Vom »Systemvergleich« zur Globalisierung«
Die große Karriere der lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende.
Teil 2 und Schluß: Wofür Staat und Kapital ihr perfektes Proletariat
brauchen und benutzen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert lang haben die kapitalistischen Weltmächte
ihre Proletarier für einen Konkurrenzkampf der ganz besonderen Art in Anspruch
genommen – am Ende mit Erfolg: Das weltkriegsträchtige Ringen mit
dem sowjetischen Staatenblock haben sie für sich entschieden. Ihren Unternehmern
und Politikern ist der praktische Nachweis gelungen, daß sie den mit Abstand
gewaltigsten privaten und öffentlichen Reichtum aus ihrem proletarischen
Fußvolk herauszuwirtschaften verstehen und damit auch am meisten anzufangen
wissen: Den größten Teil des Globus haben sie in ihren »Markt«,
in einen Kampfplatz ihrer ökonomischen Konkurrenz und eine ihnen zuarbeitende
Kapitalvermehrungsmaschinerie verwandelt; die politischen Herren der dafür
zuständigen Staaten haben gegen die widerspenstigen Abweichler im »Imperium«
des »realen Sozialismus« eine gigantische Aufrüstung einschließlich
ausgefeilter Atomkriegsplanung ins Werk gesetzt und den Rest der Welt der Kontrolle
ihres Abschreckungsregimes unterworfen. Ihre demokratisch emanzipierten Proletarier
haben daran nichts weiter auszusetzen gefunden, weder an der für sie ziemlich
strapaziösen und wenig lohnenden Produktion wachsender Kapitalmassen und
deren imperialistischer Verwendung noch an den wüsten Weltkriegsszenarios,
die die »westliche Welt« zur »Verteidigung«, nämlich
weltweiten Durchsetzung ihrer freiheitlich-marktwirtschaftlichen »Lebensart«
vorzubereiten für nötig befand.
Sieg über »realen Sozialismus«
Dabei hätten sie sich gar nicht für Stalin oder Chruschtschow erwärmen und zum »realen Sozialismus« sowjetischer Machart bekennen müssen, um diesen »Systemvergleich« zurückzuweisen und sich dem unerbittlichen Drang ihrer Chefs zur militärischen Beherrschung und ökonomischen Benutzung der Staatenwelt zu widersetzen. Ein Materialismus von unten, der einmal einen anderen ökonomischen Sachzwang anmeldet, auf einem anständigen Leben besteht und die absurden Unkosten globaler Abschreckung mit Atomwaffen ablehnt, hätte schon genügt.
Doch dazu waren die Lohnarbeiter der kapitalistischen Großmächte offensichtlich zu beschäftigt; mit der Notwendigkeit nämlich, mit ihrem Arbeitsdienst in der kapitalistischen Erwerbsgesellschaft zu bestehen, und mit der Freiheit, durch geschickte Anpassungsleistungen aus einer schlechten Lage das relativ Beste herauszuholen. Statt in ihrer Freizeit die Stichhaltigkeit ihrer trostlosen pro-»marktwirtschaftlichen« Kalkulationen zu überprüfen, haben sie sich auch noch ideologisch gegen die große Ausnahme von der demokratisch-marktwirtschaftlich-imperialistischen Regel in Stellung bringen lassen und jede Unzufriedenheit im Lande mit einem ideellen Ausweisungsbescheid bestraft – »nach drüben«, ins Reich der anderen Sorte Knechtschaft. Im Bedarfsfall, nämlich wenn es den Führern der westlichen Welt aus Gründen einer weltumspannenden »Vorwärtsverteidigung« unvermeidlich erschienen wäre, hätte die demokratisierte Arbeiterklasse sogar einen mit Atombomben ausgetragenen Weltkrieg über sich ergehen lassen; wirksame Einwände gegen die über Jahrzehnte andauernde Anstrengung, das sowjetische »Reich des Bösen« »totzu-rüsten«, hat sie jedenfalls nie erhoben.
Die Probe aufs Exempel ist ihr denn auch nicht aus eigenem Verdienst erspart geblieben. Die sozialistischen Machthaber »drüben« haben ihr kapitalismus- und demokratiewidriges Wirtschafts- und Herrschaftssystem erst zugrunde-, dann weg»reformiert«; aus Unzufriedenheit darüber, daß es ihnen Konkurrenzerfolge auf den beiden Gebieten schuldig blieb, und sie genau da hoffnungslos in die Defensive geraten waren, wo sie ihren großen Gegner, das Bündnis der kapitalistischen Weltwirtschaftsmächte, überbieten wollten: ausgerechnet bei der Erwirtschaftung immer größerer Geldüberschüsse aus »planmäßig« angewandter Lohnarbeit sowie auf dem Feld der strategischen Gewaltmittel und des darauf gegründeten weltpolitischen Einflusses. Am Ende haben die zuständigen Staatsparteien sich zu einer großen Wegwerfaktion entschlossen und ihr Heil im Anschluß ans erfolgreichere Ausbeutungs- und Herrschaftssystem gesucht – mit den bekannten, fürs betroffene Arbeitsvolk verheerenden Folgen.
Doch auch diese »Wende« hat weder die ex»realsozialistischen« Werktätigen noch die seit jeher freiheitlich regierten und marktwirtschaftlich kommandierten Arbeitnehmer über die Kriterien belehrt, nämlich über die Erfolgsmaßstäbe von Geschäft und Gewalt, die die moderne Welt so total beherrschen wie nur je ein »totalitäres Regime«. Die Liquidierung der »realsozialistischen« Alternative, dieser proletarierfreundlich gemeinten Korrektur des nie richtig kritisierten kapitalistischen und bürgerlich-demokratischen Originals, ist nirgends zum Anlaß genommen worden, der allein übrig gebliebenen siegreichen Partei um so mehr kritische Aufmerksamkeit zu schenken. Im Gegenteil: Seit es keine abweichende Art des Wirtschaftens und der Ausnutzung von Lohnarbeitern mehr gibt, gilt es allgemein auch schon als bewiesen, daß etwas anderes als purer Kapitalismus und politische Herrschaft per Parteienkonkurrenz nichts taugt und letztlich auch gar nicht funktionieren kann. Auch ideologisch triumphiert seither das Zwillingspaar »Demokratie & Marktwirtschaft« und schmückt sich mit dem einen besonders dämlichen Versatzstück aus der Erbmasse des alten »realsozialistischen« Theoriegebäudes, in dem der bürgerliche Verstand seinen eigenen parteilichen Opportunismus in verklärter Form und verabsolutierter Fassung wiedererkennt: Das Dogma, wonach der – wie auch immer errungene – Erfolg auch gleich die Richtigkeit der erfolgreichen Sache und, mehr noch, ihr historisches Recht auf Erfolg verbürgt, rechtfertigt nun unwidersprechlich die Sache des »Westens«.
Durch die Verelendung der vom »kommunistischen Joch« befreiten ehemaligen Sowjetmenschen ist dieser Standpunkt so wenig zu widerlegen wie durch den Preis, den auch deren westliche Kollegen für den Sieg »ihres« Systems zu zahlen haben. Die bekommen nämlich ihrerseits die Quittung für ihre jahrzehntelang erprobte und bewährte Bereitschaft, alles auszuhalten und mitzumachen, was ihre Firmen- und Staatschefs auf die demokratisch-marktwirtschaftliche Tagesordnung setzen: Nach dem »Systemvergleich« dürfen sie nun die »Globalisierung« zur historischen Erfolgsnummer machen.
Kampf der Konzerne und Nationen
Nach ihrem geschenkten Sieg über den sowjetischen Machtblock und dessen verkehrtes Herrschafts- und Wirtschaftssystem, in ihrer glücklich vollendeten »einen Welt«, treffen die kapitalistischen Weltwirtschaftsmächte nur noch und in aller Härte auf einen einzigen Gegner: aufeinander. Konkurriert haben sie natürlich auch schon in den Jahrzehnten zuvor, als sie im amerikanisch geführten imperialistischen Kollektiv angetreten sind, um ihre Freiheit zu »verteidigen«. Jetzt haben sie, was sie immer wollten: den totalen Weltmarkt. Mit überlegener Abschreckungsgewalt und einem ganzen Netzwerk inter- und supranationaler Rechtsbeziehungen haben sie die »Völkerfamilie« zum Geschäftsfeld für ihre Kapitalistenklasse hergerichtet und zum Kampfplatz des politökonomischen Interesses, das eine jede von ihnen mit dem schrankenlos freigesetzten Weltgeschäft verbindet.
Dieses Interesse, ebenso wie dasjenige ihrer kapitalistischen Unternehmer, hat denselben Inhalt wie der Imperativ, in dem sich auch schon der ganze soziale Ehrgeiz der modernen Klassengesellschaft zusammenfaßt: Es geht um Arbeit – rentable, versteht sich.
Kapitalistische »Arbeitgeber« sind ohnehin bedingungslose Anhänger dieses höchsten aller Wirtschaftsgüter. Das gerät leicht ein wenig in Vergessenheit, weil sie dem »Faktor Arbeit« höchst kritisch gegenüberstehen: Immerzu gibt er ihnen zuwenig her; andauernd wenden sie zuschüssiges Kapital auf, um ihn ergiebiger zu machen und sich die Bezahlung von Arbeitskräften zu ersparen, die auf diese Weise überflüssig werden. Dieses ehrgeizige Bemühen um »Arbeit sparenden Fortschritt« bringt gerade den fortschrittlichsten Arbeitgebern immer wieder den Vorwurf ein, sie ließen es an sozialem Pflichtbewußtsein fehlen und würden, entgegen ihrem eigentlichen Beruf und »bloß« um der Rendite willen, mehr Arbeitsplätze ab- als schaffen; und die so wohlmeinend kritisierten Kapitalisten geben dem Vorwurf auch noch halb recht, wenn sie sich in dem Gestus gefallen, die Ausbeutung von Arbeitskräften wäre eine Gnade, um die man sie anzubetteln hat.
Tatsächlich ist es aber noch allemal so, daß auch und gerade dann, wenn die Belegschaften mal wieder »ausgedünnt« und sogar ausdrücklich »Massen« entlassen werden, der Unternehmensgewinn nicht durch die rausgeworfenen Arbeitskräfte zustande kommt, sondern von denen fabriziert wird, die der Betrieb noch braucht. Und auf den »Abbau« solcher »Beschäftigung« ist kein Unternehmen scharf, im Gegenteil: Davon können kapitalistische Arbeitgeber gar nicht genug kriegen. Ihr Konkurrenzkampf zielt gerade darauf ab, mit einem Optimum an Rentabilität ein Maximum an Arbeit unter ihr Kommando zu bekommen.
Dieses Anliegen ist einerseits so alt wie der Kapitalismus. Andererseits gibt es auch dabei Fortschritte; und einer davon vollzieht sich mit der Vollendung des Weltmarkts gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Seither treffen nämlich nicht bloß im Exportgeschäft, sondern grundsätzlich überall, am Ende in jedem Warenhaus, konkurrierende »Multis« aufeinander: Weltunternehmen, die einander rund um den Globus Marktanteile streitig machen und auf diese Weise ganz praktisch die Schlagkraft und Ergiebigkeit ihrer Geschäftsmittel »vergleichen«.
Dabei läßt ein multinationaler Konzern des 21. Jahrhunderts sich nicht von irgendwelchen Standortvorteilen seiner Konkurrenten überraschen und ausmanövrieren, sondern hat seine Betriebe und Filialen »strategisch« über alle geschäftlich attraktiven Standorte auf der Welt verteilt und läßt die eigenen Unternehmensteile – einschließlich abhängiger Zulieferer und formell verselbständigter Abteilungen – gegeneinander um die niedrigsten Kosten und die höchsten Profitraten konkurrieren. So werden die lohnabhängigen »Mitarbeiter« des Kapitals quer durch alle »Industrie-« und »Schwellenländer« einem durchorganisierten Lohn- und Leistungsvergleich unterworfen. Der bekommt außerdem dadurch eine besondere Schärfe, daß der definitiv weltumspannende »Wettbewerb« kaum noch neue Geschäftsfelder zu erschließen findet, so daß sich den konkurrierenden Firmen zusätzliche Sphären des Wachstums bieten würden. Was eine Firma an Kapitalakkumulation zustande bringt, geht mehr oder weniger direkt und über alle Grenzen hinweg auf Kosten anderer. Der Leistungsvergleich der kapitalistischen Arbeitgeber zielt geradewegs auf die Ausschaltung von Konkurrenten, also auf die Monopolisierung des Kommandos über »notwendige«, nämlich weltmarktwirtschaftlich lohnende Arbeit. Für den Einsatz lohnabhängiger Arbeitskräfte ergibt sich daraus unerbittlich ein deutlich angehobenes Anspruchsniveau – gerade damit es dem Konzern gelingt, sein Kommando über profitbringende »Beschäftigung« auszuweiten.
Fanatiker »rentabler Arbeit«
Die Staaten, die ihre Kapitalistenklasse so erfolgreich zu diesem Verdrängungs-»Wettbewerb« ermächtigt und angestachelt haben, begleiten dessen Gang mit ihrer eigenen Arbeitsplatz-Rechnung: Die Monopolisierung lohnender »Beschäftigung« durch die Konzerne mit der rentabelsten Lohn-Leistungs-Bilanz soll gefälligst bei ihnen stattfinden. Dies schon allein aus dem banalsten haushaltspolitischen Grund: Die bürgerliche Staatsgewalt schöpft die Mittel ihrer Herrschaft in Geldform von ihren Bürgern ab, aus den »Masseneinkommen« sogar gleich doppelt, »an der Quelle« sowie bei jedem Einkauf, den ein »Endverbraucher« sich leistet; nur folgerichtig, daß sie sich als Anhänger »wertschaffender« »Beschäftigung« betätigt und auf möglichst vollzähligen Gebrauch ihrer arbeitsfähigen Bevölkerung drängt. Dies um so mehr, als die nach überkommenen sozialpolitischen Regeln registrierten und betreuten Arbeitslosen als Geldquelle weitgehend entfallen und statt dessen sogar Haushaltsmittel kosten. Außerdem bedeutet die elementare kapitalistische Gleichung, wonach der gesellschaftliche Reichtum nur Bestand hat, wenn er wächst, folglich immer größere Profitmassen aus den nationalen Ressourcen herausgewirtschaftet werden müssen, damit die ökonomische Basis der nationalen Macht intakt bleibt, für moderne Regierungen eine wirtschaftspolitische Herausforderung. Sie begnügen sich daher keineswegs damit, den Gang der Geschäfte, den sie über ihre nationalen Schranken hinaustreiben, sorgenvoll auf seine nationalen Erträge hin zu begutachten, sondern versuchen alles, um profitschaffende »Beschäftigung« in ihrem Zuständigkeitsbereich zunehmen zu lassen. (...)
Mit diesem Imperativ werden die politischen Standortverwalter erst recht zu
Fanatikern rentabler Arbeit: Es soll sich unbedingt lohnen, die nationale Arbeitskraft
bis zum letzten auszunutzen. Dafür nehmen sie sich selbst als Herren des
nationalen Bürgervolks in die Pflicht und richten ihren ganzen wirtschaftspolitischen
Elan darauf, am »Faktor Arbeit«, soweit er ihrer Verfügung
unterliegt, die Bedingungen für seine rentable Verwendung durchgreifend
zu verbessern sowie gleichzeitig am Aufwand für die sachgerechte Herrichtung
des Standorts zu sparen. In diesem Sinne werden alle Konditionen, die der Sozialstaat
für die Abwicklung von Lohnarbeit sowie für das Überleben seiner
Arbeiterklasse aufgestellt hat, verdächtigt, einer hinreichend effektiven
und hinreichend kostengünstigen Bewirtschaftung der nationalen Arbeitskraft
im Wege zu stehen – hinreichend für den Konkurrenzkampf ums solideste
Wachstum, in dem sich der Streit ums Geld der Welt entscheiden soll. Unter dem
Druck dieses hohen Anspruchs erklärt der moderne Sozialstaat sich selbst
zu einem »Tabu«, das keinen Bestand haben darf, und unterzieht alle
seine früher als so segensreich gepriesenen Einrichtungen Stück um
Stück einer gründlichen Revision. (...) Politiker und Unternehmer
»revolutionieren« die Arbeitswelt. 1. Von der Ausnahme zur neuen
Regel: Der Lohn muß kein Subsistenzmittel sein. 2. Das »starre«
Tariflohngefüge wird aufgelöst. 3. Die Arbeitszeiten werden »flexibilisiert«.