Die Abenteuer des absoluten Intellekts. Aus der Urgeschichte der MG

[Anmerkung Ofenschlot] Etwas versteckt findet sich auf der Seite des immer inspirierten Wolfram Pfreundschuh ein Eintrag, der aus seiner Sicht die Spaltung der AK-Fraktion reflektiert – jener Gruppe, die sich zum einen von den Roten Zellen München abgespalten hatte (1971) und aus der zum anderen sich ab Mitte der 70er Jahre die Marxistischen Gruppen herausschälten (sic! Irgendwann nur noch: Marxistische Gruppe; das ZK – wenn es im klassischen Sinne überhaupt ein solches gegeben haben sollte – firmiert heute als Redaktion der Zeitschrift Gegenstandpunkt; Peter Hacks definierte angesichts des Schrifttums der MG ZK als »Zentralkomputer«).
Pfreundschuh hat auf diesem Blog in den letzten Wochen eine große Rolle gespielt. Deshalb sparen wir uns eine neuerliche Einführung in sein Schaffen und verweisen auf unsere Subkategorie (siehe rechts) bzw. konkret auf diesen Eintrag.
»Geschichte ist kein Argument!« Auf diesen Satz sind die heutigen GSP-Adepten ganz besonders stolz – und auf ihren damit eng zusammenhängenden Kult der Voraussetzungslosigkeit. Indem Pfreundschuh zurück zu den Quellen geht und eine »Durcharbeitung« im besten Sinne leistet, kann er aber zeigen, wie sich der absolute Intellekt im Gewande kommunistischer Praxis sich überhaupt erst konstituiert hat. Gleichzeitig geht der Text über die Darstellung der Spaltung weit hinaus und bringt eine sehr wichtige Ausführung dazu, was eigentlich der Witz am Gebrauchswert ist.
Der folgende Text ist um einige Tippfehler bereinigt und ist ein später, aber doch genauer, treffender (vorläufiger!) Abschluss unserer MG-Kritik-Reihe.

Zur Spaltung der AK-Fraktion

Die Grundlage für das »Sozialistische Studium« war ziemlich pauschal die »Kritik der bürgerlichen Ideologie«, welche den Grund für die »Widersprüche der bürgerlichen Wissenschaft« hergeben sollte, dessen Begreifen die Studenten zum »Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft« agitieren wollte.

Die Praxis dieser Kritik hatte gezeigt, dass wir dabei die Studenten vor allem in ihrem intellektuellen Kritizismus, in ihrem »Eskapismus«, der sich durch linke Attitüde besonders gut leben lässt, nur bestätigten und weniger aus unkritischen Studenten antikapitalistische Wissenschaftler oder Kämpfer machten. Da fehlte viel von dem, was ich mir unter dieser Agitation eigentlich vorgestellt hatte. Eigentlich war mir grundsätzlich nicht klar, was eine Ideologiekritik anderes ergeben könnte als das Aufzeigen einer Unwahrheit, im besten Fall die Entlarvung einer Korruption. Gut. Haben wir entlarvt, haben wir gezeigt, dass da was unlogisch, widersprüchlich, unwahr, ja absurd ist: Was ist das anderes als die bloße Negation, Relativierung oder Aufhebung des bestehenden Forschungsansatzes. Das will doch jede Kritik! Was ist daran marxistisch? Der anschließende Schnellkurs in Ökonomie etwa? Das war doch lediglich eine unbezogene Entgegensetzung. Nein, das konnte es nicht sein. Es ging doch um was sehr substantielles: Um die Begründung von wissenschaftlicher Arbeit im Wissen um die geschichtliche Tatsache des Kapitalismus und seiner immanenten Verwertungslogik. Diese Logik kann nicht durch Wissenschaft bekämpf werden. Aber die Wissenschaft kann die Logik angreifbar machen, die all dem entgegensteht, was im Gesamtinteresse der Menschheit ist. Der Marxismus ist seit über 150 Jahren die Wissenschaft des Menschen vom Menschen. Und was machen wir hier? Soll das sozialistische Studium in eine marxistische Wissenschaftsarbeit führen oder die Studenten einfach von der Wissenschaft wegbringen, damit sie etwas »Vernünftigeres« machen – aber was?

Auch innerhalb der AK stellte sich den sensibleren Naturen die Frage, was unser »Sozialistisches Studium« eigentlich bringt. Der Zusammenhang marxistischer Studenten kann doch nicht darin liegen, in einem »herausgesetzten« Bereich des Kapitalismus die verselbständigten Kategorien anzuprangern und – ebenso herausgesetzt – den Kapitalismus als Grund für diese Selbständigkeit zu festzustellen! Das war doch nur noch die sich selbst genügsame »Herausgesetztheit«, der absolute Intellekt. Konnten wir überhaupt diese reine Kritik an der Verselbständigung des Denkens machen, ohne selbst daran zu arbeiten, sie aufzuheben, ohne also selbst wissenschaftlich und unmittelbar am Gegenstand unserer Wissenschaft zu arbeiten? Was macht diesen Bereich aus und was sind Studenten? Bereiten sie sich lediglich auf ihre Existenz vor und erwerben ihr Handwerkzeug an der Uni oder sind sie an der Wissenschaft selbst interessiert und wollen die Wissenschaft zu einem umfassenden Wissen entwickeln und im Akt der Emanzipation von sich und der Menschheit anwenden? Befriedigt die Universität lediglich die Lebensplanung von Studenten, das Bedürfnis innerhalb dieser Welt mit einem guten Job gut zurecht zu kommen?

Und geht es Marxisten darum, den Studenten die Illusion zu nehmen, dass sie damit ohne Bedingungen für Unterwerfungsleistung auskommen und sie deshalb an der Aufhebung dieser Bedingungen allgemein zu interessieren? Oder beziehen sich Marxisten auf das wissenschaftliche Interesse von Menschen, die ihre Selbstverwirklichung in der Verwirklichung des Menschseins umsetzen wollen und hierfür den Kapitalismus aufheben müssen? Für mich waren das abstrakte Pole von Fragen, die zu diskutieren wären, und es wurde auch in der AK von der Notwendigkeit einer »Fehlersuche« gesprochen. Aber die AK hielt das offenbar nicht aus. Die Position der Interessensfraktion, welche die wissenschaftliche Identität als Ausgangspunkt für marxistische Arbeit an der Uni ansah, wurde von der Politkommission ausgeschlossen, die mehrheitlich der Bedürfnisfraktion angehörte. Die AK war gespalten in eine AK I und eine AK II, die sich nach dem Ausschluss konstituierte.

In der RotzPsych [Roten Zelle Psychologie] hatten wir den Streit noch gar nicht bemerkt, da war er schon zu Ende. Also mussten wir ihn nachvollziehen und nannten uns die Gammafraktion. Diese bestand daraus, die Gründe des Streits und des Ausschlusses nachzuvollziehen oder auch schon in der Feststellung, dass diese Spaltung selbst der Fehler ist, den die AK hat und der sich jetzt forttreibt, weil Pole einer Fragestellung getrennt und damit die Frage zerstört worden war. Ging es bei diesem Streit etwa nur um die Alternative von besserer Handhabung der Existenzen und dem »dornenreichen Weg der Selbstverwirklichung« (Hegel), wenn wir uns zum Leben äußern? War das überhaupt noch Marxismus?

Die Papiere, die der Spaltung vorangingen und die wir jetzt vorgelegt bekamen, zeigten eine Art theoretische Zerrüttung von beiden Seiten, die mir den Atem verschlug. Ich war seit längerem Schulungsleiter von Ökonomieschulungen der AK und hatte mich mit dem »Kapital« von Karl Marx befasst. Plötzlich schienen die wesentlichsten Grundlagen hiervon wieder diskussionsbedürftig, so als ob sie noch niemals geklärt worden wären. Es wurde in einem Papier eines zentralen Ausschusses, dem Lohnausschuss, z.B. von den Anhängern des »Interessenstrangs« hervorgehoben, dass das Verhältnis von Arbeitskraft und Kapital ein Verhältnis des »freien Willens« der Warenbesitzer sei, wie es eben im Rechtssystem der bürgerlichen Gesellschaft auch erscheint. Es ist damit nicht mehr ein Verhältnis von Eigentum und Besitz, was die ökonomischen Bestimmungen ausmacht und den privaten Charakter der Aneignung gesellschaftlich wirksamer Kraft kennzeichnet. Hierfür wurde sogar Arbeitskraft und Arbeitslohn als wechselseitiges Eigentum zu gegenseitigem Nutzen gefaßt, also der Arbeitslohn als Gebrauchswert für den Arbeiter wie die Arbeitskraft als Gebrauchswert für das Kapital – Lohn als Gebrauchswert! Wie so was möglich war, kann ich mir nur so erklären, dass es da wohl eher um die Hegelsche Rechtsphilosophie als um deren Kritik durch Marx ging. Der Verdacht lag nahe, dass sich in der AK II Hegelianer herausgebildet hatten. Es war ein völlig voraussetzungsloses Denken, ja ein Denken, das auf seiner Voraussetzungslosigkeit ausdrücklich bestand und in Marx lediglich einen Vertreter einer vertrauenswürdigen Methode, also dem dialektischen Denken sah, mit dem alle gedachten Inhalte ebenso noch mal gedacht werden können – auf der Basis der »gleichberechtigten« Wahrheit, die Wahrheit des einen in der Wahrheit des anderen und ihrer Bestimmtheit wie Äußerlichkeit und dem Fürsichsein ihres Begriffs, vom Nichts, vom Sein und dem Werden. Nun, dort wollte man eben keine »Autoritäten«, es sollte um die reine Erforschung des Gegenstands gehen. Es wäre ja so abstrakt und allgemein wirklich nichts dagegen zu sagen gewesen – bis auf das, dass es eben nur so abstrakt und allgemein, also wie alles ist. Und das es die Logik himmelwärts ist, wenn man seine Voraussetzungen nicht denkt.

Verwunderlich war aber auch, wie schwach von der anderen Seite der AK dies abgewiesen wurde; eben wie ein falsches Verständnis vom »Preis der Arbeit«. Umgekehrt wurde dort eine andere elementare Aussage aufgehoben. In der Entgegnung zu den Leninisten hatten wir immer darauf bestanden, dass die kapitalistische Gesellschaft die Momente ihres Untergangs in sich selbst trage. Das bedeutet, dass der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, die gesellschaftlichen Potenzen der Arbeit, die Momente einer klassenlosen Gesellschaft in sich tragen und dass es daher die Aufgabe von marxistischen Intellektuellen sei, ihren verborgenen Zusammenhang aufzudecken, weil dieser seiner ökonomischen Form voraus ist. Wesentlich daran war, dass der Kapitalismus also in Wirklichkeit schon überkommene Produktionsform ist, wie auch alle Lebensinhalte der bürgerlichen Gesellschaft, ihr wirklicher Reichtum im Organismus der Arbeit wie in der Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse, über sie selbst schon hinausweisen und der Kapitalismus als Schranke ihrer Entwicklung erlebt wird. So, wie es eben in allen frühen Schriften von Marx zu lesen ist, weil er sich dort ausdrücklich damit befasst hatte. In den »Philosophisch-ökonomischen Manuskripten« zeigt er, dass die ökonomische Form als anachronistisch gegenüber dem gesellschaftlichen Charakter ihrer Inhalte, den Zusammenhängen ihrer gesellschaftlichen Bezogenheit, ist und dass in einer ökonomischen Wissenschaft dieser Gehalt herausgearbeitet werden muss.

In der »Schulungsdikussion« wurde jetzt behauptet, dass der Gebrauchswert dem reinen stofflichen Dasein der Dinge schon per se gelte; dass also allen Güter über alle Gesellschaftsformen hinweg dieser Gebrauchswert zukäme, denen in der kapitalistischen Gesellschaft lediglich der Tauschwert unsinnigerweise aufgepfropft werde, so, als könne man ihn einfach abstreifen, wenn man nur wolle, so, als wäre er ein für den Menschen inneres Ding, das für jedes individuelle Leben genauso genügen würde, wie dem beliebten Robinson, wäre da nicht die ökonomische Form, die solche Idylle stört. Gegen solche »Robinsonaden« hatte sich aber Marx mit dem Argument gewandt, dass der Gebrauswert nicht dem stofflichen Dasein der Dinge alleine zukomme, nicht seine unmittelbar praktische Natur durch sich selbst sei. Er ist von Marx am Anfang des »Kapital« und in den »Grundrissen« und sonst wo immer als Gebrauchswert für andere, als Gebrauchswert in seiner gesellschaftlichen Beziehung auf andere, als Nützlichkeit zum Austausch, gefaßt, was alleine einer Gesellschaft zukommt, in der die Produzenten nicht mehr nur für ihren unmittelbaren Bedarf produzieren, sondern in ihrer Produktion schon eine gesellschaftliche Arbeitsteilung unterstellen. Ein Gebrauch für sich bedarf keiner Ökonomie, wäre ein romantisches Ding, was in einer ebenso romantischen Arbeitsweise – vielleicht mal während der Ferien auf dem Bauernhof – entstanden wäre. Jedenfalls wäre es kein Gebrauchswert. Romantische Vorstellungen hatte es vielleicht bei manchen Linken, besonders bei den »Alternativen«, gegeben, nicht aber in der industriellen Gesellschaft. Hier bestehen die Gebrauchswerte als Produkte eines arbeitsteiligen Prozesses, als Gebrauchswerte für andere, für die das Ding eben auch erzeugt wird, weil es getauscht werden soll und zugleich einen gesellschaftlichen Zusammenhang der Arbeitsteilung voraussetzt, wenn es eingetauscht wird, wenn und weil es also für das Bedürfnis anderer Menschen »passt«.

Es ist wichtig, den Gebrauchswert als gesellschaftlich bezogen aufzufassen, um Gesellschaft als den Inhalt der marxschen Ökonomie zu begreifen, die anders ist, als die Ansammlung von Individuen, die kultur- und weltlos am Gebrauch der Güter kleben und deshalb tauschen, weil sie es müssen, um sie zu bekommen. Warum machen sie es nicht selbst? Weil sie es beim Entwicklungsstand unserer Arbeit und Bedürfnisse gar nicht können, weil eben keine Geschichte dauerhaft rückwärts laufen wird, nur weil jemand da gerufen hat: Leute, hört auf mit dem Tausch, das macht Euch unglücklich, weil euch das entfremdet! Nein, die Nützlichkeit für den Tausch ist so real wie der Stuhl, das Auto, die Pizza oder der Fernseher. Dieser Begriff [ist] aus der Gesellschaft und erfasst die selbständige Nützlichkeit der Dinge, wenn sie den Markt verlassen haben. Er beschreibt, dass jedes Ding in seiner isolierten Nützlichkeit einen gesellschaftlichen Charakter hat, dem seine gesellschaftliche Form nur abstrakt, nämlich im Tauschwert, entspricht. Das besagt, dass auch der Zusammenhang der Dinge nicht wirklich besteht und dass er deshalb auch erst im Tausch in seiner Abstraktion als Werthaftigkeit der Dinge verwirklicht wird. Das wiederum besagt, dass es eine Aufarbeitung des konkreten Zusammenhangs geben muss, um die abstrakte ökonomische Form aufzuheben und dass beides ein und dieselbe Aufhebung als bewußter Akt geschichtlicher Menschen ist, die ihn vollziehen.
Der Arbeitsprozeß ist ökonomisch formbestimmt, wie er auch wirklich nur zergliederte Arbeit enthält, die lediglich »hinter dem Rücken der Produzenten« ihren gesellschaftlichen Zusammenhang findet. Eine Aufhebung des Kapitalismus kann nur dadurch wirklich geschehen, dass die Menschen die bisherige Entwicklung ihrer Sinne zu einem wirklichen Sinnzusammenhang bringen. Ein »Marxismus«, der sich nur als Kritik der ökonomischen Form versteht, hat mit Karl Marx so viel zu tun, wie ein Psychologe mit der Seele! Marx hatte nicht die Form als solche kritisiert. Sie war dem Stand der Entwicklung der Produktivkräfte geschuldet und zugleich im Widerspruch zu ihrer Entwicklung. Er hat die Politik zur Verewigung dieser Form bekämpft. Er hat die »Kritik der politischen Ökonomie« geschrieben!

Es war eine elementare Revision des Marxismus, die dem Revisionismus aller anderen politischen Gruppen seit Lenin entspricht. Nur die Auffassung, dass unser Leben in seinem Zusammenhang noch wirklich geschaffen werden muss, dass es das Verlangen hiernach enthält und deshalb seine Zergliederung erkennt, entspricht dem von Marx veröffentlichten Verständnis von Ökonomie und auch dem öfter erwähnten Verweis auf das gesellschaftliche System der Bedürfnisse, die sich zum »Sinn des Habens« (MEW EB I, S. 539) vereinseitigen. Das ist auch deshalb wichtig, weil es die Verselbständigung menschlicher Bedürfnisse wie der Kultur überhaupt involviert, also auch die Forschung hieran nötig macht (was ja von Marx in den Frühschriften und im »Kapital« mehrfach erwähnt ist).