für orthodox und muss ihn im zitierten Artikel erwähnen, weil der doch dem Gedenken von Marx gewidmet ist.
„(Thema sind) die jüngsten Finanzkrisen von Argentinien bis zur Subprime-Krise in den USA. ... Die Krise ist also Überproduktion (zurückbleibende Massennachfrage) und Überakkumulation (sinkende Profitraten) geschuldet. Das ist eine der großen Entdeckungen von Marx – und auch heute kein Schnee von gestern. Die Krise findet ihren Ausdruck genau darin, dass es von allem zu viel auf der Welt gibt: zu viel chinesische Elektronik, zu viel Kamelhaarmäntel aus Nordafrika und Kaschmirpullover aus Indien, zu viele deutsche und US-amerikanische Autos, zu viel Rindfleisch aus Brasilien, zu viele Textilien aus Bangladesh und viel zu viel monetäre Liquidität der reichen Geldvermögensbesitzer auf den Konten in Frankfurt, London, Zürich und New York, die nach hochrentabler Anlage sucht. Die ‚Weltmarktungewitter‘ haben ihren Ursprung in der Produktionssphäre, ihre zerstörerische Kraft entwickelt sich heute aber vorrangig in der Finanzsphäre. Dabei scheinen die globalen Finanzmärkte von der Produktion entkoppelt. ... blendender Schein, Fetischismus von Geld und Kredit ...“ (Altvater, Nicht tot zu kriegen, Freitag 12, 20.3.08.)
Altvater handelt von Zusammenbrüchen im Finanzsektor und gibt – mit einem folgernden „also“ angeschlossen – ein Zuviel an nicht mehr absetzbarer Warenproduktion und ein Zuviel an Produktivkapital als Grund dafür an. Statt zu erläutern, wie diese Ursache diese Wirkung hervorbringt; mehr noch: wie die gegebene Wirkung (Finanzcrash) nur dieser Ursache (Überproduktion) geschuldet sein kann, zeichnet der Autor ein kindliches Bild dessen, worin sich die Krise ausdrückt: Und das sind eben nicht übermäßig viele Kamelhaarmäntel usw., sondern Kapital in Form von Waren, deren Verkauf keinen Profit mehr abwirft, und nicht mehr rentabel einsetzbares Geldkapital. Theoretisch ist man damit keinen Schritt weiter; anstelle eines Arguments wird die These in neuen Worten wiederholt: Ursprung in der Produktionssphäre, Entwicklung in der Finanzwelt. Wer noch immer nicht verstanden hat, bekommt gesagt, dass das auch kein Wunder sei: Die perfiden Finanzmärkte lassen nicht erkennen, dass sie bloß der Schwanz sind, mit dem die Realwirtschaft wackelt, sie „scheinen entkoppelt“ und benehmen sich auch so; sie sind es aber nicht – und das macht sie gefährlich. Über diese kleine Schleife findet Altvater, der ein vermeintliches Marx-Dogma unterzubringen hatte, ins Hauptfahrwasser seines Artikels zurück.
[ 5 ] Den linken Publizisten scheint der prinzipielle politische Gegensatz gegen die Rechtsradikalen selbst nicht mehr so klar zu sein. Von deren Kritik am Finanzkapital grenzt Altvater die seine mit einem moralischen System-Gedanken ab: „Darin steckt eine Gefahr, der man mit Marx begegnen kann. Denn im Alltagsbewusstsein bekommt der Finanzfetisch sehr oft eine Gestalt, zum Beispiel als ‚Heuschrecken‘, die im Schwarm über einen ‚Standort‘ herfallen und ganze Unternehmen samt Arbeitsplätzen auffressen. Mit diesem Bild wird nichts erklärt; es verdunkelt vielmehr grundlegende Zusammenhänge und erschwert eine Antwort auf die Frage, wie die globalen Finanzmärkte zu regulieren wären.“ ,,Richtig gefährlich wird der Fetisch der Finanzmärkte dann, wenn ihm ein Gesicht gegeben, wenn auf einmal zwischen ‚raffendem‘ und ‚schaffendem‘ Kapital unterschieden wird. Nur eine gründliche Kapitalismusanalyse ist in der Lage, die Beziehungen der scheinbar verselbstständigten Finanzmärkte zur realen Ökonomie von Arbeit und Produktion aufzuzeigen und den fetischhaften Schein ihrer Verselbstständigung kritisch zu hinterfragen.“ (Altvater, Nicht tot zu kriegen, l.c.)
Der Autor erinnert vage an die faschistische Praxis, die Raffgier von Geldleuten für den Niedergang des Vaterlands verantwortlich zu machen, sie als Volksfeinde zu denunzieren und als Volksfremde auszusondern – eine Kritik des Finanzkapitals, die auch wieder zufrieden ist, wenn der jüdische Bankier durch einen arischen an der Spitze des Geldhauses ersetzt wird. Altvater weist dieses Beschuldigen und Kriminalisieren zurück, aber nicht weil der Vorwurf der Versündigung eine Menge Hochachtung für den gemeinschaftsdienlichen Auftrag ausdrückt, den Finanzkapitalisten im Urteil der Nationalsozialisten haben, und weil ein marxistischer Professor sich diesem Urteil nicht anschließt. Nein, in dieser Hinsicht denkt er ebenso. Er selbst verschmäht ja nicht den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit an die „Finanzmarkt-Zocker“, die „auf Finanzanlagen erzielbare Erträge bedenkenlos in die Höhe schrauben“. Dieses Anprangern und Ausgrenzen verbietet er sich dann aber: Menschen anfeinden, das darf man nicht! Es ist der Fetisch, der die Maßlosigkeit zu verantworten hat; ihm darf man kein Gesicht geben, ihn nicht personalisieren! Die Akteure auf den Finanzmärkten sind nicht selbständig, wie es scheint, sondern auch nur Rädchen im Getriebe. Altvater bleibt auf der Ebene des moralischen Schuldvorwurfs, dem er selbst nicht so fern steht, und behauptet das Gegenteil: Eine allgemeine Entschuldigung aller Akteure mithilfe des Fetisch- und Systemgedankens, den er bei Marx gefunden haben will: Seine „gründliche Kapitalismusanalyse“ bewahrt ihn vor den Gefahren der faschistischen Ausgrenzung dadurch, dass er außer einem Fetisch gleich gar keine ökonomischen Bereicherungsinteressen und keine Subjekte mehr kennt, die diese Interessen betätigen.
Ein anderer Hansdampf in allen linken Blättern, Jürgen Elsässer, weiß überhaupt nicht mehr, was linke und rechte Kritiker des raffenden Kapitals einmal entzweit hat. In der fundamentalen Krise, die die Grundlagen der nationalen Wirtschaft bedroht, wird ihm der Unterschied zwischen dem Arbeitsvolk und dem Volk ganz unwichtig. Er gründet eine Volksfront zur Verteidigung des europäischen Kapitalismus gegen das anglo-amerikanische Finanzkapital. Auch am Verfolgungswahn, der zum nationalistischen Feindbild gehört, lässt er es nicht fehlen: Den Kollaps des Finanzsystems, der gerade in Großbritannien und den USA einigen Schaden anrichtet, stellt er als gezielte Machenschaft der dortigen Finanzaristokratie hin, um „uns“ zu beherrschen.
„1. Die Krisenanalyse der meisten Linken ist falsch, da sie das imperialistische Moment sträflich unterschätzt: Die aktuell einsetzende Depression ist Ergebnis eines bewussten Angriffs des anglo-amerikanischen Finanzkapitals auf den Rest der Welt. Dabei kommen ‚finanzielle Massenvernichtungswaffen‘ (Warren Buffet) zum Einsatz, die nicht aus Ausbeutung der Arbeitskraft (‚Überakkumulation‘), sondern aus ‚fiktivem Kapital‘ (Kapital, Dritter Band) munitioniert sind. Was wir bisher erlebt haben, waren erste Geplänkel mit diesen Waffen – der Hauptstoß steht noch bevor!
2. Bei der Abwehr dieses Angriffs spielt der Nationalstaat die entscheidende Rolle. Supranationale Koordinationen in Gremien, in denen die aggressiven Staaten und ihre Vertreter eine Rolle spielen (EU, G8, IWF usw.), sind für die Katz. Wichtig ist eine Koordination der angegriffenen Nationalstaaten.
3. In allen Staaten, auch in Deutschland, entwickelt sich ein zunehmender Widerspruch zwischen dem Industrie- und dem Bankkapital. Letzteres, eng mit den angloamerikanischen Angreifern verbunden, erdrosselt ersteres in einer Kreditklemme.
4. Hauptaufgabe der Linken ist der Aufbau einer Volksfront, die das national bzw. ‚alt-europäisch‘ orientierte Industriekapital einschließt. Die Reduktion auf Klassenkampf ist sektiererischer Unsinn.
5. Hauptaufgabe der Volksfront ist die entschädigungslose Nationalisierung des Finanzsektors und die Abdrängung der anglo-amerikanischen Finanzaristokratie aus Europa, in der Perspektive ein eurasisches Bündnis. Den Sozialismus, also den Stoß gegen das System insgesamt, zur Hauptaufgabe zu erklären, ist linksradikale Kraftmeierei bzw. ‚imperialistischer Ökonomismus‘ (Lenin).“ (Thesen für die Gründungsveranstaltung am 10.1.09 in Berlin)
Die NPD fühlt sich endlich verstanden. Wer aber noch nie verstanden hat, wie in den Jahren nach 1930 radikale Linke scharenweise zu den Nationalsozialisten überlaufen konnten: Elsässer führt vor, wie man das macht.
[ 6 ] Sie schreiben Bücher über „Fordismus“ und „Post-Fordismus“. Den Fordismus mögen sie. Mit der Erinnerung an Henry Ford verklären sie die Ära vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die Verbilligung der Arbeit für das Kapital durch fortschreitende fließbandmäßige Zerteilung der Arbeit und andere Rationalisierungsmaßnahmen einherging mit einer derartigen Expansion des Geschäfts, dass die freigesetzten Arbeitskräfte schnell wieder Beschäftigung fanden und die gezahlten Löhne allgemein stiegen. Die glückliche historische Konstellation, die es ohnehin nur in ein paar Industrienationen gab, betrachten sie wie eine die Klassen harmonisierende Methode der Akkumulation, die – begleitet und unterstützt durch Keynesianische Wirtschaftsregulierung – leider eines Tages ihre Potenzen erschöpft hatte, und von unsozialen Staatsführungen aufgegeben wurde. Der Post-Fordismus – der Fortschritt des Kapitals geht mit wachsender Arbeitslosigkeit und der Auflösung geregelter Arbeitsverhältnisse einher –, gilt ihnen auch schon wieder als eine Akkumulationsmethode und zwar eine sozial gesehen schlechte. Ihre Regulierung folgt dem falschen wirtschaftspolitischen Rezeptbuch der Monetaristen oder Neoliberalen. Mit Freude wird nun vermerkt, dass auch dieser unschöne, aber seit 30 Jahren historisch fällige Akkumulationstyp sich erschöpft hat.