Zum Inhalt | Zu § 2 | Zu § 4
Mit der Verfassung genügt der Staat dem Interesse seiner Bürger an den Verkehrsformen der Konkurrenz und verpflichtet sich, alles, was er tut, in Form von Gesetzen zu vollziehen, deren Inhalt den Grundrechten zur Durchsetzung verhilft. Indem die Repräsentanten des Volkes ihr Handeln mit den Grundrechten legitimieren und es korrigieren, sobald es der Verfassung widerspricht, ist der Staat Rechtsstaat. Als solcher ist er vom Einfluß des privaten Willens auf sein Handeln emanzipiert und läßt seine Gewaltausübung nur noch an der Verfassung messen. Die Demokratie ist insofern die adäquate Verlaufsform des Verhältnisses von Staat und Volk, als sie die Identität des Volkswillens mit der Staatsgewalt abstrakt verwirklicht, also trennt von der Zustimmung der Privatsubjekte zu bestimmten Gesetzen und ihrer Ausführung. Hier ist nicht Zustimmung gefragt, sondern Gehorsam; und für den Fall, daß der ausbleibt, steht nicht der Staat, sondern der Rechtsstaat zur Disposition.
a)
A d ä q u a t e Staatsform ist die Demokratie darin, daß die Staatsgewalt den Bürgern immer, aber auch nur dann Beschränkungen auferlegt, wenn der Gebrauch ihrer Freiheit eine Verletzung der Freiheit anderer zur Folge hat: der Staat a n e r k e n n t die Besonderheit aller Privatpersonen, die er dem Gesetz unterwirft. Er verleiht seinen Gesetzen allgemeine Gültigkeit, bezieht a l l e Handlungen auf sich und verlangt keinem Interesse besondere Leistungen ab – außer eben die, welche sich aus dessen ökonomischen Mitteln ergeben. (Man wird sehen, wie gründlich er das tut!) Im Unterschied zum absolutistischen Staat bevorzugt er keinen Stand, keine Klasse; jedermann kommt in den Genuß aller Rechte und niemand hat P r i v i legien. Nicht durch seine P a r t e i n a h m e , seinen unmittelbaren Einsatz für das Interesse bestimmter Teile der Gesellschaft, wird er Diener einer Klasse – das allen garantierte Gesetz und die Gerechtigkeit organisieren den Vorteil der Stärkeren und den bleibenden Nachteil der minder bemittelten Bürger: der demokratische Staat vertraut auf die Macht des Privateigentums, er e n t s p r i c h t den gesellschaftlichen Verhältnissen, wenn er sie kodifiziert.
b)
Die Macht, mit der die Organe des Staates sich von der Gesellschaft ausstatten lassen, nicht anders zu gebrauchen, als es den Zwecken der Bürger gemäß ist, betrachtet der Rechtsstaat als eine Pflicht. Er kommt ihr nach, indem er seine Kollisionen mit den Bürgern dem Kriterium der Grundrechte unterwirft. Großzügig begnügt er sich mit den Beschränkungen der Bürger, die in der Verfassung enthalten sind. Legitimes Hinausgehen über die Schranken findet andererseits immer dann statt, wenn die Existenz des Staates selbst gefährdet ist: wenn die Unbotmäßigkeit der rechtmäßig gedeckelten Teile seines Volkes zur Gefahr für seine Souveränität wird, gestattet der demokratische Staat sich selbst, auf die Verletzung der Grundpflichten mit der Sicherung des Gemeinwesens ohne wenn und aber zu reagieren: einer drohenden Mißachtung seiner Vorschriften begegnet er mit dem Vorwurf des Mißbrauchs der Rechte, die dann auch durch ihren konsequenten Ausbau geschützt werden müssen: Notstandsgesetze als rechtmäßige Vorbereitung auf den Ernstfall, in dem ein Staat, Rechtsstaat zu sein, sich nicht mehr leisten will !
c)
Die Staatsform der Demokratie ist mit all ihren hochgepriesenen Verkehrsformen die Institutionalisierung der Gegensätze zwischen Staat und Bürger. Sooft sich – die Bürger der staatlichen Gewalt als ihres Mittels versichern, erweist sie sich als dieses Mittel dadurch, daß sie der Freiheit des einzelnen Grenzen zieht. Die Abstraktion, die die Privatsubjekte an sich vollziehen, tritt ihnen als Zwang gegenüber, dem sie gehorchen müssen. Weil sie diesen Zwang zur Durchsetzung ihres individuellen Interesses benötigen, aber auch nur wegen d i e s e s Interesses akzeptieren, sind sie aufrechte Demokraten nur dort, wo die Tätigkeit des Staates s i e nicht beeinträchtigt. Gegenüber den Nutznießern von Rechten, die für ihn Pflichten sind, ist keiner mehr demokratisch eingestellt – da hat jedermann bessere Alternativen des staatlichen Zuschlagens zur Hand. "Anständige" Bürger plädieren mitten in der schönsten Demokratie für "einfachere" Formen der politischen Gewalt, während ein Argument g e g e n Herrschaft ganz unüblich ist. Die Staatsmänner erfahren umgekehrt, daß ihr Dienst am allgemeinen Interesse kaum jemals auf das Wohlwollen der Bürger stößt, die Befolgung sämtlicher demokratischer Prozeduren also ihrem Fortkommen gar nicht unbedingt dienlich ist: mit zunehmender Amtsdauer werden sie der demokratischen Legitimation vor lhren Bürgern müde und tragen das Grundgesetz nicht immer unter dem Arm. Wo es sich gut macht, sagen sie aber auch, daß ihre Macht demokratisch zustandegekommen ist.
Der abstrakte Begriff der Demokratie ist also für die Erklärung des Faschismus von einigem Nutzen. Diese alternative Form bürgerlicher Herrschaft ist nicht nur als Wunsch der Politiker u n d Bürger in der Demokratie ständig präsent, sondern auch praktisch fällig, wenn sich Bürger und Staat i n ihrem Gegensatz dahingehend handelseinig werden, daß die ineffiziente Herrschaftsausübung schuld daran ist, wenn im ökonomischen Leben einiges nicht geht. Ein ordentlicher Gebrauch der politischen Gewalt, dem sich die Befürworter mit über das demokratische Maß hinausgehender Opferbereitschaft verschreiben damit Schluß gemacht wird mit Nörglern, politisch und ökonomisch nicht bedingungslos leistungswilligen Bürgern, stellt sich da alsbald ein, zumal der Antifaschismus als R e t t u n g s p r o g r a m m der Demokratie den politischen Kampfmitteln derer nichts entgegenzusetzen hat, die eine Rettung der Nation vor Schädlingen andersherum anstreben. Die Legende von der extra chauvinistischen Fraktion der Bourgeoisie, die ein Volk von Edeldemokraten ver- und dann nur noch führt, die dann aber auch wegen des Kräfteverhältnisses zu ihren Machenschaften befähigt gewesen sein soll, zeugt selbst von der nationalistischen Verbeugung vor einer echten Demokratie, die dem realen Willen zum Opfer für die Nation nichts entgegensetzt als eine fiktive Identität von Volk und Staat. Im übrigen widerspricht der Übergang zum Faschismus keineswegs der Aussage, daß die Demokratie die adäquate Staatsform des Kapitalismus ist. Als Institutionalisierung der G e g e n s ä t z e "funktioniert" sie eben nur, solange die auf den rechten Gebrauch des Privateigentums verpflichteten Bürger o r d e n t l i c h konkurrieren, d.h. mit den diversen Resultaten ihrer Konkurrenz auch demokratisch z u r e c h t k o m m e n w o l l e n – weshalb man auch zur Demokratie erzogen werden muß und manche Völker von Demokraten noch gar nicht für reif befunden werden für eine so anspruchsvolle Staatsform. Diese Leute wissen sehr gut Bescheid über die faschistischen Verhältnisse, die ihnen auswärts gelegen kommen, wo sie sie erzeugt haben und bewahren wollen: die Kunst der Selbstbeherrschung gehört zur demokratischen Herrschaft, ist die in ihr hochgehaltene Kardinaltugend; ihrer Pflege sind die auswärtigen Formen der Armut, läßt man den freien Willen erst einmal zum Zuge kommen, eine schlechte Grundlage.
d)
Die Kollisionen zwischen Staat und Bürger, die sich bei der Unterwerfung unter das Gesetz unvermeidlich einstellen, führen auf seiten der Bürger je nach ihrem in politische Alternativen übersetzten Interesse zu komplementären Formen der Zustimmung und Kritik. Man kann
l. sich am Leben der Demokratie beteiligen, indem man Handlungen des Staates mißbilligt und dies so tut, daß man ihre Legitimität bezweifelt. Dabei trifft man auf andere, die für dieselben Maßnahmen Stellung beziehen und ihre Iegitimität betonen. Zustimmung und Kritik wechseln je nach dem Charakter des Gesetzes, um das gestritten wird, die Seiten.
2. die Vervollkommnung der Demokratie zu seinem Anliegen machen. Entweder man erfindet eine generelle Krise der Legitimität und verlangt mehr Rücksicht auf bzw. Agitation um die Zustimmung der Bürger; oder man bedauert, daß sich der Staat seiner existenten Legitimität zu wenig sicher ist und in einem fort sein Handeln an der Billigung der Bürger orientiert. So gibt es für die einen Feinde der Demokratie, für die anderen Feinde des Staates. Letztere haben es nicht ganz so leicht, deshalb beteuern sie ständig ihren Willen zum Staat, wenn es sein muß, auf öffentlichen Tribunalen.
3. sich als Gegner des demokratischen Staates betätigen, indem man seine Legitimität l e u g n e t . Während der Revisionismus die eindeutige Verteilung von Schaden und Nutzen im Volk zum Anlaß nimmt, den ständigen Mißbrauch der Zustimmung zur souveränen Gesetzesmacherei anzuprangern, also einen Staat propagiert, der sich an den "Interessen der Massen relativiert, sind Anarchisten mit der Entdeckung der Gewalttätigkeit des Staates gegen die Individuen zufrieden. Im Namen des Volkes messen sie sich auf diesem Felde mit dem Staat und müssen erfahren, daß der Volkswille der Gewalt der öffentlichen Instanzen durch aus wohlgesonnen ist: sie werden, weil in ganz anderer Weise von den Massen getrennt als die Staatsagenten, zu Gehetzten und Opfern, GSG 9 zu Helden der Demokratie. Den Faschisten ist die Legitimität des Staats eine einzige Beschränkung für die Erfüllung seiner Aufgaben. Mit der prinzipiellen Zustimmung verlangen sie vom Bürger die bedingungslose Unterordnung, den Verzicht bei jedem Interesse, das den Staat beschränkt: Politik als rücksichtslose Ausrichtung des Volkes am Staatszweck, Volksgemeinschaft. Terror im Namen des Staates.
e)
Die Entstehung von demokratischen Staaten beruht darauf, daß zwischen Klassen mit gegensätzlichen Interessen e i n e Gemeinsamkeit existiert hat: ein Staat war für beide nützlich, der die Rücksichtnahme auf die eigenen Notwendigkeiten bei anderen erzwingt. Die Einheit zwischen Bourgeoisie und Proletariat war eine n e g a t i v e – sie richtete sich gegen einen Staat, der sich zum Werkzeug einer unproduktiven Klasse machte; in Amerika direkt S c h a f f u n g einer Obrigkeit.
f)
Die Verherrlichung der Demokratie hat mit ihrer Erklärung nichts zu tun, und sie bedient sich gewöhnlich des Verweises auf Vorteile, die nicht allzuvielen Bürgern zuteil werden; bei der Überlegung, wie sie zu verteidigen ist, ist man ohnehin nicht zimperlich. Ein Lob der Demokratie kommt am ehesten noch über einen "Vergleich" mit zeitlich (alle Phasen der Erdgeschichte ! ) oder örtlich (Hinterindien ! ) entrückten Zuständen zustande – wobei jegliche Kritik durch den Hinweis auf Schlimmeres für verfehlt erklärt wird. Meint man es mit dem Vergleich der bürgerlichen Demokratie mit vorherigen Verhältnissen ernst, so wird man im Fortschritt – Anerkennung des (abstrakt) freien Willens, Abschaffung persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse etc. – auch den Zwang entdecken, dem insbesondere die große Hälfte der freien Bürger da unterworfen wird: daß alle Freiheiten nur soweit reichen, wie der Staat es zuläßt, also ihre Einschränkung institutionalisiert wurde, ja daß mit ihrer Brauchbarkeit ihre Berechtigung steht und fällt;. Hierher gehören die beliebten Interpretationen des demokratischen Auftrags, an denen neben Journalisten vor allem die Revisionisten inner- und außerakademisch rege teilnehmen; bei der Bewährung der einschlägigen Deutungskünste spielt das Hin und Her zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine gewaltige Rolle – zu viel oder zu wenig Demokratie wagen, erkämpfen, leben ...
© GegenStandpunkt 1999