http://www.trend.infopartisan.net/trd0907/t490907.html Rechtsstaat 2.0

Rechtsstaat 2.0
Warum Vorratsdatenspeicherung kein Problem für den Rechtsstaat, sondern der Rechtsstaat das Problem ist

von jimmy boyle berlin
09/07

trend
onlinezeitung

Um es gleich mal vorweg zu nehmen. Auch wir finden das Abhören von Handys oder das Installieren von Trojanern auf unseren Rechnern scheiße. Dagegen finden wir es begrüßenswert, wenn sich Leute gegen Überwachung und Repression wehren. ABER: noch viel begrüßenswerter fänden wir es, wenn die Leute, die sich wehren, das mit vernünftigen Argumenten machten. Vernünftige Argumente haben wir allerdings im Vorfeld der heutigen Demonstration nur wenige gehört und einige dieser Argumente, die uns nicht so recht gefallen wollen, werden wir im folgenden kritisch würdigen.

Das Bündnis Freiheit statt Angst ruft zur heutigen Demo unter anderem mit folgendem Satz auf: „Dabei bewirkt die zunehmende elektronische Erfassung und Überwachung der gesamten Bevölkerung keinen verbesserten Schutz vor Kriminalität, kostet Millionen von Euro und gefährdet die Privatsphäre Unschuldiger.“
[ www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/125/116/lang,de/ ]

Zur ersten Behauptung des Satzes: Dass die zunehmende Erfassung keinen verbesserten Schutz vor Kriminalität bietet, halten wir für ein sehr schwaches Argument. Soll das bedeuten, dass wenn die zunehmende Erfassung einen größeren Schutz vor Kriminalität böte, dann hätte man auch kein Problem mit der zunehmenden Überwachung? Die Frage nach dem geeigneten Schutz vor Kriminalität stellt sich uns nicht und wir wollen auch nicht am wechselseitigen Zitieren irgendwelcher wissenschaftlicher Untersuchungen teilnehmen, die jeweils entgegengesetztes behaupten. Die Befürworter der Überwachung winken mit Zahlen, die Gegner winken mit anderen Zahlen zurück – unerquicklich.

Beiden Lagern (BürgerrechtlerInnen und Politik) ist gemein, dass sie Kriminalität als Faktum voraussetzen, sich darüber einig sind, das nicht zu wollen und dann lediglich mit unterschiedlichen Rezepten aufwarten. Dass der Staat mit seiner Definition dessen, welche Handlungen und Willensinhalte kriminell sind, erstmal ordentlich in das Leben seiner Untertanen eingreift und damit vorgibt, was Privatleben und Freiheit des einzelnen ist, ist für die BürgerrechtlerInnen kein Problem. Sie stellen sich Privatsphäre als etwas vorstaatliches vor, dass der Staat zu schützen und zu respektieren habe, in das er aber nicht eingreifen dürfe. Vor der Kriminalität soll aber dann bitte doch schützen, woran sich zeigt, dass die VerfasserInnen des Aufrufs Kriminalität ebenfalls als etwas quasi vorstaatliches voraussetzen. Aber: Kriminalität kann halt alles und nichts sein. Was Kriminalität ist, ist eine politische Entscheidung und somit eine Frage der Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Irgendwann wirst Du kriminalisiert, weil Du Dich Verschlüsselungstechnologien bedienst, die der Staat illegalisiert hat (wie in anderen Ländern bereits geschehen). Überlegst Du dann immer noch, was verbesserter Schutz vor Kriminalität sein könnte?

Wir würden uns lieber mal Gedanken machen, was in dieser Gesellschaft die Voraussetzungen sind, die immer wieder notwendig Kriminalität produzieren und an denen was zu verändern. Wenn man die Nöte und Prinzipien, die dauerhaft Kriminalität produzieren erkennt und abschafft, dann muss sich auch nicht mehr darüber streiten, welche Maßnahmen vor Kriminalität schützen könnten. In einer Gesellschaft, in der das Überleben an Eigentum und Geld hängt, ist es keine Überraschung, dass Diebstahl und Raub an der Tagesordnung sind. Gelegentlich – wie im Falle der organisierten Kriminalität, die wie alle anderen Unternehmen auch Geld verdienen will – wird aus Raub, Diebstahl oder Mord gar ein einträgliches, wenn auch riskantes Geschäft. Die Strafen des Staates verhindern eben keine Kriminalität, sondern liefern den Bürgern den Preis, mit dem sie zu kalkulieren haben. Aber auch jenseits materiell motivierter Verbrechen fällt uns an der Kriminalität nur der gesellschaftlich hergestellte Irrsinn auf: Liebesbeziehungen werden qua Ehe staatlicherseits so geregelt, dass den Partnern ein Recht auf Liebe garantiert wird. Bei Untreue des Partners/der Partnerin verblasst die Trauer über den Seitensprung oft vor der als viel schwerwiegender empfundenen Pflichtverletzung des anderen. Bis zum blutigen Eifersuchtsdrama ist es da nicht mehr weit.

Effizienz als Kriterium

Zweitens: „Vorratsdatenspeicherung kostet viel Geld.“
Stimmt, dass wird keiner leugnen. Vom Geld reden die Befürworter der Speicherung doch auch ständig: Der volkswirtschaftliche Schaden zum Beispiel eines terroristischen Anschlags in Deutschland verursacht viel horrendere Kosten. Sobald man einmal mit der Geldfrage anfängt, hat man sich schon ordentlich auf die Kalkulationen der Herren und Damen PolitikerInnen eingelassen. Und wenn einem das Geld wirklich wichtig ist und man sich in volkswirtschaftlichen Rechnungen üben will, dann kann eine Vorratsdatenspeicherung tatsächlich billiger sein als der Zusammenbruch einer nationalen Wirtschaft. Schwieriges Terrain also.

Ähnlich wie bei der Frage nach verbessertem Schutz vor Kriminalität geht es den UnterstützerInnen des Aufrufs an dieser Stelle lediglich um quantitative Abweichungen vom erwünschten Zustand. Zu teuer statt genau richtig. Auf die Idee, dass es dem Staat in Fragen Sicherheit um das Geld nicht schade ist, kommt da keineR. Stattdessen erinnern sie die Damen und Herren PolitikerInnen daran, dass man das Geld doch viel vernünftiger ausgeben könnte – für die Armen oder so. Ganz bestimmt wäre das schöner, aber eben auch weltfremd. Der demokratische Staat findet die Versorgung seiner Bürger noch nicht mal mit Luxus, sondern nur mit den elementarsten Gütern schlicht nicht so wichtig, wie die Sicherheit seines Territoriums und die uneingeschränkte Anerkennung seines Gewaltmonopols. In Fragen der Souveränität ist die Demokratie extrem unflexibel, da versteht sie keinen Spaß und langt entsprechend zu: mit Repression und Kosten. Der Grund für diese praktische Rücksichtslosigkeit ist, dass es beim Terrorismus oder der Organisierten Kriminalität um eine Souveränitätsfrage geht, worauf ein demokratischer Staat allergisch bis prinzipiell reagiert. Der Staat sieht nicht (nur) seine politischen Programme beeinträchtigt, sondern sich selbst in seiner Existenz. Deshalb sollen die TerroristInnen nicht im nach hinein bestraft, sondern von vornherein mit allen Mitteln bekämpft werden. Der Staat will nicht Gesetzesbrecher an ihre Pflichten als Untertanen erinnern, sondern Staatsfeinde eliminieren. Die Grundlage für den rücksichtslosen Charakter der Terrorbekämpfung ist der totalitäre Anspruch der Staatsgewalt, die keine Gewalt neben sich duldet. Aber von der Einsicht, dass dieses Gebaren kein Verrat an irgendwelchen demokratischen Prinzipien, sondern die Art und Weise ist, wie Demokratie funktioniert, davon ist der Aufruf leider weit entfernt.

Ein bisschen weniger ist nichts anderes

Drittens: „Die Privatsphäre Unschuldiger wird gefährdet.“
Zunächst mal wäre hinzufügen, die Privatsphäre möglicher Schuldiger auch. Damit aber haben die BürgerrechtlerInnen kein Problem. Die staatliche Sicherheitspolitik kritisieren sie ja gar nicht, sondern die Frage des WIE die staatliche Sicherheitspolitik auszusehen hat. Erst an dieser Stelle gehen sie nicht mehr konform mit aktuellen Gesetzespaketen. Sicherheit muss sein, und wenn die Privatsphäre Schuldiger dabei flöten geht, so haben sich das die Schuldigen selbst zuzuschreiben, die sich gegen die Freiheit stellen (oder welche Argumente es dann auch immer sind, die die Überwachung von vermeintlich „Schuldigen“ rechtfertigen). Der Forderungskatalog des gemeinsamen Aufrufes liest sich dann folgerichtig wie eine abgespeckte Version eines Sicherheitspaketes: „Keine Totalprotokollierung von Telefon, Handy und Internet (Vorratsdatenspeicherung)“ heißt doch wohl bei begründetem Verdacht (wie der dann auch immer aussieht – heutzutage soll ja ein regelmäßiger Bibliotheksbesuch reichen) kann man sich die Überwachung von Telefonen schon vorstellen. Oder warum sonst schreibt man im Aufruf „keine TOTALprotokollierung“?

Und ein letztes Zitat aus dem gemeinsam unterzeichnetet Aufruf: „Wo Angst und Aktionismus regieren, bleiben gezielte und nachhaltige Maßnahmen zur Stärkung der Sicherheit ebenso auf der Strecke wie ein Angehen der wirklichen, alltäglichen Probleme der Menschen. (z.B. Arbeitslosigkeit und Armut).“

Nun hat die Politik gerade definiert, was sie für ein wirkliches Problem hält: nämlich die Innere Sicherheit des deutschen Staates, die Gefahr des Internationalen Terrorismus und die möglichen Auswirkungen auf die schöne deutsche Volkswirtschaft. Die Bundespolitik nennt sogar Gründe für die Sicherheitspakete, die ziemlich deckungsgleich mit dem sind, was die BürgerrechtlerInnen einfordern. Das Wirtschaftswachstum bedarf des Schutzes des Staates vor unbotmäßigen Angriffen, und die BürgerrechtlerInnen sind schwer überzeugt davon, dass wenn Arbeitslosigkeit und Armut bekämpft werden sollen, dann doch wohl nur unter den Bedingungen eines schönen, saftigen Wirtschaftswachstums. Somit kümmert sich die Politik doch um das, was auch die BürgerrechtlerInnen für dringende Probleme halten. Die Politik versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln (und die hören bei der Vorratsdatenspeicherung bestimmt nicht auf!) die Bedingungen des Wirtschaftens zu sichern. Mehr als ein Streit um das rechte Maß ist da nicht in Sicht. Zur Verwechslung von mehr Wirtschaftswachstum = besseres Leben möchten wir an dieser Stelle gar nicht viel sagen, sondern Euch einladen auf eines unserer Seminare zu kommen ( www.junge-linke.de ).

Für den antikapitalistischen Block, der zur heutigen Demo aufruft, gilt dieses Urteil nicht (wohl aber die Einladung auf unseres Seminare zu kommen…). UnterstützerInnen des antikapitalistischen Blocks wie beispielsweise die Antifaschistische Linke Berlin (ALB) wissen, dass Wirtschaftswachstum Armut produziert und sorgen sich nicht ums rechte Maß bei der Sicherung der Bedingungen einer freien kapitalistischen Konkurrenz. Die ALB wittert stattdessen was ganz anderes: Faschistische Tendenzen eines zu immer mehr Repression neigenden Staates. Statt zu erkennen, dass eine Mehrheit der BürgerInnen dieses Landes immerhin so zufrieden mit ihrem Los ist, dass sie brav wählen gehen und wie unlängst bekannt geworden, Onlinedurchsuchungen sogar zu 61 % unterstützen, glauben die GenossInnen von der ALB an die sich ständig regende, widerständige Bewegung. So sei es das Ziel der Sicherheitsbehörden und ihrer Überwachung „Unmut gegen die bestehenden, unzumutbaren Verhältnisse des Kapitalismus zu kontrollieren beziehungsweise zu unterdrücken.“ [ www.antifa.de/cms/content/view/610/32/ ] Schön wär’s.
Gemeinsam für mehr Demokratie?!

Obwohl sich diese Linken in ihren Forderungen und Erklärungen von den Bürgerrechtlerinnen deutlich unterscheiden, missverstehen sie den Sinn und Zweck von Freiheit und Sicherheit in bürgerlichen Demokratien ähnlich gründlich wie die BürgerrechtlerInnen. Die ALB glaubt Abhören, Bespitzeln und Überwachen verträgt sich nicht mit einem demokratischen System. Für sie gehört so was entweder in das Repertoire faschistischer Praktiken (aus dem Aufruftext der ALB: „Die von den Alliierten erzwungene Trennung von Polizei, Geheimdiensten und Gerichten, die nach den Erfahrungen mit der GESTAPO im Nationalsozialismus 1949 festgesetzt wurde, ist in der Realität längst aufgehoben.“) oder sie erinnert gemeinsam mit anderen Autonomen daran, dass Schäuble die Wiederauflage der repressiven Stasi/DDR plane (Schablone mit Schäubles Konterfei und dem Vermerk Stasi 2.0). Das sieht uns schwer nach einem saftigen Demokratie-Idealismus aus. Dazu gehört, dass man glaubt eine Abweichung vom Ideal sei bereits ein Verstoß gegen dasselbe. Das kann dann entweder die 5%-Hürde sein, die von vereinzelten Bürgerliche so furchtbar undemokratisch gefunden wird oder die Einschränkung einer Freiheit oder einer Privatsphäre, die einem der Staat überhaupt erst garantiert. Und auch da täuschen sich so manche Linken: Freiheit gibt es hier nicht dafür, dass man das System bekämpft, sondern dafür, dass man sich ordentlich in der Konkurrenz der Freien und Gleichen austobt. Und wenn die Bedingungen fürs freie Konkurrieren durch Kriminalität oder (Internationalen) Terrorismus bedroht werden, versteht der demokratische Staat seinen selbst gesetzten Auftrag sehr genau und sorgt dafür, dass das wieder geht. Der Staat nimmt den Schutz dieser Freiheit sehr ernst. So ernst, dass sogar Farbbeutel oder bestimmte Begrifflichkeiten unter den Tatbestand des Terrorismus fallen. Da mag man sich ungläubig an den Kopf fassen, aber deswegen von diesem Staat weniger Kontrolle und Abschaffung irgendwelcher Paragraphen zu fordern, scheint uns keine adäquate Lösung zu sein.

Deswegen beenden wir unser Flugblatt auch mit keiner einzigen Forderung an den Staat, sondern an Euch: Bleibt aktiv, aber werft bitte Euren Idealismus über Bord!

Editorische Anmerkungen

Bei dem Text handelt es sich um Thesen der Jungen Linken zur "Freiheit statt Angst"-Demo" am 22.9.07. Wir erhielten den Text am 21.9.07