Gesund leben - eine soziale Bewegung, die Streit sucht



Aufgeweckte Bürger lassen sich nichts vormachen. Ihnen entgeht nichts, schon gleich gar nicht ihr eigenes Wohlbefinden. Sie registrieren Gewicht und Blutdruck, den PH-Wert ihrer Haut und ihre sonstigen Leistungskurven. Anhand einschlägiger Marschtabellen stellen sie dann fest, wie bedenklich die Abweichungen ausgefallen sind. So auf die Tücken ihres Stoffwechsels bedacht, sinnen sie auf Abhilfe und gestalten ihren Lebenswandel bewußt.

Leider gehen ihnen bei dieser Selbstkontrolle manchmal die Maßstäbe etwas durcheinander. Sicher zeugt es von ausgeprägtem Verantwortungsbewußtsein, wenn man sich als Grund für seine kleinen und großen Leiden immerzu vorrechnet, man hätte nicht gesund gelebt. .aber solche gesundheitsbeflissene Zeitgenossen täuschen sich auch leicht darüber, was in ihrer Macht steht. Wenn sie das beim haushälterischen Umgang mit ihrer Gesundheit bemerken, sind sie sauer. Dann hat die Selbstbezichtigung ein Ende und die Schuld wird zumindest in der leidigen Raucherfrage auch einmal anderen gegeben.

Vom Risiko in der Essensfrage

Die Ernährungsphysiologie ist eine volkstümliche Wissenschaft geworden. Ihr Erfolg bezeugt, daß Essen und Trinken nicht mehr zum Kreis der Verrichtungen gehören, die ebenso selbstverständlich wie regelmäßig abgewickelt werden. Die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Ratschläge und Warnungen dieser Wissenschaft verrät, daß die Ernährung als Problem angesehen wird. Quantität und Qualität des Zeugs, das man heute so zu sich nimmt, sind gleichermaßen ins Gerede gekommen-- ganz, als wären sie nicht so sehr unerläßliche Voraussetzung für das Funktionieren des Organismus als vielmehr eine enorme Ansammlung von Gefahren, weil-- zumindest möglichen-- Krankheitserregern Wohlgemerktes ist nicht die Rede von Giften in der Nahrung, sondern von den sorgsam gezählten Kalorien, die "Gift sind", vom Schweinefleisch und Weißbrot, das "Gift ist" für den Körper. Die behaupteten Verhältnisse sind solche von Ursache und Wirkung, und sie lauten meist so ähnlich wie "Zuviel von der Sorte Fett, Kohlehydrate-...führen zu..." Was da nicht alles den Cholesterinspiegel gefährlich hebt, von der fünften Tasse Kaffee bis zum Frühstücksei, und was da nicht umgekehrt manches Wertvolle enthält, vom ersten (und letzten) Bier bis wiederum zum Frühstücksei. Oft geben sich die Informationen wie verläßliche Regeln, nicht selten werden sie widerrufen und durch neue korrigiert, und am allerhäufigsten lösen sie sich in die schon nicht mehr so entschiedene Formel auf, die eine "ausgewogene Ernährung" vorschreibt. Letzteres kriegt man insbesondere dann zu hören, wenn wieder einmal Übertreibungen vorgekommen sind, die auf sehr ungesunde Weise die eine oder andere Rezeptur zum Patentrezept erhoben haben.

Sicherheit und dauerhafte Mehrheiten, die vor Gesundheit strotzen, hat die Ernährungswissenschaft mit ihren volksnahen Filialen in Apotheken Drogerien, Alternativläden und Doktorecken in Illustrierten bislang nicht zustandegebracht. Auch die Unsitte der Ärzte, bei denen ja eine ganze Menge Volk vorbeikommt, an so gut wie jede Diagnose eine ernährungsbezogene Warnung anzuschließen, hat nichts bewirkt. Wenn er nicht selbst schon Fanatiker des gesunden Lebens geworden ist, wird auch kein Arzt behaupten, daß eine üppige Mahlzeit am Tag pathogen sei. Er weiß sehr wohl, daß zu einem Herzinfarkt mehr gehört und sehr viel anderes als zwei Kilo Übergewicht. Daß die praktischen Erfolge der populären Verpflegungskunde so matt ausfallen, liegt nicht unbedingt daran, daß sie Unsinn von sich gibt. Das kommt sicher auch vor, wenn Trommler der gesunden Ernährung missionarisch werden und zu Nudeln und Vollkorn statt Fleisch und Weißbrot raten und dabei trockenen Auges versichern, immer müde gewesen zu sein, solange sie noch Fleisch gegessen haben. Daß die Kenntnisse über den Abbau der Nahrung, ihren Gehalt und den Bedarf des Organismus nichts taugen, wird auch niemand behaupten. Im Gegenteil, Diabetiker und eine ganze Latte anderer Kranker können sich bei den Ernährungsphysiologen bedanken, weil sie ihnen ermöglichen, halbwegs zurechtzukommen. Absurd wird die Veranstaltung des Titels "gesunde Ernährung" nur, wenn Jedermann mit einem Regime beglückt werden soll, das Leistungssportlern im Staatsdienst und Kranken ansteht. Umgekehrt ist es auch nicht verwunderlich, daß die Ablehnung eines Küchenzettels nach Maßgabe der Eiferer immer noch die Regel ist--und vielleicht sogar in Fällen erfolgt, wo Vorsicht tatsächlich angezeigt ist.

Die eine Frage, die da die Geister scheidet, ist eine des Willens. Immerhin bedeutet der Entschluß, beim Essen und Trinken ein Programm zur Vermeidung gesundheitsgefährlicher Kost zu befolgen, das Ausschlagen eines Angebots; selbiges lautet aufgrund der Fortentwicklung der Küche immerhin, daß eine Naturnotwendigkeit nach frei gewählten Kriterien des Geschmacks erledigt werden kann. Was einem schmeckt, ist beim Verzehr, welcher einer Risikovermeidungsstrategie unterworfen wird, ganz sicher nicht mehr entscheidend. Die Gesundheitsapostel wissen schon, warum sie betonen, wie "schmackhaft" auch gesunde Kost sein kann. Als ob die Versicherung, daß es nach was schmeckt, auch schon den Appetit darauf ersetzen würde! Kurz: Es ist ein Akt der Ein- und Umstellung, der eine Selbstdisziplinierung in der Sphäre der gewöhnlichsten Genüsse darstellt. Und daß ein herrlich duftender Malventee des Abends zum Kartenspielen ein kaltes Bier in den Schatten stellt, mag mancher behaupten. Aber mit keinem besseren Grund als das Gegenteil.

Die andere Frage betrifft das Können. Immerzu Zeit und Kraft auf die Zubereitung, die Beschaffung des garantiert keimfreien Mahls verschwenden--das ist aufgrund sonstiger Pflichten gar nicht immer so einfach. Auch das Geld spielt da manchmal seine Rolle; seitdem gesundes Essen und Trinken ein Konkurrenzposten auf dem Markt geworden ist, kostet die Gesundheit schon dann mehr, wenn man sie hat und ihre Beschädigung per Nahrungseinnahme vermeiden will. Auf den Streit, ob Leberkäs-Semmeln Akne produzieren oder kanzerogen sind, braucht sich niemand einzulassen. Der Wahn liegt einzig und allein in der Beförderung des Müsli zur Lebensversicherung.

Enttäuschte Dogmen

Eine >>bewußte" Handhabung von Speis' und Trank, so der schlichte Hinweis bisher, hat ihre Grenzen. Dergleichen geht zwar, aber auf Kosten einer Gewohnheit, die selbst bei beschränkten Mitteln durchgesetzt und nicht zu verachten ist. Sich aus dem täglichen Hunger und Durst die Qual der Wahl zu leisten, was es denn diesmal sein soll, ist doch wirklich nicht ohne. Andererseits, so lautete auf Grundlage dieser Praxis das zweite Bedenken, heißt es einiges, wenn ein Mensch seine Verpflegung nicht nur des recht annehmbaren Moments der Willkür beraubt und sie darüber hinaus zu so etwas wie einem Mittelpunkt des Lebens erhebt, der keine Nachlässigkeit duldet, der stets seinen extra Aufwand wert sein :soll weil ja immerhin eine Mordsgesundheit ein Lebensgefühl und ein hohes Alter dazu dranhängen. Was haben denn die Gewissenswürmer ihrer eigenen Existenz so Wichtiges vor, das ihnen die Gefährdung ihrer Gesundheit so katastrophal erscheinen laßt? Wenn sie sich geistig und praktisch der nebensächlichsten Sache verschreiben, die es gibt, solange man sich gerade etwas anderes vornimmt? Dieselben Fragen halten wir im übrigen für brauchbar in bezug auf die andere Art",etwas für seine Gesundheit zu tun<<. Gemeint ist das ziellose Spazierengehen, Joggen und anderes, das inzwischen auch Leute betreiben, die keinen Spaß an Spiel und Sport haben, weil sie sie nicht ernst nehmen, sondern eine Pflicht daraus machen.

Das dritte Bedenken gegen den Gesundheitsfanatismus stammt von dessen offiziellen Betreuern selbst. Es konnte nämlich nicht ausbleiben, daß die Wege Alternativen Mampfens der Prüfung daraufhin unterzogen wurden, was sie wirklich taugen. Flöckchen und Körnchen waren zwar anerkannt, Yoghurt ebenfalls und in 600 Varianten auf dem Markt--aber war auch gesichert, daß sie lebensmittelchemisch besehen dem Zweck ihrer Nachfrager entsprachen? Inzwischen gehen die Befunde dahin, daß mancher Kandidat für ein extrem gesundes Frühstück ein glatter Ausfall ist. Manche plädieren für Selbstgemahlenes gegen die Zuckerpampenmüslis in den Regalen, andere geben zu, daß alternativ angebaute Pflanzenkost auch nicht den sehr allgemeinen Wirkungen kapitalistischer Naturbearbeitung auskommt. So daß Dritte mit dem endgültig begriffslosen Etikett >>natürlich>> hantieren und darüber vergessen, daß ein Zyanid oder ein Muckenpfiffer nicht minder "natürlich" sind als ein Ölbad aus dem Reformhaus und umgekehrt.

Was diejenigen, die ein gesundheitsbewußtes Leben versuchen, erfahren, ist sicher nichts Besonderes. Auch sie nehmen das Ihrige mit vom allgemeinen Zustand der Lebensmittel, der elementaren namens Wasser, Luft und Erde, der gehobenen, über deren Ingredienzien bisweilen ein Wein-, Nudel-, Fleisch- & Wurstskandal Auskunft gibt, der übrigen, deren Giftigkeit sie angesichts ihrer Ohnmacht als Konsumenten einfach nicht ausweichen können.

Dennoch, trotz handfester Erfahrungen und Nachrichten über Smog, Becquerel und Rhein, trotz eindeutiger Auskünfte über die ziemlich begrenzten Möglichkeiten sich eines gesundheitsbekömmlichen Lebens zu befleißigen, hält sich der Standpunkt des selbstverantwortlichen Lebensmittelgesetzgebers.

Der Aufstand der Friedenspfeifen

Ob Rauch aus einer Pfeife oder von einer Zigarette duftet oder stinkt, ist eine müßige Frage. Daß er gesund sei, hat sowieso noch niemand beweisen wollen. Wenn er Leuten in den Augen beißt, die ihn nicht gewohnt sind, so ist das kein Wunder. Daß er anderen schadet, die an Augen und Nase sowieso schon was haben, ist gewiß. Insofern ist jeder grund- und zwecklose Streit von vornherein ausgeschlossen. Jedenfalls wäre er ausgeschlossen, wenn nicht die Nichtraucher, die sich längst das Amt des Mitrauchers anmaßen, immerzu Streit suchen würden.

Nein, gemeint ist nicht der Streit um Rauchverbot und -pausen, der inzwischen allüberall eingerissen ist. Der ist allerdings auch eine Frage des Kompromisses, der technischen Regelung, und nicht eine selbstverständliche Entscheidung zugunsten der Mitraucher. Solange jeder Großstadthund nach seinem Exitus eine grauschwarze Lunge aufweist, sollte sich der Vorwurf der Körperverletzung gegen die Minderheit der Raucher eigentlich vermeiden lassen. Läßt er sich aber nicht, weil ein wunderschönes Argument zur Verfügung steht: Wenn schon dem in Hunderttausenden von Tonnen gemessenen Dreck der kapitalistischen Umwelt nicht auszuweichen ist, dann soll wenigstens jede Belastung und Belästigung unterbleiben, die eine Sache privaten und mit-menschlichen Ermessens ist!

Das Traurige an diesem Einfall liegt darin, daß die Belästigung allemal einen Gedanken und praktisch einen Verzicht wert ist, solange einem am Beschwerdeführer gelegen ist. So wie die Dinge heute aber stehen, liegt der Akzent auf der Belastung, und wegen der soll sich jede Belästigung von vornherein verbieten. Mit Hinweisen auf die Krankenkassen, die ihren letzten Peso für Raucherkrebse springen lassen, wird da locker hantiert. Was man aus Amerika-Nord in der letzten Zeit so hört, nimmt sich auch die Gewalt des Geschäfts und des Staates der Mitraucher an, und sie gibt denen recht, die sich

in ihrer Ohnmacht in Sachen Gesundheit auf den letzten Kriegsschauplatz zurückziehen, der ihnen geblieben ist. Ein alternatives Privatinteresse vom Gesundheitsstandpunkt aus angreifen und in die Schranken weisen lassen)--das ist die offensive ,Resignation' mancher Leute vor Verhältnissen, denen sie sonst nie die aggressive Melodie ihres "vernünftigen Lebensinteresses vorspielen. Schön zu wissen, daß im Pentagon jetzt Rauchverbot angesagt ist! Herz, was willst du mehr? Gefahr gebannt, Sicherheit vorhanden. Ein schönes Feld auch für alle friedens- und umweltbewegten Protestanten, die bei allen Spinnereien über die Weltenläufe in einer Hinsicht noch Realisten geblieben sind: Der Standpunkt des gesunden Lebens ist erlaubt und hat jede Menge Chancen.