Daraus, daß bei der Lohnarbeit regelmäßig Opfer in Form von Krüppeln, Frührentnern oder Berufskranken anfallen, wird hierzulande kein Geheimnis gemacht: Unter der Rubrik ,,Vermischtes" finden sich in den Medien immer wieder Meldungen über Leute, die beim Broterwerb um ihre Gesundheit gekommen sind. Hier ein paar Invaliden durch einen größeren Arbeitsunfall, dort ein Dutzend akut erkrankter Chemiewerker, die infolge eines undichten Ventils vergiftet worden sind. Manchmal bringt es ein solches Ereignis sogar kurzzeitig bis auf die erste Seite, wenn z.B. bilanziert wird, daß Zehntausende durch Asbeststaub vorzeitig über den Jordan gehen, oder ein kritisches Blatt in Ermangelung spannenderer Schlagzeilen einmal die ,,mörderische" Schichtarbeit an den Pranger stellt. Solche Aufmerksamkeit kommt dem ..Besitzer" eines Durchschnittsarbeitsplatzes mit seinen ganz normalen Rückenschmerzen natürlich nicht zu. Mit seinen abgenutzten Bandscheiben sucht der Arbeitsmann regelmäßig seinen Hausarzt auf, der bei solchen verbreiteten Volkskrankheiten routiniert seine Spritzen und Sälbchen verordnet. Sitzt der Kreuzlahme dann immer öfter im Wartezimmer, kommt schon mal die Frage nach den Ursachen seiner kaputten Knochen auf. Dabei fällt dem Geplagten sehr schnell seine ergonomisch mehr oder weniger- vorbildliche Zwangshaltung ein, in der er täglich seine acht Stunden am Band ableisten muß. Und der Herr Doktor gibt ihm zur Spritze noch den Rat mit auf den Weg, sich um eine leichtere Arbeit umzutun. Aber wo gibt es die schon?! Und wenn dann das ganze Warte- zimmer voller Leidensgenossen sitzt, glaubt man dem ausliegenden AOK-Blättchen vielleicht doch, in welchem- verschlissene Bandscheiben als ,,Tribut des Men- schen an den aufrechten Gang" dargestellt werden, und man eben ,,mit seinem Rückenleiden leben muß" . So geschieht es dann auch in der Regel: Der Herr Kassenarzt- . lebt nicht schlecht von, und die pflichtversicherten- Bevölkerung mehr schlecht als recht mit ihrem schmerzenden Knochengestell, und kein Mensch wundert- sich darüber, daß die Menschheit im ,,Zeitalter der Automatisierung" verschlissene Gelenke und Wirbel- hat, als ob sie noch hinterm Handpflug den Boden- den beackern würde .
Solche ,,Volkskrankheiten" wie auch die anderen sehr gleichförmigen Schäden an Herz, Gefäßen, Verdauungs- Organen und Nervensystem sind alles andere als ,normale, altersgemäße" Verbrauchserscheinungen. Sie sind die offensichtlichen Resultate sehr gleichförmiger Belastungen, die von einem Menschen verlangt werden, der das Pech hat, im ausgehenden Zwanzigsten Jahr- hundert seinen Lebensunterhalt mit Lohnarbeit verdienen- zu müssen. Die ganz normalen ,,Zivilisationskrankheiten" stellen sich -- ohne Verletzung einer einzigen Arbeitsschutzvorschrift -- früher oder später- unvermeidlich ein, wenn einer ,,nur" tagaus, tagein Normalleistung- abzuliefern hat. Diese ,,Normalleistung" ist man- teltarifvertraglich durch ihre Beziehung zur Gesundheit definiert: als die Arbeitsleistung, die von durchschnittlichen- Arbeitskräften ,,ohne Gesundheitsschädigung auf die Dauer erreicht werden kann". Dieses Maß ist garan- tiert nicht von einer Medizinerkommission erfunden worden. Und die (gewerkschaftlichen) Tarifexperten, die mit dieser Definition so tun, als hätten sie ermittelt, wieviel einem Arbeiter mit Rücksicht auf seine Gesundheit- zugemutet werden kann, haben keine Angst davor, sich daran zu blamieren, daß diese .Normalleistung" gar nicht der Normalfall in einer modernen kapitalistischen Fabrik ist. Der besteht vielmehr in zig verschiedenen Formen von Akkordarbeit, bei der es ja gerade auf die Überbietung dieses rein rechnerisch festgelegten Normalmaßes ankommt. Was ja -- laut Definition - heißt, daß der gesundheitliche Ruin bei diesen ganz normalen Arbeitsverhältnissen mit hundertprozentiger Sicherheit eingeplant ist. Über diesen Leisten der Normalleistung und ihrer- dauerhaften Überschreitung wird ein Lohnarbeiter sein Leben lang gespannt. Ob er 20 oder 58 Jahre alt ist, ein ,,Schrank" oder ein ,,Handtuch", ob er früh, spät oder nachts anzutreten hat, ob er morgens anfängt oder abends die dritte Überstunde schiebt, ob er eine Grippe im Leib hat oder ,,eine Nacht durchgemacht", für 100% Leistung bzw. genauer: für - je nach Akkordberechnung - 109% oder 115% ist er vom Kapitalisten eingekauft worden. So steht es in seinem Arbeitsvertrag. Minderleistung ist ein Kündigungsgrund. Damit das Arbeitsvolk die geforderte Leistung abliefert, ist nicht einmal ein Antreibe mit Peitsche nötig. Vorgesetzte in modernen Büros oder Fabrikhallen können sich auf das Einteilen der Arbeit zu Schichtbeginn beschränken. Das übrige besorgen eine lückenlose Arbeitsorganisation und eine Maschinerie, bei der das Interesse des Kapitals an Einverleibung von möglichst viel Leistung gewissermaßen eingebaut ist, so daß das Arbeitstempo dem als Anhängsel der Maschine arbeitenden Löhne wie eine technische Notwendigkeit der Produktionsmittel er. scheint. Daß der Arbeitsaufwand an den modernen Maschinen im Verhältnis zum materiellen Arbeitsertrag sehr klein wird, geschieht nicht, um die Arbeitskräfte zu entlasten und ihnen diesen Aufwand zu ersparen. Als der maßgebliche Aufwand, an dem zu sparen bzw. der zu ,,optimieren" ist, gilt nicht der des Arbeiters, sondern der des Kapitals in Form von Lohn- und Gehaltszahlungen für die angewandten Arbeitskräfte. Diese eigentümliche Aufwands- und Ertragsrechnung ist das allgemeine Gesetz sämtlicher Formen betrieblicher Leistungsorganisation, die die Arbeitskräfte auf die Dauer in so stereotyper Weise ruinieren. Und sie ist die Rechnungsart, die das Arbeitsleben der mit modernen Zivilisationskrankheiten gesegneten Gesellschaften allgemein beherrscht. Ihr ökonomischer Name ist ,,Lohnstückkosten"; daß von deren Senkung, und zwar vor alle durch Steigerung der erbrachten Leistung und ihres Ertrags, der ,,Industriestandort BRD" abhängt, wird von allen Zuständigen täglich beschworen. Auf jeden Fall entscheidet sich auch und wesentlich an ihnen, inwieweit das Interesse derer Erfolg hat, die Arbeitskräfte bezahlen, sie als Produktionsmittel anwenden und deswegen nicht bloß Arbeit, sondern Arbeit pro bezahlter Zeit, also Leistung sehen möchten. Und da dieses Interesse das beherrschende ist und an den Arbeitsplätzen der Nation die Gestalt eines ökonomisch-technischen Sachzwangs zur vorgeschriebenen Leistung angenommen hat, muß Lohnarbeit gesundheitsschädlich sein für die, die sie erbringen.
Es gibt daneben Umstände der modernen Lohnarbeit, die die Gesundheit der Arbeiter direkt angreifen und in unserer zivilisierten Gesellschaft zum Gegenstand eines Geschäfts eigener Art geworden sind: Für die Ruinierung der Nerven durch Schicht- und Nachtarbeit, für das Erdulden von Hitze, Staub, Gift, Lärm u.a. gibt es, tarifvertraglich festgelegt, ein bißchen Geld zusätzlich. Mit diesem Tausch von Gesundheit gegen ein Stück Lohn wird den Arbeitern eine Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst zugemutet, die auch noch in anderer Weise ihre Wirkung tut. Ziemlich durchgängig werden Schutzvorschriften und Einrichtungen als das Stück Arbeitsaufwand dingfest gemacht, das man sich sparen muß, um mit den Leistungsanforderungen zurechtzukommen. Unfallmediziner, Sicherheitsbeauftragte und Berufsgenossenschaften betreuen gemeinsam die Folgen und entnehmen ihren Erfahrungen leicht die Lehre, daß Lohnarbeiter ziemlich unvernünftige Geschöpfe sind. Dabei ist es keinesfalls ein unerklärlicher individueller Mangel an Aufmerksamkeit, Vorsicht u.ä., der die Arbeiter veranlaßt, Schutzvorschriften außer acht zu lassen, sondern die dem Kapital sehr willkommene Anstrengung, ,seine Arbeit erledigen" zu wollen. Dabei will er seinen Leistungsaufwand und Lohnertrag in ein etwas annehmbareres Verhältnis bringen. Dieses Bemühen, sich zum einen ein wenig Aufwand zu sparen, was ausschließlich bei den paar Handgriffen für die eigene Sicherheit betrieblicherseits geduldet wird, und sich zum anderen einige Extra-Lohnprozente für Extra-gesundheitsschädliche Bedingungen zu sichern, blamiert sich sehr gründlich an den Unfallrisiken und Berufskrebsen. Nur liegt das nicht an den unvernünftigen Lohnarbeitern, sondern an ihrer Einkommensquelle, der Lohnarbeit, die eine lohnende Kalkulation für sie nicht zuläßt.
Den modernen Sozialstaat lassen die zerstörerischen Wirkungen, die das von ihm garantierte Produktionsverhältnis an seinem Volk hinterläßt, nicht gleichgültig. Deshalb erläßt er ein ganzes Gesetzeswerk mit Arbeitszeitregelungen, Unfallverhütungsvorschriften, Jugendarbeitschutzbestimmungen und den berühmten MAK-Werten, die Höchstgrenzen für die durchschnittliche Konzentration von gesundheitsschädigenden Stoffen festlegen, die dem Arbeiterorganismus pro Arbeitsplatz von den Unternehmern zugemutet werden dürfen. Und er hält sich Gewerbeaufsichts- und Gesundheitsbehörden, die ein Auge darauf werfen, daß im Betrieb keine allzu drastischen ,,Verstöße" dagegen vorkommen. Bloß: Was könnte den ruinösen Charakter des kapitalistischen Produktionsprozesses offenkundiger bloßlegen, als daß selbst jede noch so kleine Rücksicht auf die Beschäftigten den Kapitalisten als staatliches Zwangsgesetz aufgeherrscht werden mußte und muß?! Und vor allem ist der Zweck dieser staatlichen Fürsorge nicht zu übersehen: Der systematische Verschleiß an Gesundheit in den Fabriken und Büros soll ja nicht unterbunden werden. Es geht allenfalls um die Unterbindung von ,unnötigen' ,Auswüchsen" -- damit die produktive Vernutzung des Arbeitsvolks insgesamt keinen Schaden nimmt und ungehindert weitergehen kann. Gegen die Rücksichtslosigkeit, die das freie Unternehmertum in seinem Umgang mit der Gesundheit an den Tag legt, sorgt der moderne Sozialstaat für das unumgängliche Maß an Rücksicht, ohne das das kapitalistische Geschäft mit den Geistes- und Körperkräften der Lohnarbeiter dauerhaft gar nicht zu machen wäre.
So steht der Staat allseits im Dienste der Gesundheit: Er ermöglicht dem arbeitenden Volk durch wohldosierte Beschränkungen der unternehmerischen Willkür das höchste Gut, das es hat, den anderen Klasse immer wieder zur Verfügung zu stellen.