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Gastbeitrag

(Dieser Beitrag erschien im Lover 45)

 

Gedanken von Regina Gorsleben zum polemischen Text: "Vom christlichen Glauben" (welcher im Gegenstandpunkt erschien, siehe dazu auch den Bezug zum Lover 44 und coforum.)

 

Die "Erziehung", die wir in der DDR durchlaufen haben, hat uns zu gläubigen Atheisten gemacht: Wir glauben daran, daß es keinen Gott gibt. Punkt. Denn wir sind ja nicht dumm. Was habe ich schon in der 1./2. Klasse gegen die einfältigen Mitschüler geeifert, die, mittels Christenlehre in die Irre geführt, doch wirklich und wahrhaftig daran glaubten, daß dort oben im Himmel ein alter Herr mit Rauschebart sitzt, der uns alle beobachtet und die Guten belohnt und die Bösen bestraft. "Wo, bitteschön", so meine messerscharfe Argumentation, "soll denn da oben jemand wohnen?" "Gott wohnt in den Wolken", lautete die naive, natürlich völlig hirnrissige Antwort. "Aber das geht doch überhaupt nicht," wußte ich es besser. "Die Wolken bestehen doch aus Wasserdampf, da würde Gott ja auf die Erde fallen!" Den Christenlehrekindern fiel dazu nichts ein. Ich hatte gesiegt. Aber die waren so blöd, die glaubten da trotzdem dran. Denen war nicht zu helfen.

Ich hatte 100%-ig recht, trotzdem blieb in bezug auf Gott immer so ein mulmiges Gefühl, deshalb forderte ich ihn mutig heraus. In der finsteren, riesigen Kirche in meinem Heimatdorf stand ich als Siebenjährige und dachte todesmutig: Wenn es Gott wirklich gibt, dann soll mich hier und jetzt der Blitz erschlagen! Ich kniff die Augen zu, das Herz schlug mir bis zum Hals: Gott, hatte ich Schiß! Ich hing an meinem jungen, ehrgeizigen Leben! Aber ich hatte es ja gewußt: Gott schickte keinen Blitz. Er tat gar nichts. Und das hätte er bestimmt nicht gemacht, wenn er wirklich existierte. Das hätte er sich nicht gefallen lassen, wo er angeblich doch allmächtig war und alles konnte.

Es gab ihn nicht, das war die einzige Erklärung. Den hatten sich die Menschen früher mal ausgedacht, als sie noch zu dumm waren, sich einige Dinge naturwissenschaftlich zu erklären. Jetzt aber konnten die Wissenschaftler alles erklären, jedenfalls fast alles, und den lächerlichen Rest kriegten die auch noch raus.

Also glaubte ich nicht an Gott, denn ich war ein kluger Jungpionier.

Ich glaubte dafür an Gerechtigkeit und Solidarität. Ich schwatzte alten Frauen ihre Taschen ab, um sie ihnen nach Hause tragen zu können und schämte mich, wenn sie mir Geld dafür aufnötigten. Ich streute bei Glatteis, ich übte mit "schwächeren" Schülern und spendete für Vietnam und Angela Davis.

Ich glaubte an den Sozialismus, daran, daß es bald allen Menschen auf der Welt so gut gehen würde wie uns.

Ich glaubte an das Gute im Menschen. Ich wollte ein guter Pionier sein, ein guter Mensch. Ich wollte ehrlich sein und aufrichtig. Und als ich meiner Mutter dann doch mal 50Pfennig aus dem Portemonnaie nahm – sie hätte es nie bemerkt, weil sie gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, daß eines ihrer Kinder sie bestehlen könnte – plagte mich das "schlechte" Gewissen – so sehr, daß ich das Geld nach kurzer Zeit zurücklegen mußte.

In der fünften Klasse im Geschichtsunterricht hörte ich dann von den Urchristen, die sich für die Armen und Schwachen einsetzten und somit für eine gerechtere Welt. Sie mußten sich vor der Obrigkeit in den Katakomben verstecken, opferten also viel für ihren Glauben an Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Die Parallelen zum Kampf der frühen Kommunisten sowie der Wiederstandskämpfer gegen den Faschismus waren augenfällig. Gut, diese Urchristen waren natürlich längst nicht so gebildet wie wir heute und glaubten deshalb an ein höheres Wesen und an ein Leben nach dem Tod, der altbekannte Christenunsinn eben. Dennoch konnte ich ihnen meine Sympathie nicht versagen. Die Urchristen waren für mich Vorkämpfer des Kommunismus, sie konnten doch nichts für ihre beschränkte Sicht. Heute wären sie allesamt auf der richtigen Seite, davon war ich überzeugt.

Leider fand ich meinen Optimismus und Enthusiasmus hinsichtlich des Sieges der guten Sache, sprich des Sozialismus, im realen Leben immer weniger bestätigt. Meine Mitschüler hatten nur wenig Lust, sich an den von mir initiierten Altstoffsammlungen zu beteiligen und allzu fleißiges Lernen kam in den Ruch des Strebertums. Die Mädchen begannen, sich zu schminken und für Mode zu interessieren, die Jungs prügelten sich oder ärgerten die Mädchen. Die Pionier- und späteren FDJ-Versammlungen gerieten ob ihrer verordneten Phrasendrescherei und Ödnis zur reinen Formsache, die offiziellen Sprachregelungen hatten mit der Wirklichkeit nichts (mehr) zu tun.

Außenseiter wurden von ihren Mitschülern verlacht, gehänselt und auch gequält, weil sie neu zugezogen waren, weil sie viele Geschwister hatten, weil die Eltern tranken, weil sie ungekämmt waren, weil sie unansehnlich oder dick waren, weil sie schlecht rochen, weil sie einfach nicht dazu gehörten. Die Lehrer, die ja eigentlich Vorbild sein sollten, taten oft ihr übriges dazu. Statt diese Kinder einzubeziehen und zu beschützen, wurden sie wegen ihrer schlechten schulischen Leistungen lächerlich gemacht und ins Abseits gestellt. "Gute" Schüler dagegen durften oft peinigen, intrigieren und drangsalieren so viel sie wollten, so lange sie nur im Unterricht funktionierten. Sicher gab es Ausnahmen, aber eher selten.

Und ich fühlte mich oft zwischen den Stühlen. Setzte ich mich für die Schwachen ein, sah ich mich bald selbst isoliert. Aber ich wollte natürlich auch dazu gehören, aber eben nicht um jeden Preis. So war ich mal einsam, mal ging ich Kompromisse ein und ab und an heulte ich auch mit den "Wölfen".

Wohl fühlte ich mich dabei nur selten. Freundschaft bedeutete mir alles. Ich war treu und forderte dies auch von meinen Freundinnen. Mit Unzuverlässigkeit konnte ich schlecht, mit Verrat gar nicht umgehen.

Ich suchte andere Sphären, die meiner Sehnsucht nach Menschlichkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit entsprachen. Ich tauchte in Film- und Bücherwelten ein. Ich liebte die Musketiere, die Indianer, Robin Hood und Spartakus und wollte sein wie sie.

Doch Mut, Phantasie, Opferbereitschaft und Solidarität mit den Schwachen war gar nicht das, was man von mir verlangte.

Ich sollte nett sein, angepaßt, ordentlich und linientreu. Meine Welt spaltete sich zusehends in innen und außen.

Auf der Penne wurde es noch schlimmer. Was hatte die Einpeitschmentalität dieser Lehrer noch mit dem zu tun, was ich unter Sozialismus verstand? Was Friedensliebe mit ZV-Unterricht, was Kameradschaftlichkeit mit Strebertum, Neid und Mißgunst, was allseitige Entwicklung der Persönlichkeit mit Drill und eingeforderten Lippenbekenntnissen?

Ich glaubte weiterhin daran, daß der Sozialismus menschlicher war als der Kapitalismus, aber ich glaubte nicht mehr an die DDR als ein Land, welches diese Idee verwirklichte. Ich glaubte weiterhin an das Gute im Menschen, aber ich sah dieses Gute geknebelt, verlacht, verkrüppelt. Das Nebelsyndikat war in der Macht.

Ich glaubte nicht mehr an die Welt da draußen, ich glaube statt dessen an die Kunst, vor allem an die Literatur und die Musik als Selbstausdruck des (leidenden) Menschen. Ich glaubte an Lapsus. Und natürlich an die ganz große Liebe.

Danach war ich ständig auf der Suche, mit völlig überspannten Vorstellungen, die sicher so manchen in die Flucht schlugen und mit der Realität oft gar nichts zu tun hatten. Aber natürlich hätte ich mich zu keinem Zeitpunkt als gläubig bezeichnet. Dabei war ich davon überzeugt, daß es etwas gab, das über diese Welt hinausreichte, etwas, das der Verstand allein nicht fassen konnte. Etwas, das mir Mitleid mit der leidenden Kreatur eingab, etwas, das mein Herz mit Schmerz und Sehnsucht erfüllte und auch mit Zorn angesichts der widrigen Umstände und der Engstirnigkeit vieler Zeitgenossen. Zur Zeit der Wende schien dann plötzlich wieder so viel möglich zu sein, als würden sich alle zugleich eines Besseren besinnen, was natürlich eine Illusion war, die spätestens mit dem ersten "Wir sind ein (dummes) Volk"-Gebrüll wie eine Seifenblase platzte. Und das lag nicht zuletzt am fehlenden Glauben der Masse bzw. anderen Glauben an die falschen Dinge: an die D-Mark, an Bananen, an schnelle Autos, an die Reisefreiheit, an den katzengoldenen Westen. Wie wenig war dagegen der Glaube an Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit, wirkliche Freiheit entwickelt und verankert – das hat mich schon entsetzt. Geistvolles Dasein wurde ohne großes Zögern materiellem Denken untergeordnet. Der Mensch gab wieder mal klein bei und fügte sich den "Sachzwängen" – es hatte sich nicht wirklich was verändert. Der Ideologie-Götze wurde nahezu nahtlos vom Geld-Götzen ersetzt. Aber auch das Leben in der DDR hatte uns schon auf materielle Werte eingeschworen ("Ich leiste was, also kann ich mir etwas leisten."), und heute wird nahezu alles der Arbeits-, Wirtschaftlichkeits- und Geld-Ideologie untergeordnet. Das Umlernen fiel deshalb den meisten gar nicht so schwer. Es wurde nur bunter, lauter und ein bißchen kälter, da das fadenscheinige Menschlichkeitsmäntelchen, zu dem die Idee des Sozialismus verkommen war, auch noch heruntergerissen wurde. Jetzt werden wir also dazu angehalten, an den Kapitalismus zu glauben. Es ist immer der Glaube an die Systeme, der die Systeme am laufen hält. Es sind nicht nur die "da oben", die uns beherrschen, weil sie die Produktionsmittel, das Geld und die Macht besitzen, es sind genauso die "da unten", die alles nur ein bißchen gerechter verteilen und auch was vom großen Kuchen abhaben wollen, aber ob der Kuchen wirklich so groß und fett sein muß, und auf wessen Kosten er gebacken wird, wird kaum je in Frage gestellt.

Ich denke, daß es dem Menschen wesenseigen ist zu glauben. Selbst die sogenannte objektiv-rationale Wissenschaft operiert nie nur mit "bewiesenen Fakten" – immer hat es Grundannahmen gegeben und wird es auch in Zukunft geben, von denen die Wissenschaft ausgeht, und diese Grundannahmen sind oft nichts anderes als Glaubenspostulate, die ja auch immer wieder hinterfragt und widerrufen werden. Die Sonne dreht sich um die Erde, das Atom ist unteilbar, Krankheiten werden von schlechten Säften im Körper hervorgerufen, Verbrecher erkennt man an ihrer Physiognomie, Schwarzafrikaner sind von Natur aus dumm, ängstlich, naiv und faul – das alles hat die Wissenschaft als unumstößliche Erkenntnis präsentiert.

Wie wenig gesichertes "Wissen" es z.B. in der Medizin gibt, erfuhr und erfahre ich beinahe täglich durch meine Krankheit. Die Seriösen unter den Ärzten heben die Hände und sagen: Wir haben einfach keine Ahnung, was da passiert. Damit will ich natürlich nicht sagen, daß es überhaupt kein Wissen gibt, aber wenn wir unser Leben allein nach unserem Wissen ausrichten wollten, würden wir ziemlich orientierungslos umherlaufen – was viele ja auch tun.

Ich weiß, daß es mir Spaß macht, Auto zu fahren. Je schneller ich fahre, desto mehr Spaß macht es. Ich weiß, daß mich meine Freunde und die Nachbarn beneiden und bewundern werden, wenn ich ein teures Auto fahre. Ich weiß, daß ich die Autoindustrie und damit die deutsche Wirtschaft unterstütze, wenn ich ein teures Auto kaufe.

Darum kaufe ich ein schnelles, teures, deutsches Auto.

Einige werden jetzt sicher einwenden, daß Menschen, die so entscheiden, nur nicht genug wissen. Aber wer oder was entscheidet darüber, was und wieviel ich wissen will?`

Die Manager der Großindustrie wissen sehr viel, auch die Regierungen, die Armeegeneräle, die wissenschaftlichen Institute bersten vor Faktenwissen. Und die Wissensgebäude, die die Menschen errichtet haben und errichten, sind mindestens ebenso mit Widersprüchen gespickt wie ihre Glaubenssysteme.

Die Bundesregierung weiß, daß sie Deutschland voranbringen muß, um erfolgreich zu sein. Sie weiß, daß ein großes wirtschaftliches Wachstum Deutschland voranbringt. Also unterstützt sie die Wirtschaft. Sie weiß jedoch auch, daß dieses hemmungslose Wachstum die Umwelt kaputtmacht, Menschen überall auf der Welt ins Elend stürzt und daß dieses Wachstum uns geistig und seelisch verkrüppelt.

Entscheidend ist also nicht, was ich weiß, obwohl das natürlich auch wichtig ist, entscheidend ist meine Grundmotivation: Für welche Ziele will ich mein Wissen einsetzen? Aus welchen Grundüberzeugungen leiten sich diese Ziele ab? Letztendlich: Woran glaube ich?

Was nützt das angehäufte Wissen über den derzeitigen Klimawandel, wenn niemand die Konsequenzen daraus zieht?

Die Lenker und größtenteils auch die Gelenkten in den Industriestaaten wissen genau, daß wir auf eine Klimakatastrophe zusteuern, aber sie glauben an den Kapitalismus, und der Profit ist heilig. Außerdem glauben sie an ihre Unverwundbarkeit, und es ist ja leider auch so, daß es in erster Linie die Schwachen und Armen treffen wird.

Hier fehlt es also nicht am Wissen, sondern an dem Glauben, daß alle Menschen ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben und somit u.a. auf eine gesunde Umwelt. Es fehlt die Überzeugung, daß Geld und materieller Reichtum nicht die höchste Priorität in unserm Leben haben sollten, sondern gegenseitiges Mitgefühl, Liebe und Toleranz. Und es fehlt vor allem der Glaube, daß sich die Welt in diese Richtung verändern läßt.

In meinen Augen ist es also hanebüchen, den Glauben an sich zu diskreditieren. Wir alle handeln nicht nur entsprechen unseres Wissens, sondern vor allem auch entsprechend unserer Überzeugungen (was ich mit Glauben gleichsetzen möchte). Entscheidend ist also, was ich glaube und welche Konsequenzen dieser Glaube hat. Der Artikel im Lover bezieht sich nun vorrangig auf den christlichen Glauben, den er in Bausch und Bogen verdammt.

Schon die Beschreibung der christlichen Glaubensinhalte zeigt deutlich, wie oberflächlich und pauschal vorverurteilend hier vorgegangen wird. Letztendlich möchte der Verfasser festschreiben, was ein Christ alles glaubt – das Recht auf Selbstbestimmung wird diesem also von vornherein abgesprochen. Ein Mensch kann sich jedoch aus sehr verschiedenen Gründen als Christ bezeichnen (so wie sich Menschen aus den unterschiedlichsten Motivationen heraus als Marxist oder Kommunist bezeichnen können).

Zunächst einmal wird den Christen unisono zur Last gelegt, daß sie sich ihre Glaubensüberzeugung nicht schlecht machen "lassen und wenn es dennoch vorkommt, dann sind sie beleidigt". (S. 8) Oder aber empört.

Man setze für das Wort "Christen" nacheinander die Wörter "Kommunisten", "Juden", "Neonazis" oder "Umweltschützer" ein – ich denke, die Aussage bleibt zutreffend und ist somit als spezifische Anklage wertlos.

Als nächstes sollen die Christen doch bitte Beweise für die Existenz Gottes liefern, handfeste natürlich. Doch welche handfesten Beweise gibt es für die Nichtexistenz Gottes? Schon Kant hat bewiesen, daß man keine dieser zwei Behauptungen – "Gott existiert" bzw. "Gott existiert nicht" beweisen kann.

Wie kann man Liebe beweisen? Soll es ein Schwur sein, ein Kuß, Geld, Worte ein Orgasmus? Mit dem Glauben ist es wie mit der Liebe, man kann sie nicht beweisen, aber man kann sie leben und im eigenen Handeln offenbar werden lassen oder dies zumindest anstreben. Einen wissenschaftlichen Beweis kann es leider (?) nicht geben.

 

Nun kommt es zu der grundlegenden Frage, woran einer glaubt, der an Gott glaubt. Wer oder was ist "Gott"? Der Verfasser weiß es wieder genau: Der christliche Gott ist ein "Schöpfer" und vor allem "Richter", "allmächtig" und "allwissend", einer, der "den Lauf der Welt bestimmt".

Sicher würden viele, die sich Christen nennen, dem zustimmen. Aber es gibt auch ganz andere Auffassungen des christlichen Glaubens, die dem Autoren entweder nicht bekannt sind oder einfach nicht in sein Konzept passen.

Gott kann auch als Inbegriff von Liebe und Freiheit verstanden werden, als deren innere Stimme im Menschen, als sein ursprüngliches Gewissen.

Ein Gott, der die Welt und vor allem die Menschen darin an Strippen zur eigenen Belustigung tanzen ließe, der gar als absichtlicher Verursacher jeglichen Leids fungierte, wäre kein Gott der Liebe, sondern ein herzloser, ja teuflischer Zombie. Sicher ist diese Vorstellung von Gott als strengem Richter der Menschen und allmächtigem Lenker der Welt weit verbreitet und wird vor allem von denen, die die Bibel als ehernen Gesetzestext lesen, so vertreten. Doch da die Bibel von den verschiedensten Menschen der verschiedensten Zeitepochen geschrieben wurde, haben sich dort neben wirklichen Einsichten natürlich auch irrige Vorstellungen und finsterer Aberglaube niedergeschlagen. Die Bibel ist ein Konglomerat aus Mythen, Sagen, Märchen, Legenden und Gleichnissen, und wenn man diese wortwörtlich als Wort Gottes und unabänderliche Wahrheit verstanden wissen will, kann natürlich nur so ein menschenverachtender Blödsinn wie auf Seite 14 des Lovers 44 beschrieben herauskommen.

Wenn man sich auf so niedriger geistiger Ebene bewegt, glaubt man auch daran, daß Gott den einen mit einem Sechser im Lotto belohnt und den anderen mit einer schlimmen Krankheit bestraft. Aber das hat für mich nichts mit christlichem Glauben zu tun, sondern ist eher Ausdruck eines Glaubens an Magie und Wunder. Ich halte es da eher mit dem Philosophen Berdjajew, der meint: "In einem gewissen Sinn hat Gott weniger Macht als ein Polizist, ein Soldat oder Bankier..." Gott ist in meinen Augen kein herrschsüchtiger Alter, der in der linken Hand das verlockende Zuckerbrot des Paradieses hält und mit der rechten die Peitsche der Hölle schwingt. Unter dem Begriff "Gott" verstehe ich ein lebendiges, geistiges Prinzip, das in jedem Menschen wohnt, in dem einen mit starker, klarer Stimme spricht, im anderen (durch Manipulation, Unterdrückung, Liebesentzug u.a. hervorgerufen) verkümmert oder entstellt dahinvegetiert und mitunter sogar völlig zum Schweigen gebracht wurde. Dieses Prinzip ist dem Menschen wesenseigen wie Sprache, Gefühl oder Denkvermögen, es hat also nichts mit Fremdbestimmtheit oder Unterwürfigkeit zu tun, wenn man diese innere Fähigkeit stärkt und entwickelt. Und dies kann man nur in Freiheit tun, dies kann nicht von außen (durch Eltern, Kirche, Staat usw.) erzwungen, höchstens gefördert oder behindert werden. Religiosität, also Glaube, gehört zur Menschennatur. Sie kann zur Götzenanbetung mutieren (Naturgeister, Weltengeist, Mutter Erde, Geld, Sex, Wissenschaft, technischer Fortschritt, Staat, Macht, Menschengötter wie Busch oder der Papst) oder eben zum festen Glauben an ein uns innewohnendes Prinzip der Liebe und des Mitgefühls heranreifen. Ein Christ mit dieser Überzeugung kann die Menschennatur nicht verdammen (auch wenn päpstliche Konzilien dies immer wieder getan haben) – er müßte dann auch Gott in sich verdammen.

Angelius Silesius, alias Johannes Scheffler (ein christlicher Poet des 17. Jahrhunderts) sagt sogar:

"Ich bin so groß wie Gott,

er ist als ich so klein;

Er kann nicht über mich,

ich unter ihm nicht sein."

Und:

"Ich weiß, daß ohne mich

Gott nicht ein Nu kann leben;

werd ich zunicht,

er muß von Not den Geist aufgeben."

(A. Silesius: Cherubinischer Wandersmann)

Dies klingt für mich nicht nach Unterwürfigkeit, sondern ist der Ausdruck freien, selbstbestimmten Menschengeistes. Und dieser schließt selbstverständlich die Fähigkeit zur Selbstkritik ein, denn der Mensch folgt naturgemäß nicht immer seiner inneren göttlichen Stimme, sondern läßt sich auch von seinen dunklen Trieben, seiner Eitelkeit und den verschiedensten Einflüssen seiner natürlichen und sozialen Umwelt lenken – darin besteht seine (Wahl-) Freiheit (auch zum Bösen) und die kann auch Gott ihm nicht (ab)nehmen.

Selbstkritik ist aber nur dann sinn- und wertvoll, wenn sie sich aus einem Sinn- und wertstiftenden Menschenbild herleitet – für sich genommen sagt "Fähigkeit zur Selbstkritik" (auf die der Verfassers des Artikels soviel Wert legt) gar nichts aus. Wenn sich ein Folterknecht sagt: 'Heute hätte ich aber ein paar Häftlinge mehr quälen können, wenn ich beim Mittagessen nicht so herumgetrödelt hätte', so fällt das sicher auch unter die Rubrik 'Selbstkritik'. Es ist also entscheidend, aus welcher Motivation, aus welchem Glauben sich unser Handeln und unsere Selbstreflexion speist.

Das im Artikel ironisierte "sagenhafte Verständnis und Mitleid für alle geschundenen Kreaturen daheim und in der Ferne" bildet für mich eine Grundvoraussetzung für ethisches Handeln in dieser Welt. Wenn dieses Mitleid und dieses Verständnis echt und nicht nur geheuchelt sind, wird der Mensch den unauslöschlichen Drang verspüren, das Leiden zu verringern, wo es in seiner Macht steht. Er wird sich gegen Ungerechtigkeiten, Gewalt und Unterdrückung empören und zur Wehr setzen. Dies haben auch bekennende Christen getan (Dietrich Bonhoeffer, Sophie Scholl u.a.).

Wenn mich dagegen das Leiden anderer völlig kalt läßt, kann ich noch so viel Wissen über Not und Elend in der Welt anhäufen, ich werde dennoch keinen Finger zu ihrer Beseitigung rühren, es sei denn zum eigenen Vorteil. Handlung und Motivation gänzlich voneinander zu trennen, wie der Verfasser es vorzuschlagen scheint, entbehrt in meinen Augen jeder Grundlage. Natürlich empfindet der Mensch auch dann Mitleid, wenn er sich nicht explizit zum christlichen Glauben bekennt. Das ist auch nicht entscheidend. Entscheidend ist seine innere Überzeugung, daß jede Kreatur leidensfähig ist und vor diesem Leid bewahrt werden sollte. Ob man diese Überzeugung christlich nennt, ist letztlich eine Frage der Definition. Wenn ich dem Begriff "christlich" jegliches Verbrechen, das in seinem Namen begangen und jeglichen Unsinn, der in seinem Namen geäußert wurde, zuordne, entleere ich ihn seiner eigentlichen, ursprünglichen Bedeutung (wie ich und andere sie verstehen).

Diese Vorgehensweise erinnert mich daran, wie derzeit die Idee des Sozialismus bzw. des Kommunismus verunglimpft wird, indem man ihr alle Verbrechen, die unter diesem Vorzeichen verübt wurden, unterjubelt. Der Kommunismus (bzw. Sozialismus) kann nur schlecht und menschenfeindlich sein, hat er doch die Gulags hervorgebracht und Millionen von Menschenleben gefordert. Kommunismus wird automatisch mit Totalitarismus, Uniformität und Geistlosigkeit gleichgesetzt. Der christliche Glaube ist noch leichter zu denunzieren, und Menschen, die sich Christen nennen, sind noch leichter in Sippenhaft zu nehmen, da die Geschichte des Christentums länger ist und seine Idee millionenfach entstellt und mißbraucht wurde. Aber genauso, wie Stalin weit davon entfernt war, ein wirklicher Kommunist zu sein, so war auch ein Inquisitor der katholischen Kirche weit davon entfernt, ein wahrer Christ zu sein.

Es wäre sicherlich sehr viel sinnvoller, die Idee des Christentums offen zu diskutieren, als sie von vornherein auf Grund ihrer geschichtlichen Verfälschungen und ihres Mißbrauchs zu verteufeln. So wie es sicherlich sehr viel sinnvoller ist, die Idee des Kommunismus offen zu diskutieren, als sie von vornherein abzulehnen, weil es den KGB und die Stasi oder gar die rote Kmer gab. Für mich besteht die Essenz des christlichen Glaubens eben nicht in der "Verachtung des Materiellen, Weltlichen und Natürlichen", auch nicht im "grenzenlosen Opportunismus gegenüber der weltlichen Macht", auch nicht im Glauben an "Wunder" oder die "Allmacht Gottes" oder an die Auserwähltheit einiger Gerechter und die Bestrafung der Sünder in der Hölle usw. usw.

Für mich besteht sie in der Überzeugung, daß dem Menschen ein geistiges Prinzip innewohnt, das über ihn hinausweist, ohne ihn zum "Werkzeug Gottes" herabzuwürdigen.

Dieses Prinzip, diese innere Stimme wird durch Liebe gespeist und zielt auf Liebe hin. Diese Liebe ist nur Liebe, wenn sie sich mit Freiheit paart, nur in Freiheit kann sie wachsen, sonst erstarrt sie zu Heuchelei und Frömmelei.

So wie die Liebe der Freiheit bedarf, so bedarf die Freiheit der Liebe, sonst artet sie in Willkür, Rücksichtslosigkeit, ja Gewalt aus.

Doch der Mensch ist natürlich kein rein geistiges, sondern auch ein biologisches und soziales Wesen. Diese Seiten wurden vom historischen Christentum oft sträflich vernachlässigt bzw. herabgewürdigt. Der menschliche Körper und seine biologischen Grundbedürfnisse wurden als Hort der Sünde verteufelt.

Besonders die Frauen hatten unter dieser natur- und letztlich lebensfeindlichen Sicht zu leiden. Die Frau wurde lange Zeit als seelenlos und als Verführerin zur Sünde gebrandmarkt. Nur die Jungfrau Maria wurde als reine Gottesgebärerin angebetet. Mit Nächstenliebe und der Gleichheit aller Menschen vor Gott hatte diese Herangehensweise wenig zu tun.

Im Gegenzug wollte die Aufklärung in ihren extremsten Auswüchsen den Menschen nur noch als rein biologisches Wesen sehen.

Verschiedene Naturwissenschaftler begriffen ihn gar als biologische Maschine.

Auch heute bemühen sich Biologen, Genetiker und Neurowissenschaftlicher darum, den Menschen auf biochemische Prozesse zu reduzieren. Liebe ist dann nur noch ein Auf und Ab der Hormone, allein Instinkte steuern unser Verhalten. Diese biologistische Sichtweise soll den Menschen zum lenk- und steuerbaren, zum restlos berechenbaren Wesen abqualifizieren.

Die soziale Stellung des Menschen in der Welt wurde und wird von der Kirche meistens als gottgegeben und unabänderlich dargestellt. Wer sich gegen die Obrigkeit empörte, empörte sich gleichzeitig gegen Gott, der diese Ordnung angeblich geschaffen hatte. Das Verdienst der Theoretiker und der Verfechter des Kommunismus besteht darin, die sozialen Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems aufgedeckt, angeprangert und deren Beseitigung gefordert zu haben. Ausbeutung und Unterdrückung wurden klar als menschengemacht begriffen, und somit oblag es auch den Menschen, diese zu bekämpfen. Obgleich Marx an anderer Stelle auch die Freiheit des Individuums verteidigte, so bestimmt er ihn letztlich zum bloßen Statisten in den geschichtsprägenden Klassenkämpfen. Diese materialistische Denkweise verlegte die Bedeutung vom einzelnen auf die Masse. Die Volksmassen waren entscheidend, ihr Wille sollte geschehen – Ergebnis dessen war die spätere Proklamation der "Diktatur des Proletariats", letztlich Uniformität, Gleichschaltung und Gewalt gegen alles, was sich den "objektiven" Erfordernissen nicht fügte. Hinsichtlich der Achtung des einzelnen und dessen freier Entfaltung hat der "realexistierende Sozialismus" versagt und mutierte auf Grund seiner materialistischen Weltsicht (Die Arbeitsproduktivität entscheidet über den "Sieg" des Systems. Das materielle Lebensniveau muß ständig verbessert werden. Der einzelne hat sich in den Dienst der Sache zu stellen.) und seiner Ein-Parteien-Doktrin (Die Partei, die Partei, die hat immer recht.) zum Staatskapitalismus.

Es wäre jedoch unangebracht, deshalb die Idee des Sozialismus/Kommunismus einfach ad acta zu legen, so wie es die marktwirtschaftlich orientierten Demagogen dieser Tage gerne sehen würden. Denn es bleibt nach wie vor empörend, daß Menschen Hungers sterben oder in Kriegen umkommen, weil anderswo Mensch daran verdienen – in dieser Erkenntnis liegt eine Wahrheit marxistischen Denkens.

Aber es ist nicht radikal genug, die Ursachen dieser Ungerechtigkeiten in der falschen Verteilung der Produktionsmittel und der Konsumgüter zu sehen. Der Mensch bestimmt sich grundsätzlich nicht von seiner sozialen Stellung her, sondern von seiner geistigen Ausrichtung, von seinen innersten Überzeugungen, von seinem Glauben. (Engels war Fabrikant...)

In meinen Augen wäre es deshalb äußerst wünschenswert, wenn Christentum und Kommunismus nicht als unversöhnliche, sondern sich notwendig ergänzende und gegenseitig befruchtende Ideen angesehen würden.

Christen sollten im Hier und Jetzt tätig sein, sich hier und jetzt gegen Unmenschlichkeiten empören und sich und andere nicht auf das Jenseits vertrösten, während sie fromme Liedchen trällern.

Es ist zutiefst unchristlich, alltags ohne Rücksicht auf Verluste Geld zu scheffeln und Reichtümer anzuhäufen, um dann sonntags scheinheilig in der Kirche zu beten und sich vielleicht mit einem Obolus für die Armen und Kranken dieser Welt von der Sünde "reinzuwaschen"!

Andererseits genügt es nicht, mit messerscharfem Verstand das kapitalistische System zu analysieren und zu kritisieren, sich dann aber davor zu scheuen, das Wesen des Menschen tiefgründig zu erforschen und sich mit seinen wahren Antriebskräften, zu denen für mich der Glaube zählt, auseinanderzusetzen.

Der Mensch ist weder auf Biologie noch auf Soziologie zu reduzieren, er definiert sich vom Geistigen her – von seinen Sehnsüchten, Träumen, Wünschen und Überzeugungen.

Liebe und Freiheit sollten dabei die Richtung seines Handelns in der Welt bestimmen. Dies würde die Welt sozial gerechter und menschenwürdiger machen. Daran glaube ich.

Regina Gorsleben, Greifswald den 28.12.2006

 

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