MSZ 1983 Ausgabe 2
Stichwörter: klassiker des ML |
In dieser Reihe besprechen wir in loser Folge Klassiker des Marxismus, die es in der Geschichte der Arbeiterbewegung und/oder in der bürgerlichen Wissenschaft zu einigem Ansehen gebracht haben: entweder als weltanschauliche Berufungsinstanz oder als Beleg für bedingte Brauchbarkeit.
Den alten Schriften soll die Ehre angetan werden, daß ihre Aussagen einmal zur Kenntnis genommen werden - woraus sich dann auch mancher Aufschluß darüber gewinnen läßt, warum sie die einen für so brauchbar halten und die anderen für so verwerflich. Daß der Umgang mit Klassikern ziemlich wenig damit zu tun hat, ob sie stimmen oder nicht, ist uns schon seit geraumer Zeit aufgefallen: deswegen haben sie ja auch Konjunkturen bei Freund und Feind! Deswegen gefällt das ‚Kapital' so manchem Philosophen, die "Deutsche Ideologie" vielen Soziologen, Lenins "Was tun?" keinem Grünen - und seit der Bekehrung der VR China vom sozialistischen Modell zum Entwicklungsland will keiner mehr die Ansichten von Mao Tse-tung kennenlernen. Gewissermaßen als Korrektur an diesem geschmäcklerischen Umgang mit den verehrten und gehaßten Lehrern der Revolution möchten wir ganz unverbindlich zum dogmatischen Umgang mit ihren Ideen raten, wodurch sich vielleicht das Problem, ob es sich bei der Marxistischen Gruppe um eine M-L-Sekte handelt, erledigt: Glauben tun wir an keinen, und wenn L was Richtiges verlauten läßt, ist er unsgenauso lieb wie M...
1875, in demselben Jahr, in welchem die beiden Fraktionen der deutschen Sozialisten - Eisenacher und Lassalleaner - in Gotha ihre Vereinigung beschlossen hatten, trat der Privatdozent Dr. Eugen Dühring mit dem Anspruch auf, als "Reformator des Sozialismus" der Marxschen Theorie ein neues und "allumfassendes System der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus" entgegengestellt zu haben. Da Dühring mit seiner Theorie offensichtlich Anhänger fand, entschloß sich Engels auf Betreiben der "Freunde in Deutschland" dieses System einer gründlichen Kritik zu unterziehen und "mit der Vernachlässigung anderer Arbeiten in diesen sauren Apfel zu beißen." (Marx/Engels-Werke, MEW, Bd.20, S. 5 ) Der dann zunächst als Artikelserie ab 1877 im "Vorwärts", später unter dem Titel "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" erschienene "Anti-Dühring" (MEW 20) war also gedacht als eine Streitschrift, die die neugegründete Sozialistische Arbeiterpartei in der Kritik falscher Auffassungen vom Klassenkampf unterstützen sollte. Der Plan für den "Anti-Dühring" war mit Marx abgestimmt, das Manuskript hat er zur Kenntnis genommen und ein Kapitel zudem selbst verfaßt (20/210 ff). Bei Gelegenheit dieser Kritik sah sich Engels genötigt, dem Dühring
"überallhin zu folgen und seinen Auffassungen die meinigen entgegenzusetzen. Die negative Kritik wurde damit positiv; die Polemik schlug um in eine mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mit vertretenen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauuung, und dies auf einer ziemlich umfassenden Reihe von Gebieten." (20/8)
Von Auflage zu Auflage betonte Engels in seinen Vorworten genau diesen "positiven" Gesichtspunkt der Streitschrift und ließ 1880 nach einer Aufforderung von Paul Lafargue drei Kapitel des "Anti-Dühring", in denen sich die "mehr oder minder zusammenhängende Darstellung" der "kommunistischen Weltanschauung" konzentrierte, als eigenständige Broschüre unter dem Titel "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (MEW 19) folgen. Innerhalb von gut einem Jahrzehnt erlebte diese Abhandlung mehr Auflagen als das "Kommunistische Manifest" oder als "Das Kapital".
Der Herausgeber der MEW, das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, gerät in der einleitenden Würdigung des "Anti-Dühring" und "Der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (i.f.: "Entwicklung..." ) geradezu in Ekstase. Er bedenkt die Engels'sche Abrechnung mit Eugen Dühring mit so zweifelhaften Komplimenten wie: Sie sei
"tatsächlich eine wahre Enzyklopädie des Marxismus. Hier werden alle drei Bestandteile der Lehre von Marx und Engels: der dialektische und historische Materialismus, die politische Ökonomie und die Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus allseitig dargelegt."
Und:
"Das geniale Werk von Engels behält seine unvergängliche Bedeutung sowohl als unerschöpfliche Schatzkammer (!) der marxistischen Theorie als auch als ideologische Waffe gegen die heutigen Feinde des Marxismus..." (20/VIII und XIII)
Damit ist das ursprüngliche Anliegen von Engels und Marx, nämlich mit einer vernichtenden Kritik der Theorie von Eugen Dühring der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands falsche Freunde vom Hals zu schaffen, vollends verdreht. Wenn Engels in der Beurteilung seiner Schrift zunächst recht vorsichtig auf den "positiven" Charakter einiger Teile des "Anti-Dühring" verwies, wenn Marx in der Vorbemerkung zur französischen Ausgabe zurückhaltend schrieb, daß "Die Entwicklung..."
"gewissermaßen (!) eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus" bilde (19/185),
so machen die Herausgeber der MEW kein Hehl mehr daraus, daß sie mit diesen beiden Schriften eine ergiebige "Schatzkammer" gefunden haben, aus der sie so ziemlich jede Revision Marxscher Theorie als authentischen Gedanken - wenigstens - von Engels belegen können. Leider haben sie recht!
Die nachfolgende Rezension setzt sich aus diesem Grunde weniger mit dem "Anti-Dühring" als vielmehr mit der "Entwicklung..." als einem der klassischen Schulungstexte jeder revisionistischen Partei oder Gruppierung auseinander. Sie führt den Nachweis, daß Engels gerade in dem Kernstück dieser Schrift, der Darlegung der "materialistischen Anschauung der Geschichte (Teil III, 19/210 ff.), Fehler unterlaufen sind, die seine Eignung als Kronzeuge revisionistischer Theorien erklären.
"Die Entwicklung..." verfolgt ein für eine "Propagandaschrift" merkwürdiges Anliegen. ‚Reklame'zu machen für die Notwendigkeit der revolutionären Erhebung der Arbeiterklasse gegen das Kapital und seinen Staat heißt doch, den wissenschaftlichen Nachweis zu führen, daß die Armut der arbeitenden Klasse notwendiges Mittel ihrer Ausbeuter ist, daß folglich weder die extensive Benutzung der Lohnarbeit selbst, noch die zahllosen Staatsreformen des Lohnarbeitsverhältnisses (Sozialstaat) den Grund proletarischer Armut beseitigen. Dieses Anliegen ist nicht zu realisieren, ohne den Nachweis der Fehlerhaftigkeit jener Theorien zu führen, die entweder die Unabänderlichkeit der Lage der arbeitenden Klasse z.B. mit einem "Bevölkerungsprinzip" (Malthus, vgl. Das Kapital, 23/640 ff.) beweisen, oder deren Überwindung z.B. mit "Tauschbanken" (Proudhon, 19/200; 25/357 ff.) bewerkstelligen wollten. All dies ist von Marx im "Kapital" hinreichend kritisiert worden und gerade jene "falschen Sozialisten" oder Apologeten der bürgerlichen Ordnung hat er sich erschöpfend vorgeknöpft, deren Einfluß auf das Denken und Handeln der internationalen Arbeiterklasse es zurückzudrängen galt.
Ganz anders Engels in der "Entwicklung...". Wenn er sich Saint-Simon, Fourier, Owen und Hegel vornimmt, dann verfolgt er nicht die Absicht, die Arbeiterklasse und ihre Parteien auf die Fehler dieser Theoretiker aufmerksam zu machen:
"Die materialistische Geschichtsanschauung und ihre spezielle Anwendung auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich (!) vermittels der Dialektik... - wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel." (19/187 f.)
Der Fehler der französischen und britischen "utopischen Sozialisten" und der Idealismus des deutschen Staatsphilosophen Hegel, um die keiner besser Bescheid wußte als Marx und Engels (vgl. MEW 1; 4/489 ff; 25/623; 27/461), werden hier dagegen für den Zweck einer sehr interessiert verfaßten Theoriegeschichte herangezogen, die genau dem Prinzip folgt, welches Engels selbst in einem späteren Vorwort zu eben dieser seiner eigenen Schrift kritisch gegen Dühring vorstellt:
Dühring sei ein typischer deutscher Vertreter des "fundamentalen Tiefsinns oder einer tiefsinnigen Fundamentalität." Als solcher hat er "zu beweisen, daß sowohl die ersten Prinzipien der Logik als auch die Grundgesetze des Universums von aller Ewigkeit her zu keinem anderen Zweck existiert haben als dazu, in letzter Instanz zu dieser neuentdeckten, allem die Krone aufsetzenden Theorie hinzuleiten." (19/524)
In Sachen ‚wissenschaftlicher Sozialismus' geht dieser Beweis wie folgt: Wenn die Marxsche Theorie dem Sozialismus allererst die "Krone aufgesetzt" hat, indem er ihn zu einer Wissenschaft gemacht hat, dann war er sozusagen die Erfüllung zweier Abteilungen des vorangegangenen Geisteslebens. Deren Mängel soll Marx überwunden und deren positive Momente soll er integriert haben. Über die früheren Sozialisten urteilt Engels folglich:
"Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen." (19/208 f.)
Die ‚Zwar-Aber-Logik' der historischen Teleologie verfertigt hier aus der theoretischen Befassung mit der entstehenden kapitalistischen Ökonomie ein Plus, nur weil die Absicht dieser ersten Sozialisten kritisch, ihre Parteinahme für die Interessen der "leidenden Klasse" (4/490) nicht zu leugnen war. Daß genau jene Kritik, mit deren Lob Engels beginnt, nichts taugt und sogar dort, wo sie praktisch wird, verheerende Konsequenzen nach sich zieht (sie wollen immer gleich "die ganze Menschheit befreien" - siehe dazu das Kommunistische Manifest, 4/489 ff.), bildet dann den Inhalt des Minus: Die Kritik war leider begriffslos; womit Engels hier auch weniger auf die bestimmten theoretischen Fehler dieser Sozialisten, als vielmehr auf die Abwesenheit der korrekten Kritik der kapitalistischen Ausbeutung durch Marx verwiesen haben will.
Um die so verrissenen Theorien - zusammengefaßt heißt das Urteil von Engels nämlich: begriffslose Parteinahme für die Elendigsten - zu einem Schritt auf dem Wege zum Sozialismus als Wissenschaft von Marx und Engels zu verfabeln, muß Engels selbst zwei Fehler machen: Zum einen muß ihm das Bekenntnis eines Saint-Simon, es "sei ihm überall und immer zuerst zu tun um das Geschick ‚der zahlreichsten und ärmsten Klasse'" (19/195), bereits für sich als Leistung gelten, getrennt von den Ausführungen, die diesem Bekenntnis folgen. Weite Teile des "Anti-Dühring", die Marxsche Kritik an Proudhon usw. sind eine einzige Blamage dieses Gedankens. Das Anliegen der Theorie erweist sich doch allererst in dem, was sie selbst an Gedanken zuwege bringt und nicht in ihren Absichten und Bekenntnissen. Schärfer: Erst der Zusammenhang der Urteile selbst gibt die Absichten preis, die der Theoretiker verfolgt. Wäre dem nicht so, dann wäre das "Elend der Philosophie" Proudhons damit entschuldigt, daß es als die "Philosophie des Elends" gedacht war. Dann wäre auch ein Herr Dühring aus dem Schneider, der es an Bekenntnissen nicht fehlen läßt, einen Beitrag zum endgültigen Gelingen des Sozialismus liefern zu wollen, und dieses sein Bekenntnis mit der Erfindung einer Wirtschaftskommune Lügen straft, in der ausgerechnet das "Grundgesetz der Warenproduktion", wie es im Kapitalismus Gültigkeit hat, der Austausch von Arbeit gegen Arbeit, erstmal zu - bewußten - Ehren kommen soll (20/291).
Zum anderen erfindet sich Engels einen Gegenstand, weil es ihm um den Nachweis geht, dieser hätte in der Marxschen Theorie den Höhepunkt seiner "Entwicklung" erreicht. Was soll denn eigentlich dieser "Sozialismus" sein, der sich "entwickelt" habe? Was ist denn das Identische dieses Gegenstandes, ohne welches seine Entwicklung nicht gedacht, geschweige denn nachvollzogen werden kann? Das Dementi dieser Erfindung enthält der Titel der Schrift von Engels selbst: Wenn sich der "Sozialismus" von der "Utopie" zur "Wissenschaft" entwickelt hat, dann handelt es sich eben im einen Fall um die Erfindung "gesellschaftlicher Zukunftsvorstellungen" und im anderen Fall um die wissenschaftliche Erklärung des Kapitalismus. Größere Gegensätze sind auf dem Feld der theoretischen Befassung mit der Welt kaum auszumachen: Die Kritik der Verhältnisse einmal als Hirngespinst von einer besseren Zukunft und zum anderen als ihre richtige Durchführung. Die praktische Konsequenz dieser Fehler haben Marx und Engels bereits im "Kommunistischen Manifest" nachgewiesen:
"Sie appellieren fortwährend an die ganze Gesellschaft ohne Unterschiede, ja vorzugsweise an die herrschende Klasse. Man braucht ihr System ja nur zu verstehen, um es als den bestmöglichen Plan der bestmöglichen Gesellschaft anzuerkennen. Sie verwerfen daher alle politische, nämentlich revolutionäre Aktion, sie wollen ihr Ziel auf friedlichem Wege erreichen und versuchen, durch kleine, natürlich fehlgeschlagene Experimente, durch die Macht des Beispiels dem neuen Evangelium Bahn zu brechen." (4/490)
Von "Entwicklung" des Sozialismus kann also keine Rede sein: weder in dem Sinne, daß ohne jene frühen Sozialisten das "Kapital" nicht geschrieben worden wäre - wie soll auch ausgerechnet eine Ansammlung von falschen Erkenntnissen und "Zukunftsvorstellungen" bei der Erfassung der Wahrheit über den Kapitalismus hilfreich sein -, noch in dem Sinne, daß jene utopischen Sozialisten in sich den Keim des wissenschaftlichen Sozialismus getragen hätten - das ginge nur vermöge einer "Dialektik", die ausgerechnet in Fehlern immer den Keim der Wahrheit entdeckt.
Die Erfindung des Gegenstandes "Sozialismus" und "seiner Entwicklung", die den angeblichen Vorläufern neben dem Verriß - 'Sie waren noch nicht so weit!' - zugleich die Ehrenrettung - 'Sie waren irgendwie auf dem richtigen Wege!' - angedeihen lassen muß, dient folglich nur als Beweis der besonders hervorragenden Bedeutung des Endpunkts, eben von Marx. Aus diesem Zweck leitet sich auch der Maßstab des Urteilens über die "frühen Sozialisten" her: Engels unterzieht nämlich diese Theoretiker in seiner Minus-Abteilung gar keiner Kritik, sondern macht ein Verhältnis zum Endprodukt seiner erfundenen Entwicklung auf. So stellt er zusammen, was sie alles noch nicht herausgefunden haben (oder gar haben konnten), "kritisiert" folglich Saint-Simon, Fourier und Owen nur in ihrer Abweichung von Marx. In der Plus-Abteilung verfährt er ebenso. Ganz besonders ärgerlich ist es allerdings, wenn Engels zum Beweis der Genialität der frühen Sozialisten ausgerechnet auf solche Gedanken verweist, die mit Marxscher Theorie nichts, wohl aber einiges mit Engels Mißverständnis derselben zu tun haben:
"Saint-Simon stellt bereits in seinen Genfer Briefen den Satz auf, daß ‚alle Menschen arbeiten sollen'". (19/195)
Aus der Marxschen Notwendigkeit -
"Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln." (23/57) -
wird hier ganz umgekehrt ein Imperativ gemacht; die Existenzbedingung wird zum Existenzzweck verdreht, so daß das ganze Elend des Kapitalismus dann in fehlender Arbeit zu liegen scheint, statt daß es in dem ständig reproduzierten Ausschluß von den Existenzmitteln gesehen wird.
Fourier habe entdeckt, daß "in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt." (19/197)
Eine Entdeckung, die Engels begeistert kommentiert:
"Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel." (a.a.O.)
Wenn an diesen Sprüchen mehr eine "Denkform" (20/33) als ihr Inhalt interessiert, dann ist es kein Wunder, daß Engels der Fehler der Aussage von Fourier nicht auffällt. Aus Überfluß kann beim besten Willen keine Armut entspringen. Allein wenn der Überschuß die Form des abstrakten Reichtums annimmt, er überhaupt nur als solcher gilt, wenn er als Mittel für Profit tauglich ist, dann ist damit über den Ausschluß der Arbeiterbevölkerung vom Reichtum der Gesellschaft entschieden. Doch genau dies hatte Fourier mitnichten erkannt. Wenn aber die abstrakte Form des Reichtums nicht geklärt ist, wird das Rätsel, daß im Kapitalismus nicht etwa zuviel Reichtum produziert wird, sondern "periodisch zuviel Reichtum in seinen kapitalistischen, gegensätzlichen Formen" (Das Kapital, 25/268) nicht gelöst und - verrückterweise - der Überfluß als Grund für Armut, statt als Mittel ihrer Überwindung vorgeführt. Man stelle sich nur die praktische Konsequenz dieser Fourierschen Botschaft vor: Statt ‚Abschaffung des Kapitalverhältnisses' hieße sie: Überschußproduktion überhaupt, nein danke!
"Um aus dem Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, mußte e r (!) erst auf einen realen Boden gestellt werden." (19/201) Das soll nun nicht etwa heißen, daß Marx, nachdem er zu der Feststellung gelangt war, daß alle sozialistischen Theoretiker das "Elend der arbeitenden Menschen" nicht zu erklären vermochten, sich wohl oder übel selbst an die Arbeit machen mußte, sich dazu die "Sache im Detail" anzueignen und ihren inneren Zusammenhang zu enthüllen hatte. Engels denkt anders: Er stellt sich die Frage, wie jene "Entwicklung" zum wissenschaftlichen Sozialismus von Marx möglich war! Eine Frage, die der Logik seines falschen Anliegens folgt: Wenn nämlich der Ausgangspunkt der "Entwicklung" des "Sozialismus" eben nur "Utopie" war, mithin Hirngespinst, das Gegenteil von wissenschaftlicher Ergründung des entstehenden Kapitalismus, dann muß, damit aus Falsch Richtig, aus Utopie Wissenschaft werden kann, im "Entwicklungsprozeß" des erfundenen Gegenstands "Sozialismus" irgendeine Wende eingetreten, irgendein die Wissenschaftlichkeit beförderndes Element - gottlob -dazwischengetreten sein. Und das hat Engels in Gestalt der "Dialektik" entdeckt, welche die "realistische" (=materialistische) Wende "des Sozialismus" eingeleitet haben soll:
"Die materialistische Geschichtsanschauung und ihre spezielle Anwendung (!) auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittels der Dialektik." (19/187).
Daß eine bestimmte "Denkmethode" (19/202) der richtigen Erkenntnis des Kapitalismus vorausgesetzt sei, kann nur jemand behaupten, der den bestimmten Zusammenhang etwa von Lohn, Preis, Profit Kredit usw. nicht in den ökonomischen Gegenständen selbst entdeckt sondern in einer bestimmten Art des Denkens. Verrückte Vorstellung, zu der sich Engels in seiner Absicht, teleologisch die Überlegenheit der Marxschen Theorie zu beweisen, bekennt. Der alte, gerade von deutschen Philosophen wie Hegel bereits kritisierte erkenntnistheoretische Zirkel muß hier herhalten: Zur richtigen Erkenntnis des Gegenstandes bedarf es danach nämlich einer richtigen Methode des Denkens, die - sofern man sie sich einmal vom Inhalt des Denkens getrennt vorstellt das Kriterium ihrer eigenen Richtigkeit doch aus nichts anderem als dem z u erkennenden Gegenstand selbst beziehen kann, was hieße, ihn als erkannten bereits vorauszusetzen, um die Adäquanz der Methode zu seiner Erkenntnis beurteilen zu können.
Was Engels jedoch in der "Entwicklung..." als "Dialektik" vorstellt, löst den Zirkel - falsch - auf. Von einer "Denkmethode" kann wirklich nicht die Rede sein bei der losen Ansammlung logischer Kategorien:
Dialektik, faßt "die Dinge und (!) ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn auf... mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkung des Werdens und Vergehens, der fort- und rückschreitenden Änderungen", stellt sie "als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen" dar, so daß "von diesem Gesichtspunkt aus... die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten..., sondern als ein Entwicklungsprozeß der Menschheit selbst..." erschien. (19/205 f.)
Die einzige Gemeinsamkeit dieser Kategorien liegt in dem Anspruch, als theoretische Ordnungsstifter zu fungieren, damit der Mangel überwunden würde, den Engels als Zusammenhanglosigkeit etc. bei den "Vorläufern" des wissenschaftlichen Sozialismus ausgemacht hat, so als hätten die nicht eine falsche, sondern gar keine Erklärung geliefert. Diese abstrakten, sprich: vom Gegenstand des Denkens getrennten Denkvorschriften verraten ihre Herkunft allesamt aus der Kritik der politischen Ökonomie selbst: Wo Marx etwa den bestimmten Zusammenhang zwischen Geld und Ware erklärt, erfindet Engels das Prinzip, daß die Dinge in ihrem Zusammenhang aufgefaßt werden müßten; wo Marx etwa die Formverwandlung des Kapitals als Geld-, Waren- und produktives Kapital im Kapitalkreislauf erklärt, gibt es bei Engels das Prinzip, die Dinge in ihrer Veränderung und Bewegung zu begreifen etc. Man versuche einmal, nur ausgerüstet mit einem Haufen solcher "Denk"-Prinzipien wie "allgemeine Wechselwirkung", "Vergehn", "Bewegung" oder "Umbildung" auf die Welt loszugehen, um etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Schon der erste Schritt würde das Scheitern eines solchen Weges offenbaren: Als Methode müßten diese Prinzipien eben auf Gegenstände angewandt werden, deren Identifizierung bereits eine Erkenntnisleistung vor der Anwendung der Prinzipien darstellt. Ihre Anwendung auf Erkanntes stellt aber nicht nur die Widerlegung der behaupteten Leistung dieser "dialektischen Methode" dar, sondern erweist die absolute Überflüssigkeit dieses Verfahrens: Man möge sich den Kapitalismus vornehmen und nun z.B. das Privateigentum an den Produktionsmitteln unter dem Gesichtspunkt "Vergehn" oder "Bewegung" untersuchen. Dabei steht nicht infrage, daß dies geht. Immerhin werden mittels eines solchen Verfahrens Bibliotheken gefüllt. Doch ist dieser Weg gleichgültig gegenüber der Erkenntnis des Gegenstandes. Er löst ihn in Betrachtungsweisen auf. Denn o b und/oder wie sich z.B. das Privateigentum an Produktionsmitteln "bewegt", "verändert" oder "wechselwirkt", ist allein den Bestimmungen des Privateigentums zu entnehmen. Marx hat das "Rationelle an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat", auch durchaus nicht in einer erkenntnisstiftenden Funktion, sondern darin gesehen, für die "Methode des Bearbeitens" der bereits entdeckten Geheimnisse des Kapitals Dienst zu leisten. (29/, 260)
Im übrigen exerziert Engels an Hegel, dem die neuere deutsche Philosophie die "Dialektik" verdanke, dasselbe Spielchen durch, das an den französischen Sozialisten bereits kritisiert wurde. Hegel war eben einerseits der bekannte Idealist, der eine "kolossale Fehlgeburt" (19/206) hinterlassen habe, andererseits soll gerade
"die Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen deutschen Idealismus... notwendig zum Materialismus" (19/207)
geführt haben; was ein Unding ist, denn die Einsicht in die Verkehrtheit einer Theorie ist nichts anderes als eben diese und fällt noch lange nicht mit der korrekten Erklärung der Dinge zusammen - geschweige denn mit Engels' Notwendigkeit. Daß ausgerechnet die verfehlte Einsicht als positive Bedingung der erfolgten richtigen Einsicht in die Natur des Kapitals herhalten muß, statt daß sie als Verfehlung einfach festgehalten wird, die weitere Anstrengungen des Hirns leider noch nötig macht - wie froh wäre Marx gewesen, wenn ein Teil der Arbeit ihm von anderen bereits abgenommen worden wäre -, resultiert aus Engels' Absicht, die Überlegenheit und letzte Gültigkeit der Marxschen Theorie damit beweisen zu wollen, daß sie als die notwendige Vollendung der in den Mängeln von französischem Utopismus und deutscher Philosophie liegenden Keime (=Möglichkeiten) vorgestellt wird - also als Krönung der modernen europäischen Geistesgeschichte.
Nur konsequent ist es, wenn Engels sein Beweisverfahren, welches dem "Utopismus" den Marxschen realistischen "Materialismus" und der verfehlten Anwendung der "Dialektik" auf die Geschichte bei Hegel deren richtige " Anwendung" als "materialistische Geschichtsanschauung" entgegensetzt, auf die Marxsche Einsicht in die Natur des Kapitalverhältnisses selbst auch noch anwendet. Dies beginnt damit, daß Engels bei der Darstellung der "großen Entdeckungen" die Trennung von "Kritik der politischen Ökonomie" und jener "materialistischen Geschichtsanschauung" (s. dazu auch MSZ 1/83: Kritik der Deutschen Ideologie, S.67), welche auf alle Gegenstände angewendet werden müsse, durchhält:
"Es handelte s¡ch aber darum, die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andererseits aber auch (!) ihren innern Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war. Das geschah durch die Enthüllung des Mehrwerts." (19/209)
Und zusammengefaßt:
"Diese beiden (!) großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und (!) die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts verdanken wir Marx." (a.a.O.)
Es bleibt das Geheimnis von Engels, wie die historische Untersuchung des bestimmten Zusammenhangs etwa zwischen feudalistischer und kapitalistischer Produktionsweise vonstatten gehen kann, wenn nicht der Begriff beider Produktionsweisen und d.h. für den Kapitalismus allemal, die innere Natur des Mehrwerts, erklärt ist. Daß mit der Enthüllung des Mehrwerts allererst die "historische Frage" nach der sogenannten ursprünglichen Expropriation und der sogenannten ursprünglichen Akkumulation entstand - dies Verhältnis von "Geld- oder Warenbesitzer auf der einen und auf der andren bloßen Besitzern der eignen Arbeitskraft" kann kein "naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre" (Das Kapital, 3/183 u. 741 ff.) sein -, ist einem Historiker schlecht einsichtig zu machen, der den geschichtsmethodischen Standpunkt, die Erklärung einer Produktionsweise sei weitgehend eine Sache des historischen Zusammenhangs der Produktionsweisen, bereits vor dem Begreifen der Gegenstände eingenommen hat.
Was für den Nachweis der "Notwendigkeit" des Entstehens der kapitalistischen Produktionsweise gilt, hat bei Engels auch Gültigkeit für die "Notwendigkeit ihres Untergangs". Dem Nachweis, daß die Marxsche Theorie die "allem die Krone aufsetzende Theorie" sei, schließt er im III. Teil des Aufsatzes die Werbungsveranstaltung für die von ihm ausgemachten, bestimmten Resultate des wissenschaftlichen Sozialismus an: Die "Notwendigkeit des Untergangs" des Kapitalismus ist eben für Engels nicht mit der Enthüllung des Mehrwerts, d.h. mit den darin liegenden Gründen für das Proletariat, den Kapitalismus und seinen Staat abzuschaffen, gegeben, sondern bedarf für Engels eines gesonderten Nachweises. Für das "Untergehen" wird folglich ein historisches "Subjekt" erfunden, welches sich "Notwendigkeit" nennt, und welches nicht zu verwechseln ist mit dem logischen Sachverhalt, daß jeder Nachweis der Notwendigkeit eines ökonomischen Gegenstands dessen Grund in einem anderen Gegenstand ausfindig gemacht hat. Wenn für Engels der Arbeiterklasse mit der Erklärung, daß ihre lebenslang reproduzierte Armut Mittel des Kapitals ist, nicht zugleich die Gründe für die Abschaffung des Kapitalverhältnisses an die Hand gegeben sind, dann müssen ihr dafür andere Gründe geliefert werden. Ihre können es dann nicht mehr sein.
Die Darstellung der "großen Entdeckungen" von Marx - und die "Enthüllung des Mehrwerts" taucht da nicht mehr auf - gerät zu einem einzigen Nachweis der Möglichkeit und Unvermeidlichkeit der Revolution. Die Kritik des Kapitalismus, bei Engels historisch als sein "Entstehen", seine "Entwicklung" und sein " Vergehn" vorgestellt, soll den Beweis antreten, daß Revolution klappen wird. Zu diesem Zweck erfindet sich Engels Gesetzmäßigkeiten des Kapitals, denen zufolge der Kapitalismus systematisch auf seine eigene Überwindung zutreibt:
Zunächst einmal beweisen für Engels
"die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur fernern Verwaltung der modernen Produktivkräfte" (19/221),
die sie selbst ins Leben gerufen haben.
Ausgerechnet in der Krise, in welcher sich das Kapital regelmäßig als ausgesprochen fähig erweist, mittels besonderer Benutzung der Lohnarbeiter - Entlassungen, Intensivierung der Arbeit, Lohnsenkung... - den Widerspruch seiner Akkumulation (vgl. MSZ 5/82) zu bereinigen und diese auf eine neue Grundlage zu stellen, entdeckt Engels die "Unfähigkeit" der Bourgeoisie. Zu diesem Urteil gelangt er nur, weil er 1. der Bourgeoisie einen falschen Zweck unterstellt, und sie dann 2. daran scheitern läßt! Es geht eben der Kapitalistenklasse nicht um die "Verwaltung der Produktivkräfte", sondern um ihren Einsatz als Mittel der Akkumulation. Und wenn dieses "Mittel - die unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - in fortwährenden Konflikt gerät mit dem beschränlcten Zweck, der Verwertung des vorhandenen Kapitals" ( Das Kapital, 25/260), dann zeigt sich die Fähigkeit der Bourgeoisie gerade in der Abwicklung der Entwertung des Kapitals - als Kapitalwert und Kapitalsubstanz. Das aparte Urteil, welches Engels zustande bringt, lautet dagegen: Bei den Kapitalisten handelt es sich um lauter untaugliche Brüder, die mit den von ihnen selbst eingerichteten Produktivkräften nicht mehr zu Rande kommen. Der Beweis der dringenden Notwendigkeit ihrer Ablösung ist erbracht; allerdings auf Kosten einer grandiosen Verharmlosung des mit allen ökonomischen und politischen Gewaltmitteln ausgestatteten Gegensatzes, den das Kapital dem Proletariat - ganz besonders in der Krise - aufmacht.
Zum Vorwurf der "Untauglichkeit" gesellt sich der Nachweis der "Entbehrlichkeit" der Bourgeoisie:
Es zeigt die Verwandlung der großen Produktions- und Verkehrsanstalten in Aktiengesellschaften, Trusts und Staatseigentum die Entbehrlichkeit der Bourgeoisie für jenen Zweck (der fernern Verwaltung der modernen Produktivkräfte). Alle gesellschaftlichen Funktionen des Kapitalisten werden jetzt von besoldeten Angestellten versehen." (19/221)
Der idealistische Maßstab der Kritik befördert weitere falsche Urteile über die Kapitalistenklasse zutage: Ausgerechnet dort, wo das Kapital prinzipiell das Geld der ganzen Gesellschaft als Mittel seiner Akkumulation einsetzen kann, wo der Privateigentümer von Produktionsmitteln nicht mehr an sein Kapitalquantum als Mittel der weiteren Verwertung gebunden ist, folglich auf ungleich größerem Maßstab die Produktivkräfte der Arbeit als Kapital fungieren lassen kann, entdeckt Engels die "Entbehrlichkeit" der Bourgeoisie. Für einen Zweck, den die Bourgeoisie nicht hat, soll sie wohl entbehrlich sein!
Doch Engels will anderes aufzeigen: Die mit dem zinstragenden Kapital (Kredit) gegebene Trennung von "Kapital als Eigentum gegenüber dem Kapital als Funktion" (Das Kapital, 25/392), die den Grund für Rentiers, Banker, Aktionäre usw., also für weitere Abteilungen der Bourgeoisie abgibt, läßt den Kapitaleigentümer als den Organisator der Ausbeutung in der Tat "entbehrlich" werden. Das läßt er von seinen Agenten bewerkstelligen. Doch bekanntlich hört die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhende Ausbeutung nicht auf, wenn die "Arbeit der Oberleitung, ganz getrennt vom Kapitaleigentum, auf der Straße herumläuft." (Das Kapital, 25/400) Und doch entdeckt Engels gerade in dem Nachweis der "Entbehrlichkeit" der Kapitaleigentümer für das Funktionieren des produktiven Kapitals die fortschreitende Bedingung für die Übernahme desganzen Ladens durch das Proletariat.
Der Fehlschluß von Engels grenzt an Antikommunismus, der den Arbeitern den Klassengegensatz ausreden will: Da schafft die Bourgeoisie sich mit dem Kredit eines der gewaltigsten Mittel zur weiteren Aussaugung der Arbeiter, leistet sich innerhalb der eigenen Klasse dafür die Arbeitsteilung in den Kapitalfunktionär und in den Kapitaleigner, welcher in der Tat i n dem kapitalistischen Unternehmen überflüssig ist, nur noch für diese Geld organisiert und sich durch sie bereichert, da setzt sie den Kredit international als das Zugriffsmittel auf sämtliche Reichtümer dieser Erde ein, finanziert ganze Nationen und pauperisiert deren Untertanen (vgl. Das Kapital 25/584 ff.) - und schon erklärt Engels: "Die Bourgeoisie erweist sich als überflüssige Klasse." (19/228) Gründlicher konnte er seinen Freund kaum mißverstehen!
Fast hat es den Anschein, als wolle Engels über eine falsche theoretische Analogie zwischen den beiden gegensätzlichen Klassen sogar noch eine Schicksalsgemeinschaft zwischen ihnen ableiten:
"Hat die kapitalistische Produktionsweise zuerst Arbeiter verdrängt, so verdrängt sie jetzt die Kapitalisten und verweist sie, ganz wie (!) die Arbeiter, in die überflüssige Bevölkerung, wenn auch zunächst (!) noch nicht in die industrielle Reservearmee!" (19/222)
Der kleine Unterschied zwischen den beiden Klassen, daß nämlich die eine ihre "Entbehrlichkeit" in den Zentren des Luxus genießen kann, die andere ihre "Überflüssigkeit" auf dem Arbeitsmarkt und deren Auswirkungen in der Arbeit erfährt, ist Engels keiner Erwähnung wert. Denn die "Tendenz", daß wenigstens größere Teile der Bourgeoisie - zumindest "objektiv" als Opfer ausgerechnet der Produktionsweise, von der sie allein profitiert, an der Seite der Arbeiterklasse steht, ist für ihn unabweisbar:
Es bleibt für ihn überhaupt nur noch übrig:
"eine kleine Bande von Kuponschneidern." "Hier aber wird die Ausbeutung so handgreiflich (!), daß sie zusammenbrechen muß. Kein Volk (!) würde eine durch Trusts geleitete Produktion, eine so unverhüllte Ausbeutung der Gesamtheit (!) durch eine kleine Bande von Kuponabschneidern sich gefallen lassen." (19/221)
(Deswegen müssen gestandene Revisionisten wohl heute noch statt gegen die hingenommene Ausbeutung gegen die ungerechte Monopolstellung von Krupp und Flick Empörung stiften!)
Zunächst hat Engels Krise und Kredit als die besten Verbündeten des Proletariats im Klassenkampf ausgemacht - die Krise dadurch, daß sie die Unfähigkeit der Bourgeoisie, den Kredit dadurch, daß er ihre Überflüssigkeit erweist; jetzt ist konsequenterweise aus dem Klassenkampf ein Volkskampf geworden, in welchem auch die Bourgeoisie tapfer ihren Mann steht gegen ihre Klassenbrüder von der Kuponschneiderfraktion. Allerdings muß von Kampf nicht mehr geredet werden: Die Sachverhalte und die Machtverhältnisse sind klar und immer klarer. Eine "kleine Bande" wird von der "Gesamtheit", die entschlossen ist kurz weggefegt, weil die Fortschritte der staatlich verwalteten Ausbeutung automatisch die staatsbürgerlichen Gedanken kritisiert, mit denen die Fortschritte der Ausbeutung als Sachnotwendigkeiten interpretiert werden.
Bleibt nur noch eine Frage offen: Was treibt bei Engels eigentlich der "ideelle Gesamtkapitalist", der Staat? Wie steht es mit ihm, der doch mit der gewaltsamen Aufrechterhaltung der kapitalistischen Eigentumsordnung, der mit der Regelung des vom Kapital so schön benutzten Klassengegensatzes steht und fällt? Auch aus ihm als "dem Staat der Kapitalisten", aus dieser "wesentlich kapitalistischen Maschine" (19/222) verfertigt Engels schließlich theoretisch eine günstige Bedingung für die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise:
"In den Trusts schlägt die freie Konkurrenz um ins Monopol, kapituliert die planlose Produktion der kapitalistischen Gesellschaft vor der planmäßigen Produktion der hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft... So oder so, mit oder ohne Trusts, muß (!) schließlich der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, die Leitung der Produktion übernehmen... Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er (der ideelle Gesamtkapitalist) wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus." (19/220 f.)
Schlechte Aussichten - zunächst wenigstens. Zumal Engels genug Verstaatlichungen - unter Metternich, Bismarck... - selbst studieren konnte. Die rangieren dann aber bei ihm unter "falschem Sozialismus", weil sie der Staat aus "politischen und finanziellen Gründen" initiierte, nicht aber weil die "Verstaatlichung ökonomisch unabweisbar geworden" war. Und nur letztere verdient sich bei Engels das Prädikat "ökonomischer Fortschritt" (19/221, Anm.). Was jedoch an einer staatlich organisierten Ausbeutung, die wegen ihrer ökonomischen Unabweisbarkeit - worin diese auch immer bestehe - stattfindet, fortschrittlicher sein soll, als an eben derselben staatlich organisierten Ausbeutung, die der Staat aus "ganz alltäglichen politischen und finanziellen Gründen" ins Werk setzt, bleibt unerfindlich.
Doch ist es Engels darum gar nicht zu tun. Diese Zerlegung ein und derselben Staatsmaßnahme in zwei verschiedene verdankt sich einem Fehler, der seinem falschen Beweisanliegen gute Dienste tut: Einmal begründet Engels die Verstaatlichung aus einer Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Ökonomie, die er auch nicht inhaltlich entwickelt, sondern methodisch behauptet ("ökonomisch unabweisbar"). Zum anderen gibt er für sie die beim Staat vorhandenen, "ganz alltäglichen politischen und finanziellen Gründe" an. Er verdoppelt damit dieselbe Staatsmaßnahme, indem er sie einer doppelten Betrachtungsweise unterwirft. Einmal benennt er ihre allgemeinste ökonomische Funktion (deren Wahrheitsgehalt hier dabei nicht interessiert) und zum anderen gibt er die bestimmten Gründe für sie an, die der Staat bei sich für diese Verstaatlichung entdeckt. So als wollte man die Arbeitslosenversicherung in eine fortschrittliche zerlegen, die sie als Beitrag zur notwendigen Erhaltung der industriellen Reservearmee ausweist und die sich aus dem allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation erklären läßt (Das Kapital, I./23. Kapitel), und zum anderen in eine reaktionäre, die sich der "ganz alltäglichen" Politik des Staates verdankt, mit der er den Arbeitern selbst die Kosten ihrer Erhaltung als Ausbeutungsmaterial aufbürdet und obendrein in der Versicherung noch eine hübsche zusätzliche Einnahmequelle entdeckt. Damit hat er den Staat einmal als exekutive Agentur der von ihm behaupteten ökonomischen Tendenz des Kapitals vorgestellt und zum anderen als politisches Instrument in den Händen der Kapitalistenklasse. Als was er nun jeweils zu behandeln ist, kommt eben ganz darauf an. In der Tendenz ist für Engels die Sache jedenfalls klar. Auf Dauer hat die Bourgeoisie keine Chance, den Staat politisch für sich einzusetzen, da muß er sich als "wirklicher Gesamtkapitalist" der historischen Notwendigkeit beugen:
"Das Kapitalverhältnis wird (mit der unabweisbaren, ökonomisch notwendigen Verstaatlichung) nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um (!). Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung. ... Indem sie (die kapitalistische Produktionsweise) mehr und mehr auf Verwandlung der großen ver gesellschafteten Produktionsmittel in Staatseigentum drängt, zeigt sie selbst den Weg an zur Vollziehung der Umwälzung. Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Prodnktionsmittel zunächst in Staatseigentum." (19/222 f.)
Wenn der Staat dann nur noch die verkehrte Hülle der hereingebrochenen sozialistischen Produktionsweise ist, dann braucht eben das Proletariat nur noch diese Hülle wegzuziehen, d.h. die einfach so daliegende, zweck- und interessenlose Staatsgewalt ergreifen. Die Bourgeoisie ist "untauglich", "überflüssig" und geschrumpft. Sie kann den Staat als ihr Instrument nicht mehr halten. Das Proletariat dagegen hat sich nach Engels genau in die entgegengesetzte Richtung entwickelt:
"Indem die kapitalistische Produktionsweise mehr und mehr die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht (!), die diese Umwälzung, bei Strafe des Untergangs, zu vollziehn genötigt ist." (19/223)
Das verdrehte Szenario für den Schlußakt ist perfekt:
Da paßt alles zusammen und stimmen tut nichts. Die Botschaft an die Arbeiterklasse lautet also kurz und bündig:
Die kapitalistische Produktionsweise ist "altersschwach" und hat "sich mehr und mehr überlebt". (Engels, Einführung im 3. Band des"Kapital", 25/273).
Die Bourgeoisie hat abgewirtschaftet, das Proletariat steht dagegen machtvoll da und der bürgerliche Staat ist längst nicht mehr Staat der Kapitalisten, sondern bietet mit den zunehmend in Staatseigentum überführten Produktivkräften die Handhabe der Umwälzung. Man muß sie nur ergreifen! Und dieses ‚muß' ist ein naturgesetzlicher Zwang, dem sich kein zum ganzen Staatsvolk gemausertes Proletariat dieser Welt entziehen kann. Der "historische Nenner" garantiert das Happy-end der Geschichte! Nicht im real existierenden Kapitalismus liegen hier alle Gründe für die Revolution, die das Proletariat gegen ihn erstmal machen muß, um ihn abzuschaffen. Stattdessen verheißt Engels geschichtsphilosophisch Hoffnung, mittels derer gerade die erfolgreiche Ausbeutung die Revolution auf die Tagesordnung setzen soll. So trösten Sprüche wie die Engelschen den Revisionismus bis auf den heutigen Tag: zwar nicht die Arbeiterklasse auf seiner Seite, aber den "Historischen Materialismus".
Mit der "Entwicklung..." hat Engels der Partei keinen "wissenschaftlichen Sieg errungen". (Marx) So zutreffend auch die Kritik an Eugen Dühring im "Anti-Dühring" über weite Strecken ist, so sehr damit auch der Einfluß dieses "Reformators des Sozialismus" auf die sozialistische Arbeiterbewegung zurückgedrängt worden sein mag, der als "positive Darstellung" der grundlegenden "Anschauungen" von Marx und Engels gepriesene Extrakt aus dieser Kritik in Gestalt der "Entwicklung..." liefert jedoch gerade denjenigen Belegstellen in Hülle und Fülle, die eher das "Erbe" eines Eugen Dühring als das von Marx und Engels beanspruchen können; gemeint ist die ökonomische Theorie des ‚Realen Sozialismus'.
Im "Anti-Dühring" stellt Engels nämlich die folgenden zentralen Fehler des Eugen Dühring zusammen:
- Die moralische Gerechtigkeit des Reichtums vom Standpunkt der Gerechtigkeit:
"Und hiermit haben wir denn glücklich den Reichtum unter die beiden wesentlichen Gesichtspunkte der Produktion und Verteilung gebracht: Reichtum als Herrschaft über Dinge: Produktionsreichtum, gute Seite; als Herrschaft über Menschen: bisheriger Verteilungsreichtum, schlechte Seite. Fort damit! Auf die heutigen Verhältnisse angewandt, lautet dies: Die kapitalistische Produktionsweise ist ganz gut und kann bleiben, aber die kapitalistische Verteilungsweise taugt nichts und muß abgeschafft werden. Zu solchem Unsinn führt es, wenn man über Ökonomie schreibt, ohne auch nur den Zusammenhang von Produktion und Verteilung begriffen zu haben." (20/173)
- Bewußte Anwendung des Wertge setzes i n seiner "Wirtschaftskommune":
"Indem Herr Dühring dies Gesetz (das Wertgesetz) zum Grundgesetz seiner Wirtschaftskommune erhebt und verlangt, daß diese es mit vollem Bewußtsein durchführen soll, macht er das Grundgesetz der bestehenden Gesellschaft zum Grundgesetz seiner Phantasiegesellschaft. Er will die bestehende Gesellschaft, aber ohne ihre Mißstände. ... Wie dieser (Proudhon) will er die Mißstände, die aus der Entwicklung der kapitallstischen Produktion entstanden sind, beseitigen, indem er ihnen gegenüber das Grundgesetz der Warenproduktion geltend macht, dessen Betätigung gerade diese Mißstände erzeugt hat." (20/291)
- Den Idealismus der Souveränität des gleichen Individuums als der Grundlage des "solizitären Z ukunftsstaates":
"Wir haben hinlänglich gesehen, daß die völlige Gleichheit beider Willen (bei Dühring) nur solange besteht, als die beiden Willen nichts wollen; daß, sobald sie aufhören, menschliche Willen als solche zu sein, und sich in wirkliche, individuelle Willen, in die Willen von zwei wirklichen Menschen verwandeln, die Gleichheit aufhört; daß Kindheit, Wahnsinn, sogenannte Bestienhaftigkeit, angeblicher Aberglaube, behauptetes Vorurteil, vermutete Unfähigkeit auf der einen, und eingebildete Menschlichkeit, Einsicht in die Wahrheit und Wissenschaft auf der anderen Seite, daß also jede Differenz in der Qualität der beiden Willen und in derjenigen der sie begleitenden Intelligenz eine Ungleichheit rechtfertigt, die sich bis zur Unterwerfung steigern kann; was verlangen wir noch mehr, nachdem Herr Dühring sein eignes Gleichheitsgebäude so wurzelhaft von Grund aus zertrümmert hat?" (20/95)
- Die Staatsvorstellung selbst, mit der Dühring die Mißstände der Demokratie beseitigen will, indem e r auf das Ideal eben dieser Zustände pocht, ist für Engels Anlaß zur Polemik:
"Die ‚Souveränität des Individuums' bildet die Grundlage des Dühring'schen Zukunftsstaats; sie soll in der Herrschaft der Majorität nicht unterdrückt werden, sondern erst recht kulminieren. Wie geht das zu? Sehr einfach.‚Wenn man in allen Richtungen Übereinkünfte eines jeden mit jedem anderen voraussetzt, und wenn diese Verträge die gegenseitige Hilfeleistung gegen ungerechte Verletzungen zum Gegenstand haben - alsdann wird nur die Macht zur Aufrechterhaltung des Rechts verstärkt und aus keiner bloßen Übergewalt der Menge über den einzelnen oder der Mehrheit über die Minderheit ein Recht abgeleitet.' (Dühring)
Mit solcher Leichtigkeit setzt die lebendige Kraft des wirklichkeitsphilosophischen Hokuspokus über die unpassierbarsten Hindernisse weg,..." (20/292)
Das müssen bei Dühring schon merkwürdige "Übereinkünfte" sein, die ihrer vertraglichen Regelung bedürfen und die ohne Einsatz der Staatsgewalt für Recht nicht zu realisieren sind! Oder anders herum: Wozu braucht es Macht zur Aufrechterhaltung des Rechts, wenn zwischen allen Menschen das schönste Einvernehmen herrscht? Nur noch ganz gerecht soll das Recht bei Dühring eingesetzt werden, nicht mehr aus "bloßer Übergewalt der Menge"! Herr Dühring trennt also das Recht von der Gewalt und stellt sich den bürgerlichen Staat als zwecklose Gewaltausübungsmaschine vor, die ständig das Recht, eine eigentlich für die Menschen segensreiche Einrichtung, mißbraucht.
Diese vier Fehler sind ebenso Bestandteil der falschen Kapitalismuskritik des Revisionisten, wie sie auch im ‚Realen Sozialismus' praktische Gültigkeit bekommen haben. Und nur darin irrte Engels: Aus dem "wirklichkeitsphilosophischen Hokuspokus" ist Wirklichkeit geworden, deren Kritik in der MSZ Nr. 6/82 unter dem Titel "Systemvergleich theoretisch und praktisch" zu studieren ist.