Die Produktion und das in Verkehr bringen chemischer Substanzen wird durch Gesetze und Verordnungen kontrolliert. In den Handel kommende neue und jetzt auch alte Chemikalien werden routinemäßig auf Schädlichkeit getestet, für hunderte von Stoffen wurden Grenzwerte festgelegt und hin und wieder werden Stoffe sogar verboten. Bundesdeutsche Arbeitsplätze, das Trinkwasser, die Atemluft und die Lebensmittel sind dadurch nicht gesünder geworden, im Gegenteil.
Die Kritiker von BUND, KATALYSE, ÖKOINSTITUT lassen sich dadurch nicht beirren und fordern noch mehr dieser staatlichen Aktivitäten: ,,Viele Grenzwerte seien noch zu hoch, viele gesundheitsschädlichen Wirkungen seien noch völlig unbekannt, überhaupt müsse noch mehr geforscht, und die Ergebnisse müßten schneller und konsequenter umgesetzt werden". Als wäre die allumfassende Giftbeibringung das Resultat eines mangelhaften Kenntnisstands der Schadstofforschung und von Versäumnissen in der praktischen Umsetzung ihrer Ergebnisse durch die staatliche Umweltpolitik. Um auf solche Kritik zu kommen, muß man allerdings ignorieren, was die Grenzwertforschung wirklich treibt, und wozu das gut ist.
Gewisse Substanzen haben schädliche Wirkungen auf die Lebensvorgänge von Menschen, Tieren und Pflanzen. Die schädlichen Eigenschaften dieser Stoffe herauszubekommen, evtl. auch in bestimmten Mengenverhältnissen, in denen sie ihre Wirkungen entfalten. ist Sache der Naturwissenschaften. Daran ist nichts verkehrt. ,,Grenzwerte" kommen bei dieser Forschung allerdings nicht heraus. Da muß schon ein zusätzliches, ganz und gar nicht wissenschaftliches Interesse dazutreten: Das lnteresse festzulegen, wieviel von dem Zeugs Menschen, Tiere bzw. Pflanzen verkraften können. Diese Sorte Wissenschaft will Höchstmengen zu verabreichender Schadstoffmengen definieren, unterhalb derer die Belastung der Menschen als unschädlich angesehen werden könne. Grenzwerte, die vorschreiben was erlaubt ist, gibt es nur, wo Gift in der Fabrik, im Produkt, in Wasser und Luft als unabdingbare Notwendigkeit der freien, marktwirtschaftlichen Produktionsweise unterstellt sind. Nur dann kommt die perverse Frage auf, wieviel Gift der Mensch letztlich aushalten kann.
Die Forschung zur Festlegung von Grenzwerten ist kein Schutz vor Vergiftung, das zeigt der erste Blick auf Gegenstand und Methoden. Bereits im Ansatz stellen sich die Forscher dümmer als sie sind, wenn sie so tun, als wüßte man nichts oder noch zu wenig über die Eigenschaften der zu erforschenden Stoffe. Dabei fallen keine Chemikalien vom Himmel, sondern die Stoffe werden
Ganz gezielt aufgrund der geplanten Nutzanwendung und ihrer zu erwartenden chemischen und physikalischen Eigenschaften konzipiert und synthetisiert. So sind die wesentlichen Eigenschaften von neuen und alten Stoffen bestens bekannt und brauchen nicht immer wieder von Neuem erforscht zu werden. Wer will, kann die wesentlichen Eigenschaften in jeder Bibliothek in den Chemical Abstracts nachschlagen. Auf der anderen Seite sind auch Biochemie und Stoffwechsel des menschlichen Organismus jedenfalls soweit bekannt, daß es keiner Hellseherei bedarf, zumindest qualitativ vorauszusagen, was passiert, wenn eine bestimmte Substanz in den menschlichen Körper gelangt. Daß dies so ist, zeigt auch ein Blick in die moderne Pharmaforschung, deren selbstverständlicher Ausgangspunkt die genaue Kenntnis der physiologischen Wirkungsprinzipien der verschiedensten Substanzklassen ist. Nur wenn es um Schadensforschung geht, will keiner mehr Bescheid wissen, und die Wissenschaft setzt den Zweifel in die Welt, ob ein Gift wirklich ein Gift ist, und macht daraus ein Forschungsprogramm. So hat sie dann z.B. das aparte Problem ob 1.1.1. Trichloräthylen 10mal oder 11 mal giftiger ist als 1.1.2. Trichloräthan, obwohl man seit Jahrzehnten weiß, daß praktisch alle chlorierten - Kohlenwasserstoffe mehr oder weniger giftig sind. Ginge es wirklich um Schadensverhütung, müßte man nicht, erst die schädlichen Wirkungen der CKW im Detail: erforschen, sondern es wäre wohl selbstverständlich dafür zu sorgen, daß niemand mit chlorierten Kohlenwasserstoffen in Kontakt kommt. Geht es bei der Schadstofforschung allerdings darum, wieviel von einer bestimmten Substanz kann Chemiewerkern oder Hausfrauen zugemutet werden, ohne daß zuviele zur Unzeit erkranken oder versterben, eröffnet sich angesichts derzeit ca. 8 Millionen existierender Substanzen ein endloses Forschungsfeld. Dies ergibt sich weniger aus der großen Zahl, es liegt vor allem in der Fragestellung, die nicht wie die Kritiker fälschlich unterstellen, auf den Erwerb ,,gültiger" Kenntnisse sondern auf die Festlegung praktikabler Schadstoffbelastungen zielt.
Die eherne Grundlage jeder toxikologischen Untersuchung ist das Paracelsus'sche Postulat von der Wirkungsabhängigkeit der Dosis. Angeblich soll es für jeden Stoff eine bestimmte Höhe der Dosis geben. bei dem er zum Gift wird. Umgekehrt soll jeder Stoff bei nur genügend geringer Dosis unschädlich sein. In Wirklichkeit gibt es jedoch keine allgemeingültige Gesetzmäßigkeit! Ob die Wirkung dosisabhängig ist oder nicht, hängt vom spezifischen Stoff ab. So gibt es Stoffe wie z.B. Essigsäure, die bei niederer Dosis völlig harmlos sind, bei mittleren Dosen reversible Schäden verursachen und erst bei hohen Dosen lebensgefährlich werden. Dann gibt es Stoffe wie z.B. Vitamin A, Vitamin E oder das Spurenelement Selen, die bei niederer Dosierung lebensnotwendig, bei hoher Dosierung jedoch äußerst giftig sind. Dann gibt es Stoffe wie z.B. Wasser, bestimmte Eiweißstoffe und Fette, bei denen eine Dosisangabe selbst dem Laien absurd erschiene. Andere Stoffe, sicher der Großteil der 8 Millionen, wie z.B. die CKW, Dioxine, Nitrosamine, radioaktive Verbindungen etc. sind cancerogen, mutagen, allergen oder bewirken sonstige chronische Schäden. Bei diesen Stoffen weiß man, daß bereits einzelne Atome bzw. Moleküle Schädigungen im menschlichen Körper bewirken können. Es existiert bei diesen Stoffen also keine niederste ungefährliche Dosis. All das wissen die Toxikologen ganz genau, doch sie gehen prinzipiell davon aus, daß erst ab einer gewissen Dosis eine schädigende Wirkung auftritt
Naturgemäß sind genau die ,,Problemstoffe", für die es keine unschädliche Dosis gibt, der bevorzugte Gegenstand der Schadstofforschung. Die Toxikologen verfüttern die als ,,Gefahrstoff" zu untersuchenden Substanzen mikro-, milli- und grammweise an Ratten, Mäuse und Meerschweinchen bzw. setzen die Tiere verschiedenen Atemluftkonzentrationen aus und halten fest, bei welcher Dosis wieviel Prozent abgekratzt sind. Treten diese Todesfälle bereits bei relativ niederen Dosen/pro kg Körpergewicht ein, wird der Stoff als ,,gesundheitsgefährlich" eingestuft. Dann muß in ,Feinarbeit" ein Grenzwert festgelegt werden: Es wird getestet, ab welcher Dosis .erste Wirkungen" wie Änderung der Atemfrequenz, des Muskeltonus, des Blutdrucks etc. auftreten. Die so ermittelte Dosis mal einem ,,Sicherheitsfaktor", auf Atemluft- bzw. Lebensmittelkonzentrationen und auf kg/Körpergewicht etc. umgerechnet, gibt dann den schönsten Grenzwert-Vorschlag. Wenn also z.B. bei einem ,,gesundheitsschädlichen" Gas kurzzeitige Expositionen mit ca. 5000ppm zu tödlichem Ausgang führen und bis ca. 500ppm die Schwelle des Auftretens erster ,,Krankheitssymptome" liegt, ist ein MAK-Wert (maximal erlaubte Arbeitsplatzkonzentration) von 50ppm die Regel. Natürlich bedeutet solch ein Grenzwert alles andere als eine Garantie, daß ein Gift jetzt in solchen Dosierungen auf einmal verträglich würde. Die Toxikologie jedenfalls weiß sich durch dieses Verfahren auf der ,,sicheren Seite."
Daß ein einmal festgelegter Grenzwert immer wieder mal revidiert wird, liegt nie an der Einsicht in die Unhaltbarkeit des der toxikologischen Forschung zugrundeliegenden ,,Dosis/Wirkungs-Prinzips". Der Grenzwertforscher sieht das ganz praktisch: Die Fütterungsversuche an Mäusen und Ratten sind sozusagen die ,,Reagenzglasversuche", die Krankheits- und Sterbefälle aufgrund des in der Industrie praktisch angewandten Grenzwerts sind der .Feldtest". Mehren sich Berichte über schwere Erkrankungen oder gar Todesfälle, kommt der Toxikologe deshalb zur ,,Erkenntnis", neue ,,noch umfassendere" Versuchsreihen starten zu müssen, zur Abwechslung vielleicht mit ,,menschenähnlicheren" Hamstern. Notfalls wird er dazu durch staatliche Anweisungen oder durch Forschungsgelder aktiviert. Und macht sich Grenzwertforscher nach Feierabend und ein paar Glas Bier einmal Selbstvorwürfe, denen sicher die, ,,noch zu wenig geforscht" zu haben.
Die Toxikologie berücksichtigt bei ihrer Forschung nicht nur die Menge sondern auch die Einwirkungsdauer. Daß es dabei auf keine ,,gültigen' Ergebnisse im wissenschaftlichen Sinne ankommt, zeigt schon wie bei der Dosis der Ausgangspunkt. Es gibt in Biochemie, Physiologie und Pharmakokinetik keine Gleichung, mit der sich Milligramm gegen Jahre hochrechnen lassen. Doch der gelernte Toxikologe hat dafür ein Postulat: ,,Kürzere Zeiten lassen sich gegen höhere Dosen umrechnen'. Schließlich hat er plausible Gründe aus kurzzeitigen Tests auf jahrelange Einwirkungen zu schließen. ,,Anzustreben wären zwar Tests von mindestens 2 Jahren Dauer" meint der Forscher, begnügt sich dann jedoch ,,schon aus Zeitgründen" mit standardmäßigen nsubchronischen Langzeittests" von 90 Tagen. Er weiß, das ist realistisch, denn erstens nützen 2 Jahre auch nichts (bei Krebsinkubationszeiten von 15 Jahren und mehr), und zweitens leben die meisten Labormäuse ohnehin nur wenige Monate, bevor sie einer der häufig grassierenden Laborepedemien zum Opfer fallen. Ohnehin sind Moment der Willkür zu entscheiden, woran jeweils das einzelne Viech gestorben ist, an der zu untersuchenden Substanz, an Grippe oder an Altersschwäche. So bevorzugt der moderne Forscher, wenn irgend möglich, die schnellen, billigen und tierschutzfreien Tests an Zellkulturen, Bakterien und anderen Mikroorganismen. Die Verrechnung von Menge gegen Zeit hat noch einen einfachen, praktischen Grund: Der zu ermittelnde Grenzwert soll nicht ,,aus Versehen" niedriger als unbedingt nötig angesetzt werden. Werden von einer Substanz, die in großen Mengen, kurzfristig verabreicht, sofort zum Tode führt, gleiche oder größere Mengen über Iängeren Zeitraum verteilt .,ohne Schaden vertragen", muß diese Möglichkeit selbstverständlich auch bei der Festlegung des Grenzwerts genutzt werden. Wie ,,nieder" der Grenzwert wirklich liegt, kann ohnehin erst der echte Langzeitversuch am Menschen ergeben, ob am Arbeitsplatz oder mittels Marmelade .. .
Von den Untersuchungen an Bakterien, Zellkulturen, Ratten wird auf die Wirkung beim Menschen geschlossen. Auch dafür hat der Toxikologe ein Postulat: ,,Prinzipiell kann vom Versuchskaninchen auf den Menschen umgerechnet werden'. Zwar sind Stoffwechsel und Metabolismus (Verteilung, Anreicherung, Abbau, Umbau und Ausscheidung) in unterschiedlichen tierischen Organismen und im menschlichen Organismus bekanntermaßen sehr verschieden. Oft wirken z.B. nicht die an sich harmlosen Stoffe, sondern erst ihre schädlichen Abbauprodukte. Was z.B. dann nicht zum Tragen kommt, wenn der Stoff vom Versuchskaninchen unabgebaut ausgeschieden wird. Und daß der menschliche Körpers was anderes ist als eine Anhäufung von Zellen, hat sich sogar unter Wissenschaftlern herumgesprochen. Trotz dem ist der Schluß von der Zellkultur oder der ,robusten" Ratte auf den ,empfindlichen" Menschen für den Toxikologen kein Problem: ,Aus positiven Ergebnissen beim Mikroben- oder Tierversuch läßt sich nicht mit Sicherheit auf Schäden beim Menschen schließen. Negative Ergebnisse ;m Mikroben- oder 'Tierversuch machen aber Schäden beim Menschen unwahrscheinlich." Dies läßt alle Interpretationsmöglichkeiten offen. Wie schon bei Dosis und Zeitdauer sind die gefundenen Zahlenwerte noch sehr ,interpretationsbedürftig" und haben so für den Toxikologen ohnehin nur ,,vorläufigen" Charakter.
Mit Rattenfüttern mag sich der Grenzwertforscher nicht begnügen, zur Konzeption von Labortests für die Festlegung neuer Grenzwerte wie zur ,,Verifikation" alter Grenzwerte braucht er die Rückmeldung aus aer Praxis . Da die Toxikologie auf gezielte Menschenversuche verzichtet, außer mit ,freiwilligen probanden", ist sie auf die Auswertung von ,,bekanntgewordenen" Schadensfällen am einzelnen Menschen angewiesen. Dieser Forschungsansatz ist ein Widerspruch in sich. Schließlich müßte, um als Schaden des zu untersuchenden Stoffes in die Literatur zu kommen, der Stoff bereits als schädlich bekannt sein. Deshalb bewirkt es in der Regel nichts. wenn z.B. ein Mediziner eine an einem Patienten festge. stellte Vergiftung publiziert, außer daß sein wissenschaftliches Renommee ruiniert ist. ,,Tod durch VinyIchloridvergiftung" gibt es eben nicht, wenn nach dem dato Stand der Wissenschaft ,,VC" ,relativ harmlos" ist. Auf Grundlage gesellschaftlich feststehender und gezählter Opfer von Vergiftungen beginnt erst so richtig die Diskussion ,An was mag es gelegen haben?'. Daß sich auf dieser Grundlage ein flottes, pluralistisches Gutachterwesen entwickelt, liegt auf der Hand: ,,denn, der Einzelfall beweist gar nichts". Ist für den erfahrenen Toxikologen nicht viel eher zu vermuten, daß der Tod statt durch z.B. VC in Wirklichkeit durch Saufen, Rauchen oder bereits bestehende Krankheiten des Patienten eingetreten ist (die sind ja immer da!)? Und hat der Verstorbene nicht tausende Kollegen in der kunststoffverarbeitenden Industrie, die noch nicht krank oder verstorben sind? Und beweist der Tod eines einzelnen Mensch durch einen bestimmten Stoff zunächst nicht nur, daß ,,dieser Mensch von seiner persönlichen Konstitution her offensichtlich disponiert war" daran zu sterben? Genausowenig wie aus den Laborversuchen mit Ratten und Mikroben ergeben sich aus den Krankheits- und Todesfällen einzelner Menschen bestimmte Zahlenvorschläge für den Grenzwert. Allerdings geben die bekanntgewordenen Einzelfälle am Menschen ,,hochinteressante" Hinweise für die Gewichtung und Interpretation, der bei den Laboryersuchen gewonnen Zahlenwerte.
Die Toxikologie betont immer wieder, daß sich ,,Menschenversuche selbstverständlich verböten". Mit professionellem Zynismus greift sie dafür begierig nach dem Zahlenmaterial des ständig in Fabriken und Wohnzimmern laufenden Dauerhärtetests. Wie gut sich bereits festgelegte Grenzwerte ,,bewähren" oder ob für Stoffe, die bisher unbeachtet blieben, erst noch Grenzwerte bestimmt werden müssen, ersieht die Grenzwertforschung aus der Epidemiologie, d.h. der statistischen Auswertung von Reihenuntersuchungen an ,,exponierten Menschengruppgen". Solche empidemiologischen Erhebungen werden heute in der BRD umfassend und mit Akribie durchgeführt. Natürlich ist diese mittels Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung betriebene ,,wissenschaftlich)" Suche nach ,,Häufigkeiten" von Krankheiten und deren .Korrelationen mit Umwelteinflüssen" das glatte Gegenteil der Erforschung von Krankheitsursachen und von schädlichen Wirkungen bestimmter Stoffe. Vom Verfahren her ist die Epidemiologie eine einzige Leugnung gewußter Zusammenhänge auf diesem Feld. Diese Sorte Wissenschaft stellt sich nämlich auf den Standpunkt, daß ,,der Kausalzusammenhang" zwischen bekannten Schadstoffen und schädigenden Wirkungen erst durch ,,signifikantes" Datenmaterial zu ermitteln:sei. So als ob die Statistik erst der wirkliche Beweis für die erforschten gesundheitsschädlichen Eigenschaften diverser Stoffe ist, und die gewußten Zusammenhänge letztlich ,bloß" theoretisch und insofern nur eine bessere Vermutung wären. Und für diesen Beweis - der statistischen Ermittlung ,,begründeter Verdachtsmomente' -, muß der Gesundheitsschaden sich für den Grenzwertforscher in Form einer gültigen, gesellschaftlich anerkannten und bilanzierten Erkrankung bemerkbar gemacht haben und zwar eindeutig. Krebs als solcher ist da für den Toxikologen erst einmal wieder ein Rätsel. Das überdurchschnittlich häufige Auftreten einer ansonsten seltenen Krebsart bei Arbeitern einer bestimmten Branche gibt Anlaß, sich auf die Suche nach ,krebserzeugenden Stoffen" zu machen. Die diversen Krankheits- und Sterberegister der Gesundheitsämter, Krankenkassen und Berufsgenossenschaften geben so nicht nur dem Staat Auskunft über den aktuellen Stand der Volksgesundheit, sondern sind auch Grundlage und Material der Schadstoffforschung. Hier teilt die Grenzwertforschung den Beurteilungemaßstab, der im staatlichen Standpunkt der ,,Volksgesundheit" festgelegt ist: Es kommt dabei nicht auf die Gesundheit bzw. den Schaden eines einzelnen Arbeiters oder Verbrauchers an, sondern auf den politisch gesichteten Zustand des Volkskollektivs des Menschenmaterials im Schnitt.
Die Erstellung der Statistiken hat ihre Raffinessen, wo es gilt bestimmte durchschnittliche Schadstoffexpositionen bestimmter Bevölkerungsgruppen mit ihren durchschnittlichen Krankheits- und Todesfällen zu korrelieren. Entscheidend dabei bleibt die Frage: was ist zu berücksichtigen und was nicht? So gibt es das vielzitierte Rätsel, daß Raucher in der BRD zwar signifikant häufiger an Lungenkrebs sterben als Nichtraucher, die wesentlich stärkeren Raucher in Sizilien und Griechenland dagegen signifikant weniger als die Nichtraucher in der Bundesrepublik. Oder daß trotz angeblicher genetischer Disposition Japaner in Japan an typisch japanischen Krankheiten sterben, während Japaner in Amerika an typisch amerikanischen Krankheiten sterben. Die Antwort, daß die Leute jeweils an dem Dreck sterben, den sie vor Ort abkriegen, und daß es um rauszukriegen welcher Dreck das ist, keiner großen Forschungen bedarf, ist dem Wissenschaftler zu trivial. Statt dessen denkt sich der Schadstoffforscher statistische Spitzfindigkeiten aus. Z.B., ,,daß lokale Häufungen von Erkrankungen nicht signifikant seien, weil nicht an größerem Flächendurchschnitt relativiert"; ,,daß innerhalb weniger Jahre stark ansteigende Todesfälle nicht signifikant seien, solange sie im 30 Jahre Durchschnitt untergehen" usw. ,,Signifikant" ist auf jeden Fall, daß die .Kindersterblichkeit' zu ,,50% auf Krebs" beruht, es in Garmisch weniger Asthmakranke pro 1000 und pro Altersgruppe gibt als in Mannheim und daß das Blut von Bewohnern ehemaliger, begrünter Müllkippen ,weit überdurchschnittliche Dioxinwerte" aufweist. An statistischen Querschnitten besteht so kein Mangel. Und natürlich gehören diese Daten wieder ,interpretiert", und ein jeder weiß, wie das geht: ,,Viele betroffene Leute leben noch, also kanns nicht so schlimm sein'; ,,Die verstorbenen Leute können an allen möglichen Expositionen oder ihrer Summierung erkrankt oder gestorben sein. Wer ist da schon in der Lage einer bestimmten Exposition die eindeutige Ursache zuzuschreiben?"; ,Die Leute haben außer der gezielt erfaßten, alle möglichen anderen nicht erfaßten Krankheiten und Schäden"; ,,Selbst bei gleichen Expositionen haben verschiedene Leute unterschiedliche Blut-, Leber- und XY-Werte. Was einerseits jede klare Aussage verbietet, andererseits bestens die Theorie der persönlichen Disposition erhärtet". Oder der Herr Wahrscheinlichkeitstheoretiker befindet, daß ein ,hinrei- chend begründeter Verdacht" besteht, für einen Zusammenhang zwischen Schadstoffeinwirkung und ,,überdurchschnittlichen'', spezifischen Erkankungen, weshalb er ,,der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe" die Erstellung eines Grenzwerts für diesen Stoff anträgt.
Die gültigen, offiziellen Schadensrechnungen und Opferbilanzen einer selbstverständlich vorausgesetzen Praxis der gesellschaftlichen Giftbeibringung bilden so für diese Grenzwertforscher den Bezugspunkt für die Beurteilung und Bewertung des ,gesundheitlichen Ge- fährdungspotentials" der angewandten Giftstoffe. Und mittels eines epidemiologischen und toxikologischen Rechnungswesen, das ganz zwangsläufig die schädigende Wirkung eines Stoffes an der aller anderen Schadstoffe vergleicht und relativiert, eruieren sie Maßzahlen für ,,wissenschaftlich tolerierbare" Schadstoffabelastungen, die weder Gesundheitsschäden verhindern, mit denen aber auf alle Fälle die Subjekte der Giftbeibringung, der Staat und ,,unsere Wirtschaft" gut leben können. Dafür brauchen die Toxikologen, Arbeitsmediziner, und Analytiker aus Universitäten, Industriebetrieben, Berufsgenossenschaften, Versicherungen und staatlichen Ämtern der bestellten Grenzwertekommission nicht einmal als Interessenvertreter ihrer jeweiligen Arbeitgeber tätig zu werden, sondern lediglich ihre Gesichtspunkte als unabhängige, wissenschaftliche Gutachter in Anschlag zu bringen. Mit Wissenschaft hat die Festle- gung und ,,Erforschung" von Grenzwerten allerdings nur insofern etwas zu tun, als diese Sorte Wissenschaft den Politikern Argumente und pragmatische Orientierungen liefert für eine politische Entscheidung: eben in Gestalt von Grenzwerten festzulegen, welches Ausmaß an Vergiftung von Land und Leuten ,der Wirtschaft" für ihr Geschäft und ,Wachstum" erlaubt sein muß, und anderereits volksgesundheitlich für unerheblich erachtet werden kann. Und für das staatliche Interesse,.,,Volksgesundheit" gegen ,,Volkswirtschaft" abwägen ,,müssen", liefert diese Grenzwertforschung in ihren Größen und Maßzahlen für .Gefährdungspotentiale", ,tolerierbare Schadstoffbelastungen" die entsprechenden pragmatischen Gesichtspunkte und kommt dem staatlichen Ideal, diese politische Entscheidung irgendwie berechenbar zu machen, so recht nahe. Daß der Staat die Entscheidung wieviel Gift, wann, wo drin Sein darf, gleich als ,,unabhängige" Grenzwertkommission mit toxikologischer und epidemiologischer Beweisführung institutionalisiert hat, führt bisweilen dazu, daß er die Abwägung seiner Notwendigkeiten nicht mehr einfach dem wissenschaftlichen Verfahrensweg überantwortet und er einen Stoff wie Perchloräthylen, der inzwischen in jedem Scheibchen Wurst und Käse zu finden ist, auch mal an der Senatskommission" vorbei verbietet. Oder er erläßt ,,Vorsorgewerte" wie bei Formaldehyd, obwohl von der deutschen Grenzwertforschung in beiden Fällen, ,die Cancerogenität wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden konnte."
Sicherlich läßt sich bei der Diskussion um die Interpretation von epidemiologischen Statistiken und Labormeßwerten nicht nur das gesamtwirtschaftliche Verantwortungsbewußtsein der einzelnen Gutachter erkennen, sondern oftmalig auch der Topf aus dem es bezahlt wird. Es ist allerdings nicht so, wie von ihren Kritikern bei BUND, KATALYSE. ÖKOINSTITUT etc vermutet, daß sich die Wissenschaftler angesichts einer ,Chemie-Mafia" in Wirtschaft und Politik ,,nicht trauen" würden, daß sie gar ,bestochen" sind oder ,zu keinem gültigen Ergebnis kommen wollen, weil sie sonst überflüssig und ihre gutbezahlten Stellungen loswürden". Diese Kritik übersieht geflissentlich, daß die Aufgabe der Grenzwerte nicht Verhinderung von Schaden sondern die Festlegung des volkswirtschaftlich nützlichen Schadens ist. Genau für diesen Zweck sind die Grenzwerte, genau so wie sie bestimmt werden, juristisch und wissenschaftlich allemal .gültig" und ,,eraktu genug. Wenn dabei die Gesundheit des Einzelnen auf der Strecke bleibt, beweist das nicht das Gegenteil, im Gegenteil.