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MSZ 1986 Ausgabe 5
Stichwörter: brd » Opposition » Linke |
Zu MSZ 2/86 - "Ordnung muß sein!" (Über aktuelle alternative Staatstheorie)
Ihr seid schon komisch: Da schreibt Ihr ein Buch, in welchem Ihr - zutreffend allemal - den Staat ableitet. Dann beklagt Ihr, daß sich sowieso keine Sau für den theoretischen Mist interessiert - und meint, mit Artikeln in der Weise von Schlaglichtern (MSZ 2/86: Wallmann-Artikel) sei das geleistet, was Ihr in der Einleitung zu Eurer Staatsableitung als Erschließen des Grundes der "aktuellen Kollision von Staat und Bürger" aus ihr selbst bezeichnet.
Und wenn dann schon mal ein paar klassenkämpferisch gesinnte Menschen wie Gremliza, Amendt, Ebermann daherkommen und die theoretische Debatte über den Staat, die ja immer auch Strategiedebatte ist, aufleben lassen - ja dann stülpt die MSZ dem ganzen Unterfangen die grüne Zipfelmütze über, und schon ist das garstige Urteil fertig: Ordnung muß sein!
Eure Verurteilung der Hamburger Debatte, die - nebenbei gesagt - alles andere als eine grüne Kungelei darstellte, unterschlägt nicht nur die unterschiedlichen Positionen der revisionistischen Teilnehmer; Euch wird doch noch der Unterschied zwischen Revisionisten vom Schlag Amendt/Gremliza auf der einen, Ebermann auf der anderen Seite geläufig sein. (Hierzu ein Hinweis für die MGler, die außer MSZ, "Titanic" und "Essen und Trinken" nichts lesen: Die Zeitschrift "Konkret" veranstaltet eine Diskussionsreihe; in Hamburg war Nr. 1 eine Veranstaltung mit dem Titel "Ist dieser Staat unser Staat?", zu der Amendt (DKP), Ebermann (GAL, früher KB), Schily (Grüne) und eine Susanne v. Paczensky (Frau, SPD) redeten.)
Daß Schilys Standpunkt mit dem von Ebermann identisch ist, wird von Euch durch die Zitierweise zwar suggeriert, aber wohl nicht im Ernst behauptet. Daß beider Standpunkt der der Ordnung ist, behauptet Ihr zwar; das beweisen aber nicht mal Eure Zitatcollagen. Ebermann, mit dem Eure Zitatensammlung beginnt, führte in der Debatte gerade nicht aus, was es mit den "Bewegungsmöglichkeiten" auf sich hat; hätte er's getan, wäre wohl ziemlich krauses Zeug herausgekommen - da teile ich Eure Meinung. Aber nie könnt Ihr ausgerechnet aus dem ersten Zitat eine Relativierung seiner Staatskritik ableiten. Gleiches gilt für das zweite Ebermann-Zitat mit dem Konsens: Geschenkt, daß sich der Staat in seinen Entscheidungen nicht vom Konsens der Untertanen abhängig macht - behauptet Ebermann auch nicht. Aber, und da ist Ebermann, der alte Kämpfer, doch ein Stück weiter als Ihr mit Eurer revolutionären Beamtenmentalität, die Ihr nicht eine betriebliche Auseinandersetzung anders als kommentiert habt: Ebermann will politisch eingreifen, er will Leute bewegen - nur so kann er dem Ziel der Kommune näherkommen; er weiß - und da kann man ihn lang und breit zitieren - daß der Staat zerschlagen werden muß (auch wenn "Konkret" das in Anführungszeichen setzt). Verrückterweise ist er ja mit dieser Absicht zu den Grünen gekommen - als wäre nicht der Fortschritt von der marginalen Existenz als Kommunist zum Mitglied dieser grünen Partei verbunden mit der theoretischen wie praktischen Relativierung seines Ausgangspunktes durch die Aufnahme der demokratischen Konkurrenz um die Macht.
Daß Ebermann kein korrektes Staatsverständnis hat, wird angedeutet in seiner Äußerung vom "Staat als konzentriertes gesellschaftliches Kräfteverhältnis" (von Euch zitiert); deutlicher wird er, wenn er über "Risse im Staatsapparat" (von Euch nicht zitiert) redet und hierfür den Offiziersaufstand in Portugal benennt. Natürlich ist Ebermanns Alternative - monolithisch oder rissig - blöd; das sind Bilder, die die Erklärung nicht ersetzen können. Ihre Intention ist klar festzumachen: Ebermann mustert die Welt nach Chancen für die Durchsetzung seiner geliebten Arbeiterklasse durch - und kommt, wie alle Revis, auf den Staat.
Und das genau ist der Unterschied zu Schily, den Ihr im Fortgang Eures Artikels zitiert, diesmal merkwürdigerweise mit Namensnennung: Für Ebermann soll der Staat Mittel sein, ihn abzuschaffen; Schily, der alte Rechtsverdreher, liebt seinen Beruf viel zu sehr, als daß er ihn mitsamt Staat abschaffen wollte. Eure Kritik ist unredlich, da sie diesen Unterschied unterschlägt. Dabei müßte Euch doch aufgefallen sein, daß Michael Stamm von der GAL vollkommen zutreffend gegen Schilys Wolfsnatur-Geschwalle Stellung nahm; daß Ebermann gerade das Schily-Wort, was Ihr ohne Kennzeichnung an den Schluß Eures Artikels gestellt habt - "luxurierende Kritik am Staat" -, als "unglaublich brutal" ablehnte.
Ich kann nicht glauben, daß Euch das nicht aufgefallen ist. Ihr insistiert auf der Identität der Resultate von Standpunkten, die offenkundig nicht herzustellen ist - wobei Ihr selbst die Unterschiede in den Standpunkten dem Leser unterschlagt. Schludrigkeit? Absicht? Beleidigt sein, weil man zu der Diskussion nicht eingeladen war? - Ich wähle die erste Möglichkeit, weil ich Euch immerhin als Analytiker, wenn schon nicht als Klassenkämpfer schätze.
N.D., Bonn
Was die von uns vernachlässigten Unterschiede in der Hamburger Debatte angeht, so hast Du ja nun ein paar "Differenzierungen" nachgereicht. In der Beantwortung der Frage, warum wir wohl säumig geworden seien, liegst Du allerdings schief. Auf die Sortierung der Positionen und die relative Ehrenrettung der einen oder anderen Mannschaft ist es uns schlicht und einfach nicht angekommen. Und zwar deswegen, weil wir angesichts dieser Debatte nur eines für wichtig hielten: zu zeigen, mit welchen Maßstäben sich heute die Leute ans Werk machen, die als Kritiker gelten. Dafür steht auch unsere "Zitierweise", die gar nichts "suggerieren" soll, sondern nur die Logik belegt, mit der so unerquickliche Streitereien inszeniert werden. Ein anderes Mal steigen wir schon wieder den einzelnen "Linien" nach und werden den ihnen eigentümlichen Fehlern und Zielsetzungen "gerecht". Im übrigen stellen die nun abgedruckten Argumente von Dir ja auch nicht gerade eine Rechtfertigung von Positionen dar, die - sobald man sie "näher" betrachtet - wunder was für sich haben. Daß Du mit Deiner Charakterisierung nichts von ihnen hältst, ist kaum zu übersehen. Leider läßt Du es damit nicht sein Bewenden haben. Gegen die Gemeinsamkeit der Abteilungen des politischen Verstandes, die sich da ans Fragen machten, führst Du schon noch einen relativen Vorzug an - getrennt von und zusätzlich zu den Befunden über die gebotenen "Theorien". Dem mögen wir uns nicht anschließen und sagen auch gleich, warum.
1. Der "Rechtsverdreher" verwandelt jeden gesellschaftlichen Gegensatz und seine politische Verwaltung in eine Frage des Rechts - teils in eine der Anwendung des geltenden Rechts, teils in solche der Maßstäbe, die er mit Verfassungsinterpretation etc. verwirklicht sehen will. Zur politischen Opposition zählt er sich, weil er dem Recht eine Eigenschaft anhängt, die es nicht hat: Er nimmt es als das Mittel aller möglichen Geschädigten und Zukurzgekommenen - und bisweilen zählen auch die "Verfassung", die "Demokratie" oder die "politische Kultur" zu den Leidtragenden. In Sachen Kritik bringt dieser praktizierte und durchau anerkannte Rechtsidealismus nur Unwahrheiten zustande, was die Gründe betrifft, die Bürger gemeinhin als"Mißstände" verstanden wissen wollen. Seiner ideologischen und praktischen Wirkung nach stellt dieses Verfahren des öffentlichen Einwands eine einzige Verpflichtungskampagne dar - und zwar auf die staatlich gesetzten Regeln, nach denen Ausbeutung und Imperialismus so erfolgreich abgewickelt werden. Was sich Schily seit seinem Aufstieg zum politischen Protagonisten so geleistet hat, dürfte Dir ja genauso stinken wie uns: Im Innern hat er dem Klassenstaat das Bedürfnis nach Saubermännern entgegengeschleudert, und sein außenpolitischer Nationalismus ist mit der Zuständigkeit des imnperialistischen Deutschland für Gott und die Welt recht zufrieden. Seine "Alternativen" haben den Standpunkt "unserer" Verantwortung stets in Ehren gehalten.
Daß ein gestandener Revisionist nicht dasselbe treibt, wolltest Du uns nun in Erinnerung bringen. Gut so. Umgekehrt erlauben wir uns jedoch, auf die handfesten Gemeinsamkeiten hinzuweisen. Wie geht denn die politische Kritik am Klassenstaat bei den langsam aussterbenden Jungs von der Stamokapfront? Ist da nicht der Staat "eigentlich" ganz in Ordnung? Wird er nicht mißbraucht, durch die Reichen und für ihren Profit? Gehört nicht zum Revisionismus seit jeher die ätzende Vorstellung, ein konsequent angewandtes Grundgesetz wäre ein einziges Bollwerk gegen die Ausbeutung in der Fabrik und anderswo? Wer will denn immer alles noch gerechter verteilen, und wer will denn den "Kampf um Rechte" immer wieder aufpolieren? Noch dazu mit dem sagenhaften Argument, daß das erst einmal günstig zurechtgekämpfte Recht eine erträgliche Bedingung wäre - für die Opfer des Rechts und ihren Kampf!
Kurz - die Identität beider Linien giht es durchaus. Staat und Recht gelten ihnen als Bedingung="Chance" = Hebel!
2. Diese Gemeinsamkeit bildet dann auch die Grundlage für den ach so fruchtbaren Diskurs zwischen den Lagern. Wir, denen Du das Kompliment verabreichst, über den Klassenstaat Bescheid zu wissen, finden diese Debatte abgeschmackt - und das hätten wir als Kritik an der ominösen Frage auch dem Kongreß in Hamburg zu erzählen gewußt: "Ist der Staat unser Staat?" wird ja nicht gefragt, um zu klären, wie das Verhältnis von Staat und seinen Bürgerabteilungen geht. So rätseln Leute herum, die sich um ihren Staatsladen Sorgen machen, weil sie nie ein objektives Urteil suchen, sondern mit der Bedingungs- und Chancenlogik anfangen. Und da ist es allemal konsequent, wenn statt Erkenntnissen lauter Bekenntnisse ausgetauscht werden. Der Unterschied zu uns liegt deshalb auch nicht darin, daß die Diskutanten von Hamburg fürchterlich praktisch sind, wir hingegen nur schlau. So praktisch wie die sind wir schon 20 Jahre lang und das Kompliment, die wollten "politisch eingreifen", "Leute bewegen" unterschlägt das Wie und Wozu!
3. Vielleicht wunderst Du Dich, zu hören, daß wir es nicht für "verrückt" halten, sondern für konsequent, wenn Revisionisten bei Grünen antanzen, um mit ihnen über "Strategie" zu streiten. (Vgl. dazu MSZ 3/1985) Der Opportunismus, der sich hier zu schaffen macht, setzt die Bedingungslogik in Sachen Staat nur fort. Das bißchen revisionistischer Arbeiterkampf "berücksichtigt" halt sehr gern die Kräfteverhältnisse, die "wirklichen"; entdeckt "Bedingungen" fürs "politische Eingreifen", fürs "Bewegenwollen" in jeder Bewegung, die sich bewegt. Daß dem "Erfolgskriterium" der politische Inhalt geopfert wird, daß aus vielen Ex-Revis gestandene Friedensmenschen geworden sind, macht da gar nichts. Man ist ja wo dabei, wo was läuft - und kann rückblickend die "Krise des Marxismus" ausrufen, von dem man nie sonderlich viel verstanden und gehalten hat. Und sich den Ehrenbutton umhängen, furchtbar praktisch zu sein und sich an Wahlkämpfen zu begeistern.
Warum wir Dir das erzählen? Weil Du Dich dieser Tour des Ersatzes von Klassenkampf durch Wahlkampf zumindest in dem Vorwurf an uns anschließt, wir würden nur"kommentieren". Wie sollen Marxisten denn sonst Arbeiter, die ebenso politisiert denken wie brav Schaffen, auf die Notwendigkeit bringen, die Bande davonzujagen - als durch korrekte Erklärungen über Politik und Kapital, Wahlen und Lohnarbeit? Daß aus unseren Zeitungen kein Kampf wird, liegt weder daran, daß wir sie zu knapp verteilen und den chinesischen Imperativ unserer Revi-Freunde aus vergangenen Tagen meiden. Noch daran, daß wir die Hamburger "Strategie-Debatte" geschwänzt haben. Wenn den Marxisten einiger Mißerfolg in diesem unserem Lande beschieden ist (und anderswo), so geht nämlich nicht daraus hervor, daß sie i m Unrecht sind und sich einfach etwas anderes vornehmen als das, was sie eingesehen haben...
Oder, um es ganz deutlich zu sagen: Du schätzt uns nicht "als Klassenkämpfer", obwohl Du weißt, daß wir als einzige überhaupt noch organisiert für Klassenkampf eintreten. Und die anderen, die sich von solchen Geschichten längst verabschiedet haben, kriegen Deine Anerkennung? Mit welcher Begründung eigentlich außer der, daß sie "was machen", halt bloß verkehrtes Zeug?
4. Welchen Widerspruch Du ganz nebenbei an M. Stamm studieren kannst. Wenn unser alter Freund wieder einmal was Richtiges verlauten läßt - und das kommt oft vor -, freuen wir uns jedes Mal. Uns fällt bloß auf, daß er es gegen die Szene und Bewegung tut, in der er sich zu schaffen macht. Seine Agitation steht zu seiner politischen Umwelt nicht nur in dem Verhältnis einer Kritik von anderen, verkehrten Anschauungen, die er zu korrigieren versucht. Vielmehr hat es der gute Stamm mit Leuten zu tun, die sein Wissen nie mehr brauchen werden in diesem Leben, weil sie erklärtermaßen auf einen anderen Zug aufgestiegen sind. Die meisten wollen doch gar nicht wissen, wie Politik und Kapital gehen, weil sie sie - bedingt, wie es sich für kritische Demokraten gehört - schätzen. Und das reicht nicht nur für eifrige Einmischungsversuche in die demokratische Konkurrenz um die Macht (die Du ja mißbilligst), sondern auch für manche saftigen Antikommunismen.
Betrifft: MSZ Nr. 3/4 1986 "Recht und Moral vor den letzten Fragen"
Zu Ihrem Beitrag:
1. Entgegen Ihrer Ansicht sind Leben, Sterben und Gehurt keine ‚Grenzfragen' oder gar ‚letzte Fragen' des menschlichen Daseins, sondern notwendige und wesentliche Bestandteile menschlicher Existenz.
Sie folgen der christlichen Ethik, die diese letzten Dinge mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt hat.
Danach darf sich der Mensch selber keine Gedanken über diese Fragen machen, sondern muß die Lehren der geoffenbarten Religion und ihrer Vertreter in Kirche und Staat widerspruchslos übernehmen. Schon gar nicht darf er sich das Recht herausnehmen, selber darüber zu bestimmen, da es ja dem profanen Gebrauch der ‚WELT' entzogen ist und somit ‚heilig' ist.
Nur die, nach HEGEL u. a. selber heilige hzw. göttliche Institution ‚STAAT' darf diese Fragen per Dekret ihren Untertanen vorschreiben. So muß sich notgedrungenerweise auch die Jurisprudenz (BVerfGer.) damit beschäftigen. So wird wieder einmal ein menschlicher Bereich juristisch kriminalisiert (vgl. Paragr. 218 StGB u.a.m.), obwohl es Fragen der religiösen Ethik und nicht von Schuld und Sühne im juristisch-kriminalistischen Sinne sind.
2. Daß, wie Sie treffend erkannt haben, die BRD in Art. 2 Abs. 2 ihres Grundgesetzes das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert, ist richtig. So heißt es weiter, daß die ‚Freiheit der Person' unverletzlich sei und daß in diese Rechte nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Dies halte ich für einen eklatanten Widerspruch, denn wenn etwas UNVERLETZLICH ist, darf es auch ein Gesetz nicht abändern oder gar de facto beseitigen.
Ich bin deshalb dafür, diesen 3. Satz des Abs. 3 ganz zu streichen, da er widersprüchlich und somit überflüssig ist.
3. Da jeder Mensch das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit hat, ist er auch berechtigt, über Zeugung, Geburt und den eigenen Tod selbst zu entscheiden. Ein BRDigungsinstitut mit einem ‚staatlichen Anspruch auf das Leben seiner Bürger von der Wiege bis zur Bahre' ist mit humanistischer Ethik nicht vereinbar. Deshalb ist ‚Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten und - obrigkeitlich geförderten'- Unmündigkeit="(1." KANT).
4. Das von Unionschristen und reaktionären Kräften jeder Schattierung geäußerte Argument, das ‚Leben schützen zu wollen', ist scheinheilig und unglaubwürdig. Vielmehr geht es ihnen neben bigotter Selbstdarstellung um die Macht über ‚unsterbliche Menschenseelen', egal ob im Mutterleib oder anderswo dahinvegetierend.
Es ist zutiefst widersprüchlich, nur Anfang und Ende des Lebens schützen zu wollen. Wenn dies jemand aus einem christlichen Weltverständnis her tun will, muß er auch das dazwischenliegende eigentliche Menschenleben schützen.
Willkürliches Einsperren in Gefängnisse und ‚Irrenhäuser', Verhaltensmaßregelungen durch eine undurchdringliche Bürokratie, Armut und Massenarbeitslosigkeit, Entfremdung in Familie und Arbeit, Tötung in ‚gerechten' oder gar ‚heiligen Kriegen', massive Gewaltanwendung durch Polizei und Militär, Bespitzelung durch Geheimdienste, Mauern und Stacheldrähte an ‚Friedensgrenzen', das alles wären Aufgaben für den, der vorgibt, das Menschenleben ‚schützen' zu wollen.
Doch das bleibt mit Gottes Segen bis zum besseren Jenseits der ‚ganz normale Wahnsinn'.
K.W. B., Nürnberg
Ihre Absicht, die Menschheit vor den rechtlichen und moralischen Anschlägen von Kirche und Christenpolitikern retten zu wollen, in allen Ehren. Bloß:
1. Die Ironie im Titel "Letzte Fragen" haben Sie glatt übersehen und unserem Artikel partout nicht entnehmen wollen, daß wir uns ziemlich ethikfeindliche Gedanken gemacht haben, warum und wie Kirche und Politik (die Justiz eingeschlossen, die ja nun alles andere als ein Opfer der politischen Interessen, vielhr ihr Diener ist) die geistige und wirkliche Macht über Leben und Sterben beanspruchen und durchsetzen. (Daß wir lauter Tabus brechen, wollen wir gar nicht erst behaupten; das ist denn doch zu einfach!) Das liegt daran, daß Sie von Ihrem Glauben an Recht und Moral - ein besseres und eine ehrlichere - nicht lassen wollen. Die gesetzlichen Vorschriften, wie man es mit Abtreibung, Sterbehilfe usw. zu halten hat, sind Ihrer Auffassung nach eine ungebührliche Bevormundung eines an sich aufgeklärten und selbständigen Bürgers und eine Vergewaltigung des Rechts durch ihm wesensfremde kirchlich-ethische Staatsgewalt, letzteres ist eine gutgläubige Täuschung über das Recht.
2. Das Grundrecht auf Leben, Unverletzlichkeit... samt seinen Zusatzbestimmungen ist kein Widerspruch, der sich einfach dadurch auflösen läßt, daß man den ungeliebten Zusatz beseitigt; der ist nämlich alles andere als überflüssig, er ist der Witz, der dem hehren Hauptparagraphen seinen rechtlich einwandfreien Sinn gibt: Die gnädige Erlaubnis zum Leben, Personsein usw., die der Staat da seinen Bürgern verpaßt, verbietet nämlich nur denen, sich an diesen Rechtsgütern zu vergehen. Sich selbst aber gesteht er ‚ausnahmsweise' jeden Eingriff zu, der ihm nötig erscheint. Wie immer, wenn es um Rechte und Pflichten geht, entspringen beide Seiten dem staatlichen Anspruch, sich die Entscheidung darüber vorzubehalten, was seinen Rechtsuntertanen zusteht. Er bestimmt mit ihren Freiheiten auch deren Grenzen - Unversehrtheit und Leben eingeschlossen. Wenn es nicht ums Verbieten und um die Sicherung staatlicher Rechte gegen Bürgeransprüche ginge - er müßte ihnen ja wohl nichts erst erlauben. Das Recht prinzipiell hochzuhalten, die Pflicht aber als Verstoß gegen das Prinzip streichen zu wollen, das ist zwar menschenfreundlich gedacht, aber wenig ‚aufklärerisch' gegenüber Grundgesetz und Verfassung.
3. Die Pflicnt verschwindet bei Ihnen denn auch gar nicht aus der Welt. Sie feiert als persönliches Verantwortungsgefühl eines mit ‚humanistischer Ethik' ausgestatteten ‚mündigen' Menschen ihre Auferstehung. (s. Kant!) Soll man denn wirklich, kaum wehrt man sich gegen die gewaltsame Verfügung über Leib und Leben, schon wieder der Auffassung sein, man hätte es mit den höchsten Gütern zu tun und deshalb den Umgang damit entsprechend zu verantworten - und sei es auch vor den Grundsätzen des eigenen guten Gewissens, durch das sich das Recht auf eigene Entscheidung legitimiert?
4. Im Versprechen, das Leben staatlich zu "schützen", entdecken Sie nicht die Anmaßung, die Umstände des täglichen Lebens "von der Wiege bis zur Bahre" staatsdienlich einzurichten - von Gewaltfreiheit, von freiem Wollen und ungezwungenem Tummeln, von gutem Auskommen, kurz: von einem zufriedenstellenden Leben ist ja aus gutem Grund im Grundgesetz nicht die Rede, sondern von dem abstrakten Grundsatz ‚Leben' und dessen Grenzen an staatlichen Belangen - ganz jenseits der Mittel, mit denen man dieses Leben gestalten kann. Dagegen lesen Sie ungefähr solche Versprechen in die Paragraphen hinein, mißverstehen das mit dem "Schutz" gründlich, denken also all die menschenfreundlichen Bestimmungen einfach wieder ins Recht hinein, von denen das gerade wohlweislich abstrahiert - und behaupten deshalb, der ungemütliche rechtsförmliche Staatsalltag sei ein einziger Widerspruch zur christlichen Moral, zu rechtsstaatlichen Grundsätzen und zu christliberalen Politikversprechen. Bloß, seit wann hat denn "christliches Weltverständnis" sich je an den Lebensumständen der lieben Gotteskinder gestört und nicht umgekehrt darauf gedrungen, sie gott-gefälligst zu ertragen?! Seit wann schützt denn der Rechtsstaat ausgerechnet den Menschen vor der Gefahr, daß die Bürger sich zuviel Freiheiten gegenüber der Obrigkeit herausnehmen könnten?! Die Vorstellung, Politik - die "reaktionäre" jedenfalls; wie steht's denn mit den sozialliberalen politischen Lebemännern?! - verginge sich "wahnsinnig" am versprochenen Recht auf ein besseres Leben, ist - wie aufrichtig immer gemeint - dreimal unglaubwürdiger als die berechnende Scheinheiligkeit der christlichen und sozialdemokratischen Politiker und ihrer moralischen Stützen in den Gotteshäusern. Die haben nämlich wirklich das Recht und die Verfassung und damit die anerkannte Macht auf ihrer Seite.
MSZ-Redaktion